Marthas Geschick - Leonard Heffels - E-Book

Marthas Geschick E-Book

Leonard Heffels

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Beschreibung

Judäa im 1. Jahrhundert n. Chr. Eine einzelne Frage stellt die zwölfjährige Ada ihrer Mutter Martha. Da ahnt sie noch nicht, dass die Antwort darauf zu einer Erzählung geraten wird, die fast schon einer Einweihung gleichkommt. Sie hört die Geschichte zweier Schwestern, die auf unterschiedliche Weise von Leben und Tod eines wundersamen Rabbi berührt und verwandelt werden: Martha und Maria. Bis zu diesem Tag wusste Ada nichts von der Existenz der bereits vor Jahren gestorbenen Tante. Das Schicksal dieser Maria fesselt sie von Anfang an. Geschickt führt Martha das Mädchen an das Mysterium der Liebe und des Todes heran. Im Laufe der Erzählung nähern sich Mutter und Tochter gemeinsam einer erschütternden Wahrheit.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

1

„Mutter?“

Überrascht blickt Martha auf, erstaunt über diese Anrede. Sie kann sich gar nicht erinnern, wann Ada sie zuletzt so nannte, Mutter. Eigentlich benutzt die Tochter immer, wie jedes Kind, das viel vertrautere Ima. Martha stellt ihren Korb mit Zwiebeln ab und schaut das Mädchen fragend an. „Was ist?“

„Mutter, was ist eine Schnalle?“

„Hm, was…? Weshalb willst du das wissen, mein Kind?“

„Ich habe mit den anderen draußen gespielt. Da bekamen wir Streit und Daglonitho hat plötzlich gerufen: Deine Mutter war eine Schnalle!“

„Das hat sie gesagt?“

„Ja, und die anderen haben mich ausgelacht.“

Martha erblasst, dreht sich ein Stück von der Tochter weg und tut so, als würde sie am Boden etwas suchen. Sie hat von Anfang an gewusst, dass irgendwann Fragen auftauchen würden, dass sie mit Ada würde sprechen müssen. Als sie nun aber erlebt, wie jäh die Vergangenheit in ihr Leben einbricht, nimmt es ihr fast den Atem. Sie bleibt einen Augenblick vom Kinde abgewandt stehen um sich zu sammeln. Dann schiebt sie den leeren Tonkrug beiseite, mit dem sie gerade zum Brunnen gehen wollte, bevor sie sich endlich umdreht und das verstörte Kind tröstend in den Arm nimmt. Betroffen spürt sie Adas Beben an ihrem Busen. Ich muss vorsichtig sein, sagt sie sich, Ada ist sehr empfindsam. Und während sie dem Mädchen über das lange schwarzglänzende Haar streicht, lächelt sie schwach. Das haben wir wohl beide von ihrer Großmutter, denkt sie. Mit der ganzen Gelassenheit, zu der sie in der Lage ist, versucht sie Ada zu beruhigen.

„Ach, mein Kind, sei nicht traurig. Daglonitho weiß gar nicht, was sie sagt.“

Ada löst sich halb aus ihrer Umarmung. „Aber Ihr wisst es, Ima, oder, was sie gemeint hat?“

Martha antwortet nicht sogleich, sondern führt das Mädchen wenige Schritte zu einer der beiden einfach, aber sauber gezimmerten Holzbänke beim großen Tisch. „Komm, setz dich zu mir!“ Sie dreht sich zur Tochter hin und fasst sie bei den Schultern. „Wie groß du geworden bist, Kind! Ich glaube, der Tag ist gekommen, an dem du erfahren solltest, wie du auf die Welt kamst.“

2

Sie sitzt ein paar Atemzüge still da und lässt ihre Gedanken in den Brunnen der Vergangenheit hinabsinken. Es wundert sie nicht, aus welcher Tiefe sie schöpfen muss, aber es überrascht sie, wie mühelos sie dorthin gelangt. „Du bist jetzt zwölf Jahre alt, Ada, bald kein Kind mehr. Ich war nur wenige Jahre älter, als meine Eltern entschieden mich einem Mann zum Weib zu geben, einem Zimmermann aus dem Nachbardorf.“

„Mein Vater.“

„Ja, in der Tat, er wurde bald darauf Vater, als ich ihm Ben-HaÏl schenkte. Ich war ja noch recht jung, aber ich hatte Glück. Mein Gatte war gut zu mir. Er war stolz auf seinen Sohn und versorgte uns beide gewissenhaft. Wir lebten im Haus meiner Eltern, denn bei den Seinen war kein Platz mehr. Er war ja der jüngste von acht Brüdern. Und die meisten von ihnen hatten bereits ein Weib heimgeführt. Ich tat mein bestes um meinen Mann zufrieden zu stellen und unserem Sohn eine sichere Heimstatt zu geben. Ich arbeitete flink mit den anderen auf dem Feld und an der Kochstelle, trieb mich oft zur Eile, gönnte mir häufig keine Ruhe, bis das Tagwerk getan war. Ich ließ meinen Jungen nicht aus den Augen, trug ihn, nährte und wusch ihn mit so viel Sorgfalt, wie sie einer Mutter nur möglich ist. Wenn mir der Rücken wehtat, meine zerschundenen Hände schmerzten, meine Füße geschwollen waren, so achtete ich kaum darauf. Ich war immer für meine Leute da, kümmerte mich um meine Eltern, sorgte für meine jüngeren Geschwister, unterstützte meinen Mann, hütete mein Kind. Manchmal verdross es mich, dass meine Plackerei von den anderen einfach hingenommen wurde und ich nie ein Wort des Dankes hörte. Aber es ist auch wahr, dass ich stets bemüht war unauffällig im Hintergrund zu bleiben und nicht gesehen zu werden.“

„Aber…“

„Ja, ich weiß. Du verstehst nicht, was das mit deiner Frage zu tun hat.“ Martha seufzt ob der Ungeduld des Kindes. Sie kennt sie nur zu gut, diese Unrast, hat sich viel zu häufig selbst gedrängt und angetrieben. „Ach, mein Kind. Die Antwort ist nicht so leicht, und du solltest das Ganze erfahren, nicht bloß einen Teil vom Ganzen. Gedulde dich also. Ich muss dir schließlich ein Leben nahebringen, von dem du bisher nichts wusstest. Ich hatte eine Schwester …“

Auf Adas Stirn bilden sich Runzeln. „Eine Schwester? Das wusste ich nicht. Wo ist sie jetzt?“

„Als junge Frau zog sie in eine andere Gegend und dort starb sie bereits vor vielen Jahren. Aber damals, als Ben-HaÏl erst wenige Monate alt war, lebte sie noch bei uns.“ Martha holt tief Luft und richtet sich auf, als wollte sie sich aus ihren Erinnerungen erheben.

„Wie hieß sie denn, Mutter?“

„Dein Großvater hatte sie Mirjam geheißen wie die Schwester des großen Propheten. Aber wir nannten sie alle Maria und es sollte sich noch zeigen, dass dieser Name bereits ein Hinweis auf den Weg war, den sie zu gehen hatte. Maria war ein paar Jahre jünger als ich und ganz anders. Während ich immer darauf bedacht war schnell voranzukommen, saß sie öfter nur da und betrachtete die Felder oder das Vieh oder die Weite des Landes bis zur Kimmung. Wenn wir ernteten, konnte es passieren, dass sie mitten in der Arbeit innehielt, sich hinhockte und die Ähren bewunderte. Auch kam es immer wieder vor, dass sie ihre Arbeit unterbrach, wenn wir zusammen am Bach saßen und die neue Wolle unserer Schafe wuschen. Dann ließ sie versonnen ihre Hand durchs Wasser gleiten und schaute auf den Grund des Flüsschens. Manchmal erregte das meinen Unmut und öfter mahnte ich sie zur Eile. Aber ich fühlte auch, dass meine Schwester diese Zeiten der Untätigkeit brauchte. Ja, ich spürte fast schon etwas Heiliges in ihrem Innehalten, so als würde sie im Verweilen und Träumen Gott nahe sein. Und tatsächlich war sie wohl säumig, aber nicht arbeitsscheu. Wenn sie mit ihrem Tagwerk nicht fertiggeworden war, blieb sie auf dem Feld und machte weiter, bis es völlig dunkel geworden war und sie abbrechen musste. Mehr als einmal ging ich selbst hinaus um sie heimzuholen. Ich machte mir Sorgen um sie und fürchtete, dass ihr auf den einsamen Feldern etwas zustieß. Zwar trieben sich bei uns öfter Wildschweine oder Schakale herum, manchmal sogar Löwen, aber sie waren es nicht, von denen ich meine Schwester bedroht sah. Ich hatte Angst, dass böse Männer kommen und sie überfallen würden.“

„Böse Männer? Aber weshalb, Ima, sollten sie Eure Schwester überfallen?“

Martha schaut das Mädchen prüfend an. „Weißt du, Kind, du musst wissen, dass meine Schwester schön war, sehr schön sogar. Mit ihren langen dunklen Haaren, ihren großen Augen und ebenmäßigen Zügen war sie gewiss die schönste Magd in ganz Bethanien. Wenn sie Räubern in die Hände gefallen wäre, hätten diese sie für viel Silber als Sklavin verkaufen können. Und es war ja nicht so, dass man Maria leicht übersehen hätte, dass sie unscheinbar gewesen wäre. Sie verhielt sich zwar oft still und abseits, aber mir entging nicht, dass sie sofort die Augen sämtlicher Burschen auf sich zog, wenn sie irgendwo erschien. Ich glaube nicht, dass sie das selbst bemerkte. Zu sehr hing sie wohl ihren eigenen Empfindungen, ihren Träumen und Ahnungen nach.“

„Aber es ist nichts passiert, oder?“

Es dauert einen Augenblick, bis Martha versteht, was Ada meint. „Nein. Nein, sie wurde nicht geraubt. Und sie selbst hatte auch gar keine Sorge, dass ihr Schlimmes zustoßen könnte. Sie war da sehr zuversichtlich und voller Vertrauen auf Gott. Mehr als einmal sagte sie mir, dass ihr Leben in der Hand Jahwes läge, dass Er alleine bestimme, was ihr widerfahre, und dass ich daran nichts würde ändern können. Wenn sie so sprach, kam sie mir manchmal unerträglich leichtgläubig und kindlich vor. Dann entrüstete und fragte ich mich, wie sie bloß meinen konnte, dass Gott eine einfache Magd wie sie behüten würde. Aber es war möglich, dass schon wenig später meine Empörung in Bewunderung umschlug, denn es beeindruckte mich doch die Tiefe und Reinheit ihres Vertrauens.“

„Es hat ihr aber nichts genutzt, oder, denn sie ist ja jetzt tot.“ Kaum hat Ada ihre Erwiderung geäußert, da senkt sie erschrocken das Haupt. Jetzt wo das harte Wort ertönt ist, wird ihr klar, dass sie ungeziemend gesprochen hat.

Da lacht Martha kurz auf, als sie die Tochter so freiheraus und unbedacht reden hört. „Meinst du denn, Kind, dass wir zu Gott beten, damit wir nicht sterben müssen? Soll Gott etwa dafür sorgen, dass wir für immer an unseren Leib gekettet sind? Vielleicht hat sich Marias Glauben gerade in der Stunde ihres Todes erfüllt. Was wissen wir schon? Hat nicht der Gesalbte gesagt, dass das Weizenkorn in die Erde fallen und ersterben muss, um eine neue Frucht hervorzubringen?“

3

„Bald trug ich erneut ein Kind unter dem Herzen und im Monat Tammuz brachte ich einen weiteren Sohn zur Welt. Es war eine schwülwarme Nacht, als plötzlich die Niederkunft einsetzte und meine Mutter nach der Wehfrau schickte. Unglücklicherweise war die Geburtshelferin gerade im Nachbardorf und es dauerte mehrere Stunden, bis sie endlich an meinem Lager erschien. Meine Mutter hatte inzwischen festgestellt, dass das Kind falsch herum im Leib lag und gedreht werden musste. Das war nicht ganz einfach. Die Geburt zog sich bis in die Morgenstunden hin. Danach war ich sehr erschöpft. Aber schon nach vier oder fünf Tagen stand ich wieder auf den Beinen und packte mit an, denn es war Erntezeit und es gab viel zu tun. Ich war so töricht zu glauben, dass die anderen meine Hände nicht entbehren konnten. Außerdem war ich mir sicher, dass die anstehenden Arbeiten keinen Aufschub dulden würden. Die älteren Frauen rieten mir zwar zur Vorsicht und mahnten mich zur Ruhe. Aber da ich gewohnt war beharrlich und zuverlässig zu arbeiten, schlug ich ihre Bedenken und Warnungen in den Wind. Letzten Endes jedoch musste ich für meine unüberlegte Eile einen hohen Preis bezahlen.

Zwei Tage nachdem der Junge beschnitten worden war und Großvater ihm den Namen Ben-Assa gegeben hatte, bekam ich Fieber und hatte Schmerzen im Leib. Ich erkrankte schwer und musste mehrere Wochen lang mein Lager hüten. Die Wehfrau kam täglich und schaute nach mir. Die Heilerin gab mir Auszüge aus heilsamen Kräutern zu trinken. Nächtens saß meine Mutter bei mir und betete für meine Genesung. Später erzählte sie mir, alle hätten um mein Leben gefürchtet. Von der ganzen Aufregung um mich herum bekam ich derweil nur wenig mit. Die Wallungen verwirrten mich und ich hatte Wahnvorstellungen. Ich wusste weder, wo ich mich befand, noch ob gerade Tag oder Nacht war. Aus den dunklen Ecken meiner Kammer sah ich immer wieder grausige Dämonen hervorkriechen und öfter erschien es mir, als würde sich mein Lager in die Luft erheben. Mal fühlte ich mich schweben wie ein Falke, mal fallen wie ein Stein. Um meine kleinen Kinder konnte ich mich natürlich nicht kümmern und man musste für Ben-Assa eine Amme auftreiben, damit er nicht verhungerte. Verstehst du, mein Kind, was ich dir damit sagen will?“

Ada schaut nachdenklich. „Dass man auf die Alten hören soll?“

„Dass es für alles eine Zeit gibt, Ada. Dass man nie am richtigen Ort ist, wenn man immer woanders sein will. Dass man das Leben verfehlt, wenn man nicht auf Gott vertraut und stattdessen meint, alles machen zu können. Stell dir vor: Mein Kind war endlich da, ein einzigartiges, neues Wesen, ein Geschenk Gottes. Und ich hätte mich mit ihm zusammen des Lebens erfreuen können. Stattdessen wollte ich unbedingt weitermachen wie bisher und konnte mich dem Neuen nicht hingeben. Ich hatte gemeint für die anderen da sein zu müssen. Aber das Gegenteil trat ein. Ich hielt die Meinen von ihrer Arbeit ab und wurde ihnen zur Last. Und mein Kind wurde einer anderen an die Brust gelegt. Damals aber verstand ich das alles nicht. Ich hatte es erfahren, ich hatte es durchlitten, aber ich hatte es nicht verstanden. Erst viel später sollte der Gesalbte mir die Augen öffnen.“

Auf die erneute Erwähnung des Herrn folgte ein Schweigen, wie von einer heiligen Scheu. Ada traute sich nicht nachzufragen. Sie spürte, dass der Augenblick noch nicht gekommen war. Ohne weiter darüber nachzudenken versuchte sie beider Befangenheit zu überbrücken. „Aber Ihr wurdet wieder gesund, oder?“

„Ja, Gott sei Dank! Das Fieber ging zurück, die Schmerzen klangen ab, mein Schlaf wurde traumlos und wohltuend. Ich durfte Ben-Assa wieder zu mir nehmen und kümmerte mich fortan unermüdlich um ihn und sein älteres Brüderchen. Ich war wochenlang hilflos darniedergelegen und hatte das Gefühl, nun meine Schuld begleichen und meinerseits helfen zu müssen.“

Ada hört die Worte ihrer Mutter mit wachsender Anteilnahme. Martha hat mit ihr nie über die Zeit ihrer jungen Jahre gesprochen, über die Nöte und Ängste, die sie plagten. Sie spürt, dass ihre Mutter ihr auf Augenhöhe begegnet, sie nicht länger wie ein Kind behandelt. Dank dieser Nähe wächst Ada über das Mädchen hinaus, das sie bislang war, und sie ahnt nun, was es heißt erwachsen zu sein, ein gebärendes Weib, eine Gattin im Dienste der Ihren. Sie sieht wohl die Mühsal, das Leid und die Sorgen, die ihre Mutter durchlebt hat. Gleichzeitig und zum ersten Mal aber fühlt sie auch ganz deutlich, dass sie selbst anders leben will, anders leben wird. Sie kann nicht sagen, woher sie die Gewissheit hat, kann auch nicht erklären, was sie anders machen möchte.

Aber sie weiß genau: Ihr Weg wird ein anderer sein.

Just in dieser Stunde also, da ihre Mutter sie ins Vertrauen zieht, tut sich eine Kluft zwischen ihnen beiden auf, überbrückbar vielleicht, aber dennoch breit genug um in Ada ein Gefühl zu erwecken, das sie bislang nicht kannte, ein Gefühl der Fremdheit. Wäre sie genötigt gewesen, es in Worte fassen, hätte sie wohl geäußert, dass sie sich wie ein Gast fühlt, ein Gast in dem Haus, das doch immer ihr Zuhause war. Ihre beiden Brüder sind inzwischen erwachsene Männer. Sie haben das Handwerk des Vaters gelernt und sind mit ihm oft tagelang unterwegs. Bald werden sie sich Weiber suchen und eigene Familien gründen. Die Tage, über die Mutter ihr heute berichtet, liegen also lange zurück. Und sie weiß immer noch nicht, was die zornig erregte Daglonitho meinte, vorhin auf der Straße, weiß immer noch nicht, was das ist: eine Schnalle. Sie merkt, dass sie ungeduldig wird. Wollte denn Mutter mir nicht erzählen, wie das war, als ich auf die Welt kam. Warum ist sie so viel weiter in die Zeit zurückgegangen? Was möchte sie mir klarmachen? Warum erzählt sie von einer Zeit lange vor meiner Geburt, als sie geschwächt und krank war? Will sie mir vor Augen führen, wie viel besser als meine beiden Brüder ich es gehabt habe, weil ich die Zuwendung und Liebkosung bekam, die meine Brüder entbehren mussten?

Während sie sich solche Fragen stellt, fällt ihr ein, dass HaÏl und Ammi sie früher öfter als ihre kleine Prinzessin bezeichneten. Was war es noch Mal, was Ammi immer wieder sagte? Ada, die Königin von Saba – genau das war es! Ada, die Königin von Saba – ha! Inzwischen weiß sie, dass Saba, die Geliebte des großen Königs Salomo, reich und schön war und stets mit einem großen Gefolge reiste. Sie versteht nicht, wie ihr Bruder sie damit vergleichen konnte. Es hat sie doch niemand auf Händen getragen, Ammi erst recht nicht. Vielmehr hat er sie immer wieder verspottet und sich über sie lustig gemacht. War er etwa neidisch gewesen? Aber weshalb? Sie hat den beiden doch nichts weggenommen, oder? Immerhin sind HaÏl und Ammi bei ihrer Geburt schon große Jungen gewesen, die ihre Mutter kaum noch brauchten.

4

Marthas Blick ruht auf der schlanken Gestalt des Mädchens, das lange Haar, die leichte Wölbung der noch jungen Brüste. Neidlos erkennt sie, dass Ada zu einer richtigen Schönheit heranwächst. Sie freut sich darüber, was sie fast ein wenig erstaunt. Als die Tochter nun aufschaut, nickt sie ihr lächelnd zu. Es arbeitet in ihr, dass sieht Martha wohl. Sie kann sich vorstellen, welche Gedanken das Mädchen bewegen. Sie legt ihre Hand kurz auf die Adas. „Gott sei Dank musste ich mich nicht alleine um meine Kinder kümmern. Meine Schwester war ja auch noch da. Wobei man eigentlich nicht sagen kann, dass Maria viel tat. Sie saß meistens nur irgendwo im Garten oder bei der Feuerstelle und schaute den Kindern beim Spielen zu. Aber die beiden Jungen fanden immer wieder zu ihr, kletterten ihr auf den Schoß, lehnten sich an ihren Busen oder schliefen in ihren Armen ein. Maria liebte es, meine Kinder zu herzen, ihre warmen Leiber an sich zu drücken, ihre glatte Haut zu streicheln, ihren Duft einzusaugen. Ich konnte sehen, dass sie die Nähe der beiden mit großem Wohlbehagen genoss. Sie schien gar nicht genug davon bekommen zu können. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir klar, dass Berührung Maria eigentlich immer schon beglückt hat. Ich erinnere mich, wie sie als kleines Mädchen stundenlang ein neugeborenes Lamm liebkoste. Ganz unbefangen schloss sie das Tier in ihre Arme, ließ sich von ihm beschnuppern, stupsen und lecken. Und das Lamm war ihr gegenüber sehr zutraulich.“

„Hatte Eure Schwester denn keine eigenen Kinder?“

„Nein, hatte sie nicht. Obwohl sie damals schon 18 oder 19 Jahre zählte, war sie noch unverheiratet. Ein paar Mal waren Väter aus der Nachbarschaft in unser Haus gekommen, die für ihre Söhne um Maria warben. Es handelte sich zwar nicht um vermögende, aber doch einigermaßen bemittelte Familien. Sicher wären meine Eltern froh gewesen, ihre Tochter in eins dieser Häuser zu geben. Aber irgendwie gelang es meiner Schwester jedes Mal unseren Vater davon zu überzeugen, dass sie mit dieser oder jener Wahl nicht glücklich werden könne. Sie muss gespürt haben, dass bald ein Mann kommen sollte, der alle anderen überstrahlen würde, so wie das Sonnenlicht den Schein von Lämpchen und Kerzen verblassen lässt. Ja, heute würde ich sagen, sie hielt sich damals bereit und rein für einen besonderen Bräutigam.“