Dinahs Ehre - Leonard Heffels - E-Book

Dinahs Ehre E-Book

Leonard Heffels

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Beschreibung

Unkontrollierte Zuwanderung, religiöser Fanatismus, Fremdenangst und Vorurteil, sexueller Übergriff und der Ruf nach Vergeltung. Kanaan im 18. Jahrhundert v. Chr. In einer sozial angespannten Lage kommt es zu einem Triebverbrechen mit verheerenden Folgen. Der junge Fürstensohn Sichem entbrennt in Liebe zu Dinah, einer Zugewanderten. Als es zu einer Annäherung kommt, vergreift er sich an ihr. Er möchte sie heiraten und Dinahs Vater Jakob ist schließlich auch bereit dem zuzustimmen. Aber Sichem freut sich zu früh. Er hat nicht mit Dinahs Brüdern gerechnet. Aus sieben Perspektiven erzählt der Autor, was zu dieser Tragödie, diesem Urkonflikt zwischen Israeli und Palästinensern, führte. Er zeigt damit nicht nur, wie unterschiedlich wir auf Fremdheit, Leidenschaft und Gewalt reagieren. Er macht die alttestamentliche Episode vor allem zu einer verblüffend aktuellen Studie über Angst und Liebe, Unduldsamkeit und Toleranz. Gleichzeitig versetzt seine archaische Sprache, die Sprache der epischen Dichtung, den Leser in vorgeschichtliche Zeiten.

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Leonard Heffels studierte Kunst in Maastricht und Pädagogik in Amsterdam. In seinem literarischen Werk setzt er sich immer wieder mit biblischen Themen auseinander. Dabei bewegt er sich im Grenzbereich zwischen Lyrik und Prosa. Immer wieder spürt er dem Sinngehalt der archaischen biblischen Gestalten nach. Bei TWENTYSIX erschienen die Novellen „Marthas Geschick“ und „Hiobs Freunde“ sowie die epische Dichtung „Wer mit Gott geht“, ferner der historische Roman „Daniels Vermächtnis“. Leonard Heffels lebt mit seiner Frau in München.

Inhaltsverzeichnis

Levi. Der Weihevolle

Sichem. Der Wollende

Schimon. Der Wütende

Hamor. Der Wissende

Leah. Die Wägende

Jakob. Der Waltende

Dinah. Die Willige

1. Blickwinkel

Ein älterer Bruder berichtet, ein Eiferer und religiöser Fundamentalist. Seine Perspektive ist die des dünkelhaften Außenseiters, der dem irdischen Leben zutiefst ablehnend gegenübersteht.

Levi. Der Weihevolle

Aber die beiden erwiderten: „Wir konnten doch nicht hinnehmen, dass er unsere Schwester wie eine Hure behandelt hat!“

GENESIS 34, 31

Heute fürwahr ist ein großer Tag, traurig, dunkel und denkwürdig. Isaak ist tot, Isaak, der Sohn des Auserwählten, der Vater meines Vaters. Uralt geworden und blind ist er friedlich entschlafen. Gott war dem Gläubigen gnädig und führte ihn hin zu den Alten, den Ahnen des Volkes. Wohlgesonnen war Gott seinem Diener und sorgte dafür, dass Isaaks Söhne beide am Lager des Sterbenden saßen, Esau zur Linken und Jakob zur Rechten. Nun haben ihn seine Söhne begraben, hier in Mamre, wo er so viele Jahre verbracht hat. Es ist ein großer Tag, denn alle sind da, die Kinder, die Enkel, die Weiber, die Knechte, die Mägde. Esau, mein Oheim, ist Anfang des Mondes mit großem Gefolge gekommen, her geritten, hergeeilt aus dem Bergland im Süden, hat seine Zelte unweit des steinernen Brunnens aufgeschlagen, Zelte für Weiber, für Söhne und auch fürs Gesinde. Es war ein ernstes, würdevolles Wiedersehen hier an der Stätte der Herkunft. Bruder hielt Bruder im Arm, die Söhne reichten den Söhnen die Hand, die Töchter nickten den Töchtern zu. Freude und Feier gestattete ihnen der Anlass nicht. Und als dann vom Stammvater Abschied genommen und der Platz in der Höhle bereit war, als geölt und aufgebahrt lag der Mann, dessen Samen so fruchtbar gewesen, standen sie alle hinter den Herren, hinter den nunmehr versöhnten Geschwistern. Ein großes Gefolge fürwahr und auch dieses, zumindest am heutigen Tage, friedlich verbunden.

Nur ich war nicht unter den meinen, nicht Schulter an Schulter mit Israels Nachkommen, sondern vorne und stand vor den Herren noch, jung und doch näher der Gruft. Denn dorthin zu treten hatte mich Vater gerufen, geheißen die alten Todeslieder zu singen, ich allein, begleitet allein vom klagenden Laut meiner Leier. Alle lauschten andächtig dem Klang meiner Stimme, vereint in der Trauer um Vater und Großvater. Hin an die Felswand, die Furchige, sang ich die Lieder des Leides, hinein in die Höhle und heller hallte von dort der Ruf meiner Ahnen ihrer im Tod zu gedenken. Feierlich stand ich und schlug in die Saiten, hervorgehoben vom Vater, erhoben das Haupt und fand sie erhaben, die Andacht der anderen.

Dankbar dem Herrn war ich selbst von der Weihe des Kultes ergriffen, gerufen am Grabe zu stehen und singend die Meinen zu rühren, sie zu gemahnen, zu trösten. Und ich sah wohl, dass so mancher der Alten das Antlitz mit Tränen benetzte. Wohl hab ich früher bereits bei Feiern und Riten gesungen, doch nie bei so einer festlichen, großen Bestattung. Mich hat mein Vater nach vorne gebeten, wissend, dass nicht etwa Ruben, sein Ältester, sondern dass ich, dem der Herr einst den Namen Levi gegeben, am klarsten zu singen vermag. Fest und kraftvoll ist stets meine Stimme gewesen. Als Junge schon lauschte ich ab von den Ammen flotte und fröhliche Lieder, lauter vertonte Geschichten aus Ur und Harran, wo unsere Vorfahren einstmals gelebt haben. Immer schon fiel es mir leicht, die unterschiedlichen Worte und Weisen im Sinn zu behalten und das erkannten die Weiber alsbald. Da fingen sie an, mir die schwereren, ernsteren Lieder ebenfalls beizubringen, getragene Verse von Weisheit und Wehmut der Väter, von Fehden und Feinden, vom siegreichen Heimgang der Helden.

Rachel, die Schwester der Mutter, gefiel es und irgendwann schenkte sie mir eine kleine, zierliche Leier, ein einfacher Rahmen mit wenigen Saiten. Es war nichts besonders. Wohlfeile Leier wie jene boten die Händler aus Sumer des Öfteren an. Anfangs beachtete ich das schmucklose Stück denn auch kaum. Dann eines Tages zeigte mir Mu, der Verwalter im Dienste des Vaters, wie man die Saiten angemessener spannte und so dem Gerät schöne Klänge entlockte. Danach fand ich langsam Gefallen am Zupfen der Stränge. Oft saß ich abseits der Meinen, vertieft in das Sirren der Sehnen. Schließlich begann ich, Töne zu eigenen Folgen zu fügen. Ich suchte die Laute, die mittragen konnten die Verse der alten, ließ meine Stimme erklingen und spielte zugleich. Wenn ich draußen war, nächtens die Herden des Vaters bewachte, vertrieb ich die einsamen Stunden mit Leier und Liedern. Ab und an trat ich auch vor meine Brüder, um ihnen singend und spielend das Herz zu erfreuen. Aber ich musste bald einsehen, dass keiner von ihnen wirklich ein Ohr dafür hatte. Juda, der über uns Brüder so gerne bestimmte, schlief jedes Mal ein, wenn ich sang, und Sebulon wurde davon immer ungeduldig, rutschte gereizt hin und her auf dem Schilf seiner Matte. Ruben, der Gütige, lobte mich zwar, aber mir entging nicht, dass Musik ihm im Grunde gar nichts bedeutete. Letztendlich blieb ich mit meiner Begeisterung ohne Gehör und Gefolge.

So lernte ich früh, dass der Herr mich an einen besonderen Ort zu bestellen geruhte. Näher zu ihm gestattete er mir zu stehen, denn im Klanglaut der Leier, im heiligen Maß der uralten Verse klang seine Stimme noch nach und klang auf mit dem Jubel der singenden Söhne. Ich fühlte es so. Wenn ich sang, war mir nahe der Gott meiner Väter. Aber die Freude darob war getrübt, denn während ich, einfacher Diener, mich Gott bereitwillig näherte, standen die Meinen mir ferner denn je.

Und darunter litt ich. Es schmerzte mich sehr, dass die Brüder nicht sahen, wozu mich der himmlische Herrscher berufen hatte. Mein heiliger Auftrag, ins Herz mir gegeben, war es den Meinen zu zeigen, dass Gott nur nahe ist dann, wenn wir seiner gedenken. Hat mich der Eine nicht selber aufgefordert innezuhalten und langsam im Lauschen der Lieder meiner Herkunft innezuwerden? Hieß er nicht uns, Enkel des Bundes, öfter auch niederzulegen das Tagwerk, zum Himmel hin hochzuheben die Augen und Hände, ihm zu danken für Wohlstand und Weisung? Aber ich sehe sehr wohl, wie leicht meine Leute vergessen, gottgefällig zu leben, wie schnell sie die hehre Verpflichtung missachten, berufene Kinder des Einen zu sein.

Heut‘ hätten alle der Gegenwart Gottes gewahr werden sollen. Stehend am Eingang der Grabhöhle, dort an der Scheide von Leben und Tod hätte den Meinen bewusst werden müssen, wozu sie geboren, wozu der Herr sie erkoren, und wessen Vorfahren Enkel sie sind. Denn wir sind nach Recht und Gesetz die Erben des Vaters im Himmel, wir allein, die Söhne Israels, des Engelsbezwingers, Enkel des Erstgeborenen, des im Alter berufenen Abraham, wahrhaftige Nachfahren Sems, des Ältesten Noahs, den Gott aus den reißenden Wassern gerettet hat. Ach, meine Brüder, bedenkt es! Als vorhin die heilige Höhle der Ahnen verschlossen ward, hieß mich mein Brotherr noch einmal zu singen, am liebsten jedoch hätte ich allen, den Brüdern, den Müttern und ja, auch dem Vater, dem Trauernden, zugerufen: Seid stolz, geht erhobenen Hauptes! Es gibt keinen Grund euch zu schämen! Es gibt keine Untat, die Gott euch zur Last legt. Nichts ist geschehen, dass er nicht gewollt hätte. Denn ich sah in den Zügen der schweigend Versammelten, woran wohl die meisten zurückdachten, woran sie gerade an diesem Tag zurückdenken mussten: an all jene Toten, denen wir damals verwehrten das Grab, die wir den Geiern zum Fraß im schwelenden Schutt ihrer Häuser liegengelassen haben.

Ein Jahr ist‘s her, ein Jahr genau, dass wir drüben in Schechem den Namen des Herrn von schlimmster Besudlung befreiten und unsere Ehre mit Schwert und Messer verteidigten. Nicht überraschend indes, dass heute, am Tag der Bestattung, nicht einer den Vorstoß von damals erwähnt. Aber im Grunde schweigen wir über den Tag der Vergeltung, seit wir aus Schechem geflohen sind. Vater gebot uns zu schweigen und verstummte auch selbst. Kein Wort mehr wollte er über die Tat seiner Nachkommen hören, auch selbst kein Wort mehr darüber verlieren. Ihn hatte seinerzeit übel verstimmt, dass Schimon und ich in der Nacht auf eigene Faust die Schändung der Schwester so mitleidlos rächten. Während ein neuer Tag ihm die Verheerung der Nacht offenbarte, klagte uns Vater sein Leid, sagte uns damals, er würde sich schämen für Leichtsinn und Wahn seiner Söhne. Aber der Herr, unser Gott, gab uns Recht. Schechems Verbündete waren gewarnt und ließen uns ziehen. Keiner bedrängte unseren Zug in den Tagen und Wochen danach und alles Erbeutete brachten wir sicher ins Land meiner Vorfahren. Alle Bewohner von Kanaans Städten hatten erkannt, wie mächtig der Heerführer war, der schützend die Hand über Israel hielt, wie gnadenlos Gott, mein Gebieter, die Feinde der Seinen zermalmte.

Alles verdanken wir Gott, dem Einen, der uns auf den Weg der Gerechtigkeit führt, uns die Kraft gibt dem Bösen zu trotzen. Hatte es Vater vergessen? Er, der am Ufer des Jabbok verbissen mit Gottes Gesandten gerungen? Er, auf dem Gott seinen Segen so nachhaltig legte? Wer, wenn nicht Israel könnte behaupten, dass Gott, unser Herr, verlässlich die Seinen beschützt und beschenkt? Hat ihm der Herr nicht beständig die Wege geebnet, ihn reichlich mit Söhnen gesegnet, mit zahlreichen Zelten und Hütten, mit Herden so groß, dass keiner die Rinder und Schafe noch länger zu zählen vermag?

Ja, ich hätte es gerne den Meinen mit lauten Posaunen verkündet: Der Allmächtige sieht es nicht gern, wenn ein Enkel des Bundes sich schämt, wenn einer der Seinen bezweifelt, dass Gott ihm in allem die Hand führt. Aber ich wusste, es stand mir nicht zu am Grabe der Ahnen zu reden. Umso gefühlvoller, ernstlich und inständig sang ich die Lieder der Herkunft, die Weisen der Alten. Gewiss, es gibt Brüder, die fühlen wie ich und wissen sich stets mit dem Vater im Bunde. Doch spüre ich auch, dass manche im Glauben nicht fest stehen und meinen das Recht wäre nicht auf unserer Seite gewesen. Dinah ist sicherlich eine von ihnen, die törichte Tochter des Herrn, die nun die Frucht ihres Frevels, den Lohn ihrer Dummheit im Arm trägt. Was sie eines Tages dem Sohn ihres hingerichteten Schänders erzählen wird, kann ich mir denken. Besser, sie hielte den Mund, denn Schande hat sie über Vater und Brüder gebracht und Kummer der Mutter bereitet. Nur, so wie ich mein Schwesterchen kenne, wird es auf Dauer nicht schweigen. Und Vater, das hat sich gezeigt, hält weiter die Hand über Dinah.

Bald also werden die Weiber und Frevler Lügen verbreiten und Israels Söhne verleumden. Doch wer seinen Herrn und Gebieter fürchtet, wer Gott über alles verehrt, kann solch eine Schmähe nicht zulassen. Jene wie ich, die wandeln im Lichte des Einen, müssen die Schergen der Schatten bekämpfen. Deshalb alleine werde ich künftigen Kindern und Enkeln alles erzählen, werde nicht ruhen, bis sämtliche Nachfahren wissen, was wirklich geschah.

Mein Vorfahre Abraham, der vor vielen Jahren schon hier in der Höhle von Machpela beigesetzt wurde, stammte aus Ur im Land der Chaldäer. Lang ist es her, da zog er von dort nach Harran, wo er rechtschaffen lebte, bis Gott ihm befahl nach Süden ins Land der Kanaaniter zu wandern. Gott gelobte ihm dort eine neue, eigene Heimat zu geben. So kam der Auserwählte nach Schechem und baute daselbst seinem Herrn einen schlichten Altar, unweit der Eiche, die More genannt wird. Der Himmel bestimmte, dass Jakob, sein ahnender Enkel dorthin gelangte, von wo er einst selber gekommen war. Denn Jakob, mein Vater, wanderte aus nach Harran, zum Bruder der Mutter, zum Onkel Laban, der ihm seine Töchter für Jahre der dienenden Hilfe gewährte. Er führte zunächst die Ältere, später die Jüngere ebenso heim und bald schenkte diese ihm Söhne. Ich kam als Dritter, entbunden von Leah, der erstgeborenen Tochter des Oheims. Dann, als die Schar seiner Nachkommen elf Söhne stark war, sammelte er seine Herden, Kinder und Weiber, Knechte und Mägde und zog in das Land seiner Herkunft zurück. Auch ihn hatte Gott, der Gebieter, angewiesen die Siedlung Harran zu verlassen. Wie einst seine Ahnen hieß er nun auch ihn mit den Seinen nach Schechem zu wandern. Also sind wir dem Stammvater Abraham nachgezogen und haben nachvollzogen den Weg, den Gottes Auserwählter schon einmal gegangen war. Anders als dieser jedoch wanderte Jakob, mein Vater, mit großem Gefolge und riesigen Herden ein in das Land, das der Herr ihm gewiesen.

Nun hauste in Schechem Gesindel. Verschlagene Männer vom Stamm der Hiwiter trieben dort Unzucht und führten sich auf, als wären sie Herren im Land unsres Herrn. Und als sie uns sahen, als Israels Schar auf den rundum der Siedlung gelegenen Hügeln erschien, befiel sie Beklemmung. Die Söhne der Schatten scheuten schon immer den Lichtglanz der Helden. Finster und falsch war die Sippschaft in Schechem gewiss. Denn Nachfahren Kanaans sind diese Hiwiter. Und Kanaan war jener auf ewig verdammte Spross aus dem Stamme des Ham, der einst seinen eigenen Vater entehrte. Also war nichts außer Tücke und Trug vom Volk dieses Schlags zu erwarten. Ungläubig waren sie, ehrlos, verlogen und sündhaft. Blind für die Weisung des Einen, taub für die Worte des Wahren, knieten sie nieder vor grausamen Göttern, die weiter nichts waren als dunkle Dämonen. Sie warfen sich hin vor glänzenden Götzen und gossen das Blut ihrer Opfer aus erzenen Schalen über den Lehm ihrer Äcker. Sie hörten auf Priester, die Leber geopferter Schafe befragten, versuchten verzweifelt all ihre furchterregenden Götter mit Zauber und Schwüren gnädig zu stimmen.

Niedertracht wohnte im Heim eines jeden Hiwiters und gut beraten war der, der ihnen den Rücken nicht kehrte. Wehe wer Handel mit ihnen zu treiben gezwungen war! Arglistig suchten sie jeden zu täuschen. Wenig galt ihnen, was einmal versprochen. Egal, was es sagte, ihr Wort war nichts wert, denn teuer war ihnen nur Silber und Gold. Einen Fremden betrügen? Das war bei ihnen erlaubt, gar erwünscht, sofern man geschickt war und ausreichend Ausbeute lockte. Aber obwohl ihnen Anstand und Sitte ermangelte, trugen sie doch die öligen Häupter im Nacken. Tatsächlich hielten sie selbst sich für besser und edler als andere. Wenn sie uns sahen, rümpften sie stets ihre Nase. Sie aber waren‘s, die herliefen hinter dem Dreck ihrer Ochsen und täglich den Harn ihrer Rinder hinaus auf ihr Ackerland schafften.

Also weshalb, so fragte ich mich, schauen Verderbte wie sie herunter auf Israels Schar aus der Wüste? Bald ward mir klar, sie schätzen die Meinen gering, weil wir anders als Schechems Bewohner nicht hausten in steinernen Hütten, weil wir nicht saßen auf Stühlen, nicht aßen an Tischen, nicht leinengewandet herumgingen. Schwer zu ertragen war das für einen wie mich, der ich über die Vorfahren selber im Bunde mit Gott stand. Lachhaft, dass wir den Hiwitern weiter nichts waren als Wilde, bloß weil wir nirgendwo Tempel erbauten. Sie ahnten ja nicht, dass der Herr uns die Weiden und Wüsten als Tempel gewiesen. Weit wie der Himmel war unseren Leuten der Tempel Gottes geworden. Durch Wolken und Winde sprach er zu seinen Erwählten. Sollten wir uns denn den Blick auf den Himmel verbauen, uns verkriechen sogar unter düsteren Dächern aus schwerem Gebälk? Mochten Hiwiter getrost ihre Götter in finsteren Kammern und Felsspalten suchen. Unser Gebieter, das wussten wir wohl, war dort nicht zu finden. Nie würde er sich im Dunkeln verkriechen. Wir waren Kinder des Himmels und weil wir die Weisungen Gottes befolgten, kam unser Weg einer betenden Hingabe gleich. Niemals verließ ein Getreuer des Herrn seinen Tempel, denn da, wo er war, war auch Er, unser Vater des Bundes.

Da die Hiwiter Gottes Gebote nicht kannten, lebten sie unrein wie Vieh. Sie tranken das herbe Gebräu der Ägypter, aßen vom Fleisch ihrer Hunde und nagten die Knochen von Ratten und Klippschliefern ab. Noch schlimmer war, dass sie hurten und allerhand Unzucht begingen. Lüstern und widernatürlich legten die Männer sich nachts zu den eigenen Müttern. Andere holten sich Knaben aufs Lager, berauscht von der Glut ihrer Gier. Kurz gesagt, dort ging es zu wie damals in Sodom, wo Lot seine Leute vor Feuer und Schwefel zu retten versuchte.

Trotzdem, vielleicht auch deshalb, wurde die Stadt der Hiwiter für manche von uns zum Genist der Versuchung. Einige Knechte und Diener, beschnitten wie wir, erlagen den Reizen der gottlosen Dirnen in Schechems Spelunken, dem vielversprechenden Lockruf des finsteren Pfuhls, und wir waren gezwangen sie streng zu bestrafen. Aber es nutzte nicht viel und je länger wir weilten im Umland der ruchlosen Stätte, umso vertrauter erschien meinen Leuten der Anblick des Übels. Selbst meine jüngeren Brüder begannen nach einiger Zeit voller Neugier und Eifer die Gassen und Plätze der Stadt zu erkunden. Schließlich betraten die ersten die Heime der Frevler, tranken und aßen mit ihnen und gaben den Herren der Häuser gar große Geschenke. Mehr und mehr Männer und Weiber aus Israels Reihen machten sich also gemein mit Huren, Halunken und Hochstaplern.

Voller Besorgnis vor allem sah ich das sprunghafte Tun meiner Brüder, ahnte ich doch, welches Los wir damit beschworen. Lang würde Gott dieses treulose Treiben der Seinen nicht dulden. Deutlich vor Augen stand mir die Gefahr, verworfen zu werden vom Herrn, den die Brüder zugunsten von Götzen und Geistern verwarfen. Sollten wir bald schon in Elend versinken? Sollten wir werden wie diese Hiwiter und unseren Schöpfer verraten? Sollten wir ausschlagen Gottes erlösende Hand, seine Gnade tatsächlich von Irrsinn geblendet verschmähen. Mehrmals warnte ich meine Geschwister vor Tod und Verdammnis, ermahnte sie nachdrücklich gottgefällig zu leben. Aber sie lachten mich aus und die Söhne der Kebse verspotteten mich. Sie meinten, ich würde mich bloß dem Neuen verschließen und sollte mich öffnen, das Gute am Brudervolk Schechems bedenken. Sie warfen mir vor, dass ich alles, was fremd oder anders ist, immer nur ablehnen, ja, mich gar hochfahrend über die Brüder erheben und sie wie ein Richter verurteilen würde. Ach, ich sah wohl, sie wollten vom Laster nicht lassen, doch statt sich selber zu züchtigen, griffen sie mich an, den wachsamen Diener des Einen.

Jakob, mein Herr, schien den Verrat seiner Söhne an Gottes Gebote zu dulden. Ich allerdings hörte ihn nie seinem Hause den Umgang mit Kanaans Brut untersagen. Älter geworden inzwischen war Jakob, die Tatkraft der früheren Jahre spürbar abhandengekommen. Sicher, sein eigener Glaube war unerschütterlich. Niemals, das wusste ich wohl, würde Isaaks Sohn etwas tun, das Gott zu erzürnen vermochte. Niemals, da war ich mir sicher, verursachte Jakobs Verhalten auch nur die winzigste Falte im Antlitz des Herrn. All seine Wege und Worte fanden Gefallen bei Gott. Aber er glaubte – und irrte darin – dass auch seine Söhne den Gott seiner Vorfahren fürchteten. Blind für das Unheil, das aufzog, meinte mein Vater es würde genügen, dass er, der Berufene selbst, die Weisungen Gottes in unverbrüchlicher Treue befolgte. Gott hatte alles gerichtet im Leben des Vaters. Nun ließ er zu, dass die Söhne den Weg der Gerechten verließen. Wie man verlorene Schafe zur Herde zurückführt, hätte mein Vater die Seinen heimholen sollen. Doch er begriff nicht, was vor seinen Augen geschah, bemerkte zu spät sein Versäumnis.

Auch wenn sich mancher aus unserem Haus mit Schechems Gesindel gemeinmachte, Bier trank wie dieses und Fleisch aß von unreinen Tieren, trieb es doch keiner von ihnen so weit wie Dinah, die einzige Tochter des Herrn, die faulige Frucht aus dem Leib meiner Mutter. Gott hat geruht mir ein Ausbund an Einfalt zur Schwester zu geben. Ich nahm das schon damals als Auftrag die arglose Magd zu belehren, ihr beizubringen den Gott ihrer Väter zu fürchten. Ausrichten wollte ich Seele und Sinn meiner Schwester nach Gott hin. Ihm zu gehorchen, das sollte sie lernen, lernen am Beispiel des älteren Bruders. Denn deutlich wie sonst nur mein Vater vernahm ich im Herzen, was Gott von mir wollte. Mehr als die anderen Söhne des Herrn war ich willig und fähig zugleich, mein Leben bedingungslos hinzugeben dem einen machtvollen Herrscher der Himmel. Fromm wie ich selbst also sollte das Schwesterchen werden, vom Weg der Gerechten nicht weichen. Ich hieß sie am Morgen und Abend zu beten, geduldig und still im Geiste des Herrn zu verharren, hieß sie in Demut ihr Tagwerk verrichten, die Arbeit als heilsame Anordnung Gottes zu sehen. Auch trug ich ihr auf ihr Haupt zu verhüllen und niederzuschlagen die Augen, wo immer die Frevler vorbeigingen. Ich lehrte sie maßvoll zu bleiben, bescheiden und selbstgenügsam die Würde des Hauses zu wahren.

Gott kann bezeugen, ich mühte mich sehr, doch blieb mir die Frucht meines Eifers am Ende verwehrt. Ich schaffte es nicht das Töchterchen Israels fern der Versuchung zu halten. Unglückseligerweise gesellte zur Dummheit der Magd sich ein weiteres, größeres Übel. Denn Dinah war überaus neugierig, sog in sich auf, was sich um sie herum offenbarte: Gesichter, Gewänder, Gerede, Gehabe. Hilfsbereit war sie gewiss, auch gewillt ihrem Hause zu dienen. Aber ich sah und erkannte, wie sehr sie die weltlichen Dinge zu fesseln vermochten. Angespannt lauschend versah sie im Haus ihren Dienst, wenn Gäste von Reisen erzählten. Kein Wort, kein Wink, kein Gemurmel entging ihr dabei. Ja, sie war hungrig, begierig danach zu erfahren, was draußen geschah. Weit geöffneten Auges betrachtete sie die Bewohner der Stadt, ihre selbstgefällige Kluft, die Weiber, geschminkt nach der Art der Ägypter, die Männer, schmuckbehangen wie Dirnen, die Finger gebürstet, die Bärte gestutzt.

Dann kam der Tag, da sie tat, was ihr besser sofort untersagt worden wäre. Ich hatte schon länger befürchtet, das lechzende Schwesterchen würde auf dumme Gedanken verfallen. Damals schon sah ich zusammenziehen die dunklen Wolken des Unheils. Dinah, das spürte ich, würde uns allen noch ernsthaften Ärger bereiten. Aber ich konnte sie nicht daran hindern zu tun, wonach es ihr ausschweifendes Wesen gelüstete. Vater erlaubte der Magd sich in Schechem mit anderen Weibern zu treffen. Immer allein unter so vielen Brüdern, erklärte er mir, dürfe Dinah wohl anderswo Freundinnen haben. Also entschied unser Mädchen nach Wochen der Sehnsucht, dass nunmehr gekommen der Tag, die nahe Umgebung aus eigener Kraft zu erkunden. Voller Erwartung trat es hinaus vor die heimische Hütte, durchquerte das Lager der Ihren und ging entschlossen hinunter nach Schechem. Freudig erregt kam die Tochter wieder nach Hause zurück, da neigte der Tag sich bereits seinem Ende.

Seitdem sah man sie oft auf dem Weg in die Heime der Fremden, der, ach, so arglos erwählten und eilig ins Herz geschlossenen Schwestern. Wenn sie dann abends von drüben berichtete, war es, als hätte ich nie was erzählt von der Würde der Reinheit, vom Israels Auftrag der Lockung des Bösen zu trotzen. Die Saat meiner mahnenden Worte, ich sah es betrübt, war auf steinigen Boden gefallen. Aufgegangen war keines der sorgsam ins unbekümmerte Wesen der Schwester gesenkten Körnchen an Weisheit, Demut und Gottesfurcht. Mehr noch, sie liebte die überflüssigen Dinge der Städter, erzählte begeistert von Tischen und Betten, von feinen Gefäßen und leinenen Tüchern in leuchtenden Farben. Sie liebte das eitle Treiben der Leute auf Straßen und Plätzen, ergötzte sich förmlich am lauten Geschrei und Gelächter. Aber am meisten genoss sie den Klatsch mit den Weibern der Stadt beim Verrichten der täglichen Arbeit. Gleich ob am Webstuhl, beim Wässern der Gärten, beim Kochen und Käsen, beim Mahlen am Reibstein, beim Tränken der Ochsen – immerzu wurde geredet.

Mich wunderte sehr, als ich davon erfuhr, worüber denn bloß diese Dirnen die ganze Zeit schwatzten. Doch ich verstand mit der Zeit, dass es ihnen im Grunde nach Rummel und Kurzweil, statt Ruhe und Sammlung verlangte. Ich glaube, vor lauter Geschnatter und Lärm hätte keine der Mägde es auch nur bemerkt, wäre plötzlich die Stimme des Herrn im Kreise der Ihren erklungen. Eindrücklich zeigte sich mir, dass der Herr den Dummen und Kraftlosen fernbleibt. Wehe den Schwachen, die unfähig abzuwehren den Ansturm der Sünde, jeder Versuchung erliegen! Wer seinen Frieden sucht, wer als Wahrhaftiger leben will, ernsthaft und treu seines Gottes Gebote, sollte sich züchtigen, sollte wie lästige Fliegen verjagen die dreisten Dämonen der Lüge, Arglist und Falschheit. Irreführend ist deren Gesäusel, betörend ihr Liebreiz. Immerzu lenken sie einen vom Wahren und Wichtigen ab, bedrängen den Sinn des Gerechten mit hohlem Gerede und flüchtigen Bildern. Fromm muss man sein, um diesen Gehilfen des Bösen Widerstand leisten zu können. Aber den Weibern der Stadt war Frömmigkeit fremd. Dinah jedoch fand an ihnen Gefallen.

So kam denn die Tochter des Hauses, die Enkelin Isaaks, schrittweise ab vom Glauben der Väter. Mich hat das damals sehr aufgewühlt und öfter ereiferte ich mich beim Vater. Durfte es sein, dass das schlichte Gemüt eines Weibes die Würde der Auserwählten verletzte? Durfte es sein, dass sich Israels Tochter abgab mit Flittchen und Frevlern? Wollte der Herr nicht bestrafen die schamlose Magd, die offen das Haar trug und offen den Blick? Galt es nicht endlich zurückzuführen das schwankende Weib auf den Weg der Genügsamen? Keusch sollte jedes Weib sein und fürchten den Herrn und Gebieter. Ich konnte nicht fassen, dass unser Ernährer und Vorreiter Gottes das lose Begehren der Tochter erfüllte. Er, der vom Engel des Einen Ergriffene, angegriffen vom Boten des Höchsten, er, den sogar der Gesandte des Himmels am Ende nicht niederzuringen vermochte, zeigte sich nunmehr verhalten und duldete Dinahs Verfehlung. Hätte mein Herr sie doch bloß an den Haaren nach Hause gezerrt und Zucht walten lassen. Ich verstand nicht und verstehe noch weniger heute, was Vater bewegte, das ungehörige Treiben der Tochter kein Ende zu setzen. Schließlich, so schien es, war unabwendbar geworden, die Strafe des Herrn, unser böses Geschick.

Noch aber wollte ich Israels Schande nicht tatenlos hinnehmen. Ähnlich wie ich mich erregte, erzürnte das Laster der Schwester auch manche der Brüder, namentlich die aus dem Schoß jener Mutter, die einmal auch mich trug. Juda, der meistens uns Brüdern voranging, meinte, wir sollten die Schwester beständig im Auge behalten, sehen, was sie treibt und mit wem sie verkehrt. Kaum war der Vorschlag gemacht, da erhob sich der Jüngste der unseren. Sebulon straffte die Schulter bemüht, erbot sich der Schwester klammheimlich zu folgen. Ich wusste, dass Sebulon neuerdings häufig die Stadt der Hiwiter besuchte. Mir war gewiss nicht verborgen geblieben, wie sehr er es liebte in Schechem zu weilen. Issachar sprang ihm zur Seite und bot ihm die Hilfe des Älteren an. Selbstlos wie immer sagte er zu, das Tagwerk des Brüderchens auch noch zu schultern. Jung war auch Issachar, wenige Jahre nur älter als Sebulon. Deswegen war ich nicht wirklich erstaunt, als er Sebulon vorschlug täglich die Pflichten zu tauschen. Schließlich war Issachar ebenfalls längst von den Reizen der sündigen Siedlung gefesselt. Ruben, der Älteste, mahnte zur Vorsicht, hieß uns den Vater zu ehren. Trotzdem, auch er war verstimmt, dass die Schwester den Brüdern nicht demütig diente. Grimmig jedoch wie sonst keiner von uns starrte mein älterer Bruder Schimon ins Leere, Schimon, der Kämpfer, der früher als Kind schon sich ständig mit anderen prügelte. Dass er sich ärgerte, zeigten allein seine steinernen Fäuste, die, mühsam im Zaum gehalten, kraftstrotzend baumelten nahe dem Messer am Gurt. Er sagte kein Wort, doch ich wusste, er würde wenn nötig mit aller Gewalt seine Ehre verteidigen.

Was uns der Aufpasser Sebulon anderntags aber berichtete, ließ uns zunächst einmal unbeschwert aufatmen. Nichts war passiert, was uns nötigte irgendwie einzugreifen. Kein Mann hatte Dinah belästigt, kein Bursche sie angesprochen. Überall war sie auf Abstand zu Fremden geblieben, hatte geschaut, aber kaum mal gesprochen. Freilich war Sebulon nicht in die düsteren Heime der Gottlosen eingedrungen und konnte nicht sagen, was hinter den steinernen Mauern geschah. So wussten wir weiter nicht sicher, womit sie sich abgab, die Schwester, im Kreis der Hiwiter.

Auch in den folgenden Tagen und Wochen hatten die fleißigen Späher nicht viel zu vermelden, nichts dazu angetan Gott zu erzürnen. Langsam versiegte die Neugier der Brüder und häufiger lustlos fragte man aus die Verfolger am Abend. Statt von der Schwester erzählten die beiden uns schließlich vor allem vom Leben der Städter, von stattlichen Häusern und schwer beladenen Wagen, von dunkelhäutigen Sklaven, geboren im Lande jenseits Ägyptens, von weit gewanderten Händlern und spärlich bekleideten Priestern. Leuchtenden Auges erzählte sowohl Issachar als auch Sebulon gern von den dortigen Weibern, die Kopf und Schultern unverhüllt trugen und schamlos bemalt durch die Straßen stolzierten, lachten und schrien. Mir entging nicht, wie sehr sie inzwischen die Schönheit der zotigen, zuchtlosen Siedlung berauschte. Schon sah ich das Grinsen der Gier in den Zügen der unerfahrenen Knaben. Mehrfach verlor ich dabei die Geduld und rief meine jüngeren Brüder entrüstet zur Ordnung. Die aber ließen mich mahnen und schimpfen, zuckten die Schultern, erwiderten nichts und schauten betreten zur Seite. Wieder einmal ward mir klar, wie unausgesetzt unser Glaube bedroht wird, wie mühsam und nahezu endlos der Kampf gegen Trugbilder, Trägheit und Untreue ist. Ich konnte die Brüder auf Dauer nicht fern vom Ort ihrer Anfechtung halten. So ließ ich sie ziehen und bloß noch dem Anschein nach weiter verfolgen die Schwester. Damit war zwecklos geworden die ganze Beschattung der Dinah, der unehrerbietigen Magd aus dem Haus der Getreuen.

Und dann kam sie doch, die Kunde vom Kniefall der Kleinen vor Schechems Dämonen der Lust und Verderbtheit. Aufgeregt lief eines Tages der Jüngste der Brüder zu uns ins heimische Lager hinauf und rief uns herbei und hielt an erst vor mir, der ich nahe der Hütte verharrte. Still stand ich da, als sich Sebulon näherte, hart aber schlug mir das Herz in der Brust. Ich wusste sogleich, dass der Herr uns ein Zeichen geschickt hatte, wusste, dass nun auch der Vater einsehen musste, dass keiner von Gottes Erwählten den Gottlosen trauen kann. Ringend um Atem, die Augen zu Boden gerichtet, wartete Sebulon, bis sich die anderen Söhne der Leah um Israels Späher geschart hatten.

Ein Mann, so sagte der Knabe, ein Mann hätte Dinah angesprochen und sie hinausgeführt aus der Siedlung, hinauf in ein Waldstück, das nördlich der Stadt sich erstreckte. Der Schamlose trug, was bis dahin mein Bruder nie sah, auf dem Arm einen Falken, die scharfsichtigen Augen verhüllt, die Schwingen zum Kleide gefaltet. Wer war dieser Bursche und was veranlasste unsere Schwester dazu seinem Lockruf zu folgen? Kannte sie ihn, war sie öfter bereits mit dem Fremden zusammengekommen? Sicher war Sebulon nur, dass der Kerl nicht unserem Lager angehörte. Keiner von uns war er, keiner der Knechte und Diener, vielmehr ein Unbeschnittener, Uneingeweihter. Aber ein Vornehmer schien er zu sein, ein edel Gewandeter unbelastet vom Joch einer täglichen Fron. Schon sein gefiederter Freund machte klar: Der Mann war ein eingebildeter Nichtstuer ohne Verdienst oder Demut, ohne so etwas wie Ehre im Leib. Je länger ich Sebulons Ausführung lauschte, je klarer verstand ich, dass nunmehr die Mächte des Dunkels Israels Lager bedrängten. Wie und in welcher Gestalt sich das Böse heranschlich, erschien mir mit einem Mal so, dass es anders in Wahrheit nicht sein konnte. Es ergab einen Sinn, so ward mir gezeigt, dass der Gegner des Einen auftrat als federgeschmückter, vogelverliebter Verführer.

Die Brüder begannen zu schreien, schwangen entrüstet die Fäuste, schworen die Schwester nun endlich und unnachgiebig zu züchtigen. Einsperren würden sie sie, anbinden wie eine läufige Ziege, fesseln im Zelt ihrer Mutter. Manche wie Schimon langten bereits nach der Rute, drängten zum Aufbruch um heimzuholen die ungehörige Magd. Lautstark erklangen die Rufe der ehrlich Erregten durchs Lager und lockten nun auch die Söhne der Kebse herbei. Als er hörte, was los war, gab Gad sich dann ebenfalls kämpferisch, wollte die Schwester, wie Schimon, gewaltsam zurück auf den Weg ihres Herrn holen. Dan aber mahnte zur Ruhe und hieß seine Brüder zunächst einmal anzuhören die Worte der Dinah am Ende des Tages. Ihm, dem Besonnenen, pflichtete Naftali bei, der Bruder, der schöner als alle zu reden vermochte. Asser dagegen polterte ähnlich wie Gad und rief dazu auf, die Ehre des Vaters beherzt zu verteidigen. Ruben versuchte erschrocken die heißen, stolzen Gemüter der Jüngeren wenigstens etwas zu mäßigen.

Unberührt aber blieb ich vom Streit meiner Brüder. Schweigend inmitten der Aufregung sank ich hinab in den tieferen Sinn des Geschehens. Denn ich sah, was den Brüdern bei allem Gezeter verborgen blieb. Hier ging es keineswegs nur um das Laster der Schwester, nicht bloß um Ungehorsam und Trotz einer lange verhätschelten Tochter. Nein, denn was nun auf uns zukam, glich einem Angriff dämonischer Macht auf das Lager der Gläubigen. Ich wusste, es galt sich auf Gott, unser Vater, nun zu besinnen, des heiligen Bundes mit ihm zu gedenken. Jetzt war die Stunde gekommen, treu an der Seite des Herrn zu verharren. Jetzt war es wichtig, entscheidend sogar, sich zu lösen von denen, die Gott nicht fürchten, abzurücken von sämtlichen Dienern des Dunkels. Jetzt durfte keiner vom Haus der Erwählten sich länger mit Schechems Gesindel gemeinmachen. Jetzt tat es not auf der richtigen Seite zu stehen.

Aber als später die Schwester ins Lager zurückkehrte, standen wir Brüder starr und unentschlossen am Rande des Guts, das der Vater erworben. Grimmigen Blickes verfolgten wir schweigend die fahrigen Schritte der Magd auf dem Weg zum Gezelt ihrer Eltern. Etwas, das spürte wohl jeder der Wartenden, etwas, zu schlimm noch für Worte, war heute passiert. Wir sahen das Mädchen verstört und anders als sonst ging es hastig, die Augen gesenkt, den Rücken gekrümmt und verschleiert das Haupt. Mit einem Mal wussten wir nicht, was zu tun war. Wir hatten ein trotziges Kind, eine schamlose Tochter erwartet, hatten uns vorgenommen sie unmissverständlich zu lehren Israels Würde in Zukunft zu achten. Sie sollte am Leibe erfahren, was Gottesfurcht heißt, und wem zu gehorchen das Weib in die Welt kam, sollte den durchaus berechtigten Zorn ihrer Brüder schmerzhaft zu spüren bekommen. Nun aber waren wir alle gelähmt und nicht in der Lage, auch nur ein einziges Schimpfwort der Magd vor die Füße zu spucken. Bloß aus der Ferne sahen wir zu, wie das Mädchen das Lager durchquerte.

Vielleicht hätte einer von uns unser Schwesterchen seinerzeit schützen, schonen und aufmuntern sollen. Ruben hat später gemeint, es wäre wohl besser gewesen sich damals der Tochter des Vaters brüderlich anzunehmen. Ach, unser Rubin! Ein Zauderer war er schon immer, ein zartbesaiteter Liebling der Weiber. Schwach ist der Älteste Israels, wahrlich kein Macher, kein würdiger Erbe. Betreuen und Trösten? Solches zu tun war doch ausschließlich Auftrag und Neigung der Weiber, der Mütter und Ammen. Nein, das verzweifelte Kind konnte froh sein zuletzt ohne Schläge und Schelte Israels Heim zu betreten. Wir wussten ja damals noch nicht, was der Magd widerfahren. Doch eine Ahnung des Übels hielt uns zurück und zwang uns bloß tatenlos zuzusehen. Die Fäuste erschlafft und verflogen der Unmut standen wir da und ließen es ziehen, das sichtlich erschütterte Mädchen, hinab in die Obhut der Leah.

Abends erfuhren wir mehr. Der Herr hatte uns, die Söhne des ältesten Weibes, von schweigsamen Dienern ins Zelt holen lassen. Wir saßen im Kreis mit dem Vater zusammen, sahen den Alten betrübt und besorgt. Thronend auf seinem mit Fellen verkleideten Sitz, im flackernden Lichtschein der Lampen, schien mir der Engelsbezwinger schon fast wie gemeißelt in hartes, helles Gestein: kantig die Züge, die unbeweglichen Augen vom Dunkel gefesselt. Ich meinte zu sehen, dass neue, tiefere Falten das Antlitz des Vaters durchzogen. Keiner von uns, die wir unauffällig den Alten beäugten, traute sich etwas zu sagen. Israel, Abrahams Enkel, zog den Gebieter, den Gott seiner Väter, zurate, bat in der Stille der Nacht um den Beistand der Ahnen. Lange verharrten wir dort und während wir warteten, wuchs die Erregung in unseren Herzen.

Schließlich entriss sich der Vater den trüben Gedanken, schaute uns an und nickte entschlossen. Er holte tief Luft und setzte sich auf um uns endlich zu sagen, was los war. Also erfuhren wir angespannt lauschend und innerlich bebend vor Zorn, welch ein abscheuliches Unheil uns heimgesucht hatte. Einer der Städter, ein Ehrloser, hatte die Tochter des Herrn in die Wildnis gelockt, um sich über die Arglose herzumachen. Er riss sie zu Boden, nahm mit Gewalt ihre Ehre und damit – viel schlimmer noch – unsere, Israels Ehre, die Ehre des Hauses als Ganzes. Uns allen hatte der Wüstling die Würde geraubt, mit ihm hatten alle Hiwiter Israels Ansehen mit Füßen getreten. Als aber Vater uns sagte, wer diese Schandtat verübte, stöhnten wir auf und blickten einander fassungslos an. Denn der Täter hieß Sichem und der war als brünstiger Bock in der Stadt wohlbekannt. Als Ältester Hamors, des hiesigen Fürsten, konnte er offenbar tun, was er wollte.

Einige Monde bereits war es her, dass mein Vater mit uns im Gefolge den Sippenfürsten Hamor besuchte. Seinerzeit neu auf den Hügeln um Schechem herum, wollte er Land für das Volk und die Herden des Herrn vom Hiwiten erwerben. Mehrere Stunden saßen die Männer beisammen, beide umringt von der Schar ihrer Söhne. Der Fürst und der Vater sprachen mit höflichen Worten und ruhigen Stimmen, sorgsam bedacht einander das eigene Sinnen und Trachten verborgen zu halten. Israel lobte und schmeichelte Hamor und dieser erwiderte Gleiches mit Gleichem. Irgendwann stellten die Herren einander die Söhne vor, legten uns Männern und Knaben die Hand auf die Schulter, lachten, taten bescheiden und priesen den Himmel. Schweigend beäugten die Jungen einander und nickten verhalten. Dort also, sitzend im Schatten des östlichen Stadttores, lernte ich Hamors Ältesten kennen. Da ich schon bald von den höflichen Worten der Väter genug hatte, sah ich mich um und betrachtete heimlich, doch durchaus genau diesen Sichem Ben Hamor. Offenbar ahnte ich damals bereits das Übel, das er uns bereithielt.

Ich hatte nicht lange gebraucht um zu sehen, was für ein Leichtfuß der Erbe des Stadtfürsten war. Einen selbstgefälligen Jüngling gewahrte ich dort, gewandet in leuchtendem Leinen, die lockigen Haare zusammengebunden, die Backen rasiert nach der Art der Ägypter. Und während wir uns zurückhielten, nicht redeten ohne vom Vater zum Reden aufgefordert zu sein, unterbrach dieser Sichem immerzu plappernd die Worte der Herren. Er scherzte, erwähnte Verwandte und Freunde, erinnerte lachend an lustige Vorfälle. Eigentlich hatte er gar nichts zu sagen, aber er liebte es sichtlich Gesagtes aufzugreifen und dieses mit dem, was andere sagten, zusammenzubringen. Kaum war das Wort seines Vaters verklungen, fiel ihm ein anderes ein, das offenbar unbedingt dazu gesagt werden musste. Mich störte in kürzester Zeit das dreiste Geschwätz dieses eingebildeten Lümmels. Außerdem staunte mich sehr, dass sein Vater ihm niemals zu schweigen gebot. Schließlich verstand ich, hier wuchs einer auf ohne Anstand und Ehrfurcht. Keiner war da, der den Grobian lehrte den Vater zu ehren, bescheiden zu bleiben, vor Gott sich zu fürchten. Was war von einem wie ihm zu erwarten, was außer Streit und Beschwernis

Ausgerechnet ein Nichtsnutz, wie er, hatte nun also unsere Schwester geschändet. Ratlos verharrte der Vater angesichts dieser Verwicklung, von neuem in Schweigen versunken. Ebenso ratlos umgaben die hergerufenen Söhne den Alten, innerlich tobend im unruhig tanzenden Lichtschein der Lampen. Dann fasste einer den ganzen Ingrimm der Brüder in Worte. Das wird er büßen, ereiferte Schimon sich drohend, das wird er teuer bezahlen, der hundsgemeine Hiwite. Uns war egal, dass der Vater des Schänders Burgherr und Fürst war. Mehr noch, gerade von ihm durfte Israel nie eine schäbige Schandtat wie diese erdulden. Hatte denn nicht dieser freche Hiwite unsere Schwester gleich einer Hure behandelt? Sollte denn Schechems Bevölkerung meinen, Israel ließe sich straflos erniedern.

Bald sprachen all meine Brüder wie wild durcheinander, forderten immer noch höhere Preise für Israels Tochter. Gerste und Emmer, je zweitausend Scheffel, sollte der Vater vom Fürsten verlangen, ferner Bedienstete, Weiber vor allem, ein Dutzend zumindest. Schafe und Rinder besaßen wir wahrlich genug, wir brauchten nicht mehr. Gefäße jedoch und Geräte aus Erz sollte Hamor dagegen zahlreich für unsere übel besudelte Schwester entrichten. Schimon schlug vor, dass sich Vater vom Fürsten gar Schwerter und Äxte ausbitten sollte. Er hatte als Knabe bereits eine Schwäche für Waffen, liebte sein eigenes Schwert über alles. Vielleicht aber dachte er auch schon daran, seine Schwester zu rächen, und plante gar listig dem Feind einen Teil seiner Waffen zu nehmen. Doch, es kam anders.

Ehe noch Israel anderntags aufbrechen konnte um Hamor, den Herrn und Gebieter von Schechem, aufzusuchen, ihn anzuklagen und einzufordern den Preis für die einzige Tochter, war dieser bereits heraufgekommen zu uns. Begleitet von Sichem, diesem lausigen Dreckskerl, begehrte er Einlass am Eingang des Lagers. Nur eine kleine Schar unbewaffneter Sklaven hatte der Fürst im Gefolge. Niedergeschlagen durch Kummer und Scham, so bekannte der Mann vor dem Vater, wäre er selbst in das Lager der neuen Freunde geeilt, sobald ihm der Sohn seinen Fehltritt gestanden. Ehrlich und schmerzhaft bedauere er die hitzige, unbedachte Tat seines Sohnes. Wahrlich, er würde, versicherte Hamor mit Nachdruck, gerne die Dummheit des Jungen rückgängig machen. Ihn hätte Sichems Vergehen als Vater und Erster der Einwohner Schechems entsetzt. Doch, was geschehen, war geschehen, er trüge die Schande in Demut. Der stolze Hiwite verneigte sich ehrerbietig vor Israel, bat um die Gnade des Herrn ihm und dem Sohn zu verzeihen. Einschmeichelnd sprach dieser Hamor, ruhig, geschliffen und scheinbar versöhnlich. Vater, ich merkte es wohl, war dem schlauen Gebieter wohler gesonnen, als ich es für angebracht hielt.

Wir könnten das Unglück, behauptete Hamor, zur glücklichen Fügung verwandeln, könnten die Untat des Burschen als Aufruf begreifen künftig wie ein Volk zu leben. Der Fürst hieß uns anzuhören den Sohn, und forderte winkend den Taugenichts auf sich zu äußern. Was dann kam, war ziemlich erbärmlich, kaum zu ertragen für einen wie mich. Wortreich und weinerlich fast schon beschwor uns der Gauner zu glauben, er hätte sie aufrichtig liebgewonnen die Tochter des Hauses. Es täte ihm leid ihre Würde missachtet zu haben. Sein Sinn, so erklärte der Hund, war geblendet gewesen vom gleißenden Licht ihrer Schönheit. Ihm hätten plötzlich die Hände nicht länger gehorcht. Er bat uns mit wässrigen, falschflehenden Augen ihm Glauben zu schenken. Er sei bereit, so lange er lebe für Dinah zu sorgen. Israels Tochter, versicherte er, bedeute ihm mehr als sein eigenes Leben. Damit jedoch nahm der Bursche das Mundwerk voller als ratsam.

Möglich, dass auch sein Gebieter das merkte, denn Hamor hieß seinen Ältesten innezuhalten. Lasst uns, so sprach er an Vater gewandt, zusammen in Frieden den Wohlstand der Stadt und des Umlandes sichern! Lasst uns wie Brüder und Schwestern unsere Reichtümer teilen! Gebt meinem Sohn Eure Tochter zum Weib und ich werde Israels Haus genauso die Meinigen lassen. Ihr, Herr, und ich hätten sicherlich bald gemeinsame Enkel. Dann hob der Fürst seine Hand und deutete wieder auf diesen Halunken, seinen missratenen Erben. Gutmütig lächelnd beschwor er das gute Gemüt seines Sohnes, sagte das Wesen des Mannes sei ehrlich und sanft. Gewiss fände Israels Tochter bei ihm ein gutes Zuhause.

Während ich hörte, was dieser Hiwiter dem Vater vorschlug und anbot, sah ich die heimliche Absicht dahinter. Plötzlich verstand ich, weswegen ich abends zuvor beim Gerede der Brüder abseits gestanden war. Mir ging das alles zu schnell, ich wollte noch nicht über Preise und Pläne verhandeln, wollte nichts wissen von Korn oder Krügen, weder von Waffen noch Sklaven. Hatten denn alle auf einmal vergessen, was Gott uns zu heiligen auferlegt hatte? Wollten wir tatsächlich eins seiner Kinder achtlos den Unreinen lassen? Mir war die Schwester, ganz gleich was sie tat, zuerst eine Enkelin Abrahams. Sie stand genauso wie wir mit dem Herrn im Bunde und sollte als Auserwählte die unseren mehren, sollte es größer machen das Volk, das der Herr ihrem Ahnen am Zelte versprach. Das war der gottgegebene Auftrag des Weibes, den auch ihre Mutter gehorsam erfüllt hatte. Nun sollte dieser geheiligte Schoß die Samen des Frevlers im Bund einer Ehe empfangen? Nun sollte Israels Tochter die Brut dieser gottlosen Gauner gebären? Gab es denn außer mir niemand im Lager des Herrn, der sah, was das hieß? Wenn wir die Schwester verkauften, als wäre sie bloß eine Ziege, würden wir selber nicht mehr sein als Rinder und Ochsen. Waren wir wirklich bereit uns selbst für ein paar Säcke Korn zu missachten, uns selbst zu gewöhnlichen, unberufenen Hirten zu machen? Nein, wir schuldeten Gott, der uns als die Seinen erkannte, Treue zum Weg, den er uns gewiesen. Gottes Gebot war es damals wie heute unsere Reinheit zu wahren.

Also erlaubte mir Gott zu erkennen, was wirklich nottat um Israels Ehre zu schützen. Denn er erinnerte mich an das Zeichen, das einzigartige Zeichen des Bundes, das uns seit Abrahams Tagen von jedem Geschlecht in der Welt unterscheidet. Sämtliche männliche Nachkommen Abrahams opfern dem Herrn ihre Vorhaut, entfernen vom Fleische ein wenig, um damit den Vater des Lichtes zu ehren. Nur wer beschnitten ist, steht als Erwählter mit ihm auch im Bunde. Nur wer beschnitten ist, zählt als Gerechter zur Heerschar des Herrn. Als ich mich dessen entsann, war mir klar, was gesagt und verlangt werden musste. Ebenso deutlich erkannte ich auch, dass mir das zu sagen oblag. Wer sollte sonst die Würdigung Gottes vom Gottlosen einfordern? Wer außer mir sollte daran erinnern, was Gott, unser Herr, von den Seinen verlangt hat? Ich wusste, dass jeder von uns sich sogleich der Forderung Gottes anschließen würde. Auch mein Gebieter, der Engelsbezwinger, stand unter dem Eid seiner Ahnen. Ich wusste, dass Vater mir zuzustimmen gezwungen war, mahnte ich ihn doch an das, was wir dem Allmächtigen schuldeten.

Deshalb erhob ich mich, bat um das Wort und ersuchte den Vater mich anzuhören. Ehe dem Sohn der Hiwiter, begann ich, erlaubt werden kann, die Ehe mit Israels Tochter zu schließen, müssen wir Geltung verschaffen dem, was Gott uns gebietet. Haben nicht unsere Väter uns angehalten zu jeder Zeit Gott, dem Herrn, zu gehorchen? Dieser jedoch gab uns auf es reinzuhalten, das Haus seiner Söhne. Jeder, ob Mann oder Knabe, erinnerte ich, der das Haus mit uns teilen will, muss ein Beschnittener sein. Ist er es nicht, verbietet uns Gott sich mit ihm zu verbinden, ihn aufzunehmen ins Haus, das der Herr uns erbaut hat. Wenn sich die Einwohner Schechems mit unseren Leuten einigen wollen, wenn sie die Absicht verfolgen sich ehrlich mit uns zu verschwägern, müssen sie Gott zu gehorchen bereit sein. Dulden als Schwager kann Israel nur, wer bereit ist für Gott sich beschneiden zu lassen. Doch es genügt nicht, erklärte ich schnell, dass einzig dem künftigen Gatten die Vorhaut entfernt wird. Auch seine Brüder, sein Vater, die Brüder des Vaters und sämtliche Männer und Knaben im Haus seiner Väter sollten Beschnittene werden.

Wie ich vorausgesehen hatte, stimmten mir all meine Brüder unumschränkt zu. Sie waren begeistert, denn ihnen erschien es gerecht, was Israels Gott von den Fremden verlangte. Schweigend jedoch ließ mein Vater und Herr seinen unergründlichen Blick auf mir ruhen. Kurze Zeit fürchtete ich den Unmut des feinbesaiteten Mannes auf mich gezogen zu haben. Gewiss, ich hatte voll Eifer im Beisein der Gäste gesprochen und dabei auch hingewiesen auf das, was Gott uns vor alters geheißen. Das wusste Israel selbstredend besser als all seine Söhne. Er hätte eigentlich Gottes Gebot dem gewandten Hiwiten aufzeigen müssen. Er hätte lautstark und fest das Opfer der Vorhaut von all diesen Frevlern einfordern müssen. Anmahnen müssen hätte er Reinheit und Recht, um Gott, diesem Vater der Väter, Genüge zu leisten. Er aber hatte geschwiegen und mir war es vorgekommen, als wollte er alle Missachtung der gottlosen Gäste erdulden, wollte nur Frieden und Ruhe und Einvernehmen mit denen, die bloß darauf warteten uns zu verprellen. Unsicher neigte ich also das Haupt und harrte der Antwort des Vaters.

Endlich ergriff er das Wort und verkündete uns und den Fremden seine Entscheidung. Sich selbst bezeichnete er als gehorsamer Diener des Einen, der treu und ergeben jederzeit dessen Befehle befolgte. Recht hat der Sohn, so erklärte sich Israel vor dem Hiwiten einverstanden mit mir und der unerbittlichen Forderung Gottes. Recht hat der Sohn, wiederholte er diesmal zum Fürsten gewandt, denn es wäre für uns ein schweres Vergehen fürwahr, mit denen zu leben, die unbeschnitten geblieben sind. Gott, den er fürchte seit frühester Kindheit, würde das Haus seines Dieners vernichten, sollten nicht alle, die Teil dieses Hauses sind, seine Gebote beachten. Vater bemühte sich sehr den staunenden Fürsten darzulegen, wie wichtig, ja heilig sogar dieser Eingriff am Glied für die Nachkommen Abrahams ist.

Hamor, der alte Hiwite, hörte sich höflich und aufmerksam an, was unser Gebieter, ihm sagte. Aber es war offensichtlich, dass ihn das Gehörte verwirrte. Argwöhnisch schaute er drein, die Stirnhaut von Runzeln gezeichnet. Kurz ging sein Blick zum Sohne hinüber, doch dieser verfolgte die Worte des Hausherrn – das konnte ich deutlich erkennen – ähnlich verstört. Schließlich bekannte der Fürst, er hätte von solch einem Einschnitt noch nie was gehört. Er wüsste nicht recht, wo genau wir dabei das Steinmesser ansetzen würden. Mich schauderte, als ich das hörte und mir wieder klar wurde, wie sittenlos doch diese Leute ihr Leben verbrachten. Israel nickte, als hatte er dieses Geständnis erwartet, wandte sich um einen Diener zu rufen. Umstandslos hieß er den Sklaven ihm seinen Jungen zu holen, herzubringen den Knaben geboren in Knechtschaft. Eilig verschwand der Entbotene, kehrte schon bald mit dem Jungen zurück zu den Herren.

Unsicher trat er ins Zelt, der Sklavenspross, schweigend geführt von der kräftigen Hand seines Vaters. Israel winkte den Scheuen herbei und hieß ihn sodann sich vor den Besuchern des Herrn zu entblößen. Da wurden sie weit die Augen des kindlichen Knechtes und suchten fragend um Zustimmung jene des Vaters. Dieser vermied es zu sprechen, nickte nur kurz und gebieterisch. Daraufhin legte der Junge es ab, das schlichte Gewand seiner Knechtschaft und eingehend nahmen die Fremden seine beschnittene Blöße in Augenschein. Hamor, dem das nicht genügte, winkte den Knaben herbei und befühlte die Narbe am schmächtigen Glied. Er schob dessen Haut, der Verderbte, zurück und schien wohl zu prüfen, ob auch ein befreites Geschlecht ein Weib zu beglücken vermochte. Sein ungezügelter Nachkomme, Israels Schänder, blickte indessen gebannt auf die seltsam gehäutete Spitze der kindlichen Gerte.

Nach einer Weile wich aus den Zügen des Fürsten die Sorge. Ihm war das fleischliche Opfer zu sühnen die Schuld seines elenden Sohnes offenbar recht und vertretbar erschienen. Ein Blick ins Gesicht seines Ältesten zeigte dem Burgherrn und mir, dass auch der Entflammte entschlossen war einzuwilligen. Oh, dieses schamlose Schwein war natürlich bereit, sich so für die Hand meiner Schwester beschneiden zu lassen. Dass aber Hamor, sein stolzer Erzeuger, ebenfalls zustimmen wollte, wunderte mich und die anderen sehr. Ich sah ihn mir an, diesen nunmehr so schwachen, seltsam gefügigen Fürsten. Hatte der Alte denn gar keine Würde, dass er bereit war sich bloß seinem Söhnchen zuliebe gleich einem Säugling beschneiden zu lassen. Damals erst ward mir allmählich bewusst, dass der Fürst dieser Stadt seinem Ältesten nie eine einzige Bitte abzuschlagen vermochte. Der Knabe verhüllte sich rasch mit dem schlichten Gewand seinesgleichen, hinaus aus dem Zelte führte der ältere Knecht seinen Sprössling. Hamor verfolgte den Jungen durchaus verzückt, wie ich fand, mit begierigen Augen. Als sich die beiden entfernt hatten, wandte der Fürst sich erneut an unseren Vater und nickte. Ja, sein Sohn werde Israels Anspruch erfüllen, sich abschneiden lassen die Vorhaut des Gliedes, würdig erweisen der Tochter des Hauses. Auch er, so verkündete Hamor, wäre gewillt sich beschneiden zu lassen. Heute noch werde er ferner sämtliche Alten der Sippe am Stadttor versammeln, ihnen zu raten der Bitte der Zugewanderten ebenfalls rasch zu entsprechen.

Vater geleitete schließlich die beiden Hiwiter selbst bis zur Grenze des Lagers, ehrte zu viel, wie ich fand, diese abgefeimten Betrüger. Als er die Frevler freundlich verabschiedet hatte, sah ich ihn lächeln. Unser Gebieter und Herr war tatsächlich zufrieden mit dem, was der Fürst ihm so feierlich zugesagt hatte. Ich aber traute den Gottlosen nicht und konnte ihn richtiggehend riechen, den faulen Gestank ihrer Lügen. Ich glaubte nicht dran, dass auch nur ein einziger Landmann aus Hamors Gefolge sich Gott zuliebe würde entsündigen lassen. Doch selbst, wenn sie alle die Vorhaut ans Steinmesser lieferten, wäre das Opfer für sie nicht mehr als der Preis eines Handels, bloß der Beweis ihrer Gier und Gewinnsucht. Was wäre schon damit gewonnen, unreines Fleisch vom Geschlecht zu entfernen, solange das Herz voller Schande und Schmutz bliebe? Glaubten sie denn, diese Heuchler, sie könnten den Herrn mit dem Zeichen der Frommen am Leibe tatsächlich blenden? Glaubten sie Gott der Allmächtige würde nicht sehen, wie lüstern und falsch ihre Seelen weiterhin wären? Es fehlte den Einwohnern Schechems, das sah ich sehr deutlich, schlichtweg die rechte Gesinnung. Nie könnte dieses Gesindel vom Stamme des Kanaans werden wie wir, ganz gleich was sie taten. Nie würde einer der Ihren reiten mit uns im Heer der Gerechten. Wie konnten sie meinen, bereits die Beschneidung würde genügen um Gottes besondere Gunst zu erlangen?

Schimon war wütend und meinte entrüstet, durchschneiden müsste man all diesen Kriechern mehr als die Vorhaut alleine. Vater gebot dem Erregten zwar rasch seine Zunge zu hüten. Der aber schrie und beklagte mit Recht, dass immer noch ungesühnt war die Schändung der Schwester. Er fürchtete nun, dass die Leute der Stadt ihre Schuld mit Beschneidung allein zu begleichen gedachten. Ruben versuchte zu schlichten und zeigte sich fest überzeugt, dass Hamors Gefolge die Forderung Israels sowieso ablehnen würde. Die Brüder bedrängten dann mich und verlangten zu wissen, weshalb ich den Fremden die Forderung Gottes entgegengehalten. Ich musste gestehen, ich hatte gehofft, dass der Fürst das Gebot unseres Herrn aufgebracht abweisen würde. Und immer noch war ich mir sicher, ähnlich wie Ruben, dass viele der Einwohner Schechems die Anordnung Gottes zurückweisen würden. Nie würde Hamor es schaffen sämtliche Männer für Gottes Gebot zu gewinnen. Mir schien es im Grunde gar vollkommen ausgeschlossen, dass Schechems eingebildete Herren sich alle bereit zeigen würden abzuschneiden die Vorhaut vom Gliede. Ja, ich hatte gehofft, uns nach Schechems Weigerung endgültig lösen zu können vom Übel der Falschheit und Götzenverehrung. Dann wäre klar zu erkennen gewesen für alle, wo die Gerechten und wo die Gottlosen lagern. Doch schon nach wenigen Tagen sollte sich zeigen, wie sehr ich mich irrte.

Erneut kam der Fürst der Hiwiter hinaus in das Lager des Vaters, kam in das Zelt des Gerechten um uns den Entschluss seiner Leute selbst zu verkünden. Diesmal begleiteten Hamor mehrere alte und ältere Männer, vornehme Herren und Händler, die selbstgefällig auf markigen Maultieren ritten. Bekräftigen wollten sie alle zusammen, dass sie noch am selbigen Tag bei den Männern und Burschen, den Knaben und Knäblein der Ihren abschneiden würden die Haut, die der Herr gefordert hat. Keiner, egal ob Greis oder Säugling, sollte vom Messer unberührt bleiben. Anschließend würde ein jeder von ihnen sich selbst vom unreinen Kleid ihrer Glieder befreien. Dann, so versicherte Hamor uns prahlerisch, könnten sie eins werden, Schechem und Israel, prächtige Äste des gleichen urigen Stammes. Üppig gedeihen, so zeigte der Fürst sich gewiss, und den Wohlstand im Lande vermehren, würde der Baum ihrer nunmehr gewonnenen Eintracht. Dann würde heimführen Sichem, sein Erbe, Israels Tochter und Israels Söhne bekämen die Töchter der vornehmsten, wohlhabendsten Häuser der Stadt. Und der Reihe nach hob er die Tugend der mitgerittenen Männer hervor und pries ihre Töchter als ausgezeichnete Bräute, nannte sie hold und gehorsam, still und betörend zugleich, verglich sie mit edelsten Rosen im Garten der Götter.

Solcher Art waren die Worte des Alten, des listigen Fuchses, und widerwillig gestand ich mir ein, dass dieser Hiwite geschliffen zu reden vermochte. Barmherzig ist Gott, denn er gab mir die Klarheit und Kraft den Lügen des Fürsten nicht zu erliegen. Doch meine jüngeren Brüder durchschauten sie nicht, die Finten des Frevlers, erkannten die Absicht des Anführers nicht, Gottes Getreue, die Enkel des Bundes, unter die Herrschaft von Ba’al und Aschera zu zwingen. Ach, meine jüngeren Brüder begehrten so sehr das warme geschmeidige Fleisch dieser angebotenen Töchter. Doch gingen sie erst einmal ein in Schechems verlockende Schöße, lägen sie bald schon der Göttin Aschera zu Füßen. Darbringen würden sie nächstens das Blut ihrer eigenen Nachkommen, opfern das Fleisch ihrer Kinder am grausigen Kultpfahl der bösen Dämonin. Dort, in den Armen von Ba’als ergebener Dirnen, vergäßen sie rasch, was die Väter sie lehrten: Ihm, dem Gebieter der Flut, dem Erretter des Noah, dem Künder des ewigen Lebens alleine zu dienen, nicht untreu zu werden den Weisungen Gottes. Sollten dereinst, so befürchtete ich, meine Brüder die Töchter von gottlosen Heuchlern heimführen, wäre uns nicht mehr zu helfen. Abwenden könnte dann nicht einmal er, unser Vater und Engelsbezwinger, Gottes gerechte Vergeltung.