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»Vergiss nicht, dich daran zu erinnern, dass ich dich liebe.« Als Cyrus Scott in seiner Wut einen Autounfall verursacht, raubt er damit die Erinnerungen eines Lebensjahres von Tamara Jones, die seither wie ausgewechselt ist. Tami zieht sich nun von allem und jedem zurück. Doch als Cyrus als gutaussehender Fremder in ihren Alltag kehrt, wird ihr bewusst, wie viel das Leben eigentlich zu bieten hat. Auch ihr Herz flüstert ihr leise zu, dass ein besonderes Band zwischen ihnen besteht, während ihr Gedächtnis ihr verschweigt, wer genau dieser Mann ist. Wird Tamara je die Wahrheit erfahren? Denn Cyrus' Wahrheit liegt im Schmerz; liegt am Ende des Buches; ist das Ende.
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Seitenzahl: 385
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Dieses Buch beinhaltet das Thema Gedächtnisverlust. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist alles, was mit dem Gehirn zu tun hat ein äußerst komplexes Thema. Zwar habe ich mich ein wenig dazu eingelesen und darüber recherchiert, doch dies genauso geschildert, wie es wahrheitsgemäß bei dem einen oder der anderen Betroffenen zutreffen könnte, habe ich nicht.
Ich bin keine Fachfrau auf diesem Gebiet, deswegen bitte ich darum zu beachten, dass dies eine Geschichte ist und Wahrheit und Fiktion hier ineinandergreifen. Dennoch bitte ich um Entschuldigung und Verständnis, von den Menschen, die selbst einen Gedächtnisverlust erlitten haben oder an einem leiden, da ich möglicherweise nicht imstande dazu war, diesen Teil der Geschichte euren persönlichen Erfahrungen entsprechend realitätsnah zu umschreiben.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
An alle, die an mich geglaubt haben.
An alle, die nicht an mich geglaubt haben.
Und an Colleen Hoover, die mich dazu inspiriert hat mit dem
Schreiben zu beginnen und meinen Traum wahr werden zu lassen.
Already Gone – Sleeping At Last
Dark Paradise – Lana Del Ray
Side to Side – Ariana Grande
IDK you yet – Alexander 23
What is love – Haddaway (7“ Mix)
The Night we met – Lord Huron
Summer – Calvin Harris
What a wonderful world (Live Acoustic) – The Macarons Project
Always – Echo Bay (Cover)
Summertime Sadness – Lana Del Ray
Hate me! – MASN
Somewhere over the rainbow – Israel Kamakawiwo’ole
La vie en Rose – Cristina Milioti (Cover)
Kiss me – Ed Sheeran
Feels – Urban Sound Collective
Tennessee Whiskey – Chris Stapleton
Thinking out loud – Ed Sheeran
Amnesia – 5 Seconds of Summer
Where’s My love – SYML (Alternate Version)
Don’t forget me – Nathan Wagner
Eyes closed – Ed Sheeran
Playlist
Prolog
Cyrus
Cyrus
1. Cyrus
2. Cyrus
3. Cyrus
4. Cyrus
5. Cyrus
6. Tamara
7. Cyrus
8. Tamara
9. Cyrus
10. Tamara
11. Tamara
12. Cyrus
13. Tamara
14. Cyrus
15. Tamara
16. Cyrus
17. Tamara
18. Cyrus
19. Tamara
20. Tamara
21. Tamara
22. Tamara
23. Cyrus
24. Tamara
25. Tamara
26. Cyrus
27. Tamara
28. Cyrus
29. Tamara
30. Tamara
31. Tamara
32. Tamara
33. Tamara
34. Cyrus
35. Cyrus
36. Tamara
37. Tamara
38. Tamara
39. Tamara
40. Cyrus
41. Cyrus
42. Tamara
43. Cyrus
44. Tamara
45. Tamara
46. Cyrus
47. Tamara
48. Cyrus
49. Tamara
50. Tamara
51. Cyrus
52. Tamara
53. Tamara
54. Tamara
55. Tamara
56. Tamara
57. Tamara
58. Tamara
59. Tamara
Kapitel 60
Epilog
Ich war überglücklich und rettungslos in ihn verliebt. Er hatte kein Wort darüber verloren, was für Fortschritte er mit seiner Amaxophobie erreicht hatte. Nun waren wir seit einer Stunde auf dem Highway und er saß wirklich am Steuer. Ich konnte kaum glauben, wie gut er sich gab. Es war, als hätte er nie Probleme damit gehabt.
Im Radio lief die Coverversion Already Gone von Sleeping At Last. Diese Melodie fand ich viel passender zum Text, als die Originalversion von Kelly Clarkson. Wie konnte man einen solch schönen Song nur so zerstören? Wenn der Text so traurig war, warum dann die dazugehörige Melodie wie einen neuen Partyhit klingen lassen?
Ab und zu sang er absichtlich schief mit – was mich immer wieder zum Lachen brachte – doch die meiste Zeit konzentrierte er sich auf die Fahrt und ich hatte nicht vor ihn davon abzulenken. Ich sah bereits unsere nächste Ausfahrt, da setzte er den Blinker und verringerte das Tempo, als wir die Straße hinunterfuhren.
Es fiel mir schwer, meine Gefühle für ihn zu beschreiben. Ich empfand so viel für ihn, dass es unbeschreiblich war, und diese Emotionen ließen sich nicht zähmen. Aber das wollte ich auch gar nicht. Etwas so Starkes und Wildes konnte man nicht einsperren. Es gehörte in die weite Welt, in die Freiheit.
Also sprach ich aus, was er kürzlich zu mir sagte. Es war mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, denn ich liebte diesen Satz. Er erinnerte mich an etwas, obwohl ich nicht wusste, was es war. Doch schon bei dem Gedanken an seine Worte spürte ich augenblicklich diese Wärme in mir aufsteigen.
Ich sah ihn an, aber er erwiderte meinen Blick nicht. Das war okay. Es war wichtiger, dass er die Straße im Blick behielt.
Dann sprach ich es aus.
»Ich liebe dich. Vergiss nicht, dich daran zu erinnern, wie sehr ich dich liebe.«
Sein Blick wurde ganz starr und ernst. Eine eigenartige Stille breitete sich zwischen uns aus und ließ mich hinterfragen, woran das lag. Nur das Lied spielte leise vor sich hin. Unsere Zweisamkeit hatte sich noch nie so angefühlt wie jetzt. Als wäre eine unschöne Wahrheit ans Licht gekommen, die besser im Dunkeln geblieben wäre.
Plötzlich ertönte ein lautes Donnergrollen. Er zuckte bei dem Geräusch zusammen. Seine Augen wurden groß. Ich hörte seinen Atem schneller werden. In meinem Inneren kribbelte die Furcht durch meinen ganzen Körper und ich begann im selben Takt zu atmen wie er.
Oh Gott, bekam er etwa eine Panikattacke?
Er hatte erzählt, dass es bei seinem Autounfall stark geregnet hatte. Vielleicht sogar gewittert ... und dieses Geräusch versetzte ihn dahin zurück? War das möglich?
Fuck. Nun war es mein Herz, das sich beschleunigte.
Ich griff nach seiner rechten Hand und hielt sie fest. Was zum Teufel sollte ich sagen? Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn beruhigen konnte.
In dem Moment, in dem er meine Berührung spürte, schaute er mir in die Augen. »Ich liebe dich, Tamara«, flüsterte er.
Scheiße was ...?
Ich hatte das Gefühl, sowas schon einmal erlebt zu haben. Es war wie ein Deja-Vu.
Mein Autounfall.
Mir war, als würde mein Herz gleich aus der Brust springen. Ich hörte ein lautes Hupen und doch sah ich weiterhin in seine blauen Augen ohne den Blick davon zu lösen.
Unsere Blicke ruhten eine Millisekunde zu lang aufeinander. Ich blinzelte, hatte gerade vor nachzusehen, woher das Hupen kam, doch dann ... hörte ich einen Schrei. Es war eine Frau.
Ich.
Ich war es, die geschrien hatte.
»TAMARA!!!«
Jemand kreischte in der Ferne meinen Namen.
Eben lief alles in Zeitlupe ab und mit einem Mal zog alles mit höchster Geschwindigkeit an mir vorbei. Ehe ich mich versah, drehte sich die Welt und ich empfand das Gefühl, nur eine leere Hülle zu sein, die von der Schwerkraft durch die Gegend katapultiert wurde. Ich flog. Einen Moment lang glaubte ich zu schweben. Doch dann prallte ich auf dem Boden auf. Meine Hände berührten den harten Asphalt. Ich sah rote Sprenkel an meinen Fingerspitzen. In diesem Augenblick spürte ich einen unvorstellbaren Schmerz im Kopf. Es war, als würde mir jemand mit einem Baseballschläger den Kopf einschlagen. Mein Mund war feucht und schmeckte etwas Metallisches. Ich war gewillt, etwas zu sagen, jemanden zu rufen.
Aber wen?
Die Worte blieben mir im Hals stecken und auch, als ich schrie, kam kein einziger Ton heraus.
Bilder. So viele bunte Bilder in meinem Kopf, doch keines davon ließ sich einordnen.
Und dann zog mich diese unsichtbare Kraft zu sich. Ich vertraute auf sie. Darauf, dass alles gut werden würde, sobald ich nur meine Augen schloss.
Also tat ich das und alles wurde schwarz ...
Weiterhin in der Dunkelheit gefangen, nahm ich den Geruch von Desinfektionsmittel wahr. Ich versuchte, meine Finger zu bewegen.
Gott sei Dank sie rühren sich.
Ich spürte etwas Weiches. Bettwäsche.
Und ich hörte dauernd dieses nervige Piepen im gleichmäßigen Rhythmus. Wie ein schlagendes Herz.
Ein Herzmonitor ...
Ich war im Krankenhaus.
Da traf es mich mit voller Wucht. All die Bilder in meinem Kopf. Der Autounfall. Er saß am Steuer ... Mir war, als würde mein Herz brennen. In meinen Augen sammelten sich Tränen.
»Tami? Hörst du mich?«, erklang eine sanfte Stimme neben mir.
Es war meine beste Freundin, Dizee. Sie griff nach meiner Hand und sofort ging ihre Wärme auf mich über.
Sobald ich meine Augen öffnete, liefen mir sofort Tränen die Wangen hinunter. »Tami, du bist wach! Gott sei Dank! Ich hatte so schreckliche Angst davor, dich zu verlieren.« Sie schluchzte laut, als sie ihren Kopf an meine Schulter legte. Das brachte mich nur noch mehr zum Weinen.
Ich war überaus dankbar, dass ich aufgewacht war.
»Dizee ...« Meine Stimme war ziemlich angeschlagen. Doch was ich zu sagen hatte, konnte nicht warten. Es musste raus.
»Ja? Was ist? Was kann ich für dich tun?«
»Oh mein Gott ... Dizee ...« Mit jedem weiteren Wort setzte sich der Schmerz immer tiefer im Herzen fest. Dizees braunen Augen wurden noch größer, als sie es vorher schon waren.
»Ich ... Ich kann ... mich wieder ... erinnern.«
Ich ertrinke.
Öffnete ich meine Augen, war da nichts als verschwommene Dunkelheit. Nur in der Ferne nahm ich ein winzigkleines Licht wahr.
Der Druck stieg. Meine Ohren dröhnten.
Ich komme zu dir. Warte auf mich es dauert nicht mehr lange.
Ich ertrank in Wasser und in meinem Schmerz. Es sollte schneller gehen. Ich wollte endlich wieder bei ihr sein. Also schrie ich meinen Kummer heraus, unter Wasser, wo ihn niemand sehen oder hören konnte. Die Luft strömte aus mir heraus und das Wasser in mich hinein.
Ich ertrinke.
Das Licht wurde immer heller und ... da war sie.
Ich ergriff deine weiche warme Hand, wollte dich zu mir ziehen und im Arm halten so wie früher. Nichts, kein Gefühl war schöner als das, wenn ich dich festumschlungen hielt und deinen Duft einatmete.
Du hattest mir erzählt, deine Mutter umgab stets eine nach Kirschblüten duftende Wolke, aber du warst es, die für mich danach roch.
Gerade noch hielt ich dich fest und im nächsten Moment wurde ich von dir weggerissen.
Wo bin ich?
So viele Stimmen. Ich verstand nicht, was sie sagten. Es war nur wildes Getuschel. Nur eine von ihnen sprach klar. Und die war mehr, als deutlich zu hören, sie brüllte mich regelrecht an.
Fuck wach wieder auf Mann!
Auf ein Mal spürte ich einen harten Boden unter meinem Rücken und eine sich plötzlich ankündigende Übelkeit, die nicht lange darauf wartete sich in Erbrechen zu äußern. Ein fester Arm stützte mich, als ich versuchte, mich aufzusetzen, um mich nicht selbst anzukotzen. Doch es kam hauptsächlich Wasser aus mir heraus.
»Scheiße«, seufzte jemand erleichtert neben mir und machte sich so bemerkbar. Mein Blick glitt zu der Person, die es von sich gab, und entdeckte meinen besten Freund David.
»Komm, wir fahren nach Hause«, sagte er bestimmt.
Ich fühlte mich wie gelähmt. Wollte ich nicht aufstehen oder konnte ich es nicht? Keine Ahnung. Doch ich hatte nichts sagen müssen, denn David legte bereits meinen Arm um seine Schulter und fing an zu laufen. Ich versuchte, mit seinem Tempo mitzuhalten oder überhaupt zu gehen, ohne über meine eigenen Füße zu stolpern.
Auf dem Weg zu seinem Auto fiel mir auf, dass wir von jeder Menge Spanner angeglotzt wurden. Einige flüsterten hinter vorgehaltener Hand. Andere wiederum sagten frei heraus, was sie dachten. Es war ihnen egal, ob ich es mitbekam, und so hörte ich Sätze wie:
»Ist das nicht der Kerl, der sich auf jeder Party so abschießt?«
»Der Typ ist dermaßen peinlich.«
»Wie oft hat er ihm schon sein Leben gerettet? Wenn er ihn ersaufen lässt, hätte er ein Problem weniger.«
Ja, das waren doch äußerst herzliche Worte. Da fühlte ich mich direkt von meinen Mitmenschen verstanden.
»Haltet verdammt nochmal die Fresse«, brüllte David beim Vorbeigehen. »So einen Abschaum wie euch würde ich ersaufen lassen. Ihr macht die Welt nämlich nur noch beschissener mit eurer Anwesenheit.«
Erneut überkam mich eine Welle der Übelkeit und ich war nicht in der Lage etwas anderes zu tun, als sie passieren zu lassen. Diesmal aber war es kein Wasser, das aus meiner Lunge kam, sondern eklige Kotze. Daraufhin lachten die zwei Idioten, die David gerade noch zurechtgewiesen hatte. Anscheinend erfolglos.
Ich hoffte inständig, dass sie in einigen Jahren realisierten, was sie mit solch einem Verhalten bei einem Menschen auslösen konnten.
»Fuck, Rus!« Davids Stimme war nun deutlich lauter ... und wütender.
Als ich fertig war damit meinen gesamten Mageninhalt auszukotzen – der nur aus Alkohol und Flips bestand – wischte ich mir mit meinem Ärmel über den Mund.
Das Nächste, was ich mitbekam, war das Brummen eines fahrenden Autos und wie David mich die Treppe zu unserer Wohnung hoch geschleift hatte.
Als ich mitten in der Nacht von meiner Übelkeit geweckt wurde, lag ich – in Unterwäsche – in meinem Bett.
Er hatte mich also wieder ausgezogen.
Neben mir stand ein Eimer auf dem Boden. So wie eine Flasche Wasser, die einen Ring unter sich hinterließ. Die war wohl vor einigen Stunden noch kalt gewesen. Auf meinem Nachttisch lagen zwei Aspirin. Die würde ich morgen früh einnehmen. Ich übergab mich erneut, trank die halbe Flasche leer und ließ mich wieder ins Bett fallen. Ein lautes Seufzen entwich meiner Kehle.
Fuck. Du bist sicher enttäuscht von mir nicht wahr? Scheiße. Was soll ich nur tun? Wie soll ich wieder aus diesem Loch kommen? Und warum sollte ich mir die Mühe machen, aus dem Loch herauszuklettern, wenn du gar nicht da bist? Dann bleibe ich lieber hier unten in der Dunkelheit, anstatt im Licht, das mir dein strahlendes Gesicht nicht zeigen kann.
Ich kniff meine Augen zusammen und ließ stumm meine Tränen hinuntersickern. So wie fast jede Nacht.
Du fehlst mir so schrecklich.
Als ich meine Augen das nächste Mal aufschlug, sah ich in Davids Gesicht, das genau vor meinem schwebte. Er war mir nah. Zu nah.
»Reicht es nicht, dass du mich gestern ausziehen durftest? Willst du jetzt auch noch eine Nummer schieben?«, brummte ich verschlafen.
Er entfernte sich und gab ein sarkastisches »Ha ha«, von sich.
»Das muss aufhören, Rus. Du wirst immer mehr zur Gefahr für dich selbst.«
Ich seufzte. Nicht das schon wieder.
»Warum hast du mich nicht einfach ertrinken lassen?« Ich warf mir die Tabletten in den Mund und kippte einen großen Schluck Wasser hinterher.
»Das wäre immerhin nicht so peinlich gewesen wie die gestrige Show.«
»Oh, nett«, erwidere ich mit hochgezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen.
»Du bist zu mehr bestimmt. Hör auf, zu denken du seist ein Nichtsnutz oder ein Versager, den niemand liebt. Ich weiß, wer du wirklich bist. Wer du mal warst, wie du warst.«
»Dass ich ein Nichtsnutz sei oder dass mich niemand liebt, hab ich zwar nicht gedacht aber ... okay, danke. Allerdings bin ich an einem Punkt angekommen, wo ich doch glatt behaupten würde, dass ich wirklich ein Versager bin. Und ja du hast recht, David. Ich bin nicht mehr der, der ich mal war. Ohne sie werde ich niemals mehr ich selbst sein können.«
»Doch, das wirst du«, sagte er zuversichtlich.
»Was macht dich da so sicher? Ich mein, sieh mich doch an.«
»Weil ich weiß, dass sie dich in diesem Zustand nicht einmal ansehen könnte, geschweige denn wollte. Sie hat sich nicht in den Rus verliebt, der in seinen Emotionen versinkt. Nein, sie liebte den Träumer. Den offenen – zugegebenermaßen – humorvollen Idioten, der davon träumte Autor zu werden.«
Ich machte keine Anstalten ihm zu zeigen, dass er Recht hatte. Das änderte nichts.
»Rus, wach endlich auf Mann! Du wärst gestern fast draufgegangen! «
Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist doch nichts Neues.«
Es bildete sich eine Furche zwischen seinen Augenbrauen. »Hörst du dir eigentlich selbst zu? Genau darum gehts doch! Du bist ein erwachsener Mann, verhältst dich aber wie ein Teenager, der nach zwei Wochen Beziehung von seiner ersten Liebe verlassen wurde. Du übertreibst und verlierst dich selbst.«
»Scheiße, Dave könntest du bitte für einen Moment nicht so ein Arschloch sein? Ich habe die Frau verloren, die ich mehr geliebt habe als mein beschissenes Leben. Ich weiß, du hast keine Ahnung von Liebe aber Fuck! Sie. Ist. Tod! Kannst du versuchen, dir im geringsten vorzustellen, wie das für mich ist?«
»Fuck. Nein, ich ... scheiße! Ich wollte damit sagen, dass ich dir hinterherrennen und aufpassen muss, dass du dir nichts antust. Aber du musst lernen, auf deinen eigenen Beinen zu stehen, egal ob bei Glück oder Verlust. Ich kann für dich da sein, aber du bist alt genug, um standhaft im Leben stehen zu können. Ich kann das nicht länger mitmachen Rus. Du bist mein bester Freund und ich ertrage es nicht mehr, dich so zu sehen. Du musst wieder leben. Du musst lernen, ohne sie zu leben.«
Dass David emotional wurde, kam selten vor. Genau das bewies mir, wie ernst er es meinte.
Er stand kurz auf und kam mit einem Päckchen Taschentücher – die er mir hinhielt – wieder zurück. Ich sah zu ihm auf, woraufhin er schmunzelnd versuchte, mich aufzumuntern, als er sagte, »Für dich, crybaby.«
Ohne es zu wollen, gaben meine Mundwinkel nach und schmunzelten ebenfalls. Mir war gar nicht aufgefallen, dass mir Tränen gekommen waren, bis David es erwähnte. Ich nickte dankend und schnappte mir die Tücher.
Davids Gesicht wurde wieder sanfter und es lag Mitleid darin. Ich hasste es, wenn er mich so ansah, aber ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich war ein bemitleidenswertes und erbärmliches Stück Scheiße geworden, das wusste ich selbst.
Mein Kumpel setzte sich zu mir aufs Bett und legte eine Hand auf meine Schulter. »Ich weiß, es ist noch nicht so lange her. Aber du kannst so nicht weitermachen. Das würde sie nicht wollen. Und ich denke, du willst das eigentlich auch nicht mehr.«
»Ich will nur, dass es aufhört wehzutun.« Kaum sprach ich den Satz aus, heulte ich wie ein Baby.
»Du hast sie geliebt, Mann, es wird immer weh tun. Du kannst nur lernen, damit zu leben. Der Schmerz wird nicht verschwinden, indem du dich mit Alkohol abschießt oder tagelang im Bett liegen bleibst. Reiß dich zusammen, such dir ein Hobby und beginn dein Studium von vorn. Beginn mit deinem Leben von vorn. Wenn nicht für dich, dann für sie. Das hätte sie sich für dich gewünscht.«
Dann wurde er kurz ruhig, bevor er sagte, »Und außerdem: Wer erzählt eure Geschichte weiter, wenn ihr beide nicht mehr lebt?«
Ich hätte antworten können Du, aber stattdessen blieb ich still. Ich ließ mir seine Worte immer und immer wieder durch den Kopf gehen. Minute für Minute. Tag für Tag. Monat für Monat.
Wer erzählt eure Geschichte weiter ...
David und ich waren vor einer Stunde am Flughafen angekommen. Nun standen wir vor dem Eingang zum Gate. Seit wir uns hier aufhielten, beobachtete ich die Menschen. Wie üblich war im LAX jede Menge los. Familien freuten sich auf ihren gemeinsamen Urlaub, während andere sich auf eine Weltreise begaben oder nur einen alten Freund besuchen wollten. Plötzlich hallte ein scharfer Schrei in der vollen Halle wider und ließ mich vor Schreck herumfahren. Mein Puls hatte sich automatisch beschleunigt, doch als ich die junge Frau erblickte, war mir klar, weswegen sie schrie und dass keine Gefahr bestand. Ihr Freund schloss sie in seine Arme und wirbelte sie herum, bevor er ihr einen langersehnten Kuss auf die Lippen gab. Die Szene ließ mich leicht auflächeln. Wann hatte ich mich das letzte Mal so sehr gefreut, jemanden nach langer Zeit wiederzusehen?
Es war jeden Moment so weit. Nach Jahren würde ich gleich in das Flugzeug steigen und nach Sunmond fliegen, zurück in meine Heimat. Obwohl mir vertraut war, was mich erwarten würde, breitete sich ein Kribbeln in mir aus, sobald ich daran dachte.
Ich würde von vorn mit der Uni beginnen und mit meinem Bruder bei meinen Eltern wohnen. Ich war gespannt, wie das Zusammenleben ablaufen würde. Daran musste ich mich erst wieder gewöhnen. Es war ja nicht so, dass ich sie nicht vermisst hätte. Aber Eltern dachten allen Ernstes, sie könnten einem Zweiundzwanzigjährigen noch etwas vorschreiben.
Hach, das würde lustig werden.
»Sicher, dass du nichts vergessen hast?«, hakte David erneut nach.
»Ja, ganz sicher«, antwortete ich.
»Ich glaub nicht, dass ich das sage, aber du wirst mir fehlen Mann. Anfangs warst du wirklich belastend, aber heute ...«
Ich schmunzelte. »Das hab ich nur dir zu verdanken. Aber keine Sorge, ich werde nach dem Studium wiederkommen und dir weiter auf den Sack gehen.«
Meine Worte waren ehrlich gemeint. Ohne David wäre ich vermutlich heute noch ein Wrack ... und ich würde ihm wirklich auf den Sack gehen.
»Geil«, sagte er gespielt monoton.
Wir lachten.
»Wenn du während meiner Abwesenheit ein erfolgreicher Filmregisseur geworden bist, gib mir Bescheid.«
»Mach ich.« David strotzte vor Selbstbewusstsein. Er glaubte an sich und seinen Traum. Deswegen glaubte ich ebenfalls fest daran, dass er sein Ziel erreichen würde.
»Viel Glück, Rus. Ich hoffe, dass alles so hinhaut, wie du es dir vorstellst. Du hättest es verdient, auch, wenn du das vielleicht nicht glaubst.«
»Danke, Mann.«
»Alle Passagiere für Flug AA 1871 nach Sunmond, Texas, werden gebeten, sich zum Gate zu begeben.«
Ich nahm meinen besten Freund in den Arm und es fiel mir wirklich schwer, ihn wieder loszulassen.
»Okay, das reicht langsam. Jetzt geh schon.«
Er hatte noch nie viel übrig für Gefühlsduselei.
Das erinnerte mich an jemanden ...
Ich lief zum Eingang, drehte mich zu ihm um und winkte ein letztes Mal. Dann stieg ich in den Flieger.
Die drei Stunden während des Fliegens vergingen wie ... na ja wie im Flug.
Ich war wieder in Sunmond. Die Stadt der Erinnerungen wurde sie genannt. Den Namen hatte uns die Werbung für Touristen gegeben, doch Sunmonds Einwohner bestätigten, dass der Name der Wahrheit entsprach. Denn ist man einmal hier gewesen, vergisst man die Erlebnisse, die man hier gemacht hat, nicht mehr. Dem konnte auch ich nur zustimmen. So war es tatsächlich. Ob das gut oder schlecht war, kommt jedoch auf die Erlebnisse an.
Ich schnappte mir meinen großen Koffer und fuhr die Rolltreppe hinunter. Noch gar nicht unten angekommen, sah ich bereits das superpeinliche Plakat, das mein älterer Bruder hochhielt. Es war pink und wurde mit Regenbögen und Einhörner vollgemalt. In der Mitte prangte der Name Lil Rusi Scott, geschrieben mit einem Glitzerstift.
Ich hätte ja gesagt er schaffte es immer wieder mich in eine unangenehme Lage zu bringen, aber die Zeiten waren vorbei. Ich hatte mich bereits an solche Dinge gewöhnt, so war James nun mal.
»Rusi!« Er ließ das Plakat zu Boden fallen und schloss mich in seine Arme. »Endlich sehe ich dich wieder, kleiner Bruder. Ich hatte befürchtet, du würdest wie der größte Penner aussehen. Ich bin froh, dass es nicht so ist.«
Ich lachte. Darüber war ich auch froh. Hätte er mich vor einem Jahr gesehen, wäre er sicher anderer Meinung über mein Erscheinungsbild gewesen.
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Sind Mom und Dad im Auto?«
»Nein, sie sind zuhause. Du kennst doch Mom, sie bereitet ein ganzes Buffet für uns vor, um deine Rückkehr zu feiern.«
»Und sie hat Dad gezwungen zu helfen«, ergänzte ich.
»Jep«, bestätigte er meine Vermutung.
Ich schmunzelte. Unsere Mom war die liebevollste Mutter auf dem Planeten. Ja, jeder behauptete, seine Mutter wäre die Beste, aber meine war wirklich die Beste.
»Na komm, besser wir lassen sie nicht warten.«
Draußen angekommen sah ich der Sonne entgegen, die dabei war langsam unterzugehen. Der Parkplatz war nicht allzu voll. Sunmond war auch keine ungemein große Stadt. Die meisten Menschen flogen eher nach Austin, Texas. Das war bekannter als Sunmond. Doch dabei verpassten sie einiges. Meine Heimat hatte so manches zu bieten. Ob man nun lieber die Stadt mochte, oder eher die Natur, hier hatte man reichlich von beidem. Mitten im Wald verbarg sich ein See und unsere City war eine Altstadt mit sehr vielen unterschiedlichen Restaurants und Cafés. An Sommernächten hatte man einen klaren Blick auf die Sterne. Es gab auch zwei Museen, an deren Wände die eindrucksvollsten Gemälde hingen. Diese Stadt hatte genug für junge, aber auch alte Leute übrig. Man konnte sich hier nur wohlfühlen. Es war nicht so groß wie Austin aber sehr viel schmeichelnder.
Nun kam der schwere Teil: Mich in ein Auto setzen. Oder eher in einem fahrenden Auto sitzen bleiben, ohne eine Panikattacke zu bekommen.
James setzte sich ans Steuer, während ich mein Gepäck in den Kofferraum lud. Ich ging um das Auto herum und blieb vor der Beifahrertür stehen. Zu der Zeit, in der ich bei David in Los Angeles wohnte, saß ich kein einziges Mal in einem Auto, nicht mal in einem Taxi. Ich fuhr Bahn oder lieh mir Davids Fahrrad, das er sowieso nicht mehr benutzte. Er hatte mich oft dazu überreden wollen mit ihm ins Auto zu steigen, aber ich konnte es nicht.
Nicht mehr seit ...
»Rus?« James riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte die Fenster herunter gelassen.
»Ich weiß es ist lange her, aber du schaffst das«, sprach er mit Mut zu.
Schon allein dieses Auto anzustarren ließ meine Hände schwitzig werden und meinen Puls höher schlagen.
»Ich schaffe das. Ich schaffe das. Ich schaffe das.« Immer wieder sprach ich den Satz leise vor mich hin.
Langsam legte ich meine Hand auf die Autotürklinke.
Nannte man das bei einem Auto so? Ich wusste es nicht mehr.
Ich hörte mein Herz laut gegen meinen Brustkorb schlagen.
Erinnerungsfetzen von meinem Wagen und ihrem Blut liefen vor meinen Augen ab. Ich kniff meine Augen zu in der Hoffnung, sie so zu verdrängen, doch gerade dann wurden die Bilder intensiver.
»Denk an was Gutes. An etwas Schönes«, flüsterte ich vor mich hin und wünschte, mich so vor den entsetzlichen Gedanken bewahren zu können.
Ich bringe das jetzt schnell hinter mich! Los!
Ich riss die Tür auf und setzte mich hinein.
»Sehr gut, Rus. Das ist doch schon mal ein Fortschritt. Jetzt schnall dich nur noch an und wir fahren los.«
Ich hörte James‘ Stimme nur dumpf neben mir, denn mein Herzschlag übertönte alles um mich herum. Mein starrer Blick war auf meine Füße gerichtet und der Schweiß lief mir die Stirn hinunter. Ich war wie in Trance, dennoch schaffte ich es mich an zu schnallen.
James legte seine Hand auf meine Schulter, woraufhin ich kurz zusammenzuckte.
»Hey, schließ einfach deine Augen und lehne dich zurück. Ich mache etwas Musik an. Ehe du dich versiehst, sind wir zuhause«, beruhigte er mich.
Ich nickte nur.
Nicht mal eine Minute verging, als James laut zu Side to Side von Ariana Grande mitsang. Ich konnte nicht anders und musste lachen. Da ich diese Show sehen wollte, traute ich mich vorsichtig, meine Augen zu öffnen. Seine Kopfbewegungen waren total übertrieben und er schnippte wie eine Diva zum Takt.
»Nickis Part kommt, los Rus, du kennst den Text.«
Er hatte mich seit dem Release mit diesem Song genervt, weshalb ich wochenlang einen Ohrwurm davon hatte. Ja ich kannte den Text ernsthaft in – und auswendig.
Er wollte mich damit ablenken und es funktionierte zum Glück. Doch sobald ich auf die Straße schielte, schloss ich meine Augen, da hörte der Spaß dann doch wieder auf. Also ließ ich sie zu und sang weiterhin zur Ablenkung mit meinem Bruder mit.
Irgendwann hielt der Wagen an, der Motor wurde ausgestellt und James ließ die Hupe ertönen.
»Wir sind daaaa!«, trillerte er.
Sobald er es aussprach, öffnete ich meine Augen. Wir standen vor dem linken Garagentor meiner Eltern. Ich hatte kaum die Autotür geöffnet, als meine Mutter schon aus dem Haus stürmte und mir um den Hals fiel.
»O mein Baby! Du hast mir so gefehlt. Du glaubst nicht, was für Sorgen ich mir all die Zeit gemacht habe! Wie kannst du deiner armen Mutter nur sowas antun?!«
Ich umarmte sie fest und die Schuldgefühle dehnten sich in meinem Magen aus. Ich war nach dem Unfall und ihrem Tod ... Ich war gegangen. Es fiel mir zu schwer, meiner Familie ins Gesicht zu sehen, nachdem was geschehen war. Nein, ich wollte ihnen nicht ins Gesicht sehen. Ich war mir damals sicher, sie enttäuscht zu haben. Doch heute wusste ich, dass sie mich liebten und immer an meiner Seite waren. Denn sie kannten mich und wussten, wer ich war. Und eins stand fest: Ich war nicht meine Fehler.
Dennoch hatte ich nur mit James telefoniert, da ich es nicht übers Herz brachte, mit meinen Eltern zu reden. Es hätte ihnen nur noch mehr Sorgen bereitet, wenn sie mich betrunken oder heulend – oder beides gleichzeitig – am Telefon gehört hätten.
»Du hast mir auch gefehlt, Mom«, krächzte ich nur, wegen des Kloßes in meinem Hals. Ich schaute über ihre Schulter auf und sah nun auch Dad zu uns kommen. Er legte die Arme um Mom und mich.
»Wehe du haust nochmal einfach so ab!«, mahnte er. Ich entdeckte Tränen, die in seinen Augen schimmerten. Dad spielte schon immer den strengen Herrn, obwohl jeder von uns wusste, dass er ein emotionaler Kuschelbär war. Er war selten wütend auf uns Jungs, aber wir gaben ihm auch so gut wie nie einen Grund dafür.
Auch James kam nun dazu. So standen wir einige Sekunden lang da und genossen es, dass unsere Familie wieder komplett war.
Mom zog die Nase hoch, seufzte und dann strahlte sie übers ganze Gesicht. Meine Mutter lächeln zu sehen hatte ich mehr vermisst, als ich ahnte.
»Endlich sind alle meine Lieblingsmänner wieder beisammen. Kommt, das Essen steht schon auf dem Tisch.«
»Willst du uns nicht erzählen, was du in L.A. so getrieben hast?«, fragte Dad neugierig.
Mom schaute mich an und wartete gespannt auf meine Antwort.
»Hat James euch nichts mitgeteilt?«, fragte ich und stellte mich dumm. Ich wollte erst von ihnen wissen, was mein großer Bruder ihnen über mich ausplauderte. Hatte er ihnen doch die Wahrheit gesagt oder für mich gelogen? Eigentlich vertraute ich meinem Bruder so weit, dass ich mich darauf verließ, dass er für mich log, aber sicher ist sicher.
»James sagte uns nur, dass du bei deinem alten Onlinefreund David gewohnt und eine Pause gemacht hast«, antwortete Mom und zeichnete Anführungsstriche in die Luft als sie das Wort Pause erwähnte.
»Was meinst du mit Pause?«, fragte ich verwirrt.
»Eine Pause vom Leben«, erklärte Dad.
Ich schaute harsch zu meinem Bruder rüber, der so tat, als hätte er meinen Blick nicht wahrgenommen. Dann seufzte ich hörbar aus und beschloss, ehrlich mit ihnen zu sein. Schließlich hatte ich die schwere Phase hinter mir und saß in einem Stück vor ihnen. Mir ging es wieder gut.
»Ja, ich habe bei David gewohnt. Ich hatte keinen Job, habe nur auf seiner Couch gelümmelt, mir die Birne weggesoffen und ein paarmal versucht, mich umzubringen, ohne es je wirklich ernst gemeint zu haben, denn sonst wäre ich nicht hier. Aber David hat mich auch sehr oft gerettet und war für mich da, als ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe, was in der Anfangszeit fast jeden Tag vorkam. Ich konnte mit dem Schuldgefühl nicht leben. Ich wollte nicht ohne sie weiter leben. Ich ... ich habe sie umgebracht ...«, entwich mir der letzte Satz flüsternd.
Mom erhob sich von ihrem Platz und kam auf mich zu. Sie drückte mich in ihre Arme. Ihre zitternde Stimme verriet mir, dass ihr gerade Tränen die Wangen hinunterliefen.
»Es war ein Unfall. Du hast sie nicht umgebracht, mein Schatz. Es war ein schlimmer Unfall. Es tut mir ... es tut mir so leid.«
Ich ließ mich von meiner Mutter halten, wie ein Kind, dass sich verletzt hatte, und es fühlte sich verdammt gut an. Das war eines der Dinge, die ich wirklich gebraucht hatte.
»Sieh nur, wie viel du geschafft hast, Rus«, begann James. »Du warst so tief in einem Loch, wo sehr viele ihr Leben lang nicht mehr herauskommen. Du bist bald wieder Student, bist von dem Alkoholmissbrauch losgekommen – der zu einer schlimmen Sucht hätte werden können – und du siehst wieder aus wie ein Mann und nicht wie ein Waschlappen.«
Er wusste genau, dass mich das zum Schmunzeln bringen würde und Mom konnte auch nicht anders, als ein kleines Lächeln aufkommen zu lassen.
»Ohne euch hätte ich das nie geschafft.«
»Wir hatten nicht mal die Möglichkeit, dir zu helfen, Junge«, erwähnte Dad.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht zugelassen, dass ihr mir helft. Aber James hat mir jedes Mal gesagt, wie sehr ihr mich liebt und vermisst und dass ihr nicht böse auf mich seid, weiter an mich glaubt. Das hat mir Kraft gegeben.«
Wir alle spürten das Wohlsein einer liebenden Familie um uns herum und das könnte mich nicht glücklicher machen. Ich hatte die beste Familie auf der Welt, da würde es mir niemals in den Sinn kommen, ihnen den Verlust anzutun, der mir widerfahren war.
Nachdem wir uns alle ausgiebig darüber unterhielten, wie es mir die letzten Jahre bei David, und meiner Familie währenddessen hier erging und wie froh wir alle waren, dass ich nun wieder hier war, packte ich meine Sachen aus dem Koffer und richtete mich einwenig in meinem alten Zimmer ein.
Alles hier war noch so, wie an jenem Tag, an dem ich Sunmond verlassen hatte. An den Wänden prangten Poster von etlichen Alternative-Rockbands, die ich mir mit siebzehn angehört hatte. Rechts von mir stand mein Bett mit rein weißer Bettwäsche und neben dem Bett lehnte meine Akustikgitarre in der Ecke, die bereits völlig zugestaubt war, da Mom mein Zimmer nicht betrat, seit ich fortging. Ich erinnerte mich daran, wie James mir bei einem Telefonat erzählte, dass sie mich so schmerzhaft vermisste, dass sie es nicht ertrug, in meinem Zimmer zu sein. Sie hatte Angst, dass ich nie wieder kommen würde. Angst davor, ich wüsste nicht, dass sie mich trotz all meiner Fehler liebte und immer lieben würde, ebenso wie mein Bruder und Dad.
»Sie betritt nicht mal dein Zimmer, trotz ihres Putzwahns. Als wärst du gestorben und nicht einfach nach L.A. gezogen«, hörte ich den James von damals witzeln.
Seit ich Sunmond damals verließ, hatte ich nicht mehr Gitarre gespielt. Vielleicht war ich eines Tages wieder bereit dazu.
Auch der kleine Kleiderschrank aus hellem Holz war noch hier. Ich besaß noch nie viele Klamotten. Außerdem befand sich noch ein Fernseher im Zimmer mit einer Playstation vier und einem Haufen Spiele, auf einer Kommode, die aus demselben Holz war wie all meine anderen Möbel auch.
In der linken Ecke auf der Seite der Schlafzimmertür stand mein Schreibtisch, den ich nun gezielt ansteuerte.
Ich setzte mich an das in die Jahre gekommene Holz, öffnete Word an meinem Laptop und atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor ich meine Finger behutsam auf die Tastatur legte.
Eine Geschichte braucht einen unvergesslichen Titel. Ein Titel, der einen immer wieder an das Gelesene erinnert.
Und dann tippte ich die ersten Worte.
Don’t Forget To Remember.
Hier beginnt die Geschichte von ...
Don't Forget To Remeber
»Rus. Rus! Ruuuuus!!!«
Ein Brüllen ließ mich hochschrecken.
»Scheiße was?«
Ein ekelhaft grelles Licht blendete mich. Sofort kniff ich meine Augen wieder zu, ließ mich zurück in mein gemütliches Bett fallen und zog die Decke über meinen Kopf.
Einen Moment später fand ich mich auf dem Boden wieder.
»Au, fuck! Sag mal, gehts noch?!«
»Geht super, danke. Aber du kommst gleich zu spät zu deiner ersten Vorlesung«, wies James mich hin.
Mein Kopf drehte sich ruckartig zur Uhr, die auf meinem Nachttisch stand.
»Fuck!«
Innerhalb von zehn Minuten duschte ich mich und zog etwas Bequemes an. Das Frühstück musste wohl vorerst warten.
»Zur Uni laufen wird nichts. Ich fahre dich.«
»Auf keinen Fall.«
»Rus, du wirst zu spät kommen. Ich werde dich fahren. Basta.«
Hier war ich also. James fuhr langsam auf den Parkplatz der Universität von Sunmond.
Endlich.
Ich war so nass geschwitzt, man könnte meinen, ich sei ins Meer gesprungen. Doch das lag nicht daran, dass Sommer war. Ich ertrug es einfach nicht in einem Auto zu sitzen. Ich vermied Autofahrten, so gut es ging. Doch heute Morgen war ich dazu gezwungen worden.
Danke, James.
Die parkenden Autos waren umgeben von Bäumen, die diese ein wenig vor der Hitze der Sonne schützten. Als ich durch das Beifahrerfenster sah, glaubte ich kaum, wieder hier zu sein. Es waren zwei Jahre vergangen. Keine allzu lange Zeit, aber für jemanden, der durch die Hölle gegangen war, war es fast eine Ewigkeit. Der Anblick meiner alten Universität verursachte Übelkeit vor Nervosität.
Tief ein – und ausatmen.
Ich würde das schon schaffen. Schließlich war ich endlich wieder ich selbst. Was sollte schon schief gehen?
»Bist du bereit, kleiner Bruder?«
Mein Kopf drehte sich zu James, der mich besorgt ansah.
»Ja«, nickte ich, »absolut bereit.«
Nein überhaupt nicht, doch das nützte nichts. Dankend stieg ich aus dem Wagen und nahm einen tiefen Atemzug.
Endlich war mir das Atmen wieder möglich.
»Hey!«, rief mein Bruder mir hinterher, während ich mich bereits auf den Weg zur Uni machen wollte.
Er beugte sich in Richtung des Beifahrerfensters, aus dem ich vor einigen Minuten noch die Welt an mir vorbeiziehen sah.
»Du musst ab morgen den Bus nehmen. Mum soll nicht dauernd die Frühschicht im Café übernehmen, nachdem sie schon stundenlang gebacken hat, okay? Viel Spaß. Du machst das schon, Rusi!«
Mit Sicherheit nahm ich nicht den Bus. Das kam mir einem Auto immer noch zu nah. Ich würde laufen. Blöd, dass ich mein Fahrrad vor Jahren verkauft hatte. Aber vielleicht hatte Mom ihres noch.
Ich schlenderte über den Campus auf dem Weg zu meiner ersten Vorlesung. Seit dem Vorfall war ich nicht mehr hier gewesen. Schnell verdrängte ich den Gedanken an die Vergangenheit wieder.
Heute war ein sonniger Tag, viele Studenten saßen auf dem Rasen und lernten, lasen oder erholten sich. Das große Gebäude in der Mitte war umgeben von grünen Flächen und Bäumen. Rechts war die Sporthalle der Uni und lief man in die gegenüberliegende Richtung, war dort das Studentenwohnheim. Alle Gebäude waren im Stil des Neoklassizismus und hielten sich den Farben weiß und grau. Nichts hatte sich verändert, bis auf mich.
Gott sei es gedankt.
Na ja okay, Gott war übertrieben, er hieß David. Sei es David gedankt. Er war ein wahrer Freund. Keine Ahnung, wo ich heute stehen würde, wenn es ihn nicht gäbe. Ich hoffte von Herzen, dass sein American Dream wahr werden würde.
Da ich mich hier immer noch gut auskannte, fand ich den Vorlesungsraum in wenigen Minuten. Nur wenige Studenten saßen im Hörsaal, darunter aber eine, die ich aus meiner Vergangenheit kannte. Ich wusste noch von früher, dass sie sich nicht vorwiegend für Literatur begeisterte. Aber sie war auch gar nicht wegen der Vorlesung hergekommen. Dizee war hier, um mir klarzumachen, wie vorsichtig ich meine zukünftigen Pläne in Sachen Liebe angehen sollte. Und sie würde mir auch dabei helfen.
Seit drei Wochen war ich wieder an der Uni. Beinah hätte ich vergessen, wie wahnsinnig gut mir das Literaturstudium damals gefiel. An dieser Leidenschaft hatte sich nichts geändert.
»Hey Rus!« Die tiefe Stimme von Kiano ertönte hinter mir ebenso wie seine schnellen Schritte.
Er war im dritten Semester seines BWL-Studiums. Wir hatten uns eines Tages während des Lernens in der Bibliothek kennengelernt. Die Tische dort waren nicht überfüllt gewesen, doch die meisten Studenten wirkten sehr abweisend, wenn ich ihnen näher kam – außer Kiano. Er war so offen und bat mir den Platz ihm gegenüber an. Seither freundeten wir uns Tag für Tag mehr an.
Er hatte mich eingeholt. Ganz aus der Puste legte Kiki seine Hand auf meine Schulter. »Man ... wie viele Meter waren das? Hundert?«
Ich schmunzelte. »Ich vermute eher fünfzehn. Vielleicht würde dir ein bisschen Sport ganz guttun?«
»Ach quatsch«, winkte er ab. »Hey Mann, hör zu. Ich hab demnächst sturmfrei und da dachte ich, ich veranstalte eine Poolparty. Hättest du Bock zu kommen?«
Eine Poolparty wäre nicht schlecht, um wieder neue Leute kennen zu lernen. Die meisten die ich kannte, waren nicht mehr auf der Uni und seit ich nach L.A. abgehauen war, hatte sich der Kontakt sowieso in Luft aufgelöst.
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar, warum nicht?«
Er grinste. »Cool! Komm, ich stelle dir meine Freunde vor, die werden auch dabei sein. Sie sitzen da vorne.« Er deutete in die Richtung eines Weidenbaums. Darunter saß eine Gruppe von vier Mädchen und einem Jungen mit blauen Haaren.
Wir näherten uns seiner Clique. Die Erste, die ich erkannte, war Dizee. Seit dem damaligen Unfall hatten wir uns besser kennen gelernt und nun da ich wieder hier war, hatte ich das Gefühl, unsere Beziehung ist wie die von Geschwister. Auch wenn sie mir manchmal die kalte Schulter zeigte, das war nun mal ihre Art. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihr Kern weich war. Doch aufgrund meines Plans spielten wir unsere Show, in der wir so taten, als begegneten wir uns heute zum ersten Mal.
»Hey Leute! Das ist mein Kumpel Cyrus. Er kommt auch zur Poolparty und ist ab jetzt unser neues Mitglied.«
Ich schaute in die Runde und hob meine Hand. »Hi, ihr könnt mich Rus nennen.«
Daraufhin stellte sich jeder von ihnen vor, angefangen bei dem Jungen mit den blauen Haaren. Er hieß Kim und sein Aussehen deutete darauf hin, dass er aus Asien kam. Woher genau konnte ich aber nicht sagen. Nasty hatte ein kleines Puppengesicht. Sie nannten sie auch Barbie, da ihr voller Name Anastasia Barbara war und sie wie eine Barbiepuppe aussah.
Wie kommt man bloß auf solch eine Namenskombination?
Danach stellte sich Lilo – Melissa Lou – vor. Sie hatte dunkelbraune Augen und ihre dunklen Haare, die ihr über die Schultern fielen, gingen ihr bis unter die Taille.
Und dann war da noch sie. Das eindeutig schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Sie hatte lange blonde Locken. Eine richtige Löwenmähne. Ihre Augen waren auf die gedruckten Worte ihres Buches gerichtet, doch ich erinnerte mich genau daran, wie sie aussahen. Sie leuchteten türkis und ihre braune Haut, ähnelte nassem weichen Sand. Sie hielt die ganze Zeit über das Buch in den Händen und hörte nicht auf zu lesen. Vermutlich würde sie das auch dann nicht, wenn jetzt die Welt untergehen würde. Denn das würde sie ebenso wenig mitkriegen, wie die Vorstellungsrunde, die wir gerade abhielten.
Es war still. Alle hatten ihre Augen auf sie gerichtet, da sie die Einzige war, die sich noch nicht vorgestellt hatte. Stattdessen blendete sie unbeabsichtigt alles um sich herum aus, um nicht aus der Welt des Buches entfliehen zu müssen. Es schien, als würde ihr die Stille auch nicht entgehen, denn nun schaute sie kurz auf. Als sie fragend eine Augenbraue hochzog, nickten ihre Freunde in meine Richtung. Sie legte ein Gänseblümchen zwischen die Seiten, schlug ihr Buch zu und kicherte peinlich berührt. »Oh, entschuldige.«
Ihre Augen sahen in meine und schon setzte mein Herz aus. Zwischen uns geschah etwas. Denn die Luft um uns herum wirkte aufgeladen, seit unsere Blicke sich trafen. Ob sie es genauso empfand? Denn das schnelle Blinzeln und leichte Zucken ihrer Augenbrauen, sagten mir, dass sie dasselbe verspürte.
Oder erkannte sie mich?
Der Gedanke ließ eine Gänsehaut der Angst über meinen Körper laufen. Wenn sie mich erkannte, würde sie mich sicher hassen, für das, was ich ihr angetan hatte. Das hier war meine zweite Chance. Wenn sie mich wiedererkannte, wusste ich nicht, ob ich diese noch nutzen konnte.
Wir sahen uns weiterhin an, ohne uns einander vorzustellen. Ich wagte den ersten Schritt und streckte meine Hand nach ihr aus. Weiterhin klammerte ich mich an die Hoffnung, dass auch bei meinem Namen nichts bei ihr klingelte.
»Ich bin Cyrus. Cyrus Scott.«
Na prima jetzt klang ich wie James Bond.
Sie saß weiterhin auf der weichen Decke unter dem Weidenbaum.
Ihr Blick wechselte zwischen mir und meiner Hand, bis er schließlich wieder an meinen Augen hängenblieb.
»Tamara. Tamara Jones.« Sie schenkte mir ein wunderschönes Lächeln, das so breit war, dass es mich an Julia Roberts erinnerte. Es war der reinste Sonnenstrahl.
Ihre zärtliche Hand legte sich in meine und ich wollte sie nie mehr loslassen. Nach all den Jahren fühlte ich mich wieder ganz. Meine andere Hälfte legte ihre Hand in meine und wir würden schon bald wieder das alte Wir werden. Wieder eins sein. Dafür würde ich kämpfen, dafür war ich zurückgekommen. Denn ich konnte nicht mehr ohne sie weiterleben.
Ich hatte es mir auf dem Schaukelstuhl bequem gemacht, als Jason mir zurief, »Pass auf!«
Meine Hände fingen die Bierflasche im letzten Augenblick auf. Wäre ich nur einwenig unaufmerksam gewesen, würde sich das Gesöff nun über den ganzen Parkettboden ausbreiten.
»So! Wer hat Bock auf ’ne Runde Wahrheit oder Pflicht?«
Sophia seufzte laut. »Muss das sein?«, fragte sie. »Wir sind jetzt nicht mehr auf der High School.«
Ich kannte sie noch nicht besonders gut. Wir unterhielten uns ab und zu mal, wenn wir uns auf Partys oder Spieleabenden sahen. Da wir gemeinsame Freunde hatten, saßen wir nun hier: an einem weiteren Spieleabend in Jasons Keller.
Der Raum war sehr gemütlich hergerichtet. Es gab eine Bar, ein Sofa, einen Tisch mit Stühlen, einen Kühlschrank und eine Musikbox. Außerdem noch einen Kickertisch. Den hatte Jason sich mit seinem ersparten Geld vor einigen Wochen zugelegt. Die Wände hatten einen warmen Grauton, an denen Lichterketten angehangen wurden. Das war die Idee seiner Mutter – hatte er erzählt –, denn dann wurde der Raum umso gemütlicher. Auch zwei Decken und ein paar Kissen lagen bereit auf dem Sofa, sollte es hier unten doch zu kalt werden.
»Wen interessiert es ob wir noch auf der High School sind oder in einigen Wochen das Unileben beginnt. Wir spielen Wahrheit oder Pflicht, weil es lustig ist«, antwortete Jason ihr.
Sophia schaute ihn weiterhin mit einem genervten Gesichtsausdruck an. Dann klingelte ihr Handy plötzlich, das sie aus ihrer Hosentasche holte.
Sie nahm den Anruf an und fragte, »Hey, wo bleibst du denn?«
»Ja, ja, tu so als würdest du telefonieren. Ich kriege dich gleich trotzdem dran!«, kündigte Jason an.
Sophia zeigte ihm den Mittelfinger, ehe sie ihre Schultern hängen ließ und plötzlich rief, »Das kannst du mir nicht antun, Dizee! «
Dizee ... War das nicht diese Französin, die immer so kalt wirkte?
»Na immerhin! Dann bin ich nicht komplett alleine mit diesen Vollidioten.«