Doppelbilder - Hartmut Wiedling - E-Book

Doppelbilder E-Book

Hartmut Wiedling

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Beschreibung

Zwei Personen erzählen von derselben Begebenheit. Aber sie haben sie unterschiedlich erlebt und jeder behält seine Sicht in Erinnerung. Ob es nun die Romanze eines Studenten mit einer Minderjährigen, die Liebe eines jungen Physikers zu einer umschwärmten Literatin, die Sinneseindrücke dreier Personen beim gemeinsamen Saunagang, das Zerwürfnis zwischen einem altersstarren Witwer und seiner allzu burschikosen Ehefrau oder die Empfindungen von Vater und Tochter beim Begräbnis sind, immer ergeben sich ganz andere Geschichten, je nachdem, wer sie erzählt.

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Hartmut Wiedling

DOPPELBILDER

Vier Paare, acht Geschichten

- und ein Gastspiel -

Books on Demand

Bordesholmer Edition

Bd. 8

Zu diesem Buch

In dem Erzählungsband „Doppelbilder“ werden vier Begegnungen jeweils zweimal aus unterschiedlicher Sicht erzählt. Es ergeben sich ganz unterschiedliche Geschichten, je nachdem, ob sich die Frau oder der Mann an das gemeinsam Erlebte erinnert.

Zwischendurch, als „Gastspiel“ eingefügt: Empfindungen dreier Personen beim gemeinsamen Saunagang, dargestellt durch ihre inneren Monologe.

Zum Autor

Hartmut Wiedling, geb. 1940, Professor für quantitative Betriebswirtschaftslehre an der FH Kiel, trat 2003 in den vorzeitigen Ruhestand, um sich der Schriftstellerei zu widmen.

Nach zwei Romanen ist dies sein erster Erzählungsband.

INHALT

Doppelbilder

Der Prinz und die kleine Tänzerin

Der Prinz

Die kleine Tänzerin

Der Zauberlehrling

Der Zauber

Der Lehrling

Gastspiel: You Can Dance…

2

Erster Gang

Zweiter Gang

Dritter Gang

Vierter Gang

Fünfter Gang

Vertrauen ist gut – Kontrolle schon schlechter

Die Kontrolle

Das Vertrauen

Wie auf Erden also auch im Himmel

Auf Erden

Im Himmel

DER PRINZ UND DIE KLEINE TÄNZERIN

DER PRINZ

Es war meine erste Saison.

Saison ist immer, wenn im Sommer die Schüler vom Kontinent in die Feriensprachschulen kommen. Franzosen, Spanier, Italiener, Griechen, Schweden und ganz viele Deutsche sind dann am Strand. Überwiegend Jungen.

Wir, das heißt meine Freundin und ich, schlendern am Strand im Bikini an ihnen vorbei. Hübsch frisiert, mit Löckchen, barfuß, die Schuhe in der Hand, kichernd, wenn uns einer besonders auffällt. Neugierig folgen uns die Blicke.

Von Spaniern und Italienern kommen lockende Zurufe, aus denen wir Sprachfetzen wie „amor“ oder „amore“ heraushören. Die Deutschen sind zurückhaltender. Wenn überhaupt, dann rufen sie „Hallo Baby“ oder „I love you“. Die schönen Griechenknaben dagegen beachten uns nicht.

Ich bin erst vierzehn. Gerade Frau geworden. Nicht mehr wie letztes Jahr, als ich mich noch schämte, ein unreifes kleines Mädchen zu sein, weil ich noch keine Regel bekam. Aber hat das wirklich etwas geändert? Eigentlich nicht.

Trotzdem fühle ich mich jetzt anders. Ich bin im Markt. Auch wenn mein Busen noch ganz klein ist und die Schamhaare erst anfangen, zu wachsen und noch gar nichts verdecken. Immerhin, ich könnte jetzt Mutter werden. Bin also eigentlich bereits erwachsen, nicht mehr Kind. Und da ist plötzlich das Gefühl ganz anders, wenn die Jungs mir nachschauen. Ich will ja nicht, aber ich könnte. Und dass ich nicht will, wissen die ja nicht. Sehen die auch nicht, denn ich tu ja so, als wollte ich. Oder will ich vielleicht doch? Wenn ja, was? Weiß ich auch nicht so genau.

Abends trifft man sich im Club. Da sage ich, ich sei 16, und man lässt uns rein. Mich, und meine Freundin Lydia auch, obwohl sie noch zwei Monate jünger und ein ganzes Stück kleiner ist als ich. Aber sie hat so wildes blondes Haar und kann so frech gucken, dass man sie für älter hält als mich mit meinen braunen glatten langen Haaren, und dem Pony, hinter dem ich mich und mein kindliches Gesicht verstecke. Es ist ziemlich dunkel und es wird getanzt. Eigentlich können fast alle noch nicht so recht tanzen. Ich auch nicht. Aber mit Lydia bringt es trotzdem richtig Spaß. Außerdem machen wir so auf uns aufmerksam. Auf der Tanzfläche wird man ja gesehen.

Eigentlich aber ist Tanzen dazu da, mit Jungen zu schmusen und von ihnen gedrückt und geküsst zu werden.

Wenn mir einer gefällt, lege ich meine Arme um seinen Hals. Der legt dann seinen Kopf an meinen und zieht mich an sich. Immer enger. Bis ich protestiere. Leider tu ich das viel zu früh. Vor allem, wenn einer an meinen Busen will und ich mich schäme, dass er noch so klein ist. Oder wenn er mir mit den Beinen zu nahe kommt. Umarmen und streicheln OK. Aber mehr möchte ich eigentlich nicht. Obwohl es mich andererseits auch wieder interessiert. Mache ich mit, finde ich es dann aber auf einmal eklig, befreie mich aus seiner Umarmung, und der Junge gibt erst einmal auf. Er versucht es vielleicht später noch einmal, bleibt diesmal zunächst etwas zurückhaltender, aber bald geht es doch wieder los wie vorher, und ich wimmele ihn ab. Danach kommt er nicht wieder. Findet ja auch leicht eine andere, die das mitmacht, was er will. Und auf die bin ich dann eifersüchtig.

Warum bin ich so? Ich gehe doch nur wegen der Jungs hin. Und, natürlich, um vor meinen Freundinnen und Schulkameradinnen zu zeigen, dass ich jetzt auch dazugehöre, Erfolg habe, die Jungs mit mir tanzen und mich interessant finden. Darüber wird dann am nächsten Tag geredet, diskutiert und gelacht. Manchmal auch schon gleich am Abend, auf der Toilette.

Wenn meine Freundin nicht kann – Lydia darf nicht so oft abends weg – verabrede ich mich mit Mädchen aus der Klasse über mir. Sie gehen schon länger in den Club und erzählen tolle Geschichten, die mich im Grunde abstoßen aber gleichzeitig doch neugierig und neidisch machen. Irgendwie bewundere ich sie, obwohl ich eigentlich nicht so sein möchte wie sie.

Obwohl es ja auch lustig und spannend ist. Vor allem was sie so während der „Saison“ mit den ausländischen Jungen erleben.

Manchmal verabreden sie sich im Club zu einem ziemlich gemeinen Spiel. Ein Junge wird ausgesucht und „vernascht“, wie sie es nennen. Meist wählen sie einen Unscheinbaren, nicht zu Kräftigen, Schüchternen, an den sie sich dann so eng anschmiegen, dass sie alles von ihm fühlen können – bis es ihm peinlich wird – oder auch nicht. Dann lassen sie den Armen einfach hilflos auf der Tanzfläche stehen, und eine andere stürzt sich auf ihn und macht da weiter, wo die Erste aufgehört hat. Findet er Gefallen daran, wird wieder gewechselt, dann gehen sie kichernd zur Toilette und lachen sich halb tot. Oder am Ende packt die Erste sich den inzwischen Ermutigten wieder, und das Spielchen fängt von vorne an. Manchmal geht am Ende eine von ihnen mit ihm raus – „zum Melken“, wie sie sagen – und kommt erst nach einer ganzen Weile wieder.

Will ich dazu gehören, muss ich ab und zu mitmachen, damit sie mich nicht für schüchtern halten. Aber auch aus Neugierde. Eigentlich ist es ja auch lustig. Einige Jungs sind sogar ganz süß. Außerdem sind Ferien. Tolle Ferien.

Heute treffe ich mich wieder mit den Älteren. Es ist Freitag. Ziemlich voll. Sie haben gerade ein lohnendes Opfer. Einen Deutschen, der ganz ulkig tanzt. Er hält sich kerzengerade, legt seinen rechten Arm so unverbindlich um das Mädchen, als wäre es geschlechtslos, greift mit seiner Linken ihre Hand und streckt den Arm zur Seite als wäre er steif. In dieser Haltung schiebt er sie über die ganze Tanzfläche. Dabei macht er abwechselnd langsame und schnelle Schritte und landet dabei fortgesetzt mit seinem Fuß auf dem seiner Partnerin. Das ist ihm dann peinlich, und er entschuldigt sich jedes Mal. Unmöglich, mit ihm zu tanzen. Aus Spaß und Neugierde versuchen wir es alle, um herauszukriegen, was er eigentlich will. Vergeblich.

Wir beschließen, ihn zu vernaschen. Aber es läuft nicht so wie wir es uns vorgestellt haben. Eine nach der anderen holt ihn zum Tanz, legt beide Arme um seinen Nacken. Doch höflich, aber bestimmt befreit er sich immer wieder und versucht mit jeder von Neuem, ihr zu zeigen, wie er tanzen will. Keine kommt an ihn heran. Auf der Toilette schütten wir uns aus vor Lachen. Aber wir geben nicht auf. Schließlich zieht Sally, die von uns den schönsten, vollsten Busen hat, ihren BH aus, tauscht ihren Pullover mit dem dünnen engen Pulli von Linda, kontrolliert ihr neues Outfit hochzufrieden im Spiegel und dann holt sie sich den Deutschen und zieht ihn auf die Tanzfläche. Blitzschnell, bevor er seine steife Tanzhaltung annehmen kann, schmeißt sie sich so eng an ihn, dass er gar nicht anders kann, als seine beiden nun gewissermaßen arbeitslosen Arme unbeholfen um sie zu legen, wahrzunehmen, wie sich ihr Mädchenkörper ungeniert an ihn schmiegt und ihn in die Regeln des Clubs einführt. Als sie dann seine Hand auf ihren Busen drückt, schaut er sich erst ängstlich um, dann beugt er sich zu ihr hinab, scheint endlich doch Gefallen daran zu finden, legt vorsichtig seinen Kopf an ihren und tanzt ganz langsam „Cheek-to-Cheek“.

Bravo, Sally!

Einen Augenblick zu lange sehen wir bewundernd und tatenlos zu – und ehe wir unser Vernaschspiel richtig beginnen können, hat er sie – als hätte er gewusst, was ihm bevorsteht – ganz behutsam tanzend zur Ausgangstür gezogen und sie hinaus ins Dunkle entführt.

„Congratulations!“, begrüßen wir Sally, als sie nach einiger Zeit wieder auftaucht – allein.

„He was extaordinary“, ist der einzige Kommentar, was auch immer das bedeuten soll. Aber sie sagt es in einem Ton, dass wir lieber nicht weiter nachfragen. Sally geht danach früher als gewöhnlich. Ob sie ihn heimlich noch trifft?

Gleich am Morgen erzähle ich Lydia, was geschehen ist, und sie will ihn unbedingt sehen. Ob wir ihn am Strand entdecken? Oder in den Felsen mit Sally?

Wir spazieren die Strandpromenade entlang, vorbei an den Spaniern und Franzosen, zu der Stelle, wo sich die deutsche Gruppe immer trifft. Da ist er. Im Gespräch mit einem anderen Jungen und dessen Freundin. Alles Deutsche. Keine Sally.

Ich zeige ihn Lydia. Er sitzt mit dem Rücken zur Promenade und kann uns nicht sehen. Um ihn näher in Augenschein zu nehmen, gehen wir am Wasser entlang zurück. Auf der Höhe der Deutschen plantschen wir mit den Füßen in den Wellen, werfen Steine ins Wasser, gehen ein paar Mal hin und her, bis wir ganz nahe bei der Gruppe sind. Er scheint uns zu beobachten. Aber er erkennt mich nicht. Vielleicht erinnert er sich auch überhaupt nicht an mich. Gestern hatte ich Jeans an und die Haare offen, heute sehe ich bestimmt ganz anders aus mit Pferdeschwanz und im Bikini.

Es ist mein erster richtiger Bikini. Noch ganz neu. Ich habe ihn zusammen mit Lydia gekauft. Wir haben lange gesucht. In den meisten sah ich aus, als hätte ich überhaupt keinen Busen. Ich war ganz verzweifelt und fast schon entschlossen, meinen Mädchenbadeanzug weiter zu tragen, der immerhin ein wenig Figur abzeichnete. Allerdings in einer so babyhaften Form, dass ich mich immer schämte und meist einen lockeren Pulli darüber trug, am liebsten, wenn es nicht zu warm war, einen zu großen dicken Pullover wie es gerade modern war. Ins Wasser gehe ich sowieso fast nie.

Aber dann hat Lydia doch noch einen süßen Bikini entdeckt, der wie für mich gemacht ist und immerhin ahnen lässt, dass ich schon eine junge Frau bin.

Und nun spiele ich, mit diesem hübschen Teil bekleidet, zusammen mit Lydia vor den Augen der deutschen Jungs am Strand – meinen Pulli in der Hand.

Er scheint jetzt auf uns aufmerksam geworden zu sein. Das genügt. Wir ziehen weiter.

Warum interessiert er mich auf einmal?

Lydia findet ihn „ganz nett“. Mehr aber auch nicht. Am Abend gehen wir zusammen in den Club.

Ich kenne ihn überhaupt nicht, habe noch keine drei Sätze mit ihm gesprochen, und doch bin ich gespannt, ob er wieder kommen wird. Ich mache mir eine andere Frisur, drehe ein paar Löckchen in die Haare und kämme den Pony etwas zur Seite. Er soll mich nicht gleich wiedererkennen, schließlich habe ich ihn gestern einfach stehen lassen.

Wir sind viel zu früh. Es ist noch kaum jemand da. Auch er nicht. Und Sally natürlich erst recht nicht. Aber er könnte ja immerhin noch kommen.

Ich habe richtig Herzklopfen. Warum, weiß ich auch nicht so recht. Aber ich habe das Gefühl, als müsste heute noch irgendetwas Ungewöhnliches mit mir passieren. Lydia merkt das natürlich, sagt aber nichts. Scheint mich sogar ablenken zu wollen. Wir sprechen über Belanglosigkeiten, machen Witze über andere Jungs, aber die interessieren mich im Augenblick nicht. Ich finde es besser, mit Lydia zu tanzen. Nicht Cheek-to-Cheek natürlich, ganz locker Rock`n Roll.

Dann steht er plötzlich im Eingang, der Deutsche mit seinem Freund und dessen Freundin. Die will gleich tanzen, schnappt sich ihren Boy und lässt Sallys gestrige Eroberung allein. Er schaut sich suchend um, findet wohl nicht, was er sucht, setzt sich schließlich allein auf ein freies Sofa und wartet, bis Freund und Freundin sich wieder zu ihm setzen.

Wir haben währenddessen genau in seiner Blickrichtung getanzt. Ob er mich wiedererkennt, trotz Löckchen-Outfit? Ich setze mich mit Lydia so, dass wir ihn beobachten können. Warum eigentlich? Er sucht bestimmt Sally und hat für andere keine Augen. Das will ich sehen, wie er reagiert, wenn sie austauscht. Die aber lässt auf sich warten. Vielleicht war er doch nicht so „extraordinary“ – oder zu sehr.

Einmal schaut er zu mir herüber. Aber nur kurz.

Die Musik macht eine Pause, bis jemand eine andere Platte auflegt. Man ist sich wohl nicht ganz einig gewesen, welche. Da plötzlich, mit Beginn der neuen Musik ist er mit der Freundin seines Freundes allein auf der Tanzfläche. Mann! Das habe ich im Club noch nicht gesehen. Die können ja richtig gut tanzen! Wie im Fernsehen! Blitzschnell drehen sie sich, und rasen in enormem Tempo quer durch den ganzen Raum, am anderen Ende eine rasante Drehung und wieder zurück. Und so geht es weiter, bis die Tanzfläche zu voll wird. Aber selbst dann finden sie immer wieder geschickt einen Weg durch die Lücken zwischen den anderen hindurch. Das hat nichts mit dem zu tun, was wir hier machen, wenn tanzen. Das ist ja wie Sport. Und so keuchen sie auch, als sie aufhören und sich setzen.

Sally lässt sich den ganzen Abend nicht blicken. Ich traue mich trotzdem nicht, den Deutschen zu holen.

Ich bin enttäuscht von mir, fühle mich auf einmal wieder wie ein kleines Mädchen und verstecke mich nun doch hinter meinem Pony. Schließlich verliere ihn aus den Augen. Auf der Tanzfläche ist er nicht. Ob er gegangen ist? Seine Freunde sind auch weg.

Ab und zu werde ich von einem Jungen geholt. Aber es ist langweilig. Ich wimmele ihn ab. Gehen will ich trotzdem noch nicht. Die ungewohnte Spannung ist noch immer in mir. Als ob ich auf etwas warte. Obwohl es ja eigentlich Quatsch ist.

Dann, als die letzten drei Tänze angesagt werden, taucht er aus einer Ecke des Raumes auf und holt mich auf die Tanzfläche. Völlig verwirrt folge ich ihm mit dem Gefühl, es beginne nun etwas, das ich von vornherein gewusst hatte. Vorsichtshalber sage ich gleich:

„Ich kann das nicht so, wie du tanzt!“

„OK, dann tanz ganz einfach mit mir wie mit deiner Freundin!“

Er legt seinen Arm um mich und zieht mich fest, aber nicht zu fest an sich. Er bewegt sich nicht und schaut mich stattdessen auffordernd an. Glücklicherweise ist es ein langsamer Song. Vorsichtig mache ich die ersten Schritte und habe furchtbare Angst, ihm auf die Füße zu treten. Aber die sind jedes Mal schon weg, ehe ich auftrete. Und überhaupt bewegt er sich immer in die Richtung, in die ich gerade will, gerade so als könne er Gedanken lesen.

Nach dem ersten Tanz lächelt er mich an. Und als die Musik wieder einsetzt, sagt er etwas zu mir, das ich aber nicht verstehe. Anscheinend will er etwas Neues probieren. Mit ein wenig Druck seiner Hand in meinem Rücken lenkt er von jetzt an unsere Bewegungen. Es ist ganz einfach, und wir bewegen uns immer schneller auf der Tanzfläche, manchmal drehen wir uns sogar dabei um einander.

Nach dem Tanz lacht er:

„Warum sagst du denn, du kannst nicht tanzen? Es geht doch wunderbar! Oder macht es dir keinen Spaß?“

„Doch, sicher, es ist sehr schön, nur …“, und da beginnt auch schon der letzte Tanz.

Er führt mich blitzschnell quer durch den ganzen Raum. Wir drehen uns in immer schnelleren Kreisen. Ohne nachzudenken, weiß ich sofort was er will. Es kommt mir vor, als hätte ich schon immer so tanzen wollen und so getanzt.

„Es war wunderschön mit dir“, sagt er am Ende in seinem fremden holperigen Englisch, „schade, dass jetzt Schluss ist!“

Ich bin noch schwindlig von den vielen Drehungen, als er mich zurück zu meiner Freundin bringt und mir ins Ohr flüstert:

„Es muss ja nicht unser letzter Tanz gewesen sein“.

Dann gibt er mir einen zaghaften Abschiedskuss auf die Stirn und geht.

In der Eile fällt mir nichts Besseres ein, als zu sagen „Das wäre schön“, aber da ist er schon weg. Vielleicht ganz gut, dass er es nicht mehr gehört hat, sage ich mir.

Ich bringe Lydia nach Hause. Sie fragt nichts und ich sage nichts. Zum Abschied umarmt und küsst sie mich freundschaftlich.

Ich mache allein noch einem Umweg am Meer entlang. Es ist ja nicht ganz finster. Die Laternen an der Promenade leuchten. Aber der Strand liegt im Dunkeln, das Wasser dahinter pechschwarz, nur ab und zu der Schimmer einer Welle. Eine Gruppe sitzt noch im Sand und ich höre ihre Stimmen. Es klingt spanisch. Oder französisch. Jedenfalls nicht deutsch.

Am Ende der Promenade biege ich in die Queens Road ein. Nr. 14 ist schon dunkel. Die Eltern sind wohl zu Bett. Ist mir auch lieber so.

„Hallo, Miriam, bist Du es?“

„Hallo Mam, schlaf gut!“

„Du auch!“

Sonntagmorgen. Feiertagsstille. Ich kann nicht mehr schlafen, stehe auf und hole vor Langeweile und Ungeduld für Dad die Wochenendzeitung. Der Strand ist feucht vom Tau der Nacht. Frühe Spaziergänger. Sonst niemand. Ich muss wohl bis mittags warten, vorher ist ohnehin keiner von den Ausländern da.

Lydia kommt schon gleich nach dem Frühstück. Wir sprechen über den letzten Abend. Jetzt, bei Tage, kann ich plötzlich viel freier darüber reden.

Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich ihn unbedingt wiedersehen möchte, und wir beschließen, an den Strand zu gehen, bevor die Deutschen da sind, um einen Platz in unmittelbarer Nähe der Stelle zu belegen, an der sie zu erwarten sind. Also breiten wir unsere Sachen in einer der kleinen Mulden aus, die die Jungs vor ein paar Tagen gegraben haben, und bummeln dann den Strand entlang bis zur Felsküste. Dort kehren wir um, da die Flut kommt. Die ersten Wellen erreichen schon die Felsen unterhalb der höher gelegenen Höhlen, in denen wir manchmal an heißen Tagen aus Übermut die Zeit der Flut verbringen, bis das Wasser wieder gesunken ist.

Sally behauptet, einmal einen Franzosen abends in eine der Höhlen gelockt zu haben, ohne ihm vorher zu sagen, dass man sie bei Flut nicht wieder verlassen kann. Keiner weiß, ob es nur eine ihrer vielen Stories ist oder wirklich stimmt.

Inzwischen sind die ersten Deutschen eingetroffen, aber noch nicht der eine, den ich suche. Wir legen uns in unsere Mulde und warten.

Als es zu langweilig wird, gehen wir noch einmal zu mir nach Hause, probieren andere Sachen an, tauschen Pullis, Röcke und Schuhe, entscheiden uns aber schließlich doch für unsere Bikinis, über die wir Jeans und die rosa Pullis ziehen, die wir uns zusammen gekauft haben. Das Make-up bleibt minimal. Unauffällig. Nur um die Augen herum ein kleiner Schatten. Lydia sagt, die Augen seien das Interessanteste an mir, ich müsse sie betonen. Außerdem mache es mich ein wenig älter. Auch den Pony schneidet sie mir kürzer.

„Er soll dich doch sehen können!“, sagt sie lachend.

Die Lippen lasse ich wie sie sind. Der Geschmack und das

Gefühl von Lippenstift auf meinem Mund stören mich.

Schon von weitem entdecken wir ihn. Wir schlendern hinab zu unserer Mulde, wo noch unsere Handtücher liegen, und tun so, als hätten wir ihn nicht gesehen.

Doch es vergehen keine zwei Minuten, und Lydia flüstert

„Ich glaube, er kommt.“

Und wirklich. Da ist er schon bei uns.

„Hallo, da ist ja meine kleine Tänzerin!“

Eigentlich bin ich doch gar nicht so klein. Jung, OK. Aber klein?

„Ich denke gern an gestern Abend“, sagt er und streckt uns seine Hand hin, was bei Deutschen wohl unvermeidlich ist, zieht sie aber wieder zurück, ehe wir reagieren können. Dann setzt er sich neben uns, sagt ein paar belanglose Worte über das Wetter, das Meer und die Ferienzeit, bis ihm nichts mehr einfällt. Uns auch nicht.

„Ich wollte doch wenigstens guten Tag sagen“ verabschiedet er sich, und dann geht er zurück zu seiner Gruppe.

Sollte das alles gewesen sein? Wir warten eine Weile. Nichts.

„Komm, wir gehen ins Wasser“, schlage ich vor, „vielleicht kommt er dann auch.“

„Eigentlich ist mir zu kalt.“

„Allein geh ich nicht. Außerdem traut er sich dann bestimmt nicht. Wäre ja auch zu auffällig.“

„Na gut, ich komm mit.“

Dumm gelaufen. Er ist nicht dazu gekommen. Nun sind wir nass und sitzen frierend am Strand.