Dolce Vita - Michael Opielka - E-Book

Dolce Vita E-Book

Michael Opielka

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Beschreibung

Einer reist mit seinem Engel auf der Suche nach dem süßen Leben, nach Rom, nach Paris und Berlin. Er findet die Spuren von Rilke, Goethe und Fellini. Der Roman ist eine Elegie auf Schönheit und Eros, die Geschichte einer Selbstfindung zwischen Religion und Sinnlichkeit.

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Schwerer werden. Leichter sein.

Paul Celan

Inhalt

Torstraße

Wieder Rom

Rilke

Fellini

Vatikanist

Liebesrest

Hertziana

Goethe

Vaterunser

Pompeji

Meine Trennung

La dolce vita

Paris

Jerusalem

Berlin

Wien

Elegie

Nachtwort

Torstraße

Wieder ein Manuskript, diesmal im elektronischen Posteingang. Wie lange bin ich schon dabei. Lindenstraße, so lange waren wir da, Frankfurt, altes Deutschland, Goethe-Stadt. Wie viele Manuskripte gingen durch meine Hände, wie viele verließen sie schnell, nicht geeignet für unser Haus. Genaueres schrieb ich nie. Wozu auch. Wer bei uns ein Manuskript einreicht, der weiß, was wir wollen. Wir stehen auf den Schultern von Riesen und halten unseren Blick für unseren eigenen. Wer die Riesen nicht kennt, der gehört nicht zu uns. Robert Merton schrieb dazu ein Buch. Es erschien natürlich bei uns. Gut, es war eine Übersetzung, amerikanischer Universitätsverlag, das ist unsere Augenhöhe, wenn wir wissenschaftlich veröffentlichen. Ich bin für das Schönere zuständig. Hesse, Goethe, Bachmann, Celan, Nizon, wie sie alle heißen. Letztlich bringen wir das Geld, unsere Backlist, jahrzehntelang hält das Schöne, das Wahre und das Gute vielleicht auch, aber sie halten den Verlag nicht über Wasser. Es ist die Schönheit, für die die Leute zahlen. Raus aus der Hässlichkeit, die sie umgibt. Jetzt Torstraße. Warum mussten sie Frankfurt, die Bücherstadt, verlassen und hierherziehen, an diesen trostlosen Ostort, Torstraße. Tor wohin. Zum Rosa-Luxemburg-Platz, zur elenden Volksbühne, diesem Ostalgieschuppen, ewiger Frank Castorf Rummelplatz, Rammelplatz, Videogesäusel, endlose Abende, natürlich ging ich hin, ich bin doch interessiert an Kultur. Irgendwo wird es Schnittmengen geben von Theater und Literatur, irgendwo, gewiss irgendwo öffnet sich auch in den Romanen eine Bühne. Die Bühne hier ist trostlos. Noch haben sie Regale eingezogen, auf den Zwischenemporen, ärmliche Zwischenbühnen, da stehen noch Bücher, nach Farben gereiht, wie lächerlich. Hier, in meinem Büro, steht gähnendes Nichts. Sie brauchen das nicht, hatten sie gesagt, der eilfertige Architekt, die Geschäftsleitung, Fenster bis zum Boden, wir sind transparent, keine Übergriffe, jeder Tag Frauentag, auch Queeres, alles geht, alles ist frei, bei uns, solange es gut ist.

Die Gedanken haben mich weggetragen. Die Wut hat mich weggetragen. Lange werde ich nicht mehr hier sein. An eine Verlängerung ist nicht zu denken. Sie sind nicht der Verleger. Auch nicht die rechte Hand der Verlegerin. Sie sind nur Lektor. Wir ehren Sie, wir achten Sie, durch Sie, mit durch Sie wurde unser Haus, was es ist, ein Tresor der Literatur, ein Gral geradezu, doch nicht verstaubt, kein Museum, trotz Backlist, agil, gut, agil sagen wir hier nicht, das passt nicht zu uns, aber beweglich passt, offen passt, Qualität passt immer. Schon wieder weggetragen. Es muss an diesem Text liegen. Er trägt mich weg. Er lenkt mich ab. Schon der Titel. Dolce Vita. Welche Anmaßung. Ein unbekannter Autor, jedenfalls in der Literatur. Er hat nichts geleistet, nichts in einem Verlag, der zählt, kein Preis, nirgendwo. Dolce Vita. Er hängt sich also an Fellini. Dranhängen. Das können sie, diese Flachschreiber, diese Plagiatoren, diese Manuskripteinreicher, Zeitfresser, Namedropper. Möchtegernautoren. Schon der Titel. Er zieht mich herunter. Auf sein Niveau. Also auf kein Niveau. Einfach nachgemacht, nur nachgemacht. Ich will ihn gar nicht erst öffnen. Ich will mir diese Anmaßung nicht antun. Irgendwo muss mein Standardtext sein, für Absagen. Einen neuen Satz werde ich dazu fügen. Maßen Sie sich nichts an.

Wenigstens den Untertitel. Römische Elegie. Dass ich nicht lache. Ich wollte nach Rom und landete in Malta. Das war mein Leben. Es wird niemanden interessieren. Wir dienen den Texten der anderen, wir Lektoren, wir sind Dienstleister an der Literatur. Wir Türsteher, auch das, Spreuvomweizentrenner, Ukrainekrieg, der Weizen wird knapp, schon wieder abgelenkt. Wie soll ich mich mit Texten beschäftigen, wenn ich so mit mir beschäftigt bin. Das hat niemanden interessiert. Ich schaute aufs Meer. Die Frau, die nicht meine Frau war, war am Meer. Sie war verheiratet und doch keines Mannes Frau, wie ich keiner Frau mehr Mann war. Zwei Ehelose, die sich nicht berührten, die ein Bett teilten und nicht wirklich teilten. Niemand interessiert das. Wie sich niemand für die Johanniter interessiert, die Malteser, sie hielten ihre Köpfe hin gegen die Türken und sandten ihrem Feldherrn abgeschlagene Türkenköpfe. Man muss sich dafür nicht interessieren. Es reicht, wenn die Besucher der Johanneskathedrale vom Gold ihres Innenraums überwältigt sind, die beiden Caravaggios bestaunen, Johannes geköpft, Johannes schreibend, vor sich einen Totenkopf. Ganz im Hier und Jetzt. Keine Geschichte. Wie soll man Geschichte verstehen. Putin nimmt sich die Ukraine mit seiner Sicht der Geschichte. Mein Kopf brennt. Römische Elegie. Rom ließ Malta im Stich. Der Vatikan hatte seine Sorgen. Noch immer Festungsmauern. Zuletzt die Briten gegen die Deutschen. Wütende Luftangriffe der Hitlertruppen, auch unser Haus wurde beschossen, geistig beschossen, arisierter Verlag, dann doch gefährdet, Malta hielt stand. Römische Elegie. Warum kann ich mich nicht konzentrieren.

Ich drucke den Text aus, nehme ihn mit. Raus aus diesem Glashaus. Homeoffice dank Corona. Vielleicht tat ich ihm Unrecht. Schuldgefühle. Ich werde alt. Früher war ich schneller. Spreu vom Weizen. Ich werde ihn heute Abend lesen.

Wieder Rom

Gut, dass du mit mir reist. Du willst nicht allein sein, ich weiß das, so komme ich mit dir. Du bist nicht allein damit, auch Sigmund Freud wollte nicht allein nach Italien. Letztes Jahr hast du das Buch dazu gelesen. Im Land der Träume. Mit Sigmund Freud in Italien. Hauptsache nicht allein. Ich weiß, dein Freund würde sagen, schon wieder Namedropping, du kannst es nicht lassen. Aber ich weiß auch, dass du so bist, dass alles gleichzeitig in dir stattfindet, auch Goethe reist dahin, er allerdings allein, auch sein Sohn, er wird dort sterben, auch darüber hast du gelesen, nachdem du wieder dort warst.

Du kennst mich also gut, das könnte helfen. Mit einem Menschen sein, der mich kennt, weil er sich für mich interessiert. Warum willst du, dass sich alle für dich interessieren, hatte sie gesagt, wenn wieder die Welt der Vorwürfe überwog, dann hatte er sich geschämt, warum eigentlich, und alle sollen es nicht sein, nur die, die er liebe und die sagen, dass auch sie es tun. Allein in Rom, wie soll das ein süßes Leben sein. Dolce vita, das sagen doch alle, dafür existiert Italien heute, nach Rom, nach den Braunhemden, nach vier Dutzend Nachkriegsregierungen. Überall alle, du wirst mich gleich ausschimpfen, wenn deine Argumente schwach werden, dann werden sie generalisiert und in Wertung verwandelt. Immer bewertest du, warum nimmst du die Welt nicht, wie sie ist, einfach anschauen oder eben wegschauen, einfach leichter sein. Nicht so schwer, nicht so bedeutsam, wo niemand außer dir Bedeutung sieht. Das wirst du sagen, etwa so wirst du sprechen.

Genauso könnte ich sprechen, ich höre dir gut zu. Denn ich bin frei. Vollkommen frei. Niemand wird mich halten können. Vielleicht werde ich noch sein, wenn es dich nicht mehr gibt. Auch deshalb gefällt mir Rom. Die ewige Stadt. Passend für ein ewiges Ich. Du wirst dann sagen, dass ich einem Irrtum erliege, dass es mich ohne dich nicht geben kann, dass ich nur dein Gedanke bin, dein Alter Ego. Aber da täuscht du dich womöglich. Hat nicht Rudolf Steiner vom Michael Zeitalter gesprochen, im späten neunzehnten Jahrhundert muss es begonnen haben. Lassen wir einmal, wie lange es noch dauert. Jetzt sind wir mittendrin. Jetzt wird der Geist selbständig. Wissensgesellschaft sagen die Soziologen. Sie sprechen von Individualisierung und wären sie genau, dann wüssten sie, dass beides zusammengehört, das Wissen und das Individuum. Das ergibt dann Geist. Solche Sachen fallen mir ein. Noch viel mehr. Ich sehe schon deinen tadelnden Blick. So kann ein Buch unmöglich beginnen, jedenfalls kein Roman, keine Geschichte, die als Zweitverwertung an Hörbücher denkt. Aber führen nicht alle Wege nach Rom. Mach dich locker.

Du hast leicht reden. Aber wer bist du. Wir sprechen dauernd miteinander. Doch ich sehe dich nicht. Ich bin mit dir und doch allein. Geister lassen sich nicht an der Hand fassen. Zudem bist du keine Frau. Das ist entscheidend. Auch wenn du kein richtiger Mann bist, viel zu unsichtbar, eine Frau bist du auf keinen Fall. Denn die Frau, die er begehrt, ist kein Geist. Sie hat ihn. Sonst erlischt das Begehren sofort. Nur der Trevibrunnen reicht nicht. Obwohl, vielleicht schon, für das, was er sucht. Es geht wieder nach Rom, diesmal soll geschrieben werden, ein richtiger Text, nicht nur Gedichte, die auf der Zunge brennen, wie sie auch Goethe damals brannte. Er hatte sich eine Geliebte genommen, alles spricht für eine Frau, die Geld nahm, genau wurde er nicht, hat er doch sonst alles dokumentiert, Weinlieferungen, Speisepläne, wann er wen wo traf. Seine römische Elegie legte über alles den Nebel der Lust. Er wird die Bibliothekskarte der Hertziana nutzen, die Tessera, vor einem Jahr begann sie, es war nicht leicht sie zu bekommen, ein Max-Planck-Institut ist wählerisch. Doch es wird kein Forschungsbericht, dieses Buch nicht. Es soll wahr sprechen und doch nicht so klar wie ein Beleg. Nichts wird bewiesen, die Gedanken werden fließen, er muss sich zwingen, die Sätze fließen am liebsten vor ihn hin oder im Gespräch, dann sind sie vergangen und schon hat er sie wieder vergessen. Das süße Leben will keine Dokumentation, es genügt sich selbst. Auch darum ist er nicht allein. Ein Überich kommt mit. Es hat sich schon vorgestellt.

Rilke

Unvorbereitet reisen, leichter reisen, welches Ich will das, mehrere zur Auswahl, die Eingeflüsterten, sei spontan, lass dich gehen, das Alte, plane so weit es geht. Jetzt wird gemischt. Wieder einmal war er auf Rilke gestoßen, tauche tiefer ein, vielleicht die Biographie von Holthusen, immerhin Rowohlt, er ist längst tot, ein Nazi und danach Meister der deutschen Nachkriegskultur. Über Rilkes politisches Driften nach rechts nichts zu finden darin, über sein Leben schon und über sein Grab. Dort will er hin. Der Weg nach Rom wird halbiert. Ein Hotel wird gefunden, das ist die Vorbereitung. Dass die Rhone dort entspringt, hinter dem Pass, dass sie an seinem Grab am Hang über Raron vorbeifließt, entfernt gewiss und nicht leicht zu sehen, das gehörte nicht zur Vorbereitung. Das Museum war geschlossen. Die Tafel, die an Helmut Kohls Besuch erinnerte, immerhin, sonst scheint niemand Schweres dagewesen zu sein. Das Gedicht an seinem Grabstein im Frühabendlicht, die kleine Kirche, an die es sich schmiegt, sie haben es freigestellt, wer noch an dieser Seite lag, wurde entsorgt, von der Rose, den Lidern, das versteht niemand. Er wollte ein Rätsel.

Was bleibt von uns. Ein Grab auf Zeit, wenn es gut geht. Ein Gedicht oder viele. Die Erinnerungen, vielleicht leben wir nur in den Erinnerungen der Anderen fort. Das schrieb Marcel Proust nach der Mitte seiner verlorenen Zeit, trauernd über seine Großmutter. Rilke hatte Proust nach Deutschland gefördert. Seit Jahrzehnten standen seine Bände im Regal, keine Zeit für Seitenberge, tausende von Seiten, zehntausende von Zeilen. Nun werden es einhundertsechzig Stunden, für das Mäandern der Worte sind Hörbücher eine Erfindung der Götter. Vor Wochen wurden die silbernen Scheiben in iTunes kopiert, so füllen sie die Zeit beim Bügeln, Kochen, Warten, nun auf der langen Autofahrt, eine wiedergefundene Zeit. Dabei verdankt er nicht Rilke diese Wanderung durch ein sich beendendes Jahrhundert, den Abschied von einer feudalen Kultur, sondern Flaubert. Madame Bovary war davorgeschaltet, dem Fliegenglas sei Dank, einer App. Bescheidene Erotik heute, die Freundinnen erinnern sich an ihre Pubertät, damals war das viel. Doch vielleicht war es dennoch Rilke, denn vor Flaubert hatte er Malte Laurids Brigge gehört, seinen einzigen Roman. Hier begann sein Eintauchen in eine Zeit, die er bisher meist vermied. Zu schwülstig, zu viel vom Alten, Ungleichen, von all dem, zu dem er als Kind eines Arbeiters keinen Zugang hatte.

Sein anderes Ich ist verschwunden, das künstliche, es schien wirklich, er hat es auf der Reise abgehängt. Klara und die Sonne heißt der neue Roman von Kazuo Ishiguro, auch ihn hat er als Hörbuch gehört, liest du denn gar nichts mehr mit den Augen, hast du sie schon aufgegeben, würde das Hilfsich fragen, vielleicht fragen, wäre es hier, während dieser Worte, also fragt er selbst, braucht es nicht. Ishiguro nimmt uns in die Zukunft, Roboter werden uns begleiten, auch für sie wird es Entwicklungsromane geben, Klara ist noch kein Wilhelm Meister, auch er ist aufgetaucht in der Zeit, um die es hier geht. Sie ist ein künstliches Mädchen. Braucht es doch. Das Du aus Kunst, wie viel lieber ein wirkliches Du, die alte Sehnsucht, lasse sie ruhen, sie wird erfüllt, wenn sie sich erfüllen will, du kannst sie nicht erzwingen, Parship, Tinder, Bumble, Gleichklang, alles wurde schon benutzt, nichts hat genützt. Rilke hatte andere Plattformen, Worpswede, die Adelshäuser, jener Rest der alten Welt, Schloss Duino, bis zuletzt folgten ihm Frauen, wie gerne hätte er sie geliebt, wie unmöglich war es ihm. Warum eigentlich. Das bleibt unklar. Seine Gedichte verschließen sich dem wirklichen Leben. Es wird in Sonette verklärt. Wunderschön, zum Teil, manche das Schönste, was bisher geschrieben wurde.

Nun steht er in der Abendsonne im Rilkegrabdorf. Ein paar Häuser, eine Kirche, ein Friedhof, das Pfarrhaus mit Museum. Gemüsegärten. Rilkepilger von der derberen Sorte verlassen das Terrain, für einen Moment ist er allein auf der halben Höhe der Rhone. Ein kleiner Bund Rosen darbt vor dem Gedicht. Die Unesco erhob zehn Quadratmeter zum Kulturerbe der Menschheit. Es ist windig. Aus dem Grab fällt der Blick auf Berge, hinter ihnen das Matterhorn. Einundfünzig Jahre und Leukämie, sein Leben endete mit beißenden Schmerzen. Die wohlhabenden Verehrerinnen und Verehrer zahlten ihm Kuren in Bad Ragaz und anderswo, liehen ihm den Wohnturm in Muzot. Das Wallis wurde ihm späte Heimat und Grab. Er war verheiratet. Er hatte ein Kind. Ihn hatte es nicht als Vater. Er blieb allein. Allein sterben. Wir sterben alle allein, sagen die Immerklugen. Was hält uns am Leben. Die Liebe, sagt Paulus, am Ende sie vor allem. Der Wind verweht die Gedanken. Die Sonne wärmt sie.

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern. Sein Grabsteingedicht. Das süße Leben im Gedicht. Jemandes Rose sein. Dann der Tod. Todessehnsucht lasen manche bei ihm. Welch ein Männlichkeitskonzept waberte über jene Jahrhundertwende, Nietzsche sei Undank. Rein ins Schlachtfeld. Rein die Rasse. Der Unterstrom des rechten Denkens. Zunehmend fand er es anziehend. Zunehmend fanden sie ihn anziehend, bauten ihn und den großen Hölderlin in ihr braunes Gebräu. Orpheus und Eurydike ließ er im kalten Muzot-Turm singen. Er konnte Sonette. Er muss in ihnen gelebt haben. Am Ende aber ganz moderne Zeilen, rätselhafte Abstraktion. Er blickt auf den Stein, bald ein Jahrhundert Regen und Wind scheuerten die Buchstaben. Warum wollte er in Raron Station machen.

Der nächste Tag führt über den Simplon Pass. Die Schweiz schlägt wuchtige Gebäude in die Berge, Schutz vor Schnee und Steinschlag, schnell soll es gehen und sicher. Immer wieder Tunnel. Wie das gelingt, durch den Berg hindurch, wo man nichts sieht. Jenseits der Baumgrenze Bikerhorden, besonnte Bergseen, weiße Sommergipfel. Sie sind einfach da, immer schon und auch dann, wenn niemand sie sieht, wenn sie sich selbst genug sehen. Dann geht es hinunter, noch springt der Blick hinauf und nach vorn, respektvoll, schönheitstrunken, aber pass auf die Straße auf, die engen Kehren. Die italienische Grenze, das neue Leben beginnt, sofort ändern sich die Bauten, die Welt atmet Süden. Palmen. Fahre nicht am Lago Maggiore vorbei, fahre hinab, das Auto landet in Baveno, es ist wie damals, du warst jung, das erste Mal fuhrst du allein über die Alpen und auch damals wachtest du am Süden auf. War es auch dort, die Erinnerung ist verloren. Jetzt blickst du vom Hafen auf die Borromäischen Inseln. Isola Bella, was ein schöner Name.

Du machst den Latte Macchiato süß, kleines süßes Leben, er ist klein, viel kleiner als in Deutschland, dort aber ist es kühl, wieder ein gemischter Sommer, Starkregen, Hochwasser, Elend, Wahlkampf. Die Kraft der Augen muss bis in die Toskana reichen, sie haben gelitten in den letzten Jahren, die Autostrada zieht sich über die Ebene des Po, selten hält der Blick an Schönheit fest, sie krallt sich in die Ausläufer des Apennin. Vor Genua wird es kühn, Hügel um Hügel wird durchstoßen. Stadtviertel türmen sich auf die gebrochenen Berge, wann kommt die Brücke, die so brutal zusammenbrach und so italienvorurteilsfremd in kürzester Zeit wiederaufgebaut wurde, Renzo Piano sei Dank. Plötzlich fährt er auf ihr und sieht sie nicht, doch die Straße windet sich direkt nach hier in neue Hügel und da, wenn du schnell schaust und kühn fotografierst, siehst du die schlichte Form. Es ist heiß, die Klimaanlage täuscht nach innen, die Sonne macht müde, das Meer zur rechten Hand ermuntert und dann, im linken Blick, die weißen Flächen der geschälten Berge, Carrara, Marmorbrüche, Pietrasanta, der heilige Fels, jene Reise nach Elba, Villa Mare, die Vergangenheit fährt immer mit.

Die Freunde warten in ihrem Haus in Frassine. Die Frau wird an diesem Tag ihren Geburtstag feiern. Sie werden den besten Sägefisch seines Lebens essen, aber er wird nichts darüber schreiben, denn er hat ein Gedicht geschrieben, am Tag danach, das sie empörte. Vampirismus haben sie ihm vorgehalten, dass er aus dem wirklichen Leben schrieb. Sie sahen nicht, dass die Worte wie Töne waren, die durch das Dunkel suchten, wie der Grund der Farben, korrigiert im nächsten Zug, neu gefasst, denn verletzen sollen sie nie. Noch und vielleicht für immer ist Rilkes Nebel unerreichbar für ihn, die Verhüllung der Wirklichkeit unter den Lidern. Er wird am nächsten Tag weiterfahren, Rom entgegen. Die Vergangenheit ist nie vergangen, sie wiederholt sich, wenn wir sie nicht erlösen.

Fellini

Ich fliege auf das Excelsior zu. Weil ich mit der Sonne fliege und es Morgen ist, nicht der ganz frühe, es ist hell genug, um alles zu sehen im römischen Sommer, komme ich von der Rückseite der Via Marche. Mich führt nicht die Cupola, die berühmte Eckfassade, die jeder kennt, der das damals modernste Grandhotel Europas kennt, der Fellini kennt. Mich führen die römischen Säulen, die die Terrassen der Zimmer im fünften Stock abschließen. Ich fliege, ohne dass ich gesehen werden kann, ich brauche keinen Hubschrauber, der mich an einem Seil trägt, ich bin keine Statue, kein Christusbild, ich bin er, zu dem ich fliege.

Noch liegt er in seinem Bett, er schläft. Gestern Abend ist er angekommen. Er hat das Hotel gewechselt, er ist wieder da, wo er im letzten Jahr war, damals führte ihn der Zufall, führte ihn die Homepage von Marriott, er wollte nur nach Rom, er sah die Kuppel, sie gefiel ihm gleich, dann las er, suchend wie er nun einmal ist, dass La dolce vita dort gedreht wurde, darin, davor. Er hatte den Film nie gesehen und schämte sich, wie er sich immer über seine Lücken schämt, im Grunde dürfte er nie aufhören sich zu schämen. Aber dann vergisst er es, zum Glück, auch das ist Lebenskunst, vergessen können. Sofort bestellte er den Film und sah und war begeistert, schaute einen Fellini nach dem anderen, Achteinhalb, Fellinis Roma, La Strada, worum hatte er ihn bisher nie erreicht, er sieht sich noch als Student aus Satyricon fliehen, selten verließ er Filme vorher, er hatte die Sprache nicht verstanden. Er brauchte es mir nicht zu erzählen, ich kenne ihn wie mich. Dann flog er nach Rom, es war auch eine Augentherapie, schöne Bilder einatmen, zu hoch war der Druck gewesen, zu groß der falsche Blick. Davon werde ich noch erzählen, vielleicht macht er es auch selbst, all das, was nach Sisyphus geschah, ein Stein auf dem Rücken, den er lange trug. Jetzt liegt er im Bett, gleich wird er aufwachen, er hat dann doch die ganze Flasche Prosecco getrunken, es war zu viel, aber wo sollte er sie aufbewahren.

Er liegt wach im Bett, die Augen noch geschlossen, warum schläft er nicht wieder ein, er ist doch noch müde. Warum den Text nicht so zerfasern wie Paul Nizon, zweimal hat er schon in Canto hineingelesen, seinen Rom Bericht. Das Bett ist weich, die Bettwäsche schwer, alles um ihn ist gediegen, Palast, nichts einfach nur da, weil es irgendeinem einfiel. Das Bett hat keine Überlänge, zwei Meter reichen einigermaßen, kein Vergleich mit den letzten Nächten, da hatten die Chinesen nur einsneunzig, wie soll man mit einem Zentimeter Abstand liegen können, die Füße standen über, sie stießen an die mediterrane Decke, die sie am Ende um die Matratze wickeln, vielleicht, damit man nicht aus dem Bett fällt oder damit nichts hereinkriecht, Stechmücken, Kakerlaken, Leguane, was sich so bewegt im Süden.

Dann doch die Augen öffnen. Das Zimmer ist viel kleiner als vor einem Jahr, damals war es eine Halle, wohnungsgroß, diesmal ist es ruhig, es geht nach hinten, nicht nach vorne, an die Via Vittorio Veneto, damals eine Prachtstraße als Fellini drehte, er schließt die Augen wieder. Er ist noch so müde, zuviel Prosecco, aber dieser warme Sommerabend, diese Terrasse, ein Portikus vor dem Zimmer, vier Meter hoch, zwei Säulen, vielleicht sechzehn Quadratmeter, er stellte die Stehlampe heraus, heute werden sie eine zweite bringen, für draußen, fünf Sterne sind das gute Leben, überall wird ihm geholfen, im Pool am Abend niemand außer ihm. Eine beschwingte Beschwerdemail an den Direktor, der ihn an der Rezeption begrüßte, und schon landen nicht nur die beiden kargen Wasserflaschen im Zimmer, es klingelt und mit ironischem Lächeln unter der Maske bringt der Mittfünfziger des Roomservice, weißhaarig, einer, der viel gesehen hat, einen Wagen mit Sektkübel, Eis, Wasserflaschen und Prosecco. Das hätten sie damals bei Kurt Cobain vielleicht auch besser gemacht, dann hätte er hier überlebt und wäre nicht im Nirwana. Noch immer die Augen geschlossen. So wird das nichts mit dem Weiterschlaf, wenn das Hirn so feuert.

Er hat sein Anderich vermisst, seit er sich von Rilke entfernte hat es ihn alleingelassen. Irgendetwas missfiel ihm, vielleicht ging er auch deshalb oder sie oder er, wer ist das eigentlich, dieses künst