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A: "Als der Winter dann kam, ging alles sehr schnell. Innerhalb weniger Tage war ihre vertraute Welt nicht wiederzuerkennen. Meterhoch türmte sich der Schnee zu beiden Seiten der Straße und bedeckte den gesamten Landstrich mit einem Leichentuch. Das übermütige Lärmen ihres Alltags erstarb nach und nach unter dem ununterbrochen fallenden Schnee, der alle Geräusche schluckte..." B: "Ein immer wiederkehrendes Geräusch holte Mareike aus tiefer Nacht zurück. Nur, dass es nicht hell wurde und die anfängliche Grabesstille um sie herum zunächst einzig durch das schmerzhafte Dröhnen in ihrem Kopf gestört wurde. Mit der Zeit jedoch, als die Sinne ihre Funktionen wieder aufnahmen, hörte Mareike immer wieder dieses leise Schaben, etwa wie … na, sie konnte es nicht benennen. Ihr war kalt, und sie wollte die Arme wärmend um sich schlingen. Jetzt erst bemerkte sie die Handfesseln, welche bei jeder ihrer Bewegungen die Gelenke schmerzhafter umschlossen..." Veröffentlichung der illustrierten Einzelbände unter Ursula S.
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Spätabends. Das leise Klicken der Briefkastenklappe weckte sie. Sofort sprang sie auf und stürzte zur Tür. Etwas Weißes lag da auf der Fußmatte: etwas, das aussah wie eine Botschaft, ein heimlicher Gruß? Sie riss die Haustür auf, um hinauszuspähen. Nichts. Einzig der Baum wiegte seine dunklen Äste im trüben Licht der Straßenlaterne. Er warf gespenstische Schatten über den Gehweg, und für einen winzigen Moment meinte Ruth eine menschliche Gestalt wahrzunehmen. Doch da hatte sie sich wohl getäuscht. So schloss sie die Tür wieder und nahm den Brief in die Hand. Keine Anschrift, kein Absender. Hastig riss sie den Umschlag auf und überflog die wenigen Zeilen, die fast verloren wirkten auf dem großen Papierbogen. Sie versuchte, die Hände ruhig zu halten, aber je mehr sie sich beherrschen wollte, desto stärker wurde die Unruhe. Schließlich befiel ein Zittern ihren gesamten Körper. Sie verlor zunehmend die Kontrolle. Langsam sackte sie in die Knie, und ein heiseres Stöhnen quälte sich aus ihrer Kehle hervor. Mühsam rang sie nach Luft. Etwas schnürte ihr mit Gewalt den Hals zu. Ihr war heiß. Alles drehte sich. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
***
Als Hannah wie üblich nach dem Wochenende zum Haus der Bartels kam, lag die Brötchentüte immer noch dort. Die langjährige Haushaltshilfe bückte sich ächzend danach, bevor sie den Schlüssel im Schloss drehte und die Eingangstür aufstieß. Drinnen roch es muffig. Sie würde als erstes einmal kräftig durchlüften müssen. Allmählich nahm das Leben hier beunruhigende Züge an, fand sie. Stirnrunzelnd rückte sie die Fußmatte gerade und seufzte tief. „Ruth?“ – Nichts rührte sich, als Hannah die Diele durchschritt. Heute schien es ihr besonders still in diesem einst so fröhlichen Haus. „Ruhuth!“, trällerte sie daher aufmunternd, sobald sie das Wohnzimmer betrat. „Sag mal, was hast du ...“, sie setzte den Satz nicht fort. Ihr Gesicht wurde aschfahl beim Anblick Ruths, die da reglos vor ihr auf dem Fußboden lag. Ein gepresstes „Nein, nicht doch“, dann ging ein Ruck durch Hannahs Körper und sie handelte rasch und entschlossen. Wenige Minuten später stand der Rettungswagen vor dem Haus.
Nachdem sie die Fenster und den Herd kontrolliert hatte, sperrte sie eilig die Tür hinter sich ab. Aufgeregt kramte sie ihren Autoschlüssel hervor und machte sich in Richtung Krankenhaus auf den Weg, während die Sanitäter im anderen Wagen sich darum bemühten, Ruth aus ihrem selbstgewählten Tiefschlaf zurückzuholen.
***
Als diese wieder zu sich kam, schien es taghell. Sonnenstrahlen tanzten an der Zimmerdecke und entwarfen zauberhafte Muster. Aber noch weigerte sich ihr Geist, der harten Realität entgegenzutreten. Noch konnte sie sich hinausflüchten ins Reich der Wünsche und Träume. – Nur nicht anfangen zu denken, nur nicht ...
Neeiiiiin! – Einige Zeit danach: Ruths Kopf dröhnte. Stille ringsumher. – Sie machte sie verrückt, diese Stille, die immer Recht behielt. Wie lange würde es dauern, bis sie davon verschont blieb? – Sie war verurteilt, sie auszuhalten. Nichts konnte sie dagegen tun, selbst wenn sie sich alles wieder und wieder ins Gedächtnis zurückriefe. – Was sollte das auch helfen?
Ruth beschloss aufzuwachen.
Sie musste nur die Augen öffnen. Augen öffnen. Wieso war das alles aber nun so schwierig? Als lägen Zentnersäcke auf ihren Lidern. So, als würde sie sie nie wieder aufbekommen? – Eine bleierne Schwere befiel sie. Erneut schwanden ihr die Sinne.
***
Der Sekundenzeiger der hässlichen Stationsuhr schien nach jedem Schritt über einen Richtungswechsel nachzudenken. Betrübt ließ Hannah die Schultern sinken. Ihre Zuversicht wurde auf eine harte Probe gestellt. Man hatte es ihr bereits nahegelegt, vorerst nach Hause zu fahren, doch davon wollte sie nichts wissen. Lieber bat sie den Pfleger um eine weitere Tasse Kaffee. Nach und nach wurde es ruhiger auf den Fluren, aber sie würde Ruth jetzt nicht alleine lassen. Fest presste sie die rauen, ineinandergefalteten Hände zusammen, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Weißt du da oben überhaupt, was du der armen Frau alles zumutest?“ Zuerst ihre Kinder! – Beim Gedanken an deren schreckliches Unglück verzog sich Hannahs Gesicht schmerzhaft. – Und nun hielt es Ruths Mann nicht mehr aus. Der Brief, der bei Ruth gefunden wurde, bestätigte den Bruch. Furchtbar, mitzuerleben wie die Familie auseinandergerissen wurde. Ruths Zusammenbruch und ihr Versuch, sich mit Tabletten zu beruhigen waren nur zu verständlich. Wenn sie bloß jetzt nicht ganz aufgab. Noch war sie ja jung und konnte wieder von vorn ... verstört brach Hannah ihren Gedankengang ab.
***
Aus weiter Ferne vernahm Ruth etwas, das an Harfenspiel erinnerte.
Wachte oder träumte sie? – Fast möchte sie sich dieser himmlischen Melodie ganz hingeben. Es kostet viel Kraft, emporzusteigen aus dem Treibsand des Vergessens. Doch sie steigt auf.
Aus großer Tiefe und Dunkelheit, immer weiter hinauf ins Licht. Plötzlich bemerkt sie ihr Weinen, fühlt die Tränen über ihr Gesicht rinnen, und mit einem Mal überkommt sie eine große Sehnsucht. Sie meint seine Hand zu spüren, die ihr sanft über die Wange streicht. – Ein Hauch von Erinnerung ...
Wie konnten sie sich ihrer nur so sicher sein damals ; woher nahmen sie diese naive Selbstverständlichkeit?
Als der Winter dann kam, ging alles sehr schnell. Innerhalb weniger Tage war ihre vertraute Welt nicht wiederzuerkennen. Meterhoch türmte sich der Schnee zu beiden Seiten der Straße und bedeckte den gesamten Landstrich mit einem Leichentuch. Das übermütige Lärmen ihres Alltags erstarb nach und nach unter dem ununterbrochen fallenden Schnee, der alle Geräusche schluckte. Fast unwirklich verschied der graue Tag in der Schwärze der anbrechenden Nacht.
Verzweifelt suchten sie noch wettzumachen, was zu verhindern sie nicht in der Lage gewesen waren. Wie geschäftig wollten sie die aufkommende, bedrohliche Stille übertönen, und damit die Hilflosigkeit auslöschen. Doch all ihr verzweifeltes Tun konnte nicht verhindern, dass schließlich deutliche Zeichen der Zerstörung sichtbar wurden.
Die Welt erstarrte, und mit jedem Tag tauchten neue Schatten auf, geboren aus dem schleichenden Verlust dessen, was ihnen für die Ewigkeit gemacht schien.
Nur langsam fing Ruth an zu verstehen, doch sie wehrte sich nicht mehr. So fühlte sie zwar den Schmerz, aber gleichzeitig auch einen gewissen Trost. Vieles ging ihr durch den Sinn: Begann nicht alles Wichtige zunächst im Kopf? Die Einstellung zu ändern, könnte das vielleicht ... , wäre das nicht weltbewegend?
Morgen würde sie weiter darüber nachdenken.
Lange Zeit später erwachte sie aus tiefem Schlaf, ausgefüllt mit einer großen Ruhe, die sich anfühlte wie Glück. Ein gerührtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie Hannahs ansichtig wurde, die leise schnarchend im Sessel neben ihrem Bett ausgeharrt hatte.
***
***
Die letzten Worte des Professors, der das Semester beendete, gingen im Gescharre der Füße und dem anschwellenden Gemurmel der Studenten unter, die sich nun wie ein Strom wilden Wassers über Treppen und Gänge des altehrwürdigen Hauses nach draußen ergossen, hinaus in einen ereignisschwangeren Sommertag.
Fips war heute unerlaubterweise mitgekommen. Unauffällig hatte er die ganze Zeit über dösend zwischen den Bänken zu Ruths Füßen gelegen, den Kopf auf den Vorderpfoten bis auf jene Momente, in denen er es sich nicht versagen konnte, einzelne Bemerkungen des Dozenten mit zustimmendem Schwanzklopfen zu quittieren.
Nun jedoch stob er fröhlich kläffend mit all den anderen hinaus, und sie ließ es an diesem letzten Vorlesungstag schmunzelnd geschehen, denn überall tobte das Leben, und Hund und Herrin wollten es schließlich mitgestalten.
Noch einige grüßende "Hallos" und "Macht's gut", dann suchte sie die nächste Haltestelle auf und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
Der Mann saß zwei Plätze vor ihr in der S-Bahn. Fips mochte ihn sofort; anerkennend hob er im Vorbeilaufen sein Bein. Das wusste der kahlgeschorene junge Typ jedoch keineswegs zu würdigen.
„So eine Schweinerei! Du hast wohl keine Erziehung gehabt, was?“ Fluchend sprang er von seinem Sitz, ein Kerl wie eine deutsche Eiche. Instinktiv duckte Ruth sich und tat so, als gehöre der kleine Stromer nicht zu ihr. Dabei jubelte sie ihm insgeheim zu. Ihr Hundchen schien ihr in jeder Hinsicht das rechte Gespür zu haben. War eben ein Naturtalent, auch ohne Drill. Zufrieden räkelte sie sich auf ihrem Platz, nachdem sich die kleine Aufregung da vorne gelegt hatte.
Er schien sich im übrigen recht schnell mit seiner Misere abgefunden zu haben, stellte sie überrascht fest und spähte nun erstmals etwas genauer hinüber. Man sah nur Kopf, Nacken und seine breiten Schultern – wenn er vielleicht mal einen Blick zur Seite ... in diesem Moment drehte der sich ganz herum, als hätte Ruth ihm mit dem Finger auf die Schulter getippt. Sie zucke unwillkürlich zusammen. Ertappt. Ihr Kopf blies sich auf wie ein Ballon und signalisierte Rot, jedenfalls fühlte er sich so an. Big Boy verbarg seine Augen klugerweise hinter einer Sonnenbrille – das würde sie auch gern tun, verflixt! Sie kam sich dagegen richtig nackt vor. Wenn der weiter, so wie es aussah, zu ihr rüberglotzte, würde sie an der nächsten Haltestelle aussteigen.
„Hey Fips, lass meinen Schuh in Ruhe. Hörst du, jetzt nicht!“ Sie versuchte ihn abzuschütteln...“Rrrrrrrrr“ – „Ja, ja, ich bin beeindruckt Kleiner, aber jetzt hör auf damit. Aus!“
„Ach, hat dieser kleine Halodrie dich auch so ins Herz geschlossen wie mich?“ tönte es da plötzlich laut lachend an ihr Ohr.
Diese warme, herzliche Stimme – , das konnte nicht sein. Ruth schluckte eine spitze Bemerkung hinunter, die ihr bereits auf der Zunge lag. Leicht irritiert betrachtete sie den Unbekannten nun aus nächster Nähe.
Ein breites Grinsen umspielte seinen Mund. Eigentlich sah er gar nicht mal so unsympathisch aus.
„Na, was ist? Ich denke, ich hab einen Kaffee gut bei dir.“
Ganz schön unverschämt, schoss es ihr durch den Kopf, doch irgendwie wollte er nicht so recht in ihr vorgefertigtes Muster passen. Sie wurde nun tatsächlich neugierig, aber das brauchte der ... „wie heißt du überhaupt?“ ... natürlich nicht zu merken.
„Kaffee trink ich noch lange nicht mit jedem, weißt du?“
„Nee, weiß ich nicht, aber find ich schon o.k. Also ich bin Jesse und du? – Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen?“