Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Elfriede Sommer scheint eine glückliche Frau zu sein, die alles hat, was sie sich wünscht. Aber der Schein trügt. Eines Tages kreuzt ein Mann ihren Weg, der ihre gewohnte Sicht der Dinge völlig durcheinanderbringt. Obwohl sie ihn gar nicht kennt, wirkt er ihr auf Anhieb seltsam vertraut. Sie spürt eine starke Verbindung zu ihm und fragt sich, ob sie dabei ist, sich zu verlieben. Aber die Intimität, die sie fühlt, ist keine romantische oder gar erotische. Das verwirrt sie noch mehr. Als der Fremde ihr im Traum erscheint und sich als ihr Seelenführer vorstellt, beginnt für Elfriede ein Abenteuer, das ihr alles an Mut und Wahrheitsliebe abverlangen wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 471
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Leonard Heffels studierte Kunst in Maastricht, Pädagogik in Amsterdam und Supervision in Düsseldorf. In seinem literarischen Werk tastet er sich von verschiedenen Seiten an das Thema Spiritualität heran. Mal rückt er alte Überlieferungen in ein neues Licht, mal thematisiert er die weitreichende Schöpferkraft des Glaubens, mal versöhnt er Geist und Natur in überraschenden Visionen. Sein Werk, teilweise veröffentlich unter dem Pseudonym Nerodal Feh Fesl, umfasst Romane, Novellen, Epen und Lyrik.
https://www.leonard-heffels.org
Manfred Graf Keyserling, einem Seelenführer, gewidmet
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Elfriede Sommer, eine, wie sie selbst gern sagt, ganz normale Frau, begegnet heute ihrem Seelenführer. Das wäre schon für die meisten anderen Menschen nichts Normales, keine Begebenheit, die sich nahtlos in ihren Alltag einfügen ließe. Für Elfriede Sommer ist ein solches Zusammentreffen schlichtweg undenkbar und so erkennt sie zunächst gar nicht, mit wem sie es zu tun hat.
Die Vierundvierzigjährige sieht sich selbst nicht als stolze Frau, nicht so wie diese jungen, selbstbewussten Dinger, die ihre eigenen Interessen bei jeder Gelegenheit an die erste Stelle rücken und mit Nachdruck behaupten. Aber sie ist stolz auf ihre Normalität. Sie ist normal verheiratet, hat zwei normale Kinder, lebt in einer normalen Doppelhaushälfte und hat einen Beruf, der alles andere als ungewöhnlich oder gar hip ist. Grundschullehrerin zu sein ist vielmehr der Wunsch ganzer Frauengenerationen. Sie kann darin nichts Beschränktes oder gar Verwerfliches erkennen. Es sind die normalen, täglichen Verrichtungen, die die Welt zusammenhalten. Davon ist sie überzeugt. Mögen andere auch von Selbstverwirklichung träumen und verrückte Dinge tun. Ohne das Heer der Normalen würde es ihnen allen längst nicht so gut gehen.
Die heutige Lehrerkonferenz hat sich unnötig in die Länge gezogen. Eigentlich gab es nicht viel zu besprechen, denkt Elfriede, während sie auf den Parkplatz des nahegelegenen Supermarktes einbiegt. Auf der Tagesordnung standen nur ein paar Pipifax-Punkte. Die hätte man in 20 Minuten abhaken können. Rein assoziativ war man dann aber vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen. Elfriede seufzt und schüttelt unwillkürlich den Kopf. Nicht zum ersten Mal bedauert sie, dass ihr Schulleiter so chaotisch ist. Nun muss sie sich beeilen. Sie hat noch eine Menge vorzubereiten. Der Parkplatz ist fast komplett belegt. Auch das noch, stöhnt sie innerlich.
Kochen, putzen, den Garten pflegen oder einkaufen sind keine spektakulären oder gar innovativen Projekte. Aber sie tragen wesentlich zum Glück ihrer Familie bei. Elfriede glaubt das nicht bloß, sie weiß es. Sie sieht, wie gut es ihren Kindern tut, nachmittags nach Hause zu kommen und dort in die friedliche Atmosphäre aufgeräumter, liebevoll gestalteter Räume einzutauchen. Sie kann förmlich spüren, wie den beiden der Stress des Schultages von den Schultern fällt, sobald sie in der gemütlichen Wohnküche von den Essensgerüchen umfangen werden. Auch Volker, der oft erst abends heimkehrt, kann sich dank ihrer Fürsorge meist rasch entspannen. Sie weiß, dass er ihr dafür dankbar ist.
Etwas abgehetzt schiebt sie ihren Einkaufswagen entlang der Regale. Als sie feststellt, dass sie ihren Einkaufszettel im Auto vergessen hat, flucht sie innerlich. Dann aber wischt sie ihren Ärger beiseite und versucht, sich ihre Liste zu vergegenwärtigen. Zum Glück hat sie das meiste im Kopf. Jacqueline hat morgen Geburtstag und Elfriede möchte ihrer Tochter heute Abend ihre beiden Lieblingskuchen backen. Achtzehn, denkt sie, mein Gott, das Kind wird schon achtzehn. Dann sammelt sie sich erneut und konzentriert sich auf die Anordnung der verschiedenen Lebensmittelbereiche im Supermarkt. Sie kann darin keine Logik erkennen und sieht sich gezwungen, hin und her zu eilen.
Schließlich gelangt sie zur Kasse und reiht sich in die kürzeste Schlange ein. Zitronentarte und Russischer Zupfkuchen, denkt sie, Jacqueline wird sich freuen. Auch die beiden besten Freundinnen ihrer Tochter, die sicher morgen Nachmittag vorbeischauen werden, schätzen Elfriedes Backkünste. Letztes Jahr haben sie zu dritt fast einen halben Schokokuchen verschlungen. Sie lächelt flüchtig, fühlt dann aber wieder eine Anspannung, weil es an der Kasse nur schleppend vorangeht. Sie muss sich konzentrieren. Sie stellt sich seitlich von ihrem Einkaufswagen und prüft mit leicht zusammengekniffenen Augen, ob sie alles Nötige eingeladen hat.
Da gewahrt sie hinter sich einen gutaussehenden Mann, vielleicht Mitte dreißig, und sofort gerät sie durcheinander. Fast sprunghaft erhöht sich ihr Puls und erschreckt stellt sie fest, dass ihre Ohren ganz heiß werden. Was ist das denn, denkt sie völlig überrumpelt, während sie versucht, nach außen hin unbewegt zu wirken. Sie versteht sich selbst nicht, so flatterig wie sie plötzlich ist, und hält sich am Gitter des Wagens fest.
Nachdem sie ein paar Mal durchgeatmet hat, mustert sie den Fremden verstohlen. Er ist schlank und nicht besonders groß, die Statur eher knabenhaft. Sein dunkelblondes, leicht gewelltes Haar ist mittellang, eigentlich etwas zu lang für die momentane Mode. Er blickt lässig zur Seite und zeigt ein beeindruckendes Profil: hohe Stirn, kleine schlanke Nase, volle Lippen, die Kinnpartie ausgewogen. Der Mann hält bloß eine Flasche Wasser und eine Packung Butter in Händen. Wenn sie es nicht so eilig hätte, würde sie ihn vorlassen, aber jetzt… Moment mal, schießt es ihr durch den Kopf, Butter! Rasch scannt sie den Inhalt ihres Wagens. Mist! Keine Butter! Vergessen. Sie blickt zurück und überlegt, noch schnell eine Packung zu holen.
In dem Moment schaut der schöne Fremde sie an. Seine blaugrauen Augen leuchten ihr freundlich entgegen. Dann lächelt er schelmisch und fragt sie, ob sie etwas vergessen habe.
Elfriede ist sich sicher, dass er genau sieht, was in ihr vorgeht, nicht nur was sie gedacht hat, sondern auch, wie sie sich fühlt und was in ihrem Körper los ist. Die Situation müsste ihr mehr als peinlich sein. Doch merkwürdigerweise stellt sie fest, dass das nicht der Fall ist. Vielmehr empfindet sie es als beruhigend, ja sogar angenehm, von diesem Mann gesehen zu werden. Sein Blick hat nichts Demaskierendes, nichts Spöttisches oder gar Triumphales. Er ist irgendwie weich, geht es ihr durch den Kopf, weich und wissend.
Ob es vielleicht das hier sei, unterbricht der Mann ihre Gedanken und hält ihr die Butter hin.
Elfriede ist überrascht, macht eine abwehrende Geste, möchte das Angebot ablehnen. Doch dann sagt der Fremde etwas Merkwürdiges.
Er habe sich eh gefragt, meint er schulterzuckend, weshalb er eine Butter dabeihabe. Jetzt aber würde er verstehen.
Was soll das denn heißen? Was meint der Mann? Ihr bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Sie ist gleich dran und hinter ihnen ist die Schlange lang. Sie erkundigt sich, ob der Fremde die Butter auch wirklich nicht selbst brauche und als dieser verneint, nimmt sie die Packung dankend und etwas verlegen lächelnd an.
Nachdem sie bezahlt und ihre Geldbörse verstaut hat, blickt sie zurück, um sich noch ein letztes Mal beim Fremden zu bedanken. Aber der Mann ist nicht mehr da. Sie legt die Stirn in Falten und schaut kurz nach links und rechts. Nein, er ist weg. Vielleicht, überlegt sie, braucht er doch eine Butter und ist nochmal zurückgegangen, um sich eine neue Packung zu holen. Elfriede spürt einen Anflug von schlechtem Gewissen, schiebt das Gefühl aber gleich beiseite. Sie habe ihn ja nicht genötigt, ihr zu helfen. Vielmehr schien es ihm Freude gemacht zu haben, im richtigen Moment für sie da zu sein. Kurz wundert sie sich über diese spontane und für sie ungewöhnlich pathetische Formulierung. Dann fasst sie energisch den Griff ihres Einkaufswagens und eilt hinaus.
Sie lädt gerade ihre Einkäufe ins Auto, da taucht der Fremde wieder auf, geht vorbei und wünscht ihr grüßend viel Glück beim Backen. Sie blickt auf, erkennt ihn und ist einen Moment lang irritiert.
Er lächelt wieder und deutet auf den Karton in ihrem Kofferraum. Mehl, Eier, Butter, meint er, man müsse kein Hellseher sein, um zu erahnen, was sie vorhabe.
Elfriede blickt nun ebenfalls kurz zu ihren Besorgungen hin, so als wolle sie sehen, was der Mann sieht. „Ach so, ja, stimmt. Danke nochmal für die Butter.“ Der Fremde hebt erneut die Hand zum Gruß und geht weiter.
Als sie den Kofferraum schließt und den Einkaufswagen zurückbringt, blickt sie sich um. Aber der Fremde ist schon wieder verschwunden. Wie verloren steht sie auf dem Parkplatz und schaut zur Straße hinunter. Es dauert einen Moment, bis ihr klar wird, dass der schnelle Abgang des attraktiven Mannes sie ein bisschen enttäuscht. Sie fragt sich, ob diese flüchtige Begegnung irgendetwas zu bedeuten hat. Schließlich schüttelt sie den Gedanken ab, schiebt das Ganze beiseite, tadelt sich selbst ob ihrer romantischen Ader, und erklärt alles zum bloßen Zufall. Damit scheint für sie die Sache erledigt, doch ihr Herz weiß es besser.
Elfriedes Schule ist ein schmuckloses, zweistöckiges Gebäude, das nicht sehr einladend wirkt. Die Wände sind in einem hässlichen Graubraun gestrichen und der Pausenhof ist komplett mit einförmigen Steinen zugepflastert. Ein paar akkurat zurechtgestutzte Bäumchen stehen verloren in dieser Ödnis. Sie sehen schon seit Jahren gleich aus, so als wären sie von der sie umgebenden Steinwüste eingeschüchtert und würden sich nicht trauen zu wachsen. Für Kinder gibt es kaum Spielmöglichkeiten. Sie können eigentlich nur herumstehen. Wenn sie rennen, fallen sie irgendwann hin, und wenn sie hinfallen, schlagen sie sich die Knie am Pflaster auf. Da Kinder nun einmal Kinder sind, passiert das fast täglich. Aber immerhin ist dafür gesorgt, dass sie sich draußen nicht schmutzig machen und nach der Pause nicht mit verdreckten Schuhen das sterile Schulhaus besudeln.
Direkt vor dem Gebäude gibt es seit einigen Wochen eine große Baustelle. Die Straße ist aufgebrochen, Bagger und allerhand Gerätschaft stehen herum. Aber es scheint nicht so recht voranzugehen. Für Elfriede sieht es Tag für Tag gleich aus. Der Zugang zu sämtlichen Parkbuchten ist gesperrt. Deswegen ist sie jedes Mal gezwungen, sich einen Parkplatz in den Nebenstraßen zu suchen. Das ist oft nervenaufreibend, vor allem wenn es regnet und viele mit dem Auto unterwegs sind. Wenn sie Pech hat, findet sie dann erst mehrere Hundert Meter entfernt einen freien Stellplatz.
Doch als sie sich am nächsten Tag in der Früh der Baustelle nähert, erkennt sie, dass unmittelbar vor der Absperrung gerade jemand in sein Auto steigt. Sie denkt an ihre schwere Tasche mit Korrekturarbeiten. Ein kurzer Weg ins Schulhaus wäre heute mehr als willkommen. Hoffnungsfroh hält sie an, lässt das Seitenfenster runter und erkundigt sich, ob der Mann wegfahren wolle. Er blickt auf, hebt eine Hand, lächelt und nickt. Da sieht Elfriede, dass es der Fremde aus dem Supermarkt ist. Ihr Mund öffnet sich, Runzeln erscheinen auf ihrer Stirn. Zugleich spürt sie ihr Herz pochen.
Wie am Vortag dauert es einen Augenblick, bis sie sich so weit gesammelt hat, dass sie reagieren kann. Sie setzt zurück, um den Mann ausparken zu lassen, atmet ein paar Mal tief durch, während sie wartet, ihr Blick fest auf den Fremden am Steuer. Doch der schaut sie nicht an. Hat er sie überhaupt erkannt? Was macht der hier? Und was macht er mit ihr?
Gedankenverloren parkt sie ein, stellt den Motor ab und bleibt dann mit dem Schlüssel in der Hand hinterm Lenkrad sitzen. Sie starrt durch die Windschutzscheibe. Während ihr Blick ins Leere geht, wird ihr klar, dass sie seit gestern Nachmittag wiederholt an diesen Mann gedacht hat. Und als sie ihn soeben sah, was löste das in ihr aus? Sie war überrascht, klar, aber nicht nur. Sie war – das musste sie sich eingestehen – angenehm überrascht. Unwillkürlich legt sie ihre Linke aufs Herz. Warm, stellt sie fest, mir ist tatsächlich warm ums Herz. Es ist irre, denkt sie, ich freue mich, einen wildfremden Mann zu sehen.
Und er? Elfriede überlegt. Der war doch nicht rein zufällig um diese Zeit an diesem Ort. Unmöglich! Spioniert er mir hinterher? Aber wie hätte er es dann schaffen können, heute Morgen noch vor mir hier zu sein? Und warum hat er mich nicht gegrüßt, den Kontakt gesucht, etwas gesagt? Unter anderen Umständen würde Elfriede das Ganze unheimlich finden. Aber der Mann hat eine merkwürdig beruhigende Wirkung auf ihr Gemüt, so als wäre er ein alter Freund oder ein guter Bekannter. Jedenfalls kann sie sich nicht vorstellen, dass er ihr irgendwie schaden, dass er böse Absichten haben könnte.
Unwillkürlich spielt Elfriede mit dem Autoschlüssel in ihrer Rechten. Auch in Gedanken fängt sie an zu spielen. Vielleicht, so spekuliert sie, sind diese Begegnungen weder zufällig noch geplant, sondern vielmehr Ausdruck eines gegenseitigen Interesses, einer verborgenen Anziehungskraft, die dafür sorgt, dass sich unsere Wege kreuzen. Obwohl diese Vermutung, das weiß sie selbst, ziemlich gewagt ist, von außen betrachtet vielleicht sogar abwegig, scheint sie ihr in diesem Augenblick durchaus plausibel. Ja eigentlich, schlussfolgert sie, kann es nur so sein. Und ihr gefällt die Annahme, dass sich der Mann für sie interessiert. Er sieht umwerfend aus, ist offenbar zuvorkommend und deutlich jünger als sie selbst. Für den Moment gibt sie sich diesem Gedanken hin und versucht sich vorzustellen, wie es wäre, sich mit ihm zu unterhalten, ihm nahe zu sein, von ihm ganz vorsichtig an der Schulter oder am Arm berührt zu werden.
Elfriede schreckt aus ihren Gedanken hoch, als das Geräusch eines dumpfen Pochens aus unmittelbarer Nähe an ihr Ohr gelangt. Sie blickt zur Seite und schaut in das lachende Gesicht von Inge dicht vor dem Seitenfenster auf der Beifahrerseite. Die Kollegin ruft ihr ein „Guten Morgen!“ zu und sagt dann noch etwas, das Elfriede nicht versteht. Sie hebt fahrig die Hand, lächelt zurück, merkt, dass ihre Mimik nur widerwillig gehorcht, hievt ihre Tasche aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und steigt aus.
Als sie sich umblickt, registriert sie erleichtert, dass Inge schon weitergegangen ist. Elfriede möchte jetzt nicht reden und erst recht nicht ihre Tagträumerei erklären. Mit Inge ist sie sowieso für morgen verabredet. Sie grinst schwach, als sie ihre Tasche schultert. Wahrscheinlich, denkt sie, lässt mich Inge auch nur deshalb in Ruhe, denn eigentlich ist ihre Kollegin schulintern bekannt für ihre Neugier – wobei es nicht alle so positiv ausdrücken. Sie nestelt noch ein wenig an ihrer Tasche, um mit der Verzögerung den Abstand zwischen sich und Inge zu vergrößern.
Sie geht zunächst ins Lehrerzimmer, grüßt einen älteren Kollegen, der konzentriert auf den Bildschirm seines Computers schaut, und ist froh zu sehen, dass jemand schon Kaffee gemacht hat. Mit einem vollen Becher in der linken Hand und ihrer übervollen Mappe auf der rechten Hüfte balanciert sie durch die Gänge. Es ist noch früh und so gelangt sie ohne weitere Begegnung zu ihrem Klassenzimmer. Sie stellt ihre Sachen ab, öffnet ein Fenster, nimmt ihren Becher Kaffee wieder zur Hand, lehnt sich an die Fensterbank und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen.
Aber sie nimmt kaum etwas bewusst wahr, ist noch gar nicht richtig angekommen, in Gedanken woanders. Elfriede ist verwirrt, verwirrt über ihre eigene Reaktion. Was soll diese Träumerei, fragt sie sich? Wieso wühlt mich dieser Mann so auf? Ich weiß nicht einmal, wie er heißt, und doch erscheint er mir so nahe und vertraut. Es lässt sich nicht leugnen: Der Fremde löst Gefühle der Leichtigkeit und Freude in ihr aus, die sie überraschen. Aber da ist noch etwas anderes, ein – wie soll sie das nennen? Ein Ziehen? Ein Verlangen?
Elfriede betrachtet sich als glücklich verheiratet und sie liebt ganz sicher ihre zwei jugendlichen Kinder. Sie ist stolz auf ihre Familie, in der alle ihren Teil zum Ganzen beitragen und gut miteinander auskommen. Deshalb versteht sie ihre Gefühle nicht. Vielmehr versetzen diese sie in Unruhe.
Sie nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und dann noch einen. Normalerweise hilft ihr das Koffein, klarer zu denken und im Alltag zu funktionieren. Das brauche ich jetzt, denkt sie. Dann bilden sich unwillkürlich wieder Runzeln auf ihrer Stirn. Bin ich unzufrieden, fragt sie sich, fehlt mir etwas? Ich habe doch alles, was sich eine Frau in meiner Position wünschen kann. Genügt mir das nicht?
Sie blickt auf die Uhr über der Tür. Bald kommen die ersten Schüler. Sie muss sich zusammenreißen. Und das tut sie in gewohnter Manier: Sie tadelt sich, ruft sich selbst zur Räson, geht mit sich selbst ins Gericht. Und die innere Richterin schüttelt bereits missbilligend den Kopf. Wieso diese pubertären Anwandlungen, Elfriede Sommer? Was soll diese Schwärmerei, diese Suche nach dem Unbekannten, nach irgendeinem Abenteuer? Bist du von Sinnen? Willst du denn deine Ehe, deine Familie, dein ganzes Glück für ein bisschen Lebendigkeit oder Leidenschaft aufs Spiel setzen? Du verhältst dich wie eine Sechzehnjährige. Mach dich nicht lächerlich!
Am nächsten Tag trifft sich Elfriede mit ihrer Kollegin Inge zum Spaziergang im Stadtpark. Wie die Wetterdienste vorhergesagt haben, ist es ein sonniger und ungewöhnlich warmer Tag. Wenn nicht bereits die ersten Blätter an den Bäumen verfärbt wären, denkt sie auf dem Weg zum Treffpunkt, könnte man meinen, es sei Hochsommer. Kräftig ausschreitend bewundert sie das leuchtende Gelb in den Ahornbäumen. Manchmal ist sie gezwungen innezuhalten, denn es sind viele Menschen unterwegs, vor allem Mütter mit kleinen Kindern oder Rentner, und die meisten davon gehen genießerisch langsam, gemächlich.
Inge leitet ihre Parallelklasse. Sie ist in vielerlei Hinsicht das glatte Gegenteil von ihr: klein und füllig, kurze pechschwarz gefärbte Haare, energisch und leutselig. Die beiden kennen sich schon lange. Als Elfriede vor fünfzehn Jahren in der Keplerstraße anfing, gehörte Inge dort schon zum Inventar. Elfriede bekam die Klasse neben Inges und jede Menge Unterstützung von ihrer erfahrenen Nachbarin. Sie konnte Hilfe und Rat damals gut gebrauchen und war froh, Inge nebenan zu wissen. Mit den Jahren hat sich ihr Verhältnis verändert. Elfriede sammelte eigene Erfahrungen und brauchte immer weniger Unterstützung. Vor allem aber entwickelte sie einen Unterrichtsstil, der von demjenigen Inges deutlich abwich. Angesichts ihrer so unterschiedlichen Charaktertypen, so verstand Elfriede damals, war das auch keine große Überraschung.
Inge war Lehrerin mit Leib und Seele, hatte ihre Schüler wirklich gern, sprühte vor Ideen, war aber auch etwas chaotisch und – wie sie selbst sagte – „emotional intensiv“. Manche Kollegen hielten sie einfach für aufbrausend. Langweilig wurde es bei ihr im Unterricht nicht so schnell. Mit immer neuen Anregungen und Vorschlägen wusste sie ihre Schüler geschickt zu motivieren. Allerdings blieb die Realisierung so mancher Projekte auf halbem Weg stecken. Elfriede, das zeigte sich bald, war vom Typ her strukturierter. Es war ihr ein inneres Bedürfnis, ihren Unterricht akribisch zu planen, um damit möglichst wenig dem Zufall zu überlassen. Ihre Schüler wussten immer, woran sie mit ihr waren, was von ihnen erwartet wurde. Dafür aber entwickelten sie weniger Eigeninitiativen als bei Inge.
Von Anfang an hatte die Ältere sie ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. Inzwischen ist Elfriede eine, wie sie selbst meint, gestandene Lehrerin und der Austausch mit ihrer Nachbarin längst nicht mehr so intensiv wie früher. Sie respektieren sich und schätzen die Qualitäten der jeweils anderen. Aus Dankbarkeit für die Unterstützung in den Anfangsjahren hält Elfriede zu Inge und verteidigt sie, wenn andere meinen, ihre chaotische Arbeitsweise kritisieren zu müssen.
Im südlichen Teil des Stadtparks gibt es einen kleinen See. Direkt an seinem Ufer steht eine uralte, ausladende Eiche. In einem Kreis rund um den knorrigen Stamm herum ist eine Holzbank gezimmert. Dort sitzt Inge bereits und wartet auf sie. Als die Kollegin sie kommen sieht, springt sie auf, geht ihr entgehen und umarmt sie zur Begrüßung. Jedes Mal, wenn Inge das macht, kommt sich Elfriede dabei etwas ungelenk vor. Die quirlige Kollegin ist gut einen Kopf kleiner als sie und während sie sich an ihrem Busen schmiegt, ragen Elfriedes Kopf und Schultern wie unbeteiligt und verloren aus dieser Umarmung heraus.
Nicht zum ersten Mal kommt ihr das Bild von Sancho Pansa und Don Quijote in den Sinn. Rein äußerlich passt es: Inge, der etwas beleibte Bauchmensch, und sie, die schlaksige Dünne. Aber vom Charakter her entsprechen sie beide nicht den Romanfiguren des Klassikers. Weil Inge so dynamisch ist, fehlen ihr die Gemütlichkeit und Lässigkeit des treuen Knappen Sancho. Und sie selbst betrachtet sich alles andere als eine verträumte Idealistin, die in der Vergangenheit lebt und gegen Windmühlen kämpft. Trotzdem drängt sich ihr dieser Vergleich immer wieder auf. Nun ja, denkt sie, und grinst über Inges Kopf hinweg, besser als Dick und Doof.
Sie lösen sich aus der Umarmung und Inge setzt sich sogleich in Bewegung, so als sei schon vorher entschieden worden, in welche Richtung sie losziehen würden. Elfriede schmunzelt und schließt rasch zu ihr auf. Sie umrunden den See zur Hälfte und biegen dann in ein kleines Wäldchen ein. Anders als von Elfriede erwartet, erkundigt sich Inge nicht nach Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch. Sie fragt auch nicht nach, weswegen Elfriede gestern früh so gedankenverloren in ihrem Auto saß und durch die Windschutzscheibe starrte. Stattdessen zieht sie unvermittelt über einen ihrer männlichen Kollegen her, der sie heute in der Pause offenbar blöd angeredet hat.
Normalerweise mag es Elfriede nicht, wenn ihre Klassennachbarin so schimpft und lästert. Diesmal ist sie aber froh, dass Inge sich über einen entfernteren Kollegen echauffiert. Immerhin, stellt sie erleichtert fest, kreist das Gespräch nicht um mich und meine Gemütsverfassung. Gemütsverfassung – wie das klingt! Ich versuche mein Gemüt zu fassen, denkt sie, es in sauberen Begriffen einzufassen. In Wirklichkeit aber, Elfriede Sommer, bist du sprachlos. Du hast keine Worte für das, was mit dir los ist. Sogar wenn du es wolltest, könntest du nicht darüber reden. Irgendetwas, überlegt sie, während sie automatisch nickt zu dem, was Inge lebhaft erzählt, passiert gerade mit mir, bringt mich durcheinander. Auf einmal sind Gefühle da, die ich so bislang nie oder zumindest sehr lange nicht wahrgenommen habe.
„… und da antwortet er mir doch tatsächlich, und grinst noch dabei … Hörst du mir zu?“
Die Frage, die plötzlich lauter an ihr Ohr dringt, reißt Elfriede aus ihren Gedanken. Sie sieht, dass Inge sich ihr zugewandt hat, die Hände, die eben noch wild gestikulierten, in der Bewegung erstarrt. Elfriede schaltet schnell. „Ich kann mir denken, wie Otto reagierte“, sagt sie lächelnd. „Fehler“, ergänzt sie, um Inge zu besänftigen, „kann er ja nicht so gut zugeben.“
„Gar nicht kann er das!“, bekräftigt Inge, „überhaupt nicht! Er behauptete nämlich, er hätte niemals gesagt, dass ich …“
Elfriede schüttelt den Kopf, um Inge ihr Unverständnis über das Verhalten des kritisierten Kollegen zu demonstrieren. Die scheint damit zufrieden zu sein und setzt ihren Monolog fort.
Ohne dass sie etwas dagegen tun kann, wandern Elfriedes Gedanken bald zum attraktiven Fremden aus dem Supermarkt. Seinen Blick – an den erinnert sie sich, sieht ihn klar vor sich. Der scheint sie zu begleiten. Der Fremde sah sie sanft an, freundlich, im Grunde ganz und gar liebevoll. Aber in seinen Augen hat sie noch etwas anderes erkannt. Er schaute, und das war das Besondere denkt sie jetzt, er schaute gar nicht wie einer, dem ich fremd war, sondern wie einer, der mich kannte, der irgendwie wusste, wen er vor sich hatte. Sie blickt kurz zu Inge hinüber und nickt gedankenverloren. Ja, stellt sie fest, das ist es, der Mann schaute nicht nur gütig, sondern wissend. Er weiß etwas über mich, so scheint es, etwas Persönliches. Nein, das trifft es nicht! Er weiß nicht etwas, er weiß … alles? Er weiß, … wer ich bin.
Sie spürt, wie ein leichter Schauder über ihren Rücken geht. Plötzlich ist es wieder da, das Gefühl von Nähe. Der Unbekannte weiß nicht bloß Dinge über sie, die vielleicht kaum ein anderer weiß, sondern er kennt sie, er durchschaut sie, schaut durch ihre Außenseite, ihre Oberfläche hindurch. Doch diese Vorstellung – und das wundert sie selbst – ist nicht irgendwie bedrohlich oder gespenstisch. Dieser Mann will sie nicht beeindrucken oder manipulieren. Mit Männern, die sie beeindrucken wollen, hat Elfriede Erfahrung. Sie sind eitel und von sich eingenommen. Ihr Gehabe ist peinlich. Aber dieser Mann tickt anders, das fühlt sie deutlich. Ihm geht es auch nicht um Macht oder Herrschaft. Nein, dieses Angeschautwerden ist ganz anders. Und auch diese Erkenntnis kommt für sie unerwartet. Ich fühle mich, überlegt sie, in seinem Wissen aufgehoben, geborgen.
Ihre Kollegin bleibt unvermittelt stehen, blickt in die Ferne, breitet die Arme aus und atmet tief ein. „Ah, das tut gut“, stöhnt sie genüsslich. „Hier draußen kann man alles loslassen. Zur Hölle mit Otto!“
Elfriede atmet nun auch einmal tief durch. Dann wendet sie sich Inge zu. „Du darfst dich von ihm nicht provozieren lassen, Inge. Wenn du dich aufregst, hat er doch genau erreicht, was er will.“
Inge nickt. „Ja, ja, ich weiß. Er schafft es immer wieder, mich auf Hundertachtzig zu bringen. Aber das nächste Mal werde ich ihn ignorieren.“ Sie setzt sich wieder in Bewegung.
Elfriede lächelt. Solche Sätze hört sie nicht zum ersten Mal. Kopfschüttelnd geht sie der Kollegin hinterher, bleibt aber ein paar Schritte hinter ihr zurück. Sie ahnt, dass Inge jetzt ihr eigenes Verhalten in Bezug auf ihren Intimfeind Otto kritisch reflektiert.
Und so hängt Elfriede schon nach wenigen Augenblicken wieder ihren eigenen Gedanken nach. Und je länger sie darüber nachdenkt, umso klarer sieht sie, wie weitreichend und tiefgreifend die Wirkung dieses Mannes auf ihr Gemüt, auf ihr ganzes Wesen ist. Er sieht meine Gefühle, zweifellos, meine tiefsten und wahrsten Gefühle. Er kennt sie, nimmt sie in ihrer Ganzheit wahr. Unwillkürlich richtet sie sich etwas auf, so als würde sie versuchen, sich einen Überblick zu verschaffen, um ihre Erfahrung zu analysieren. Natürlich, denkt sie, so muss es sein, denn das würde auch erklären, weshalb er sich für mich auf Anhieb so vertraut anfühlte.
Aber sie ahnt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Auf ihrer Stirn bilden sich Runzeln. Es ist nicht einfach so, überlegt sie, dass ich mich bloß freue, gesehen zu werden. Dieser Mann zeigt auch etwas. Er zeigt mir … ja, was? Wie soll ich das nennen? Ein verborgenes Leben? Etwas, von dem ich selbst nicht einmal wusste? Eine geheime Sehnsucht? Denn so ist es doch, Elfriede. Dadurch, dass er deine intimsten Gefühle ansah, bist du überhaupt erst auf sie aufmerksam geworden.
Einem inneren Impuls folgend schaut sie plötzlich auf, schaut den Weg entlang in die Ferne. Die kleinen Kinder mit ihren Laufrädern, die Mütter mit den Kinderwagen, die tänzelnden Blätter der Birken nimmt sie nur am Rande wahr. Ja sogar die Geräusche, das vergnügliche Quietschen der Kleinen, die Gespräche der Frauen, treten in den Hintergrund. Wie durch ein Fernrohr springt ein Detail aus der gesamten Szenerie heraus, eine Gestalt. Was sie sieht, überrascht sie nicht. Ihn dort jetzt zu sehen, fühlt sich stimmig an, fast so, als könnte es gar nicht anders sein. Sie hat ihn sogleich erkannt an … Ja, woran eigentlich? An seinem Gang? An seiner Statur, an den Haaren? Elfriede lächelt und fühlt sich auf einmal überwältigend glücklich, als ihr klar wird, dass sie ihn gar nicht erkannt hat. Nein, sie wusste, dass er da ist, ist sich seiner Gegenwart auf einmal bewusst gewesen.
An dieser Stelle meldet sich ihr Verstand wieder zu Wort, gewohnt kritisch, analytisch, zweifelnd. Sogleich ist nichts mehr selbstverständlich. Und Elfriede wundert sich sehr.
Zwei Tage später fährt Elfriede zur örtlichen Bibliothek, um Anregungen für ihren Unterricht zu suchen. Das sonnige Wetter hält an und sie genießt die knapp zehnminütige Fahrt auf dem Rad. Es sind viele Radfahrer unterwegs und der Anblick all dieser Leute hat etwas Heiteres, Unbeschwertes. Unwillkürlich verlangsamt sie ihr Tempo, atmet tief ein, lässt ihren Blick ein wenig schweifen. Die flammenden Farben an den Bäumen wärmen ihr das Herz.
Eigentlich ist sie den ganzen Tag schon heiter gestimmt. Kommt das vom Wetter? Sie will die Frage bereits für sich bejahen, da fällt ihr ein, dass sie heute Morgen schon so frohgemut aufgewacht ist. Was war passiert? Sie hatte geträumt, das wusste sie noch. Aber als sie ihre Augen öffnete, verflüchtigte sich alles innerhalb von Sekunden. Elfriede war nicht in der Lage gewesen, sich an irgendeine Einzelheit zu erinnern. Nur eben diese Heiterkeit, die hatte sie in den Tag hinüberretten können.
Sie wirft ihren Kopf nach hinten und schüttelt ihn fast ein bisschen übermütig, als ihr der lauwarme Fahrtwind durchs Haar streicht. Der Vormittag in der Schule ist gut gelaufen. Sie ist die ganze Zeit entspannt gewesen und hat Probleme kreativ lösen können. Spontan sind ihr sogar neue Ideen für den Unterricht gekommen. In den nächsten Tagen, vielleicht auch Wochen, möchte sie mit ihren Schülern die Geschichte des Brotes durchnehmen. Sie hat gleich erkannt, dass das Thema sehr ergiebig ist und sich auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Fächern verknüpfen lässt.
Nachdem sie ihr Fahrrad abgesperrt hat, betritt sie die Bücherei. Sie grüßt eine der Mitarbeiterinnen im Vorbeigehen und hält auf die Regale mit den Kindersachbüchern zu. Sie muss nicht lange suchen, bis sie fündig wird. Bald ist sie in ein Buch über Brotherstellung in verschiedenen Kulturen vertieft. Als sie auf eine Auflistung diverser Backzutaten stößt, fällt ihr der Besuch im Supermarkt neulich wieder ein. Für den Bruchteil einer Sekunde taucht ein Bild in ihrer Erinnerung auf, eine Szene aus ihrem nächtlichen Traum. Aber bevor sie es festhalten und richtig registrieren kann, ist es schon wieder entschwunden. Und doch ist sie sich in diesem Moment sicher, dass sie von ihm geträumt hat, vom vertrauten Unbekannten – wie sie ihn inzwischen für sich nennt.
Unwillkürlich schaut sie sich kurz um, so als wolle sie sich vergewissern, dass niemand in der Nähe ist, der ihre heimlichen Gedanken lesen könnte. Abgesehen von einem kleinen Mädchen mit seiner Mutter ist jedoch niemand zu sehen. Die beiden stehen weiter vorn bei den Fantasy-Büchern. Elfriedes Blick fällt auf den bunten Rucksack der Kleinen, auf dem ein süßes Einhorn in Disney-Manier abgebildet ist. Das Fabeltier hat eine lange weiße Mähne und große, unschuldig dreinblickende Augen.
Dass außer den beiden niemand da ist, registriert sie mit leichtem Bedauern. Vorgestern im Park hat sie das Gefühl gehabt, der Unbekannte tauche auf, sobald sie an ihn denke. Das war natürlich eine irrige Vorstellung, die sich irgendwie aber trotzdem in ihrem Gemüt einnisten und behaupten konnte. Ich könnte genauso gut an Zauberei glauben, denkt sie schmunzelnd, oder an ein hübsches Einhorn, das mir im Wald begegnet und mich in eine andere Welt führt. Unwillkürlich schaut sie noch einmal hinüber zum Bildnis des kecken Einhorns auf dem Rucksack des Kindes. Ihr Blick bleibt am Horn hängen. Stolz aufgerichtet steht es da, geringelt und oben etwas abgerundet.
Und dann, völlig unvermittelt, spürt sie eine starke sexuelle Erregung, eine wohlige, strömende Wärme in ihrem Unterleib wie ein lustvolles Erwachen. So stark erregt ist sie, dass ihr fast schwindlig wird und sie sich am Regal anlehnen muss. Volker und sie haben noch hin und wieder Sex miteinander, nicht mehr so oft wie früher natürlich. Und meistens gefällt es ihr auch. Aber eine so heftige, überfallartig aufkommende Lust hat sie schon lange nicht mehr erlebt. Sie schließt die Augen, atmet tief durch und muss sich beherrschen, nicht die Hand auf ihre Scham zu legen. Mein Körper spielt verrückt, denkt sie. Es ist eine hilflose Feststellung, ein kläglicher Versuch, die plötzliche Leidenschaft vom Verstand her einzudämmen. Sie blickt auf ihr Buch, das sie inzwischen zugeschlagen hat, zwingt sich, darin zu blättern, irgendetwas zu lesen.
Genauso schlagartig, wie sie ihren Leib ergriff, verschwindet die Erregung wieder. Beschämt schaut sich Elfriede noch einmal um, fast sicher, dass ihr die Lüsternheit anzusehen war, dass sie Hitze und Geilheit förmlich ausgestrahlt hat. Aber die Metallregale sind nicht geschmolzen, die Bücher nicht in Flammen aufgegangen und auf dem Boden unter ihr hat sich keine Lache gebildet. Alles sieht normal aus. Niemand scheint ihre Wallung bemerkt zu haben. Sogar das kleine Mädchen und seine Mutter sind verschwunden. Sie atmet tief durch und merkt erleichtert, wie sie sich langsam wieder beruhigt. Dann wendet sie sich wieder den Bänden zu, die teilnahmslos in ihren Regalen stehen.
Zehn Minuten später hat sie bereits einen ganzen Stapel Bücher im Arm und entscheidet, dass es reicht. Sie geht mit ihrer Auswahl Richtung Leseecke, will sich dort alles nochmal genauer anschauen. Als sie das Regal umrundet und sich nach rechts wendet, sieht sie ihn sofort. Er sitzt ganz entspannt in einem der Sessel. Er ist offenbar in seine Lektüre vertieft und blickt nicht auf. Elfriede bleibt stehen, schüttelt unwillkürlich den Kopf, lächelt dann aber. Sie betrachtet ihn genauer und dabei fällt ihr Blick auf seine feingliedrigen Hände. Keine Handwerkerhände, so viel ist klar. Vielleicht ist er Musiker, denkt sie, oder Schriftsteller. Seine langen Haare verleihen ihm das Aussehen eines Künstlers.
Er scheint sie nach wie vor nicht zu bemerken, aber Elfriede ist sich sicher, dass er weiß, dass sie hier ist. Sie erschrickt kurz, als sie überlegt, wie viel er wohl mitbekommen hat. Kann es sein, dass er ihre Erregung soeben gespürt hat? War es ihr nicht selbst vorgekommen, als würde sich ihre heftige Wallung wellenförmig durch die ganze Bücherei ausdehnen, spürbar, hörbar, riechbar. Ausgerechnet er sollte sie nicht bemerkt haben? Bislang schien er doch stets zu ahnen, was sie gerade braucht: eine Packung Butter, einen freien Parkplatz. Sie merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
Elfriede könnte jetzt kehrtmachen, zur Ausleihe gehen, ihre Bücher einscannen und die Bibliothek auf kürzestem Weg verlassen. Doch sie weiß, dass sie das nicht tun wird. Ihr ist inzwischen klar, dass sie diesem Mann nicht ausweichen kann. In ihrem Kopf hört sie die Stimme ihrer Mutter: Kind, mach dich nicht lächerlich! Lauf den Männern nicht hinterher! Aber die mahnenden Worte überzeugen sie nicht. Viel zu stark ist bereits das Gefühl einer inneren Verbundenheit mit diesem merkwürdig vertrauten Unbekannten. Nein, sie wird ihm nicht ausweichen und sie will es auch gar nicht.
Entschlossen atmet sie tief ein, geht zur Leseecke, setzt sich dem Fremden direkt gegenüber und lässt ihn dabei die ganze Zeit nicht aus den Augen.
Da blickt er auf, lächelt, scheint gar nicht überrascht.
Einen Moment lang ist Elfriede sprachlos. Wieder verunsichert fragt sie sich, was der hier eigentlich macht. Und vielmehr: Was macht sie hier? „Ja, so ein Zufall!“, sagt sie schließlich und merkt selbst, wie dümmlich das klingt.
Sein Lächeln wird breiter. „Wir haben offenbar die gleichen Wege.“
Elfriede neigt den Kopf etwas zur Seite. „Also doch kein Zufall.“
Da lacht der Fremde kurz auf. „Was ist schon Zufall?“
Wir drehen uns im Kreis, denkt sie, ein Tanz der Rhetorik. Sie deutet mit dem Kinn auf das Buch in seinen Händen. „Was lesen Sie?“ Wortlos hält er das Buch hoch und sie liest laut: „Amis, Amour, Bien Manger“. Leicht spöttisch zieht sie die Brauen hoch. „Ein Kochbuch?“
Der Fremde zuckt kurz mit den Schultern. „Mir hat der Titel gefallen. Irgendwie gut gewählt, oder?“ Bei dem „oder“ schaut er sie direkt an, ganz offen, fast wie ein Kind.
Elfriede weiß nicht, was sie darauf erwidern soll.
Er bemerkt ihre Verlegenheit und hilft ihr, sich daraus zu lösen. Er nickt zu dem Stapel Bücher, den sie immer noch im Arm hat. „Und Sie? Sind Sie fündig geworden?“
Elfriede blickt auf ihre Last hinunter und es ist, als würde sie sich plötzlich ihrer entsinnen. Leise ächzend wuchtet sie den Stapel auf den kleinen Tisch zwischen ihnen.
„Geschichte des Brotes“, liest er vom obersten Band.
Sie grinst. „Sie sehen, ich bleibe mir treu. Backen ist offenbar mein Thema.“
Er nickt anerkennend. „Backen verbindet.“
Schon wieder so eine Anspielung, denkt Elfriede. „Nun, wenn das so ist“, erwidert sie und greift sein Stichwort auf, „ich heiße Elfriede, Elfriede Sommer.“ Sie reicht ihm quer über das Tischchen die Hand.
Er klappt das Kochbuch zu, beugt sich vor und ergreift ihre Hand, hält sie einen Moment in der seinen.
Elfriede sieht ihn nicken und hat das unbestimmte Gefühl, dass er ihren Namen schon kannte. Es irritiert sie, dass er keine Anstalten macht, den seinen zu nennen. „Und Sie?“, fragt sie betont beiläufig.
„Nennen Sie mich Manfred“, antwortet er lächelnd.
Sie wundert sich über diese Aussage. Sonderbarerweise klingt es nicht so, als würde er ihr damit das Du anbieten, nicht so, als würde er sagen: Ich heiße Manfred Schmidt, nennen Sie mich Manfred. Vielmehr hat sie den Eindruck, als hätte er für sich noch einen anderen, geheimen oder unaussprechlichen Namen: Eigentlich heiße ich soundso, aber nennen Sie mich Manfred. Plötzlich hat Elfriede keine Lust mehr auf Spielchen. Sie legt ihre Linke auf den Stapel Bücher vor sich, als wolle sie einen Eid ablegen, hebt den Kopf und blickt den Fremden direkt an. „Was willst du von mir, Manfred?“
Den Angesprochenen überrascht diese jähe Konfrontation offenbar nicht und anstandslos wechselt er ebenfalls zum familiären Du. „Ich bin gekommen“, erwidert er gelassen und so als sei es etwas ganz und gar Selbstverständliches, „um dich zu führen.“
Nun ist Elfriede nicht bloß erstaunt, sondern auch beunruhigt. In ihrem Innern läutet eine Alarmglocke. Achtung, spricht ihr Verstand, der Mann ist ein Spinner! Sieh dich vor! Womöglich bist du an einen Stalker geraten. Gleichzeitig entschärfen und relativieren, ja widerlegen ihr Gefühl und ihre unmittelbare Wahrnehmung diese Befürchtungen. Die Gegenwart des Mannes ist für sie weiterhin wohltuend. Ihre Gedanken rennen zwar kopflos durch die Gegend, aber kann sie keine Angst fühlen, keine Bedrohung spüren. Sie beschließt auf seine Erklärung einzugehen. „Und wohin?“, fragt sie mit angespannter Miene. „Ich meine, wohin willst du mich führen?“
Der Mann, der Manfred genannt werden möchte, lächelt freundlich. „Es geht nicht so sehr um ein Wohin, Elfriede, das Ziel ist nicht festgelegt. Ich habe den Auftrag, dich aus deiner selbstgewählten Isolation zu führen.“
Aufgewühlt tritt Elfriede in die Pedale. Die Sonne ist inzwischen hinter sich auftürmenden Wolken verschwunden, es ist merklich kühler geworden. Regen kündigt sich an. Aber es ist nicht die Befürchtung, nass zu werden, die Elfriede anspornt, schnell zu radeln. Instinktiv sucht sie den Abstand zwischen sich und diesem Manfred möglichst rasch zu vergrößern. Sie hat die Bücherei hastig, fast schon fluchtartig verlassen. Dass der Mann ihr seit Tagen wiederholt über den Weg läuft, hat sie noch als spannend und aufregend empfunden. Aber dieses Gerede von Führung und Auftrag lässt sie nun doch an seinem Verstand zweifeln.
Trotzdem gelingt es Elfriede nicht, den merkwürdigen Fremden und seine noch merkwürdigeren Worte einfach zu vergessen. Isolation, denkt sie. Was meint er bloß? Sie versteht das nicht. Sie fühlt sich gar nicht isoliert. Sie hat Mann und Kinder, die sie lieben. Sie hat Freundinnen und Kolleginnen, die sie mögen und wertschätzen. Wie kommt der Typ bloß dazu, sie als isoliert zu bezeichnen? Sie ist doch keine an Haus und Herd gekettete Hausfrau aus Großmutters Zeiten. Elfriede merkt, wie ihre Empörung wächst, und tritt noch etwas fester in die Pedale.
Doch obwohl ihr sofort Argumente einfallen, um die groteske Behauptung, sie sei isoliert, zu widerlegen, kann sie damit nicht die Unruhe beschwichtigen, die das Wort Isolation in ihr ausgelöst hat. Irgendetwas hat es in ihr anklingen lassen. Irgendetwas in ihr reagiert darauf, das kann sie nicht leugnen. Ist es ihr Herz, der Sitz ihrer Gefühle? Fühlt sie sich im Herzen angesprochen? Kann das sein? Fühlt sie sich in ihrem Innersten gar – erkannt? Noch während sie sich die Frage stellt, weiß sie, dass sie sie nur mit Ja beantworten kann. Zugleich aber wehrt sie sich dagegen.
Elfriede hält an einer roten Ampel und nutzt die Pause, um langsam durchzuatmen. Während sie auf die vorbeifahrenden Autos starrt, ruft sie sich Manfreds Worte in Erinnerung. Was hat er gesagt? Auftrag? Er habe einen Auftrag? Was soll das bedeuten? Wer gibt denn da Aufträge? Vielleicht hört er Stimmen, überlegt sie. Elfriede hat einmal über psychisch Kranke gelesen, die behaupten, im Innern eine Stimme zu hören, die ihnen Anweisungen gibt. Sie meint sich zu erinnern, dass es damals um Schizophrenie ging. Vielleicht war es aber auch Paranoia gewesen? Kann es sein, dass dieser Manfred geistesgestört ist?
Er war sitzen geblieben, ganz ruhig und ohne ein weiteres Wort. Als sie ihre Sachen packte und davonlief, war er weder aufgestanden, noch hatte er versucht, sie zurückzuhalten. Zumindest fanatisch, denkt sie, während sie wieder weiterradelt, scheint er nicht zu sein. Er hat nicht versucht, mich zu irgendetwas zu nötigen, wollte mich offenbar auch nicht von irgendetwas überzeugen. Elfriede beruhigt sich allmählich und überlegt. Genau genommen kann ich nicht einmal sagen, dass er mir hinterherläuft. Die Erkenntnis kommt etwas überraschend. Eigentlich, stellt sie erstaunt fest, weiß ich nur, dass er öfter dort ist, wo ich auch bin.
Zu Hause angekommen, schiebt sie ihr Rad in die Garage und sperrt es ab. Sie will gerade ihre Tasche aus dem Korb nehmen, da hält sie inne. Soll sie mit Volker darüber reden, ihm von diesem merkwürdigen Mann erzählen? Volker ist immer klar in seinen Einschätzungen. Er hat ihr schon öfter geholfen, eine Lage sachlich und objektiv zu beurteilen. Sie bewundert seine Fähigkeit, mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf zu treffen. Instinktiv spürt sie jedoch, dass es in diesem Fall anders wäre, dass er dem Fremden gegenüber misstrauisch und voreingenommen sein würde, ja in ihm gar einen Nebenbuhler sehen könnte. Volker ist kein sehr gefühlsbetonter Mensch, aber sie ahnt, dass er mit Eifersucht auf ihren Bericht über diesen fremden Mann reagieren würde.
Mit ihrer Linken massiert sie unwillkürlich ihre Stirn. Hätte er denn Grund zur Eifersucht? Würde Volker mit Recht misstrauisch werden? Mit anderen Worten, Elfriede, begehrst du diesen Manfred? Er ist jung, attraktiv, allem Anschein nach charmant und scheint sich für dich zu interessieren.
Unsinn! Sie schüttelt den Gedanken ab und hebt mit einer resoluten Bewegung die schwere Büchertasche aus dem Fahrradkorb. Nein, entscheidet sie, es gibt keinen Grund mit Volker über diese Geschichte zu reden, weil, … weil es gar keine Geschichte gibt. Es würde diesen zufälligen Begegnungen bloß unnötig Gewicht verleihen. Volker soll damit nicht belastet werden.
Aber Elfriede weiß, auch wenn sie es sich nicht eingestehen mag, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit ist, den Kontakt zum Fremden abreißen zu lassen. Würde sie sich erlauben, sich trauen, ihre Gefühlslage zur Kenntnis zu nehmen, könnte sie sehr wohl sehen, was Sache ist. Sie möchte diesen Mann vor Volker geheim halten. Sie möchte nicht in die Lage geraten, ihrem Ehemann erklären zu müssen, was es mit dem Unbekannten auf sich hat. Er würde es nicht verstehen. Wie auch? Sie versteht es ja selbst nicht.
Dagmar ist Elfriedes beste Freundin. Sie kennen sich schon seit der Schule. In der Zeit trafen sie sich regelmäßig. Danach verloren sie sich für einige Jahre aus den Augen. Während Elfriede fürs Lehramt studierte, fing Dagmar eine Lehre als Bankkauffrau an. Irgendwann aber hatte sie genug vom Bankgewerbe und wechselte zu einer mittelständischen IT-Firma. Inzwischen leitet sie dort die Gehaltsbuchhaltung. Jahre später trafen sie sich zufällig auf einem Konzert. Elfriede war damals mit Jacqueline schwanger. Nach der mitreißenden Show unterhielten sie sich noch stundenlang in einem Café und beschlossen spontan, die alte Freundschaft zu erneuern.
Das ist ihnen gelungen. Sie telefonieren mindestens einmal die Woche miteinander und treffen sich öfter zum Austausch. Ein paar Mal hat sie Dagmar und ihren Mann Gerhard zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Genauso oft sind sie und Volker den Einladungen der beiden gefolgt. Aber die Freundinnen stellten schnell fest, dass die Treffen zu viert nur halb so viel Spaß machten. Die beiden Männer verstanden sich nicht so gut, wirkten angespannt, blieben reserviert. Dadurch hatten die gemeinsamen Abende immer etwas Verkrampftes, Angestrengtes. Für die Frauen bedeutete das mehr Stress als Freude. Und so sind sie schließlich zum Format der Zweiertreffen zurückgekehrt. Sie besuchen gemeinsam Kulturveranstaltungen, machen Wanderungen, verabreden sich in Kneipen oder gehen so wie am heutigen Samstag shoppen. Dagmar braucht einen neuen Mantel für den Winter und hat Elfriede gebeten, sie bei der Suche zu unterstützen.
Da sie auf entgegengesetzten Seiten der Stadt wohnen, haben die Freundinnen vereinbart, sich mitten in der Fußgängerzone vor den Toren jenes Mode-Kaufhauses zu treffen, das nicht nur das größte, sondern auch renommierteste ist. Wenn sie und Dagmar gemeinsam shoppen gehen, fangen sie fast immer dort an. Elfriede ist früh dran und stellt sich sogleich unter die hohen Arkaden des Hauses. Sie ist mit der Straßenbahn gefahren und hat die letzten paar Hundert Meter zu Fuß bewältigt. Da es nieselte und sie keinen Schirm dabeihatte, war sie zügig gegangen. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, geht sie an den Schaufenstern entlang. Dem gehobenen Niveau des Hauses entsprechend sind sie künstlerisch eigenwillig gestaltet. Elfriede stellt fest, dass die Winterkollektion in den Auslagen nahezu komplett in Grautönen gehalten ist. Sie verzieht das Gesicht. „Da kommt keine Freude auf“, murmelt sie vor sich hin und ein Mann, der offenbar ebenfalls wartet, schaut von seinem Handy auf, wirft einen flüchtigen Blick ins Schaufenster und grinst.
Dagmar kommt genau die zehn Minuten später, die Elfriede zu früh war, als gelte es eine geheime Symmetrie wiederherzustellen. Sie begrüßen sich mit einer flüchtigen Umarmung. Beide sind ein bisschen nass geworden und vermeiden es, die jeweils andere fest zu drücken. Sie gehen rein, werden von einem Strom warmer Luft erfasst und öffnen sogleich ihre Jacken. Dagmar fängt an, ihr zu erklären, was für eine Art von Mantel ihr vorschwebt und inwiefern die Mäntel, die sie schon hat, nicht geeignet sind, eine bestimmte Lücke in ihrer Garderobe zu schließen. Der eine ist zu kurz, der andere hat die falsche Farbe, der dritte den falschen Schnitt, der vierte ist zu dünn, der fünfte ist hoffnungslos veraltet … Elfriede lässt den Wortschwall innerlich lächelnd über sich ergehen. Sie kennt Dagmars Modefimmel und weiß um die oft ganz eigene Logik, die dieser mit sich bringt.
Sie nehmen die Rolltreppe und da sie nun dicht an dicht mit Fremden stehen, unterbricht Dagmar ihre Erklärungen und schweigt. Elfriede schaut sich um. Es ist viel los, denkt sie, als sie spürt, wie die typische Einkaufshektik sie erfasst. Auf und ab fahren die Leute, die einen mit leuchtenden Augen, die anderen mit großen Einkaufstaschen. Sie ist sich nicht mehr sicher, wo die Abteilung mit Jacken und Mänteln ist, und wäre sie allein, hätte sie auf die Übersichtstafel schauen müssen. Aber auf Dagmars Führung kann sie sich verlassen. Die kommt hier öfter her. Im zweiten Stock verlässt ihre Freundin die Rolltreppe und geht zielstrebig gerade aus.
Die nächste halbe Stunde verbringt Elfriede damit, über die wechselnde Auswahl ihrer Freundin den Daumen zu heben oder zu senken. Immer wieder fordert Dagmar sie auf, „ehrlich“ zu sagen, ob ein Mantel ihr steht oder nicht, ob dieser oder jener Schal besser wäre, ob dazu ein Hut passen würde und wenn ja, welcher. Anfangs lässt sie sich von der Begeisterung ihrer Freundin anstecken, vom Reiz der Verkleidung, vom Zauber der Verwandlung. Doch nach einer Weile verliert sich ihr Interesse. Stattdessen wird sie ungeduldig, was sie, da sie Dagmar weder drängen noch kränken möchte, sogleich zu verbergen sucht.
Dagmar zieht zwei Mäntel in die engere Auswahl, kauft aber keinen. Sie möchte sich zunächst weiter umschauen. Sie gehen wieder hinunter und verlassen das Kaufhaus auf der anderen Seite. Es nieselt noch immer und beide ziehen automatisch die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch. Elfriede weiß, es gibt ein paar Boutiquen, die ihre Freundin nun aufsuchen möchte. Sie kennt diese Geschäfte gut, schätzt das besondere Sortiment und ist selbst dort häufig fündig geworden. Sie kennt auch die Inhaberinnen und hat sich gelegentlich mit ihnen unterhalten, manchmal sogar bei einer Tasse Kaffee. Aber heute hat sie keine so rechte Lust auf diese Besuche. Vorhin, während Dagmar ihre Mäntel aussuchte und probierte, hat sie sich ein bisschen umgeschaut. Dabei musste sie feststellen, dass nichts dabei war, was ihr Herz höherschlagen ließ. Im Gegenteil, denkt sie, während sie eine Einkaufspassage durchqueren, die ganzen Klamotten haben mich kalt gelassen.
Ab und zu bleibt Dagmar stehen und weist sie auf irgendetwas in einem Schaufenster hin. Dann versucht Elfriede Interesse zu zeigen, aber es fällt ihr schwer. Was ist mit mir los, fragt sie sich. Das alles hat mir doch immer viel Spaß gemacht. Während sie vorhin noch meinte, es sei bloß die langweilige neue Mode, die ihr das Einkaufen verleide, so muss sie jetzt feststellen, dass es nicht bloß die Mode ist. Das ganze Drumherum scheint für sie jeden Reiz verloren zu haben. Sie sieht es heute mit anderen Augen, wie aus einer größeren Entfernung. Es befremdet sie. Nein, nicht nur das. Es ödet sie an, ist fade geworden wie ein Essen, das seinen Geschmack verloren hat. Die gigantische Menge der Waren und Angebote empfindet sie nur noch als erdrückend, die Werbung als grell und verzweifelt, die Lust des Habenwollens als unnatürlich und schal.
Und so wird dieser Einkaufsbummel am Samstagnachmittag für sie zu einer mühsamen und freudlosen Unternehmung. Quälend langsam ziehen sich die Stunden dahin. Und als Dagmar schließlich ihren Mantel gefunden und erstanden hat und sie bei Kaffee und Kuchen im ersten Stock eines beliebten Cafés sitzen, vertieft sich ihr Gefühl der Entfremdung noch weiter. Sie umfasst ihre Cappuccino-Tasse mit beiden Händen, trinkt kleine Schlückchen und überlegt, wie sie das Gespräch, das sich bislang um Klamotten, Küchen und Kochen drehte, in eine andere Richtung lenken könnte. Die Möglichkeit eines sanften, fließenden Übergangs kann sie nicht erkennen. Also entscheidet sie sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. Sie stellt ihre Tasse ab, blickt Dagmar forschend an und spricht die Frage aus, über die sie schon eine Weile nachdenkt. „Hast du manchmal das Gefühl, dass dir etwas fehlt im Leben?“
Ihre Freundin schaut zunächst überrascht, grinst dann aber. „Oh, da fällt mir eine Menge ein.“
Elfriede bleibt ernst. „Du weißt, dass ich so was nicht meine.“
„Was glaubst du denn, dass ich meine?“
„Na ja, Geld, ein tolles Haus, solche Sachen.“
Dagmar nickt. „Mehr Geld wäre in der Tat nicht schlecht. Ich träume schon länger von einer neuen Küche. Gerhard meint, wir könnten einen Kredit aufnehmen. Aber ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee wäre.“
Elfriede weiß, dass Dagmar und ihr Mann leidenschaftliche Hobbyköche mit einem Faible für die französische Küche sind. Dass die Freundin von einer neuen Küche träumt, überrascht sie daher nicht. Trotzdem enttäuscht sie Dagmars Antwort und als sie nun weiterbohrt, kann sie nicht verhindern, dass etwas von dieser Enttäuschung in ihren Worten durchklingt. „Sonst fehlt dir nichts?“
Da fühlt sich Dagmar kritisiert und reagiert abwehrend.
„Was willst du hören, Elfriede? Gerhard ist wie er ist, manchmal verschlossen, manchmal offen, manchmal aber auch zärtlich. Wir haben uns aneinander gewöhnt, wir halten zusammen. Das funktioniert. Kinder wollten wir nie. Ich vermisse sie nicht. Mein Chef ist manchmal nervig, aber insgesamt schon okay. Er lässt mir zumindest meinen Freiraum. Die Bezahlung ist in Ordnung. Im Ernst: Was sollte mir fehlen?“
Elfriede versteht Dagmar. Sie hätte noch vor wenigen Wochen ähnlich geantwortet: Ich habe Mann und Kinder, alle sind wohlauf, mein Job ist okay. Alles bestens. Inzwischen hat sie jedoch das Gefühl, dass etwas Wesentliches fehlt, ja dass alles, was ihr bisheriges Glück ausmachte, diesen Mangel bloß verdeckt hat. Sie könnte selbst nicht sagen, was ihr fehlt. Wunschlos glücklich war sie bisher, zumindest hat sie das geglaubt. Nun fühlt sie sich in ihrem Glück wie … ja, wie eingesperrt. Und kaum hat sie diese Erkenntnis in Gedanken formuliert, da fällt ihr dieser sonderbare, sie sonderbar anrührende Mensch ein, dieser Manfred. Was hat der behauptet? Er sei gekommen, sie aus ihrer Isolation zu befreien? Sie spürt ein Ziehen in der Brust. Mein Herz regt sich, denkt sie, so als würde es sich von seiner Botschaft angesprochen fühlen. Es ist ein Gedanke, der sich ganz natürlich einstellt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann.
In diesem Moment wird ihr klar, dass sie ihrer Freundin nicht vermitteln kann, was sie bewegt. Dagmar würde es nicht verstehen, das spürt sie intuitiv. Sie blickt auf ihre leere Kaffeetasse. Da sie nicht weiß, was sie zu Dagmars heftiger Erwiderung sagen soll, schweigt sie und muss hilflos feststellen, dass sich dieses Schweigen zwischen ihnen beiden zur Sprachlosigkeit vertieft.
Schließlich signalisiert Dagmar der Bedienung, dass sie zahlen möchten.
Kurz darauf muss Elfriede eine weitere unliebsame Erfahrung machen und auch diesmal ist sie nicht darauf vorbereitet. Am Montagmorgen sitzt sie kurz nach 10 Uhr in der Sofaecke des Lehrerzimmers, ihre Brotzeitdose auf dem Schoß, und schält eine Mandarine. Auch die meisten ihrer Kollegen haben jetzt Pause und dementsprechend voll ist das Zimmer. Alle Plätze sind belegt und zusätzlich stehen drei, vier Leute bei der Küchenzeile herum und warten ungeduldig auf ihren Kaffee. Elfriede schiebt sich ein Stückchen Mandarine in den Mund und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen.
Was sie wahrnimmt, ist ein ganz normaler Montagmorgen. Alles ist wie gewohnt. Zu ihrer Rechten unterhalten sich zwei ältere Kolleginnen über die Mühen, die sie am Wochenende mit ihren pflegebedürftigen Eltern oder Schwiegereltern hatten. Links von ihr schwärmt gerade eine jüngere Kollegin von irgendeiner neuen App auf ihrem iPad, die sie voller Begeisterung ihrer Nachbarin demonstriert. Elfriede fängt weitere Gesprächsfetzen auf. Zwei der wenigen männlichen Lehrkräfte reden, wie es scheint, über Autoversicherungen. Die Englischlehrerin berichtet von irgendeinem unmöglichen Schüler.
Während Elfriede all das gleichzeitig wahrnimmt, passiert etwas Merkwürdiges. Auf einmal ist sie außerhalb des Geschehens, schlagartig herausgehoben, so als würde sie von der Decke auf die Szenerie hinunterblicken. Verwundert betrachtet sie sich selbst, wie sie da inmitten dieses Durcheinanders von Reden und Regungen sitzt, ihre Mandarine isst und nur flüchtig zuhört, ohne wirklich beteiligt zu sein. Ihre Wahrnehmung scheint im wörtlichen Sinne verrückt zu sein, zur Seite gerückt, ein Stück von ihr abgerückt. Die sie umgebenden Stimmen und Geräusche klingen auf jeden Fall sonderbar fern. Soeben war es noch ein vertrautes Geplapper halbwegs vertrauter oder doch zumindest bekannter Menschen. Nun erscheint es ihr fremd und mechanisch. Sie fühlt sich an die Klangcollage einer künstlerischen Installation erinnert, einer sich endlos wiederholenden Tonaufnahme. Sie erblickt in diesem Moment eine Welt, die mechanisch ihr immergleiches Programm herunterspult. Denn das, was sie sieht und hört, unterscheidet sich in nichts von dem, was sie an jedem beliebigen Schultag hier in der Pause gesehen und gehört hat. Aber auch in allen noch kommenden Pausen, daran gibt es für sie in diesem Augenblick keinen Zweifel, wird es dasselbe zu sehen und zu hören geben.
Irritierend, sogar erschreckend ist noch etwas anderes, etwas, was den Figuren in dieser Szenerie fehlt. Jeder der Anwesenden, die Elfriede wie skurrile Sprechpuppen vorkommen, scheint in seinen eigenen Schablonen gefangen zu sein, denkt und spricht entlang vorgestanzter Linien, unfähig, dieses Muster zu verlassen. Obwohl sie dicht beisammensitzen, pausenlos reden und allerlei Regungen zeigen, ist der Mangel an Beziehung nicht zu übersehen. Es ist eine namenlose, weil unerkannte Not, ein Dürsten der Seele, das mit Kaffee oder Wasser nicht zu löschen ist.
Sie kann nicht sagen, wie lange dieser Zustand andauert. Was sie sieht, ist so intensiv, so vielschichtig und umfassend, dass es ihr wie eine längere Zeit vorkommen müsste, wenn sie denn darüber nachdächte. Aber während ihrer Vision, ihrer seltsam verschobenen Wahrnehmung, ist Zeit kein Thema. Die Frage nach der Dauer stellt sich nicht. Erst als die Erfahrung vorbei ist und sie anfängt zu reflektieren, rückt die Zeitfrage in ihren Fokus. Das Ende kommt genauso übergangslos wie der Anfang. Elfriede schaut etwas benommen auf die Brotdose hinunter und stellt erstaunt fest, dass sie ihre Mandarine inzwischen aufgegessen hat. Unsicher bewegt sie ihre Augen hin und her, halb damit rechnend, dass alle sie befremdet anstarren. Aber niemand scheint ihre Veränderung mitbekommen zu haben. Sie schaut auf die Uhr über der Tür. Viel Zeit kann nicht vergangen sein, denkt sie, höchstens ein paar Minuten.
Plötzlich hat sie das Bedürfnis, mit den anderen in Kontakt zu treten, irgendetwas zu sagen, etwas Belangloses, Unverfängliches. Dies ist der Kreis ihrer Kollegen und sie möchte dazugehören, darin eintauchen und aufgehen. Angestrengt überlegt sie, was sie äußern und beitragen könnte. Aber sie bringt kein Wort über die Lippen. Alle scheinen in ihre Gespräche vertieft zu sein, sagen, was sie immer sagen, reagieren, wie sie immer reagieren, lachen, lästern, sorgen und empören sich. Elfriede weiß nicht, wie oder wo sie sich daran beteiligen soll.
Irgendetwas hat sich verändert. Ihr kommt der irrwitzige Gedanke, dass sie plötzlich unsichtbar geworden sein könnte. Die anderen nehmen keine Notiz von ihr, so als wäre sie gar nicht da. Nachdenklich schließt sie ihre Brotdose mit den Mandarinenschalen und stellt sie auf dem kleinen Tischchen in der Mitte ab, nicht sanft und leise, wie sie es sonst machen würde, sondern so, dass man es hört. Ja, sie lässt den Edelstahlbehälter ein paar Zentimeter oberhalb der Tischplatte aus der Hand gleiten, um ein Geräusch zu verursachen, ein Zeichen zu setzen. Aber es passiert nichts. Der scheppernde Ton geht im Geplapper und Gelächter unter, bleibt ungehört.
Die junge Kollegin mit ihrem iPad redet immer noch begeistert davon, wie außerordentlich praktisch und bequem die neue Software ist. Als sie etwas zu schwungvoll über den Bildschirm wischt, stößt sie Elfriede mit dem Ellbogen in die Seite und murmelt sogleich eine Entschuldigung über ihre Schulter hinweg. „Nichts passiert“, hört Elfriede sich sagen, aber die Nachbarin redet bereits weiter. Nein, denkt sie, unsichtbar bin ich nicht. Und trotzdem scheine ich woanders zu sein, irgendwie außer Reichweite. Sie lächelt schwach über diese Formulierung, als ihr in den Sinn kommt, dass sie doch gerade angestoßen wurde. Und da geht ihr auf, dass es genau umgekehrt ist. Nicht sie ist für die anderen außer Reichweite, sondern die anderen sind es für sie.