Odile - Hartmut Wiedling - E-Book

Odile E-Book

Hartmut Wiedling

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Beschreibung

Die bezaubernde französische Austauschschülerin Odile kommt in die Familie der deutschen Französischlehrerin, nachdem sie von ihrer eigentlichen Gastfamilie kurzerhand vor die Tür gesetzt worden war. Der Grund: Sie leidet unter Ekkrine Bromhidrosis, einem unangenehmen, durch nichts zu verhindernden Körpergeruch, der von ihrer ahnungslosen Umwelt als Mangel an Hygiene angesehen wird. Das Mädchen ist wegen seines Leidens völlig verschüchtert und ohne den Glauben, dass sie jemals jemand wirklich lieben könne. Sie hält die liebevolle Aufnahme in der neuen Gastfamilie lediglich für Mitleid und höfliche Fürsorge. Die Familie jedoch mag sie und schließt sie nach kurzen Anfangsproblemen schnell in ihr Herz - insbesondere natürlich der gleichaltrige Sohn Jakob …

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Zum Buch:

Manchmal möchte ich mich gern noch einmal verlieben.

Aber das geht ja nicht so leicht.

Dann suche ich mir einen Abschnitt in meinem Leben aus, in dem ich noch einmal die große Liebe erleben möchte, und beginne zu schreiben, und siehe da, ich verliere die Kontrolle über das meiner Phantasie entsprungene, wunderbar zarte Geschöpf meiner Träume. Es entwickelt sein eigenes Leben und zieht mich für Wochen in seinen Bann.

Zum Autor:

Jahrgang 1940, als Junge dem Jakob dieses Büchleins wohl sehr ähnlich.

Für Odile und Jakob

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Anmerkungen

1.

Sofort war mir klar, dass sie nichts von mir wissen wollte. Dabei hatte sie mich nicht einmal angesehen. Wie war das möglich? Hatte man ihr von mir erzählt?

Aber sie kannte doch noch niemanden hier außer ihrer Gastfamilie. Und die kannte mich vermutlich ebenso wenig wie ich sie.

Gestern war dieses geheimnisvolle Mädchen angekommen. Heute war Sonntag. Keine Schule. Also hatten nicht einmal ihre zukünftigen Klassenkameradinnen sie bis jetzt gesehen. Und wenn doch, was sollten die ihr schon über mich gesagt haben? Ich war total unauffällig. Leider. Mädchen nahmen mich gar nicht wahr. Zumindest nicht die, für die ich mich interessierte. Warum sollten sie also mit der Neuen als erstes über mich reden?

Von meinen Kumpels konnte sie auch nichts Schlechtes über mich erfahren haben. Wir kamen prima klar miteinander. Vor allem im Sport. Ich war Torwart unserer Fußballmannschaft, galt als zuverlässig, und man schätzte meinen Überblick. Nein, von meinen Freunden hatte ich nichts zu befürchten.

Aber dass sie mich nicht einmal eines Blickes würdigte, nicht wenigstens kurz neugierig geguckt hatte, wer denn da auf dem Rücksitz saß, als sie einstieg! Als wäre ich Luft. Vielleicht interessierte sie sich nicht für Jungs. Könnte ja sein. Aber auch dann sagt man doch wenigstens guten Tag. Schließlich sollte sie von nun an bei uns wohnen. Ich war ziemlich niedergeschlagen.

Schönes Haar hatte sie. Und sie war ganz schlank. Und ziemlich groß für ein vierzehnjähriges Mädchen. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen.

Seit unsere Französischlehrerin uns Bilder gezeigt hatte, waren wir alle neugierig auf die geheimnisvolle Fracht, die aus Frankreich kommen würde. Einige der Mädchen hatten auf den Fotos wirklich toll ausgesehen. Wo sie wohl untergekommen waren? Wenn einer glaubte, ein Exemplar gesichtet zu haben, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer, und wir fuhren mit unseren Fahrrädern in der Gegend herum, wo wir die unbekannten Gäste vermuteten. Ich war auch schon unterwegs gewesen. Erfolglos.

Und nun auf einmal das Unfassbare: Eine von ihnen kam zu uns ins Haus. Für drei Wochen.

Das war so nicht vorgesehen gewesen. In der französischen Austauschgruppe waren nur wenige Jungs, und ich hatte keinen abbekommen. Die Mädels kamen alle in Gastfamilien, in denen Mädchen waren, in deren Klasse sie gehen sollten. Aber Odile – eben dieses langhaarige Wesen, das nun neben meinem Vater vor mir auf dem Beifahrersitz saß – hatte gleich am ersten Tag Probleme in ihrer Gastfamilie bekommen. Die mochten sie wohl nicht. Weiß Gott, warum. Empört haben sie bei der Französischlehrerin angerufen, und die hat sich an meine Mutter gewandt, weil sie im Elternrat war. Da hat sie sofort zugestimmt, sie bei uns aufzunehmen. Immerhin hatte ich eine Schwester. Ein Jahr jünger als ich. Und eine Klasse tiefer. Wenn die Französin zickig war – davon ging ich aus, so wie sie mich ignoriert hatte und bei dem Start, den sie in der anderen Familie hingelegt hatte – könnte ich sie bei ihr abladen. Wenn nicht… und wenn sie so schön war, wie sie vom Rücksitz her betrachtet zu sein schien – kaum auszudenken. Ob ich dann nächstes Jahr zu ihr nach Frankreich dürfte? Oder eher meine kleine Schwester, nur weil sie ein Mädchen war?

Wie auch immer. Das würde ein Hallo geben, wenn ich morgen mit ihr in unserer Klasse aufkreuze.

Als Papa losfahren wollte, leuchteten die Signallampen: Das Mädchen hatte sich nicht angeschnallt.

Odile verstand nicht gleich, was mein Vater ihr sagte, ich tippte sie an und zeigte auf den Sicherheitsgurt.

„Ah oui. Pardon. Immer isch vergesse das.“

Sie drehte sich um, suchte ein wenig unbeholfen nach der Gurtschnalle und versuchte, sie ins Schloss einzustecken. Mein Vater half ihr dabei.

Wieder hatte sie mich nicht angesehen. Aber für einen kurzen Augenblick sah ich ihr Gesicht, als sie sich umdrehte. Sofort erkannte ich sie wieder. Sie war eine von den dreien, auf die wir Jungs so neugierig geworden waren: Selbst im Profil war ihr großer Mund zu erkennen. Allerdings schienen die Schneidezähne ein wenig groß geraten zu sein, und ich meinte, zu erkennen, dass sie eine Zahnspange trug. Auf dem Bild war das nicht zu sehen gewesen. Aber da konnte ich mich auch täuschen.

Die Farbe ihrer Augen war vermutlich braun. Jedenfalls nicht blau, was bei den pechschwarzen Haaren auch erstaunlich gewesen wäre. Aber das konnte ich in dem kurzen Augenblick nicht erkennen, schließlich galt ihr Blick nicht mir, sondern der Gurtbefestigung. Im Nu war ihr Gesicht wieder hinter den Haaren verschwunden, und sie drehte sich von mir weg nach vorne. Dabei fielen ein paar Strähnen über ihre Rücklehne und verbreiteten einen ungewöhnlichen Duft.

Eigenartig. Ich wusste nicht, wie Moschusparfum riecht, aber das hier musste es wohl sein. Ich hatte gehört, dass der Duftstoff von der nahe den Geschlechtsteilen gelegenen Drüse eines Ochsen stammt1. Ob das stimmte? Jedenfalls war der Geruch grenzwertig. Wäre er nicht von diesem Traum von einem Mädchen ausgegangen, ich hätte ihn eher der Landwirtschaft zugeordnet: Stall oder vielleicht Silage. Aber auch irgendetwas ganz anderes, anziehendes, war mit dabei. Raps? Maiglöckchen? Ich kannte mich nicht so gut aus. Ein wenig auch wie diese kaum zu bändigende, gerade wieder üppig blühende Kletterpflanze, die wir am Haus hatten. ‚Jelängerjelieber2 ‘ nannte sie meine Mutter. Ihr Duft konnte einem nicht entgehen, wenn man zur Blütezeit aus der Terrassentür in den frühsommerlichen Garten ging.

Vielleicht riechen französische Mädchen so, sagte ich mir.

Vorsichtig näherte ich meinen Kopf den langen Haaren vor mir. Eindeutig. Es kam von ihr. Aufregend war er schon, dieser Duft. Und so eindringlich, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte.

Für mich war es kein alltäglicher, aber mir dennoch nicht ungewöhnlicher Weg, durch die Nase erste Bekanntschaft zu schließen statt mit Augen und Sprache.

Ich liebte es, Menschen nach ihrem Geruch zu klassifizieren. Begegnete ich jemandem, den ich nicht mochte, atmete ich instinktiv aus. Ja, ich machte sogar einen Bogen um ihn, um nicht in den Bereich unwillkommener Dünste zu geraten. Umgekehrt bei sympathischen Menschen oder welchen, die ich dafür hielt, vor allem natürlich, wenn ich einer von diesen kleinen Göttinnen begegnet, die ich verehrte, versuchte ich, ein wenig von ihrem Duft einzufangen, und ging möglichst nahe und langsam an ihnen vorbei.

Als ich mich genüsslich vorbeugte, um mit meinem Atem ein wenig von ihrer fremdländischen Seele einzufangen, merkte ich, wie eine gewaltige Duftwelle über die Lehne des Vordersitzes zu mir hinüber strömte. Ich lehnte mich zurück und genoss den überwältigenden Augenblick.

Vielleicht war es gar ein wenig zu viel des Guten. Als wir bei unserem Haus ankamen und ich ausstieg – immer noch konnte ich keinen Blick von ihr erhaschen – tat zu meiner Überraschung die frische Luft gut nach dem Überfluss mädchenhafter Ausdünstung, den ich während unserer kurzen Fahrt so lustvoll eingesogen hatte.

Immerhin konnte ich nicht widerstehen und ging als erstes um das Haus herum, um, solange die beeindruckende Sinneswahrnehmung noch in mir nachwirkte, an der Terrassentür das junge Sinnenerlebnis mit dem Duft der Geißblattblüten zu vergleichen. Ich redete mir ein, es gäbe eine Ähnlichkeit, wenngleich nur mit einem schwach vertretenen Element der Komposition, die ich eben erlebt hatte, sozusagen einem winzigen Spurenelement des betörenden Gesamtkunstwerkes.

2.

Wie kann man sich so täuschen! Als ich in den Hausflur kam, duftete es nicht, es stank. Schweiß. Keine Spur von Geißblatt oder wenigstens Raps.

Hatte mein Vater so geschwitzt? – Nein. So schön es wäre, ein solcher Erklärungsversuch war unsinniges Wunschdenken. Papa roch anders. Herber. Und auch das nur, wenn er im Garten gearbeitet hatte oder Ärger in der Anwaltskanzlei gehabt hatte. Manchmal auch, wenn er vor Gericht einen schwierigen Fall zu verhandeln gehabt hatte und sein Bemühen am Ende erfolglos gewesen war. Und in letzterem Fall legte sich dann geruchsdämpfend sein ‚Joop‘ über alles – was ich aber noch weniger leiden mochte.

Nein, die Ursache des Desasters wurde gerade von meiner Mutter die Treppe hinauf auf direktem Wege ins Bad befördert. Als das Wasser zu rauschen begann, kam sie wieder runter.

„Nimm dich bloß in Acht!“, warnte mich meine Schwester.

„Dicke Luft“, fügte sie, da wir familiäre Gefahrenmomente so zu umschreiben pflegten, hinzu und ging hinauf zu ihrem Zimmer, in dem man in aller Eile ein Gästebett für unseren überraschenden Besuch aus Frankreich aufgestellt und mit bunt geblümter Mädchenbettwäsche bezogen hatte.

„Dicke Luft“, wiederholte Papa ihre Worte, „in jedem Sinne“, und er öffnete schmunzelnd die Haustür zum Lüften.

Mit Spuren der Abscheu im Gesichtsausdruck kam Mama die Treppe herunter.

„So etwas hab ich wirklich noch nicht erlebt“, flüsterte sie, vermutlich, um nicht von unserem Gast gehört zu werden. Eine unnötige Sorge, denn das Wasser rauschte weiter.

„Nicht einmal im Umkleideraum eurer Fußballmannschaft schafft ihr so einen Gestank!“, wendete sie sich so vorwurfsvoll an mich, als hätte ich den Gestank verbreitet.

Wenn Mutter wütend war, wurde sie ungerecht, und man konnte sie wunderbar ärgern und in Widersprüche verwickeln. Ohne nachzudenken versuchte ich, meine eigene Enttäuschung an ihr abzureagieren:

„Du warst in unserem Umkleideraum?“

„Nein. Aber ich habe oft genug davorgestanden, wenn ich dich nach dem Spiel abgeholt hab. Das reichte.“

Fehlschuss. Das ging nach hinten los.

Die Mutter sah sich in der blitzsauberen, täglich gewischten Diele um. Die Jacke unseres Gastes hing an der Garderobe. Blitzschnell ergriff sie das Kleidungsstück, roch kurz daran, verzog ihr Gesicht und eilte, das Kleidungsstück weit von ihrem Körper weg haltend, die Treppe zur Waschküche hinab.