Letztes Jahr - Hartmut Wiedling - E-Book

Letztes Jahr E-Book

Hartmut Wiedling

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Beschreibung

'Letztes Jahr' erzählt die abenteuerliche Geschichte eines lebenslustigen Selbstmörders, der sich noch ein paar schöne Tage machen möchte, den Plan hat, sich ein Freudenmädchen zu mieten, mit ihr zusammen eine Abschiedsreise zu seinen besten Freunden zu machen, am Ende ein grandioses Abschlussfest mit ihnen zu feiern und schließlich … aber das soll der Leser selbst herausfinden.

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Zum Buch:

Gleich nach der von allen Sorgen erlösenden Diagnose kaufte ich eine Flasche Champagner und meldete mich bei meiner derzeitigen Lieblingsfreundin.

„Grund zu feiern! Heute wäre Tante Käthe 100 geworden“, log ich.

Hätte ich sagen sollen ‚Hurra, es geht zu Ende! Das muss begossen werden! ‘?

Zum Autor:

Geboren 1940, ebenso wie der Ich-Erzähler pensionierter Professor, wollte eine Satire schreiben, da alle meinten, er könne nichts Lustiges schreiben.

Und wahrscheinlich finden es auch viele nicht lustig, und nur er hält es für es eine Satire.

Dann ist es halt so.

Für Jochen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

1.

„Komm Schatzi! Wie geht’s? Hast du Lust?“

Sie beugte sich zu mir aus dem Fenster, strich mit beiden Händen über ihren prallen Busen, lächelte mich herausfordernd an. Ordinäre Routine. Aber ordinäre Routine war es ja, die sie an den Mann bringen wollte. Liebe suchte hier keiner.

Ich fühlte mich fehl am Platze.

„Dreißig Euro.“

Schon hatte sie meine Hand genommen, die ich ihr gedankenlos gelassen hatte, als sie mir ihre entgegengestreckt hatte, Vertrautheit heuchelnd. Mit einer Hand hielt sie sie besitzergreifend fest, um sie mit der anderen zu streicheln. Gewaltlos konnte ich mich daraus nicht mehr befreien.

Eine junge Farbige versuchte, mich in ihr gewerbliches Bett zu komplimentieren.

Ich sah sie an. War sie die Richtige? Wäre sie mir an einem anderen Ort begegnet, hätte ich sie hübsch und attraktiv gefunden.

Sie spürte meinen taxierenden Blick. Eine Weile lang ließ sie ihre fragenden Augen abwartend auf mir ruhen. Überredendes Flehen. Nicht fordernd wie ein aufdringlicher Bettler. Menschlicher. Unmittelbarer. Berührender. Verheißungsvoller. Sie wollte nicht die langweilige Ausgabe von ‚Hempels‘ aufdrängen, die im nächsten Papierkorb landen würde. Sie bot einen Teil von sich selbst an, fleischliche Nähe. Intime Berührung. Sofort und direkt zu haben. Ohne Umwege. Ohne Liebe.

Dennoch: Erinnerungen an die Krönung junger Liebesabenteuer erwachten.

Den ersten Schritt hatte sie geschafft. Meinen abweisenden Schock hatte sie überwunden. Nicht einmal unsympathisch. Ein wenig tat sie sogar gut, die intime Kostprobe ihrer Liebeskunst, mit der sie meine Hand verwöhnte.

Eigentlich nicht der Typ, den ich suchte. Zu auffällig. Zu vulgär. Wohl auch der falsche Ort für mein Ansinnen. Es war ja auch nur ein erster Erkundungsbesuch.

Inzwischen hatte ich meine Hand aus ihrem zärtlichen Gefängnis befreit.

„Blasen?“

Als ob ich ihre Fachsprache missverstehen könnte, öffnete sie den Mund und ließ ihre Zunge Kunststücke und Geräusche vollführen, dass mich Kastrationsängste befielen.

„Mit anal 50. Komm Schatzi!“, erweiterte sie ihr Angebot, und ihr Lächeln ging in eine obszöne Geste der Lippen über, die sie erst leckte, dann spitzte, seltsam kraus zusammenzog, langsam öffnete und endlich ihre Zunge hervorkommen und wieder in der Mundhöhle verschwinden ließ: rein, raus, rein, raus… Dabei klatschte sie sich mit einer der inzwischen frei gewordenen Hände auf den halbnackten Hintern.

Trotzdem. Ich kam mit. Irgendwie musste ich schließlich anfangen.

Als sie sich vollends entkleiden wollte, wehrte ich ab. „Nein lass. Das will ich nicht.“

„Geht nicht? Ich dir helfen“, und schon griffen ihre erfahrenen Hände zwischen meine Beine.

Ihr Manöver verfehlte vollkommen seine Wirkung. Statt mich dem von ihr erwarteten Ziel näher zu bringen, erregte es Unbehagen. Dass meine abartigen Pläne in eine völlig andere Richtung gingen, konnte sie freilich nicht ahnen. Ehrlicherweise muss ich allerdings zu meiner Schande zugeben, dass ich, seit ich ihr ins Brautgemach gefolgt war, zunehmend mit dem Gedanken spielte, die Gunst am Ende doch in Anspruch zu nehmen, für die ich bezahlt hatte - eine weit höhere Summe sogar als sie verlangt hatte.

Als Dessert hinterher? Oder lieber gleich als Vorspeise?

„Ich nicht schön?“ - Sie entblößte eine ihrer Brüste – „Alles Natur. Hier. Fühlen!“

Sie versuchte, meine Hand auf ihre Brust zu legen. Offenbar sollte ich sie nach Silikon abtasten, wie ein Viehhändler, der seinen Kauf begutachtet. Diesmal entzog ich mich ihr rechtzeitig – wenn auch nicht ohne ein wenig Bedauern. ‚Erst die Arbeit‘, sagte ich mir.

Ich spürte, dass ich sie verletzt hatte. In ihrer Berufsehre. Oder in ihrem weiblichen Selbstwertgefühl. Das wollte ich nicht. Tat mir leid.

„Glaub‘ ich ja“, versuchte ich sie zu beruhigen, und griff nun doch an ihre Brust.

„Alles OK. Du bist schön. Sehr schön sogar. Sonst wäre ich ja nicht mit dir gegangen.“

Besänftigend strich ich ihr über das Haar, was sehr erregend war. Es sei dahingestellt, ob wegen meiner tröstenden Worte oder wegen der zarten Berührung des fremden Mädchenkörpers.

„Also was?“, kam sie auf unsere Geschäftsbeziehung zurück. Offenbar hatte sie mitbekommen, dass ich kein normaler Kunde war, und sie schaute mich fragend an.

An der Wand hingen diverse Sexutensilien, und auf dem Tischchen neben dem Bett stand eine Armee von Plastikpenissen bereit, zu welchem Einsatz auch immer. In dieser Umgebung konnte ich mich nicht ernsthaft mit ihr unterhalten.

„Ich möchte mit dir reden. Aber nicht hier. Können wir zusammen essen gehen?“

„Nein. Nicht essen.“

„Oder trinken?“

Sie wehrte ab und stand auf.

„Also gut.“

Ich zog sie besänftigend zurück auf die Bettkante. Sofort legte sie sich, entkleidete sich nun doch, und, jetzt Natur pur, klopfte sie einladend auf den freien Platz neben sich in dem großen Bett und sah mich auffordernd an.

„Du auch“, sagte sie, zupfte an meiner Hose und lächelte mir ermutigend zu.

Angekleidet wie ich war, legte ich mich neben sie.

„Also, ich wollte dich etwas fragen“, fing ich an und versuchte, mich auf die Sätze zu besinnen, die ich mir vor meinem Besuch zurechtgelegt hatte. Vergebens.

Ihre kundigen Finger begannen, zu öffnen, was, wie sie sofort bemerkt hatte, begonnen hatte, mir unbequeme Enge zu bereiten, und förderten zu Tage, was zu wunderbarem Leben erweckt, die neugewonnene Freiheit erhobenen Hauptes genoss.

Ich ließ sie. Half ihr sogar. Bald lag ich, nackt wie Gott mich erschaffen, doch raumgreifender als Michelangelos berühmte Vision1, neben ihr.

Einmal noch unterbrach ich ihre beginnenden Aktivitäten:

„Ich wollte dir ein Geschäft vorschlagen“, begann ich.

„Blasen?“, fragte sie.

Ich entzog mich für einen Moment ihren Aktivitäten. „Ein Geschäft. Geld verdienen. Verstehst du? Arbeiten für mich. Zwei Wochen. Reisen. Freunde besuchen. Abschiedsreise. Du und ich zusammen. Zwei Wochen. Verstehst du?“

„Du reisen? Zwei Wochen? Dann wiederkommen. Ficken.“

Ich gab auf. Ließ sie gewähren. Sie lohnte mir die königliche Bezahlung mit der ganzen Palette ihres Angebots. Nur als sie Handschellen von der Wand nehmen wollte, streikte ich.

„Du wiederkommen. Zwei Wochen“, sagte sie zum Abschied, legte ihre schwarzen Arme um meinen Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste mich auf die Wange.

2.

Tags darauf hatte ich einen längst überfälligen Arzttermin.

Vor nunmehr drei Jahren hatte mir meine Nichte, ihres Zeichens Internistin, geraten, eine Frauenärztin, aufzusuchen, da ich häufig Juckreiz und leichte Schmerzen an der rechten Brustwarze hatte.

Als Mann zu einer Frauenärztin? Ich hatte das für einen blöden Scherz gehalten.

In meinen immer wiederkehrenden Albträumen saß ich seither, den Weisungen einer resoluten Sprechstundenhilfe folgend, nackt auf dem gynäkologischen Stuhl, vor mir eine alte Jungfer im weißen Kittel, mit Gummihandschuhen, schwarzer Umhängebrille und dem medizinischen Herrschaftssymbol alter Zeiten um den Hals, dem Stethoskop am roten Schlauch.

Mit einem Gesichtsausdruck, der völlige Unterwerfung forderte, machte sie Anstalten, in dieser für mich unwürdigen Konstellation meine höchstpersönliche intime aber bislang doch immerhin männliche Anamnese tastend zu erforschen.

„Perniziöser Tittenbrand!“, schleuderte ich ihr hasserfüllt entgegen. „Ich weiß, ich weiß! Kennen Sie nicht. Hatt‘ ich mir fast schon gedacht. Wär‘ aber höchste Zeit. Sie suchen auch an der falschen Stelle. Nein, nicht da unten. Wollen wohl den seltenen Anblick auskosten. Kann ich ja verstehen. Kommt Ihnen ja nicht so oft zu Gesicht, so etwas. Vielleicht noch nie. Aber tun Sie sich keinen Zwang an. Macht mir nichts aus. Rührt sich ohnehin nichts. Nicht bei Ihnen. Machen Sie sich keine falsche Hoffnung. Können Ihre Latexhandschuhe ruhig wieder ausziehen. Doktor spielen ist ohnehin schöner ohne. Auch für Sie. Aber davon haben Sie sicher keine Ahnung.“

Sie wollte offenbar dennoch einen genitalen Lauschangriff starten.

„Nein!“, schrie ich. „Was soll das? Weg mit dem Stethoskop. Sie sollten mich abtasten, klar. Aber bitte da, wo Ihre Klientel einen BH zu tragen pflegt.“

Ihr Blick ging aufwärts.

„Halt, stopp. Genau da. Mammakarzinom. Bin ich denn Ihr erster Patient mit Brustkrebs? Männer haben das halt auch manchmal. Doch, ist so. Leider. Hätten Sie nicht gedacht? Wofür haben Sie überhaupt studiert? Merken Sie sich: Wir sind zu mehr fähig als Sie denken. Auch in Domänen, in denen es Ihr Geschlecht nicht ahnt. Nein, nicht nur medizinisch gesehen.“

Ihre Augen wanderten weiter nach oben. Mich traf ihr zorniger Blick.

„Ist ziemlich peinlich für mich als Mann, ausgerechnet eine Frauenärztin aufzusuchen. All die Frauen im Wartezimmer haben mich als Transe betrachtet. Ach so. Wissen nicht so genau, was das ist. Ich auch nicht. Gibt wohl alle möglichen Kombinationen. Will ich mir aber gar nicht erst vorstellen. Eklig. Und für so was halten die mich jetzt. Können ja schließlich nicht wissen, dass auch richtige Männer eine Frauenkrankheit haben können. Nicht nur psychisch. Auch physisch.“

„Hätte mir meine Nichte gesagt, ‚geh zu einem Tierarzt‘, ich wäre gegangen. Furchtlos. Aber diese Erniedrigung hier hätte ich mir gern erspart. Hatte mir von irgend so einem Weichei sagen lassen, Frauen seien einfühlender, und bin seiner Empfehlung gefolgt, ich Idiot. Aber bei mir finden Sie nichts zum ‚Einfühlen‘. Und wenn Sie noch so neugierig auf mir rumgucken. Nichts da zum Einfühlen.“

Ihr mitleidiger Blick richtete sich erneut auf meine Männlichkeit.

„Verstehen Sie doch endlich! Mammakarzinom. Als Mann. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen Hodenkrebs diagnostiziert würde. Gibt es nicht? Nein. Haben Sie recht. Höchstens bei verdächtig erfolgreichen Sportlerinnen. Könnte ich mir bei Ihnen übrigens auch vorstellen. Nicht den Sport, meine ich. Aber das andere.“

„Gibt es hier in der Gegend keinen Frauenarzt? Keinen richtigen?“

3.

Ich hatte mich als Pharmavertreter getarnt. Mit schwarzem Vertreterköfferchen, unübersehbar darauf Aufkleber bekannter Pharmakonzerne. Bayerkreuz und STADA unter dem roten Bogen.

Die Sprechstundenhilfe kannte das schon und lächelte. Taktvoll schleuste sie mich am Wartezimmer vorbei in ein kleines Büro, von wo der Arzt mich kurz darauf in sein Ordinationszimmer bat.

„30.6.2010, sehe ich, waren Sie das erste Mal bei mir. Vor drei Jahren also.“

Ich hatte bereits meine mageren Brüste in Erwartung kalten Gels freigemacht.

„Na, dann wollen wir mal sehen.“

Ultraschall.

„Wollen Sie auch mal sehen?“ – Er meinte die Ultraschallaufnahmen.

Ich lehnte dankend ab:

„Könnte mir Schöneres vorstellen“.

Er machte eine Pause und sah mich mit medizinischem Ernst an. So als ob er sich vergewissern wolle, ob er mir zumuten könne, zu sagen, was zu sagen war.

„Haben Sie Rückenschmerzen?“

Ich wusste, das wäre ein Indiz für die beginnende Endphase.

„Ich hatte es zunächst für einen kleinen Hexenschuss gehalten. So etwas kenne ich. Allerdings klingt es diesmal deutlich langsamer ab als in früheren Jahren.“ „Soso. Hexenschuss, sagen Sie. Andere Beschwerden?“

„Arme und Hände schlafen öfter ein, vor allem die drei Schwurfinger. Aber das geht meist schnell wieder weg. Und neulich war etwas ganz Komisches: Zunächst nachts Zucken und Nervenschmerzen im rechten Bein. Nicht schlimm, aber lästig, ich konnte einige Tage lang schmerzfrei nur auf der linken Seite schlafen. Schmerztabletten nützten überhaupt nichts. War eigentlich kein schlimmer Schmerz. Aber zermürbend. Wie Kopfweh im Bein.“

„Und tagsüber?“

„Nach einer halben Stunde und ein paar Schritten wird es meist besser. Was geblieben ist, sind rasche Ermüdungserscheinungen beim Treppensteigen und bei längerem Gehen. Aber sonst erfreue ich mich bester Gesundheit."

Ich hatte ihm bereits bei seiner Anfangsdiagnose vor drei Jahren meine Lebenseinstellung erklärt und ihn gebeten, auf die von ihm vorgeschlagene Entnahme einer Gewebeprobe zu verzichten. Wär‘ ja noch schöner, wo das Ziel so greifbar schien, mir jetzt noch Knüppel zwischen die Beine werfen zu lassen.

Er hatte meine Auffassung überraschenderweise ohne jegliche Verwunderung hingenommen und eine Andeutung gemacht, wenn es so weit wäre, könne er mir helfen. Allerdings war mir nicht klar, ob mit normalen oder finalen Dosen von Morphium oder womit sonst.

Als er nichts zu meinem Rückenkommentar sagte, kam mir der Gedanke, ihm zu helfen.

„Sie kennen meine Einstellung. Sagen Sie es frei heraus. Bin ich bald erlöst?“

„Könnte sein. Aber Prognosen sind immer so eine Sache.“

„Das heißt? Keine Angst, ich bin bereit. Kann auch gut auf die Unterstützung des ‚Selbsthilfe-Netzwerks für Männer mit Brustkrebs‘ verzichten. Ich war in den drei Jahren nicht untätig. Hab‘ vieles geschafft inzwischen und alles abgeschlossen, was ich mir damals vorgenommen hatte. Bis hin zur Autobiografie für die Kinder. Hab auch keine Lust mehr, sie ständig zu verlängern. Freilich, es keimen dauernd wieder neue Ideen. Aber ich bin bereit. Eigentlich sogar froh, den Löffel aus der Hand legen zu dürfen.“

„Klingt immer so heiter bei Ihnen. Etwas überdreht, wenn ich da ehrlich sein soll. Galgenhumor vielleicht. Aber so unverändert seit Jahren, dass ich beginne, Ihre Worte wirklich ernst zu nehmen.“

„Können Sie. Möchten Sie meinen Abschiedsbrief lesen?“

Ich griff zu meinem Rucksack.

„So weit sind Sie schon? Sind wohl Perfektionist.“

„Das sagen viele, die mich nicht kennen. Hör‘ ich aber nicht gern. Außerdem fehlt das Datum noch. Kann erst eingesetzt werden, wenn Sie den endgültigen Startschuss geben. Sie stehen doch zu Ihrem Wort?“

„Gab ich eines?“

„Endlösung Schmerzmittel. Sie meinten, meine Dreisprungmethode sei nicht optimal.“

„Dreisprung? Hatten Sie nicht von einem Malariamittel gesprochen?“

„Stimmt. Aber vorher Antikotzikum, damit ich alles bei mir behalte, und Schlafmittel, dass mich die Endlösung erst im Schlaf trifft.“

„Ich erinnere mich. Aber Sie fühlen sich doch noch wohl? Sie erfreuen sich bester Gesundheit, sagten Sie.“

„Stimmt, wenn man von den üblichen Zipperlein meines Alters absieht.“

„Gut. Dann kommen Sie wieder, wenn die Rückenschmerzen lästig werden oder sonstige Symptome beginnen, Ihnen das Leben allzu sehr zu erschweren. Spätestens aber in drei Monaten.“

„Sie meinen, ich bin gewissermaßen im 6. Monat mit meiner Geschwulst?“

„Wenn Sie so wollen. Könnte hinkommen. Jedenfalls wohl im letzten Jahr. Das lässt sich ziemlich sicher sagen. Auch wenn meine Berechnungen nur etwa so zuverlässig sind wie die der Kollegen der Meteorologie.“

Nach meinem Abschiedsbrief fragte er nicht mehr. Ich ließ ihn wo er war. Dr. van der Walen würde ohnehin bei meiner Niederkunft ein Exemplar bekommen.

Gleich nach der von allen Sorgen erlösenden Diagnose kaufte ich eine Flasche Champagner und meldete mich bei meiner derzeitigen Lieblingsfreundin. „Grund zu feiern! Heute wäre Tante Käthe 100 geworden“, log ich.

Hätte ich sagen sollen ‚Hurra, es geht zu Ende! Das muss begossen werden! ‘?

4.

„Sag mal Jochen, warst du eigentlich schon mal im Bordell?“

„In welchem?“

„Also ja.“

„Was soll das?“

„‚In welchem?‘ bedeutet im Grunde ‚ja‘. Klingt, als wolltest du dich vergewissern, ob wir das gleiche meinen.“

„Welches hast du denn gemeint?“

„Ist ja egal. Warst du schon mal im Bordell? In irgendeinem?“, fragte ich überflüssigerweise noch einmal.

„Sollte ich gewesen sein?“ Er schmunzelte.

„Was heißt hier ‚sollte‘?“

„Na ja, ein richtiger Mann zeugt einen Sohn, baut ein Haus und pflanzt einen Baum.“

„Da war doch noch was, oder?“, frage ich.

„Nein, das war schon alles. Pflanzt einen Baum. Ende. Nix Bordell.“

„Pflanzt seinen Baum. Egal wohin?“

„In den Garten natürlich. Pflanzt seinen Baum in den Garten. Und zwar in seinen eigenen“, fügte er hinzu, „wenn du es genau wissen willst. Was dachtest du denn?“

„Früchte in Nachbars Garten….“

„Musst nicht von dir auf andere schließen.“

„Entschuldige. Ich dachte nicht an was anderes.“

„Woran, wenn man fragen darf?“

„Dachte an dich.“

„Und was dachtest du?“, fragte er in gespielter Unschuld.

„An den Garten der Nachbarin.“

„Kennst du sie überhaupt?“

„Und ob!“

„Deine oder meine?“

„Hab ich nur so gesagt. Nachbarin im Allgemeinen. Aber eher an deine“, stichelte ich, da ich wusste, dass er mal was mit ihr gehabt hatte.

„Ich dachte auch nur an Gärten im Allgemeinen“, und träumerisch lächelnd malte er es aus: „An Äpfel, Birnen, Blumen, eine Wiese…“

„Deine ist dir wohl inzwischen über, wenn ich richtig sehe.“

„Stör mir nicht die schöne Gartenlandschaft.“

„Wieso eigentlich Äpfel, Birnen, Blumen, Wiese und keine Kirschen?“, stichelte ich.

„Nur so. Und Blumen, ich meine, ich wollte es halt poetisch ausdrücken. …“

„Hast recht. Sind auch schöner. Viel schöner als Pilze. Riechen auch besser.“

„Woran du immer gleich denkst!“

„Sag ich doch. An deine Nachbarin.“

„Und da fällt dir nichts besseres ein als übel riechende Pilze?“, empörte sich Jochen.

„Eben doch. Hör mir doch zu. Kirschen, Äpfel, Blumen und eine Wiese, sagte ich. Und dann hast du mich gestört. Gerade als das Vöglein anhob zu singen.“

„Und Pilze. Übel riechende. Das sind deine Worte.“

„Gut. Musst es schließlich selbst wissen. Ist ja deine Nachbarin. Meine jedenfalls hat keine.“

„Bist du dir da so sicher?“, provozierte er.

„Wie meinst du das?“

„Na mit den widerlichen Pilzen, du weißt ja.“

Ich sah ihn empört an.

„Lassen wir das“, beendete er das Thema. „Wo waren wir stehen geblieben?“

„Beim Bordell.“

„Stimmt. Schöner Gedanke!“, grinste er.

„Du also warst offenbar schon einmal?“

„Wieso einmal?“

„Na von mir aus auch mehrmals.“

„Und du? Warst du?“

„Wollte ich eigentlich von dir wissen. Ich hatte dich zuerst gefragt. Nicht du mich.“

„Klang aber so begeistert, als wärst du gerade gestern zum ersten Mal…“

„War ich auch“, gestand ich.

„Dacht‘ ich‘s doch.“

„Aber nicht so wie du denkst.“

„Aha. Nicht wie ich denke. Wie dann?“

„Ich kann dir das alles erklären.“

„Willst du mir weismachen, du warst im Bordell und hast aber nicht…“

„Genau.“

„Zu teuer?“

„Nein. Fand ich eigentlich nicht.“

„Hast also treu und brav bezahlt, was sie verlangt hat.“

„Mehr sogar. Wollte die Stimmung nicht verderben.“

„Und dann? Konntest du nicht?“

„Ich sag‘ doch, es war ganz anders als du denkst. Lass mich doch endlich mal ausreden.“

„Also: Hast du oder hast du nicht? Ja oder nein?“

„Jein.“

„Danke. Nun sehe ich klar.“

„Was siehst du klar?“

„Du wolltest, aber du hast dann doch nicht.“

„Umgekehrt. Ich wollte nicht und ich hab dann doch.“

„Verstehe. Schön. Immerhin das Eine. Aber sag mir, warum gehst du ins Bordell, wenn du nicht willst?“

„Ich weiß nicht, irgendwie ist jetzt alles total verfahren. Ich hatte dich um einen Rat bitten wollen. Aber im Augenblick geht das einfach nicht. Lass uns abbrechen.“

„Einen Rat? Von mir?“

„Ja, von dir. Ernsthaft.“

„Du und ernsthaft! Aber wenn du was auf dem Herzen hast, dann komm doch morgen Abend zu mir. Trinken wir eine Flasche Wein zusammen.“

„Ich brauche wirklich deinen Rat. Ich hab einen tollen Plan. Aber dabei musst du mir helfen.“

„Vorher oder nachher?“

„Vor oder nach was?“

„Wein trinken.“

„Ach so.“

„Wein erst nachher, sonst wird das wieder nichts.“

„Gut. Also vorher.“

„Sag ich doch. Ja? Ginge das?“

„Klar. Obwohl: Eigentlich kommen erst nach einer Flasche die besten Ideen. Weißt du noch, wie wir …“

„Hör auf. Ich weiß, jetzt kommt unsere idiotische Idee, eine Nacht als Schwule miteinander zu verbringen.“

„War doch eine unserer verrücktesten Ideen. Ich könnte mich heute noch kringeln.“

„Klar. Tolles Erlebnis. Nur leider wenig erfolgreich.“

„Leider?“

„Nehm ich zurück.“

„Also Kompromiss: Sowohl als auch.“

„Du meinst bereden?“

„Was denkst du?“

5.

Es gab einen Golfkollegen, den Jochen und ich, um ihn zu ärgern, immer noch siezten, obwohl wir ihn seit Jahren kannten und wir bei einem Faschingsfest auf sein Drängen hin bereits auf Brüderschaft getrunken hatten. Er war Allgemeinmediziner, gab sich im Club aus naheliegenden Gründen gern als Sportmediziner und Facharzt für Allergologie aus. Auf dem