24,99 €
»Mir fällt kein anderer Text ein, der die gestörte Zeit, in der wir leben, besser einfängt als dieser.« Michelle Goldberg, »New York Times« Bestseller-Autorin Naomi Klein liefert eine unvergleichliche Gegenwartsanalyse und eine intellektuelle Abenteuergeschichte für unsere Zeit. Es wurde zum Buch des Jahres von The Times, The Observer, Prospect und Daily Express gewählt. Naomi Klein machte während der Corona-Epidemie eine verstörende Entdeckung: Im Netz und auf Social Media ist eine andere Naomi unterwegs, mit der sie andauern verwechselt wird. Diese andere Naomi war früher eine anerkannte Feministin und ist nun auf die Seite der Verschwörungstheoretiker weit nach rechts gerückt. Sie verkörpert all das, wogegen Naomi Klein ein Leben lang gekämpft hat. Das ist der Ausgangspunkt der Analyse in ihrem neuen Buch. Indem sie ihrer Doppelgängerin nachforscht, gelingt ihr eine Deutung unserer verrückten Gegenwart, in der die Grenzen zwischen rechts und links, richtig und falsch, Fakt und Meinung verschwimmen. In dieser Welt, in der liberale Demokratien am Rande der Autokratie taumeln, KI für uns kommuniziert und der Hass sich online ausbreitet, während gleichzeitig unsere Wälder brennen und der Meeresspiegel unaufhaltsam ansteigt, scheint die Realität selbst aus den Fugen geraten zu sein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 717
Naomi Klein
Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart
Naomi Klein hat eine Doppelgängerin, die all das verkörpert, wogegen sie selbst ein Leben lang gekämpft hat. Die gefährlichen Verschwörungstheorien und radikal anderen Ansichten jener Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht und sogar ihren Vornamen trägt, verfolgen sie auf Schritt und Tritt. In dieser unheimlichen Doppelgängerin erkennt Naomi Klein ein Symptom unserer politisch verwirrten Zeit, in der die Grenzen zwischen rechts und links, richtig und falsch, Fakt und Meinung verschwimmen. Eine unvergleichliche Gegenwartsanalyse und eine intellektuelle Abenteuergeschichte für unsere Zeit.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Naomi Klein, geboren 1970, ist Journalistin, Aktivistin und Autorin der internationalen Bestseller »Die Schock-Strategie« (2007), »Die Entscheidung« (2015) und »No Logo!« (2015, alle S. FISCHER). Naomi Klein schreibt und berichtet regelmäßig für CNN, BBC, »The Los Angeles Times« oder »The Washington Post«. Seit 2021 ist sie Professorin für Klimagerechtigkeit an der University of British Columbia. Naomi Klein lebt in Kanada.
[Widmung]
[Motto]
Einleitung Off-brand me
Teil eins Doppelleben
1 In Besitz genommen
Nicht ich
2 Bühne frei: Covid, der Gefahrenmultiplikator
Es liegt am Algorithmus
Das Buch Naomi
3 Meine gescheiterte Marke oder: Call Me by Her Name
Die markenkritische Marke – und ihre Probleme
Digitale Doppelgänger
Eingestampft
Singuläre Persönlichkeitsstörung
4 Selbstbegegnung im Wald
Kleine Namen, große Ideen
Teil zwei Spiegelwelt
5 Wenn die wüssten, was Handys können
Die nicht beschrittenen Wege
Wie man Tech-Ängste anzapft
Digitale Golems
6 Querverbindungen
Ein globaler Quermeridian
Goldgrube Covid
Katastrophen-Doppelgänger
Das Gegenteil von gecancelt
7 MAGA Plus
Einwegspiegel
Marionetten, die sich gegenläufig bewegen
Ein Theater der Inklusion
Rebranding abgeschlossen
Maschinenmenschen und Maschinenherzen
8 Lächerlich ernst, ernsthaft sprachlos
Ein griesgrämiger Geist betritt die Bühne
Dummpelgänger
Der Screen New Deal
Der grüne Neustart?
Jenseits von bla, bla, bla
9 Die extreme Rechte trifft auf den Eso-Extremismus
Das Who’s Who der Desinformation
Körperdoubles
Von schwierigen Entbindungen zu Covid-Verschwörungstheorien
Geeint durch Abzocke
Die Schwarze Pest
Gelbe Sterne und wilde Projektionen
10 Autismus und Impfgegnerschaft
Das Kind als Doppelgänger
»Hol deins und bring mir meins!«
Paläste für Kinder
Hans Asperger entdeckt seine Schattenseite
Zugleich jenes und dieses
Spiegelt er?
Der Ausweg
Geheimnisse und Schatten
Teil drei Schattenzonen
11 Ruhe, Verschwörung … Kapitalismus
Ruhe als Widerstand gegen Schocks
Die Verschwörung ist … der Kapitalismus
Der Schock der Verflechtung
Einige Verschwörungen sind real
Eine Phantasie der Gerechtigkeit
Vor unseren Schatten fliehen
12 Umkehr ist der einzige Ausweg
Der Fall der Overnight Oats
Rollenspiele
Eine Geschichte zweier Lkw-Konvois
Fanfaren, die in aller Welt gehört wurden
Auch ich bin ein Opfer, das größte Opfer!
13 Der Nazi im Spiegel
Der Spiegel zerspringt
14 Der unentrinnbare ethnische Doppelgänger
Satans Heer der bösen Zwillinge
Schaut euch mal das da an!
Der Sozialismus der Tatsachen
Eine mitten im Satz abgebrochene Debatte
Zwillinge in ewigem Kampf
Doppelgänger-Nation
Den anderen ausblenden
Wo Wolf richtig lag
Das fehlende Kapitel
Bewaffnet und gefährlich
Erez von Erez
Teil vier Der Realität ins Auge sehen
15 Entselbstung
Sich wie eine Koralle oder ein Fisch fühlen
Die nicht beschrittenen Wege wiederentdecken
Ein Kampf zwischen Fürsorge und Lieblosigkeit
Das Rote Wien lebt
Doppelsehen
Epilog Wer ist das Double?
Danksagung
Register
In memoriam:
Mike Davis,
Barbara Ehrenreich,
bell hooks,
Leo Panitch
Eine furchtbare Menge solcher vollkommener Ebenbilder war entstanden.
Fjodor Dostojewski, Der Doppelgänger, 1846
Wie viele gibt es wohl von jedem?
Jordan Peele, Us, 2019
Zu meiner Verteidigung: Es war nie meine Absicht, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte eigentlich gar keine Zeit dafür. Niemand hat mich darum gebeten. Einige haben mich sogar eindringlich davor gewarnt: nicht jetzt – nicht angesichts der Brände im wörtlichen und im übertragenen Sinn, die unseren Planeten heimsuchen. Und schon gar nicht zu diesem Thema.
Die Andere Naomi – so nenne ich sie jetzt. Diese Person, mit der ich seit mehr als zehn Jahren permanent verwechselt werde. Meine Doppelgängerin mit der Löwenmähne. Eine Person, die offenbar viele nicht von mir zu unterscheiden vermögen. Eine Person, die so viele extreme Dinge tut, dass Fremde sich dazu veranlasst sehen, mich harsch zu tadeln, mir zu danken oder mir ihr Bedauern auszusprechen.
Schon die Tatsache, dass ich ihr einen kodierten Namen gegeben habe, zeigt die Absurdität meiner Situation. Seit fünfundzwanzig Jahren schreibe ich über die Macht der Konzerne und über die Verheerungen, die sie anrichten. In weit entfernten Ländern besuche ich Fabriken, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu untersuchen, und überquere heimlich die Grenzen militärisch besetzter Staaten. Ich berichte über die Folgen von Ölkatastrophen und Hurrikans der Kategorie 5. Ich schreibe Bücher mit großen Ideen über ernste Themen. Doch in den Monaten und Jahren, in denen dieses Buch entstanden ist – einer Zeit, als den Friedhöfen der Platz ausging und Milliardäre sich ins All schossen –, erschien mir alles andere, was ich zu schreiben hatte oder hätte schreiben können, als Belästigung und rüde Störung. Ob ich an Veranstaltungen im Vorfeld eines wichtigen UN-Klimagipfels teilnehmen würde? Nein, tut mir leid, ich habe zu viele andere Verpflichtungen. Ob ich einen Kommentar zum amerikanischen Rückzug aus Afghanistan schreiben würde? Zum zwanzigsten Jahrestag von 9/11? Zum russischen Überfall auf die Ukraine? Nein, nein und nochmals nein.
Im Juni 2021, als mir die Kontrolle über dieses Projekt wirklich zu entgleiten drohte, entstand über der Südküste der kanadischen Provinz British Columbia, wo ich heute mit meiner Familie lebe, ein seltsames neues Wetterphänomen, eine sogenannte Hitzeglocke. Die schwüle Luft fühlte sich an wie ein zähnefletschendes Ungeheuer, das bösartige Absichten verfolgte. Mehr als sechshundert zumeist ältere Menschen starben; geschätzte zehn Milliarden Meerestiere wurden an unseren Küsten lebendig gekocht; eine ganze Stadt ging in Flammen auf.[1] Die abgelegene, dünn besiedelte Gegend sorgt nur selten für internationale Schlagzeilen, aber die Hitzeglocke machte uns kurzzeitig berühmt. Ein Redakteur fragte mich, ob ich, seit fünfzehn Jahren eine Kämpferin gegen den Klimawandel, einen Bericht darüber schreiben würde, wie ich dieses beispiellose Klimaereignis erlebt habe.
»Ich arbeite an etwas anderem«, erwiderte ich, und der Geruch des Todes stieg mir in die Nase.
»Darf ich fragen, woran?«
»Dürfen Sie nicht.«
Es gab jede Menge anderer wichtiger Dinge, die ich in dieser Zeit der fieberhaften Ausflüchte vernachlässigt habe. In jenem Sommer erlaubte ich meinem Neunjährigen, so viele Stunden mit der blutrünstigen Naturdoku-Serie Animal Fight Club zuzubringen, dass er schließlich anfing, mich an meinem Schreibtisch zu rammen »wie ein großer weißer Hai«. Ich habe viel zu wenig Zeit mit meinen achtzigjährigen Eltern verbracht, die nur eine halbe Autostunde entfernt wohnen – trotz ihrer statistisch hohen Infektionsanfälligkeit in der weltweit wütenden, tödlichen Pandemie und trotz der lebensbedrohlichen Hitzeglocke. Im Herbst kandidierte mein Mann bei den kanadischen Parlamentswahlen. Ich habe zwar einige Wahlkampfreisen absolviert, aber ich weiß, ich hätte mehr tun können.
All das habe ich vernachlässigt, um … ja, warum eigentlich? Um den wiederholt gesperrten Twitter-Account der Anderen Naomi zu checken? Ihre Auftritte in Steve Bannons Livestreams zu studieren und Einblicke in die elektrische Chemie dieser beiden zu gewinnen? Um eine weitere Warnung von ihr zu lesen oder zu hören, grundlegende Gesundheitsmaßnahmen seien in Wahrheit ein geheimes Komplott, inszeniert von der Kommunistischen Partei Chinas, von Bill Gates, Anthony Fauci und dem Weltwirtschaftsforum, um ein Massensterben von so gewaltigen Dimensionen auszulösen, dass es nur das Werk des Teufels sein konnte?
Am meisten schäme ich mich für die zahllosen Podcasts, die ich mir reinzog, für die Unmenge verlorener Stunden, die ich nie wieder zurückbekomme. Stunden, in denen ich einen Masterabschluss hätte machen können. Ich redete mir ein, das sei »Recherche«. Um sie und ihre Mitstreiter zu verstehen, die jetzt einen offenen Krieg gegen die objektive Realität führen, müsse ich in das Archiv erfolgreicher und zugleich faktenresistenter Sendungen wie QAnon Anonymous und Conspirituality eintauchen, die im wöchentlichen oder vierzehntägigen Rhythmus die vielfach vermischten Welten der Verschwörungstheoretiker, Wellness-Geschäftemacher und Covid-Leugner, der Anti-Impf-Hysterie und des zunehmenden Faschismus entpacken und dekonstruieren. Und das alles zusätzlich zum täglichen Output von Steve Bannon und Tucker Carlson, in deren Sendungen die Andere Naomi inzwischen regelmäßig zu Gast war.
Die Beschäftigung mit diesen Dingen verschlang fast jede freie Minute meines Lebens: ob ich Wäsche zusammenlegte, den Geschirrspüler ausräumte, mit dem Hund rausging oder das Kind von der Schule abholte. In einem anderen Leben waren dies Momente, in denen ich Musik oder Nachrichten hörte oder Leute anrief, die ich mag. »Ich fühle mich den Moderatoren von Conspirituality näher als dir«, schluchzte ich eines Abends in die Voicemail meiner besten Freundin.
Ich sagte mir, dass ich keine andere Wahl hätte. Dass dies in Wahrheit keine sagenhaft leichtfertige und narzisstische Verschwendung meiner knapp bemessenen Zeit zum Schreiben und der ebenso knapp bemessenen Zeit auf der Uhr unseres immer wärmer werdenden Planeten sei. Ich begründete es damit, dass die Andere Naomi, die hocheffizient Falsch- und Desinformationen über viele unserer akuten Krisen in die Welt setzte und zusammen mit anderen die Leute animierte, auf die Straße zu gehen, um gegen eine fast komplett halluzinierte »Tyrannei« zu rebellieren – dass diese Andere Naomi am Schnittpunkt von Kräften agierte, die zutiefst lächerlich, trotzdem aber nicht zu unterschätzen waren. Denn sie stifteten so viel Verwirrung und absorbierten so viel Sauerstoff, dass so gut wie alles Hilfreiche und Heilsame vereitelt wurde, was Menschen in einer solchen Situation bewirken können, wenn sie sich zusammentun.
Beispielsweise indem wir diese Raumfahrtmilliardäre auf den Boden zurückholen und ihren unrechtmäßig erworbenen Reichtum zur Finanzierung des Wohnungsbaus und der Gesundheitsfürsorge und zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen nutzen, bevor die Zukunft eine einzige, alles überwölbende Hitzeglocke ist. Oder, bescheidener, indem wir gewährleisten, dass man ein Kind, das sich selbst als großen weißen Hai sieht, in die Grundschule schicken kann, ohne befürchten zu müssen, dass es mit einem hochansteckenden und potenziell tödlichen Virus nach Hause kommt: einem Virus, das es sich von einem Mitschüler eingefangen hat, dessen Eltern Impfstoffe als Teil eines Komplotts zum Genozid und zur Versklavung der Menschheit betrachten, weil eine Frau namens Naomi sie im Internet davon überzeugt hat.
Ich kann sagen, dass es eine zutiefst verstörende Erfahrung ist, eine Doppelgängerin zu haben. Es ist ein Gefühl des Unheimlichen, das Sigmund Freud als »jene Art des Schreckhaften« beschreibt, »welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«, aber plötzlich fremd ist.[2] Der Doppelgänger wirkt deshalb so unheimlich, weil man sich selbst unvertraut wird. Das Doppelgängertum, schrieb Freud, kann »zur Identifizierung mit einer anderen Person führen, so dass man an seinem Ich irre wird«.[3] Er hatte nicht in allem recht, in diesem Punkt aber schon.
Und in meinem Fall kommt noch etwas hinzu: Meine Doppelgängerin hat eine so dramatische politische und persönliche Wandlung vollzogen, dass viele meinten, sie sei zu einer Doppelgängerin ihres früheren Ichs geworden. Was mich in gewisser Weise zur Doppelgängerin einer Doppelgängerin macht – eine Spielart des Unheimlichen, die selbst Freud nicht vorausgesehen hat.
Ich bin gewiss nicht die Einzige, die sich mit dem Gefühl herumschlägt, dass die Realität sich irgendwie verformt. Fast jeder, mit dem ich spreche, erzählt mir von Menschen, die wie Alice auf ihrem Weg ins Wunderland »im Kaninchenloch« verschwunden sind – Eltern, Geschwister, beste Freunde, aber auch Intellektuelle und Kommentatoren, auf die man sich einmal verlassen konnte. Menschen, die einst vertraut, jetzt aber nicht mehr wiederzuerkennen waren. Die sich verändert hatten. Mich beschlich zunehmend das Gefühl, als seien die Kräfte, die meine Welt destabilisierten, Teil eines weitgespannten Netzwerks von Kräften, die unsere ganze Welt destabilisieren – und als könnte das Verständnis dieser Kräfte ein Schlüssel sein, um festeren Boden unter die Füße zu bekommen.
Seit mehr als zwanzig Jahren, seit diese Flugzeuge in die Glas- und Stahltürme des World Trade Center flogen, beschäftige ich mich damit, wie große Schockereignisse unsere kollektiven Synapsen durcheinanderbringen, zu einer Massenregression führen und Menschen zur leichten Beute für Demagogen machen. In den Jahren, in denen ich recherchierte und die Schock-Strategie schrieb (mein 2007 erschienenes Buch zu diesem Thema), habe ich mich eingehend damit befasst, wie nach einem Schock der Zustand der Verunsicherung in vielen verschiedenen Bereichen opportunistisch ausgenutzt wurde: 9/11, der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Irak-Invasion, der Hurrikan Katrina und andere Ereignisse, die noch sehr viel weiter zurückliegen. Da die Öffentlichkeit verängstigt und abgelenkt war, konnten machthungrige Akteure ohne jede Debatte und ohne Zustimmung demokratischer Gremien Strategien durchsetzen, die den Konzerneliten zugutekamen – nicht unähnlich den brutalen Methoden von Folterern, die Isolation und Stress einsetzen, um ihre Gefangenen zu schwächen und zu brechen. Als ich im Zuge meiner Recherchen die Angriffe auf politische Grundrechte und die Privatisierung von öffentlichem Grund und Boden und öffentlichen Dienstleistungen verfolgte, glaubte ich, ich wäre gegen diese Schockstrategien immun, da ich ja wusste, wie sie funktionierten. Ich würde mich durch beispiellose Ereignisse nicht verunsichern lassen, ich würde in Krisenzeiten einen klaren Blick bewahren und anderen helfen, ebenfalls klar zu sehen. Dachte ich zumindest.
Im Rückblick schäme ich mich fast, wie leicht ich es hatte. Wenn ich mich gegen Schocks immun fühlte, dann vor allem deshalb, weil ich weit weg von ihrem Ursprungsort lebte. Es waren nicht meine Angehörigen, die aus der Luft angegriffen und getötet wurden. Es war nicht mein Wohnviertel, das abgerissen werden sollte, und es waren auch nicht die Lehrer meines Kindes, die entlassen wurden, damit öffentliche in private Schulen umgewandelt werden konnten.
Aber Covid … Covid war anders. Es erschütterte meine persönliche Welt, wie es die Welt von jedem von uns erschütterte. In den ersten vier Monaten, als ich noch in New Jersey lebte, war ich mit unserem neuroatypischen Sohn an unsere Wohnung gebunden und versuchte vergeblich, ihm beim Onlinelernen zu helfen und, noch viel wichtiger, seine poröse Seele zu beruhigen, die nicht anders konnte, als die Angst und den Schrecken um uns herum in sich aufzunehmen. Unsere Nachbarn wurden von Krankenwagen abgeholt, das Virus wütete in unserem Freundeskreis. Dabei hatte ich noch Glück – ich stand nicht an der Frontlinie der Covid-Stationen. Aber ich war auch nicht durch meine gewohnte journalistische Distanz vor der Pandemie geschützt. Ich wachte jeden Morgen erschöpft auf und starrte gelähmt und wie betäubt auf meine verschiedenen Bildschirme. Zum ersten Mal war dies ein Schock, den nicht nur die anderen erlitten. Und dann kamen immer mehr Schocks.
Ein Schockzustand tritt ein, wenn wir – als Individuen oder als Gesellschaft – ein plötzliches und noch nie dagewesenes Ereignis erleben, für das wir noch keine adäquate Erklärung haben. Seinem Wesen nach ist ein Schock die Kluft zwischen dem Ereignis und den bestehenden Narrativen zu dessen Erklärung. Da wir Menschen auf Narrative angewiesen sind, tun wir uns schwer, mit einem Erklärungsvakuum zurechtzukommen – deshalb konnten opportunistische Akteure, die ich als »Katastrophen-Kapitalisten« bezeichne, mit ihren vorbereiteten Wunschlisten und vereinfachenden Geschichten von Gut und Böse diese Lücke schließen. Die Geschichten selbst mögen karikaturhaft überzogen und falsch sein (»Entweder ihr seid für uns oder für die Terroristen«, sagte man uns nach dem 11. September und: »Sie hassen unsere Freiheiten«). Aber es gibt sie immerhin – und allein deshalb sind sie besser als das Nichts der Kluft.
»Tut euch zusammen, findet euren Halt und eure Geschichte.« Das ist der Ratschlag, den ich seit zwanzig Jahren in Momenten eines kollektiven Traumas erteile. Verarbeitet den Schock gemeinsam, sage ich den Leuten, erschafft gemeinsam etwas Sinnvolles. Widersteht den Tyrannen im Westentaschenformat, die euch sagen, die Welt sei jetzt ein leeres Blatt – sie werden es benutzen, um ihre gewalttätigen Geschichten darauf zu schreiben.
Es war ein vernünftiger Ratschlag. Aber Covid machte es sehr schwer, ihn zu befolgen. Die Notwendigkeit, das Virus unter Kontrolle zu bringen, zwang vielen von uns, auch mir, Dauerstress und Isolation auf – Bedingungen, die für Schockzustände besonders anfällig machen. Meine Isolation verschärfte sich, als wir vier Monate nach Ausbruch der Pandemie nach Kanada zurückkehrten. Es sollte ein zeitlich begrenzter Aufenthalt werden, um in der Nähe meiner Eltern zu sein. Aber wie viele andere blieben auch wir da hängen, wo wir waren. Wir leben jetzt dauerhaft auf einer Felsklippe am Ende einer Sackgasse, drei Stunden von der nächsten Stadt entfernt, die wir nur mit einer nicht sehr zuverlässigen Fähre erreichen können. Ich bedauere es nur gelegentlich, dass ich auf Essenslieferungen aus dem Restaurant, verlässlichen Strom und U-Bahnen verzichten muss. Dafür haben wir eine verlässlich geöffnete Schule, wir haben Waldwege in der Nähe und eine geringe, aber reale Chance, im stahlblauen Wasser der Salish Sea die schwarze Rückenflosse eines Orcas zu erblicken. Ein schöner Landstrich – wenn er nicht von der Hitze und dem Rauch von Waldbränden erstickt oder von Stürmen heimgesucht wird, für die wir immer neue Namen lernen müssen. (»Bomben-Zyklon«, »atmosphärischer Fluss« und »Pineapple Express«, die alle in einem einzigen langen, feuchten Winter auftreten können.) Doch es ist ein abgelegener Ort. Vielleicht war es das, was mich schließlich an den Rand der Verzweiflung brachte. Die vielen Monate ohne Menschen aus Fleisch und Blut, mit denen ich meine Gefühle und Gedanken teilen konnte.
Als ich dann im Internet nach einer Simulation der Freundschaften und Gemeinschaften suchte, die ich vermisste, fand ich nur die totale Konfusion: eine Sturzflut von Leuten, die über mich diskutierten und über das, was ich gesagt und getan hatte – nur dass nicht ich es war, sondern sie. Was eine alarmierende Frage aufwarf: Wer war dann ich?
Im Bemühen, mir auf meine Situation einen Reim zu machen, fing ich an, alles zu lesen und zu sichten, was ich über Doubles und Doppelgänger finden konnte, von C.G. Jung bis Ursula K. Le Guin, von Fjodor Dostojewski bis Jordan Peele. Die Figur des Doppelgängers, seine Bedeutung in der antiken Mythologie und in der Frühzeit der Psychoanalyse begann mich zu faszinieren: das Zwillings-Ich als Ausdruck unseres höchsten Strebens nach einer unsterblichen Seele, jenem flüchtigen Wesen, das angeblich den Körper überlebt. Und der Doppelgänger als Repräsentant der am stärksten unterdrückten, entwürdigten und abgelehnten Seiten unseres Ichs, deren Anblick wir nicht ertragen können – des bösen Zwillings, des Schatten-Ichs, des Anti-Ichs, des Hyde unseres Jekyll. Aus diesen Geschichten lernte ich schnell, dass meine Identitätskrise wohl unausweichlich war: Das Auftreten des eigenen Doppelgängers ist fast immer chaotisch und stressig und führt zu Paranoia. Und aufgrund dieser frustrierenden und unheimlichen Situation gerät die Person, die ihrem Doppelgänger begegnet, unweigerlich an ihre Grenzen.
Aber Doppelgänger bedeuten nicht nur Qual und Pein. Seit Jahrhunderten werden sie als Mahner oder Vorboten verstanden. Wenn die Realität anfängt, sich zu verdoppeln, sich an sich selbst zu brechen, so heißt das oft, dass etwas Wichtiges ignoriert oder geleugnet wird – ein Teil unserer selbst und unserer Welt, den wir nicht sehen wollen – und dass weitere Gefahren drohen, wenn die Warnung nicht ernst genommen wird. Das gilt für den Einzelnen, aber auch für ganze Gesellschaften, die geteilt, verdoppelt, polarisiert oder in einander bekämpfende, scheinbar undurchschaubare Lager zersplittert sind. Gesellschaften wie die unseren.
Alfred Hitchcock nannte den turbulenten Zustand des Lebens mit einem Doppelgänger in seinem gleichnamigen Filmklassiker aus dem Jahr 1958 »Vertigo«, Schwindelgefühl. Aber nach meiner Erfahrung ist ein Begriff, den der mexikanische Philosoph Emilio Uranga 1952 verwendete, sehr viel treffender: zozobra. Das spanische Wort für existenzielle Angst und tiefe Schwermut beschwört auch allgemeine Unsicherheit: »Eine Seinsweise, die unaufhörlich zwischen zwei Möglichkeiten schwankt, zwischen zwei Affekten, ohne zu wissen, auf welchen der beiden man sich verlassen kann« – Lächerlichkeit und Ernsthaftigkeit, Gefahr und Sicherheit, Tod und Leben. »In diesem Hin und Her leidet die Seele, sie fühlt sich zerrissen und verwundet«, schreibt Uranga.[4]
Philip Roth untersuchte dieses Spannungsfeld in seinem Doppelgänger-Roman Operation Shylock. »Es ist zu lächerlich, um es ernst zu nehmen, und zu ernst, um lächerlich zu sein«, schrieb er über einen Roth-Doppelgänger.[5] Dieser Satz wurde in jener unheimlichen Zeit zu meinem Mantra. Sind die politischen Bewegungen, die die Andere Naomi maßgeblich unterstützt, lächerlich und keiner Beachtung wert – oder sind sie Teil eines ernst zu nehmenden Wandels in unserer Welt, mit dem wir uns dringend auseinandersetzen müssen? Soll ich lachen oder weinen? Sitze ich reglos auf dieser Felsklippe, oder ist alles in sehr schneller Bewegung?
In der Literatur und der Mythologie begibt sich jemand, der mit einem Doppelgänger konfrontiert ist, auf eine Reise – auf eine Suche, um zu verstehen, welche Botschaften, Geheimnisse und Vorahnungen übermittelt werden. Das habe auch ich getan. Statt meine Doppelgängerin wegzustoßen, habe ich versucht, so viel wie möglich über sie und die Bewegungen herauszufinden, denen sie angehört. Ich bin ihr gefolgt, während sie sich tiefer und tiefer in ein Labyrinth von Verschwörungs-Kaninchenlöchern hineinwühlte: Orte, die mir oft das Gefühl gaben, meine eigenen Recherchen zur Schock-Strategie wären durch den Spiegel gegangen und starrten mir jetzt als ein Netzwerk phantastischer Verschwörungserzählungen entgegen, die die realen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind – von Covid über den Klimawandel bis zur russischen Militäraggression –, als Täuschungsmanöver erscheinen lassen, inszeniert wahlweise von den chinesischen Kommunisten, von Konzernglobalisten oder von Juden.
Ich verfolgte die neuen Allianzen meiner Doppelgängerin mit einigen der bösartigsten Männer auf dem Planeten, die ein Informationschaos ungeheuren Ausmaßes stiften und voll schadenfroher Häme in immer mehr Ländern Aufstände schüren. Ich untersuchte den politischen, emotionalen und finanziellen Nutzen, den diese Leute daraus ziehen, und erforschte die tiefen rassistisch, kulturell und historisch geprägten Ängste und Leugnungen, die ihnen Nahrung geben. Und vor allem wollte ich herausfinden, wie man diesen schwer bewaffneten, antidemokratischen Kräften ihre schnell wachsende Macht entziehen könnte.
Zu alldem fühlte ich mich legitimiert. Ich war so lange und so oft mit der Anderen Naomi verwechselt worden, dass ich mich geradezu von ihr verfolgt fühlte. Daher erschien es mir recht und billig, dass ich jetzt sie verfolgte.
In Geschichten über Doppelgänger, Zwillinge und Hochstapler fungiert der Doppelgänger oft als ein unwillkommener Spiegel, der dem Protagonisten eine eitle und korrupte Version seiner selbst zeigt. Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass ich, während ich meine Doppelgängerin beobachtete, mehr als einmal diesen unwillkommenen Moment des erschrockenen Wiedererkennens spürte. Was mich jedoch bewog, dieses Buch zu schreiben und wider alle Vernunft daran festzuhalten, war, dass ich, je mehr ich mich mit ihr beschäftigte – mit ihren desaströsen Entscheidungen und der unbarmherzigen Behandlung, die sie oft durch andere erfuhr –, zunehmend das Gefühl hatte, dass mir nicht nur unerwünschte Seiten meiner selbst, sondern wie in einem Vergrößerungsglas auch viele unerwünschte Aspekte unserer gemeinsamen Kultur vor Augen geführt wurden. Der allgegenwärtige und alles durchdringende Hunger nach Bedeutsamkeit, die zugleich immer flüchtiger wird; die Art und Weise, wie wir Menschen, die Fehler machen, als entbehrlich behandeln; die Trivialisierung der Sprache, die Zurückweisung von Verantwortung und vieles mehr. Letztlich half mir der Blick auf die Andere Naomi, mich selbst klarer zu sehen, seltsamerweise aber auch, die gefährlichen Systeme und Dynamiken, in denen wir alle gefangen sind, besser zu erkennen.
Dies ist also keine Biographie der Anderen Naomi, und es ist auch keine psychoanalytische Diagnose ihrer Verhaltensweisen. Es ist ein Versuch, meine Erfahrung mit einer Doppelgängerin – die angerichteten Verwüstungen und die Lektion, die ich über mich, sie und uns gelernt habe – als Wegweiser für das zu nutzen, was ich inzwischen als unsere Doppelgänger-Kultur betrachte. Eine Kultur mit zahllosen unterschiedlichen Formen der Verdopplung, in der jeder von uns, der eine Online-Identität oder einen Online-Avatar hat, seinen eigenen Doppelgänger erschafft – eine virtuelle Version unserer selbst, die uns anderen gegenüber repräsentiert. Eine Kultur, in der sich viele von uns als eine persönliche Marke betrachten und eine geteilte Identität aufbauen, in der wir wir selbst und doch nicht wir selbst sind, eine Doppelgänger-Identität, die wir im digitalen Raum unaufhörlich annehmen, als Preis für den Zugang zu einer unersättlichen Aufmerksamkeitsökonomie. Derweil nutzen Techkonzerne diese Daten, um Maschinen darauf zu trainieren, künstliche Simulationen menschlicher Intelligenz und menschlicher Funktionen zu erschaffen, lebensechte Doppelgänger, die ihre eigene Agenda verfolgen, eine eigene Logik besitzen und eigene Bedrohungen darstellen. Aber was macht diese Verdopplung eigentlich mit uns?, habe ich mich immer wieder gefragt. Wie steuert sie das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten oder – noch viel wichtiger – was wir außer Acht lassen?
Während ich meine Doppelgängerin beschattete und ihr immer tiefer in ihre Welt hineinfolgte – an einen Ort, an dem weichgezeichnete Wellness-Influencerinnen mit geifernden rechtsextremen Propagandisten im Namen der Rettung und des Schutzes »der Kinder« gemeinsame Sache machen –, sah ich mich mit weiteren Formen der Verdopplung und des Doppelgängertums konfrontiert, die noch viel weitreichendere Folgen haben. Beispielsweise, dass die ganze Politik zunehmend wie eine Spiegelwelt wirkt, mit einer zweigeteilten Gesellschaft, in der sich die einen gegen die anderen abgrenzen. Bei allem, was die eine Seite sagt und glaubt, fühlt sich die andere Seite gezwungen, genau das Gegenteil zu sagen und zu glauben. Je tiefer ich eintauchte, desto mehr entdeckte ich dieses Phänomen überall um mich herum: Individuen, die sich nicht von nachvollziehbaren Prinzipien oder Überzeugungen leiten lassen, sondern als Mitglieder von Gruppen agieren, die die Rolle des Yin gegenüber dem Yang der anderen Gruppe spielen – Gesunde gegen Schwache; Wache gegen Schlafschafe; Rechtschaffene gegen Depravierte. Binaritäten, wo einst das Denken wohnte.
Zuerst sah ich in der Welt meiner Doppelgängerin vor allem hemmungslose Gaunerei am Werk. Mit der Zeit gewann ich jedoch den deutlichen Eindruck, dass ich in Echtzeit auch Zeugin wurde, wie sich eine neue und gefährliche politische Formation bildete: mit ihren Allianzen, ihrem Weltbild, ihren Slogans und ihren Feinden, mit ihren Codewörtern und No-go-Zonen – und, am wichtigsten, einer Strategie zur Gewinnung einer Basis, um die Macht zu übernehmen.
Und all dies, das wurde schnell klar, war mit einer anderen, noch bedrohlicheren Form der Verdopplung verwoben: der altbekannten Art und Weise, wie Race, Ethnizität und Gender gefährliche Doubles erschaffen, denen ganze Personengruppen zugerechnet werden: Der Wilde. Der Terrorist. Der Dieb. Die Hure. Der Mensch als das Eigentum anderer. Die erschreckendste Erkenntnis meiner Doppelgänger-Reise war, dass nicht nur Individuen einen sinistren Doppelgänger haben können, sondern auch Staaten und Kulturen. Viele von uns spüren und fürchten einen entscheidenden Umschwung. Von demokratisch zu autoritär. Von säkular zu theokratisch. Von pluralistisch zu faschistisch. In einigen Ländern hat dieser Umschwung bereits stattgefunden. In anderen ist er so nah und so vertraut wie ein verzerrtes Spiegelbild.
Mit fortschreitenden Recherchen wurde dies die Form des Doppelgängers, die mich zunehmend beunruhigte: der faschistische Clown-Staat als der allgegenwärtige Zwillingsstaat liberaler westlicher Demokratien, der uns in seinem Feuer selektiver Zugehörigkeit und wütender Verachtung zu verschlingen droht. Die Figur des Doppelgängers dient seit Jahrhunderten dazu, uns vor diesen Schattenversionen unseres kollektiven Ichs, vor einer solchen monströsen Zukunft zu warnen.
Sind wir schon dort angekommen? Nicht alle, jedenfalls noch nicht ganz. Aber die Pandemie, die viele andere, lange verdrängte Krisen überlagerte, hat die Menschheit an einen Punkt gebracht, an dem sie noch nie zuvor war, an einen Ort, der nicht weit entfernt, aber anders ist. Diese Andersartigkeit ist der Grund für die Fremdheit, die viele von uns zu beschreiben versucht haben: Alles ist vertraut und doch mehr als nur ein bisschen ver-rückt. Unheimliche Menschen, eine auf dem Kopf stehende Politik und – mit der beschleunigten Entwicklung der Künstlichen Intelligenz – die immer größere Schwierigkeit zu unterscheiden, wer und was real ist. Woher kommt dieses Gefühl der Desorientierung, von dem wir uns gegenseitig erzählen? Dieses Gefühl, nicht zu wissen, wem wir vertrauen können und was wir glauben sollen? Diese Erfahrung, dass Freunde und geliebte Menschen sich wie Fremde verhalten? Es kommt daher, dass sich unsere Welt verändert hat, aber die meisten von uns wie bei einem kollektiven Jetlag immer noch auf den Rhythmus und die Gewohnheiten des Ortes eingestellt sind, den wir hinter uns gelassen haben. Es ist höchste Zeit, dass wir uns an diesem neuen Ort zurechtfinden.
José Saramago hat seinem Roman Der Doppelgänger das Motto vorangestellt: »Das Chaos ist eine Ordnung, die entschlüsselt werden muss.«[6] Hier ist mein Versuch, das Chaos der Doppelgänger-Kultur zu entschlüsseln – mit ihrem Labyrinth aus simulierten Ichs und digitalen Avataren, mit Massenüberwachung, rassistisch und ethnisch geprägten Projektionen, faschistischen Doubles und den geflissentlich geleugneten Schatten, die alle auf einmal an die Oberfläche treten. Es wird einige gewagte Manöver erfordern – aber ich kann versichern, dass diese Kartierung nicht darauf abzielt, uns im Spiegelkabinett festzuhalten. Sie soll es uns vielmehr ermöglichen, das zu erreichen, wonach sich meiner Ansicht nach viele von uns sehnen: den irremachenden Begrenzungen dieser Spiegelwelt zu entkommen und zu einer kollektiven Macht und gemeinsamen Zielen zu finden. Es geht darum, dieses kollektive Schwindelgefühl zu überwinden und gemeinsam an einen anderen, besseren Ort zu gelangen.
(Performance)
Ich habe einen Weg gefunden, neben meinem Namen her zu leben. Das hat sich als sehr hilfreich erwiesen.[1]
Judith Butler, 2021
Als es zum ersten Mal passierte, befand ich mich in einer öffentlichen Toilette an der Wall Street in Manhattan. Ich wollte gerade meine Kabine verlassen, als ich zwei Frauen über mich reden hörte.
»Hast du gesehen, was Naomi Klein gesagt hat?«
Ich erstarrte und hatte sofort meine fiesen Mitschülerinnen in der High School vor Augen, die mich gleich demütigen würden. Was hatte ich gesagt?
»So was wie, dass der heutige Protestmarsch keine gute Idee ist.«
»Wer hat die denn gefragt? Ich glaube nicht, dass sie unsere Forderungen versteht.«
Moment mal. Ich hatte nichts über den Protestmarsch gesagt – oder über die Forderungen. Dann traf es mich wie ein Donnerschlag: Ich wusste, wer das gesagt hatte. Ich schlenderte lässig zum Waschbecken, nahm mit einer der Frauen Blickkontakt im Spiegel auf und sagte Worte, die ich in den kommenden Monaten und Jahren noch viel zu oft wiederholen sollte.
»Ich glaube, ihr meint Naomi Wolf.«
Das war im November 2011, auf dem Höhepunkt der Occupy-Wall-Street-Bewegung, als Gruppen junger Leute in öffentlichen Parks und auf Plätzen vieler Städte in den Vereinigten Staaten, in Kanada, Asien und dem Vereinigten Königreich campierten. Der Protest war inspiriert vom Arabischen Frühling und von der Besetzung öffentlicher Plätze in Südeuropa durch junge Leute – ein kollektiver Aufschrei gegen wirtschaftliche Ungleichheit und Finanzkriminalität, aus dem schließlich die politischen Strategien einer neuen Generation hervorgingen. An jenem Tag hatten die Organisatoren des ersten Camps in Manhattan zu einem großen Protestmarsch durch das Finanzviertel aufgerufen, und die schwarze Kleidung und der dick aufgetragene Eyeliner ließen keinen Zweifel daran, dass niemand in dieser Toilette eine Pause vom Derivatehandel einlegte.
Ich konnte verstehen, warum einige meiner Mitdemonstranten ihre Naomis verwechselt hatten. Wir schreiben beide Bücher über große Ideen (ich No Logo, sie Der Mythos Schönheit; ich Die Schock-Strategie, sie Wie zerstört man eine Demokratie; ich Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima, sie Vagina). Wir haben beide braunes Haar, das manchmal durch zu viel Aufheller ins Blonde geht (ihres ist länger und dicker als meines). Wir sind beide jüdisch. Am verwirrendsten ist, dass wir als Autorinnen einst getrennte Wege verfolgten (ihr Schwerpunkt war der weibliche Körper, die weibliche Sexualität und die Förderung von Frauen in Führungspositionen, meiner die Angriffe von Konzernen auf die Demokratie und der Klimawandel). Als die Occupy-Wall-Street-Proteste begannen, war die gelbe Linie, die unsere Wege trennte, nicht mehr ganz so scharf konturiert.
Zum Zeitpunkt der Toiletten-Episode hatte ich die Occupy-Plaza ein paarmal besucht, hauptsächlich, um für mein Buch Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima über den Zusammenhang zwischen Marktlogik und Klimakatastrophe Interviews zu führen. Aus diesem Anlass baten mich die Organisatoren, einen kurzen Vortrag über den Schock der Finanzkrise von 2008 und die daraus resultierenden eklatanten Ungerechtigkeiten zu halten – über die Billionen zur Rettung der Banken, deren rücksichtslose Geschäfte die Krise überhaupt erst verursacht hatten, die harsche Austeritätspolitik, von der so ziemlich alle betroffen waren, und die legalisierte Korruption, die nunmehr offenkundig geworden war. Das war die Saat der Spaltung, die Rechtspopulisten in Dutzenden Ländern für ein vehement migrations- und »globalisierungs«-feindliches Projekt nutzten. Zu ihnen gehörte Donald Trump, der von seinem Chefberater Stephen K. Bannon unter die Fittiche genommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt hegten allerdings viele von uns noch die Hoffnung, dass der Crash einen demokratischen Neuaufschwung und eine neue Ära linker Stärke katalysieren könnte, um die Macht der Konzerne zu zügeln und die schwächelnden Demokratien zu befähigen, unsere zahlreichen sich verschärfenden Krisen anzupacken, einschließlich des Klimanotstands. Darum ging es in meiner Rede bei Occupy. Man kann sie nachlesen und darüber weinen, wie naiv ich war.[1]
Auch Naomi Wolf, in den 1990er Jahren eine Bannerträgerin des Feminismus, kam mit diesen Protesten in Berührung, und hier hat die Verwechslung vermutlich ihren Ursprung. Wolf hatte mehrere Artikel geschrieben, in denen sie erklärte, die Niederschlagung von Occupy zeige, dass die Vereinigten Staaten in einen Polizeistaat kippten. Dies war das Thema ihres Buches The End of America, in dem sie »zehn Schritte« skizzierte, die eine Regierung auf ihrem Weg zum Faschismus durchlaufe. Ihr Beweis dafür, dass diese böse Zukunft jetzt vor uns liege, war die Aggressivität, mit der die Freiheit der Occupy-Demonstranten eingeschränkt wurde. Die Stadt erlaubte keine Megaphone und Lautsprecher im Park, und es gab Massenfestnahmen. In ihren Artikeln forderte Wolf die Aktivisten auf, sich den Einschränkungen ihrer Rede- und Versammlungsfreiheit zu widersetzen, um den Staatsstreich zu verhindern, der sich ihrer Ansicht nach vor aller Augen vollzog. Um der Polizei keinen Vorwand zu liefern, das Protestcamp zu räumen, beschritten die Organisatoren einen anderen Weg. Sie setzten das »menschliche Mikrophon« ein, bei dem die Menge die Worte des Redners wiederholt, so dass alle sie hören können.
Das war nicht die einzige Divergenz zwischen Wolf und den Organisatoren. Die Occupy-Aktivisten hatten von Anfang an klargestellt, dass die Bewegung keine politische Agenda verfolge; wenn die politischen Entscheidungsträger zwei, drei Forderungen erfüllten, würden alle zufrieden nach Hause gehen. Wolf widersprach und behauptete, die Bewegung habe sehr wohl bestimmte Forderungen, und sie wisse auch, welche. »Ich fand heraus, was Occupy Wall Street wirklich wollte«, schrieb sie im Guardian: »Ich begann, im Internet Antworten auf die Frage ›Was wollt ihr?‹ zu sammeln« – Antworten, die sie von selbsternannten Occupy-Aktivisten erhielt.[2] Unter Missachtung der radikalen, partizipatorischen Demokratie, zu der sich die Bewegung bekannte, stellte Wolf die Ergebnisse ihrer plan- und wahllosen Umfrage in einer kurzen Liste von Forderungen zusammen und fühlte sich berufen, sie dem New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo bei einer von der Huffington Post organisierten Veranstaltung zu übergeben, an der sie und Cuomo teilnahmen.
Es wurde noch befremdlicher. Nachdem es ihr nicht gelungen war, auf der Veranstaltung mit Cuomo ins Gespräch zu kommen, verließ sie das Treffen, um sich spontan an Occupy-Demonstranten draußen auf dem Bürgersteig zu wenden. Wolf informierte die versammelte Menge über die angeblichen Occupy-Forderungen und sagte, die Demonstranten machten einen Fehler, denn »aufgrund des Rechts auf freie Meinungsäußerung« hätten sie auch »das Recht, ein Megaphon zu benutzen«.[3] Damit gelang es Wolf, in einem burgunderroten Abendkleid festgenommen zu werden, ein Handgemenge, das ein Pulk von Kameras dokumentierte. Das war es, worauf sich die beiden Frauen auf der Toilette bezogen, als sie sagten, »Naomi Klein« habe ihre Forderungen nicht verstanden.
Ich hatte Wolfs Auftritt nur am Rand mitbekommen – er war nur einer von vielen bizarren Vorfällen, die sich in jenem ereignisreichen Herbst im Umfeld von Occupy Wall Street ereigneten. Eines Tages kursierte im Camp das Gerücht, Radiohead werde ein Gratiskonzert geben – doch dann stellte sich heraus, dass es ein ausgeklügelter Scherz war und die Band noch in England weilte. Am Tag darauf kamen allerdings Kanye West und Russell Simmons mit ihrer Entourage und brachten Geschenke für die Leute im Camp mit. Als Nächstes tauchte Alec Baldwin auf. In dieser Zirkusatmosphäre fiel es kaum auf, dass eine Schriftstellerin, die sich in der Mitte ihrer Karriere befand, in Handschellen abgeführt wurde, als sie erfolglos Demonstranten herumkommandierte, die halb so alt waren wie sie.
Doch nach der Toiletten-Episode begann ich, Wolfs Aktivitäten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, und wurde mir aufs Neue bewusst, dass einiges davon auch auf mich zurückfiel. Und ihre Aktivitäten wurden immer bizarrer. Nachdem die Polizei überall in den Vereinigten Staaten die Parks und Plätze von den Occupy-Camps geräumt hatte, schrieb Wolf einen Artikel, in dem sie ohne irgendeinen Beleg behauptete, der Befehl dazu sei direkt aus dem Kongress und aus Barack Obamas Weißem Haus gekommen.
Wenn man die Punkte miteinander verbinde, schrieb sie, ergebe alles einen Sinn. Die Niederschlagung von Occupy Wall Street sei »die erste Schlacht in einem Bürgerkrieg … Es ist eine Schlacht, in der Kongressabgeordnete in geheimer Absprache mit dem amerikanischen Präsidenten die gewaltsame Unterdrückung von Menschen organisierten, deren Vertreter sie eigentlich sein sollten«.[4] Dies, so erklärte Wolf, markiere das definitive Umkippen in die totalitäre Herrschaft – diese Behauptung hatte sie bereits zur Zeit der Bush-Regierung geäußert, als sie selbstsicher prophezeite, George W. Bush werde die Wahl 2008 nicht stattfinden lassen (er ließ sie stattfinden). In den nachfolgenden Jahren wiederholte sie diese Vorhersage noch viele Male. »Leider sind diese Woche die Amerikaner dem Ziel, wahre Brüder und Schwestern der Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zu werden, einen Schritt näher gekommen«, schrieb sie. »Denn auch unsere nationale Führung […] führt jetzt Krieg gegen uns.«[5]
Die logischen Sprünge waren schlimm genug. Noch schlimmer fand ich, dass Wolfs neuer Fokus auf dem Missbrauch unternehmerischer und politischer Macht in einer Krisensituation – etwas, das sie in The End of America nur kurz angesprochen hatte – in mir das Gefühl weckte, eine Parodie meiner Schock-Strategie zu lesen, bei der sie alle Fakten und Belege sorgfältig entfernt hatte und zu karikaturhaft verzerrten, weitreichenden Schlussfolgerungen gelangt war, die ich niemals unterstützen würde. Und obwohl ich damals noch nicht allzu oft mit meiner Doppelgängerin verwechselt worden war, wusste ich bereits, dass einige Leute Wolfs Theorien mir zuschreiben würden. Es fühlte sich an, als stünde ich neben mir. Ich sah mir die Artikel über ihre Festnahme im Abendkleid noch einmal genauer an, und jetzt sprang mir eine Zeile im Guardian ins Auge: »Ihr Partner, der Filmproduzent Avram Ludwig, wurde ebenfalls festgenommen.«[6]
Ich las den Satz meinem Partner vor, dem Filmregisseur und Produzenten Avram Lewis (genannt Avi).
»Was ist das für ein Scheiß?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Klingt wie eine bescheuerte Verschwörung.«
Wir mussten beide lachen.
In den zehn Jahren seit Occupy hat Wolf die Punkte zwischen einer fast unüberschaubaren Menge disparater Fakten und Phantasievorstellungen miteinander verbunden. Sie hat haltlose Spekulationen über Edward Snowden, den Whistleblower der National Security Agency, in die Welt gesetzt (»nicht der, für den er sich ausgibt«,[7] womit sie unterstellt, er sei in Wahrheit ein Spion). Über US-Soldaten, die während des Ebola-Ausbruchs 2014 nach Westafrika geschickt wurden, um Feldlazarette aufzubauen (angeblich kein Versuch, die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen, sondern ein Komplott, um sie in die Vereinigten Staaten zu holen und damit »Massen-Lockdowns«[8] im eigenen Land zu rechtfertigen). Über Enthauptungen US-amerikanischer und britischer Gefangener durch den IS (möglicherweise keine wirklichen Morde, sondern inszenierte Geheimdienstoperationen der US-Regierung mit Schauspielern, sogenannten crisis actors, die in die Rolle von Tätern oder Opfern schlüpften).[9] Über die Festnahme von Dominique Strauss-Kahn, dem damaligen geschäftsführenden Direktor des Internationalen Währungsfonds, aufgrund des Vorwurfs der Vergewaltigung eines Zimmermädchens in einem New Yorker Hotel (die Anklage wurde schließlich fallengelassen, eine Zivilklage außergerichtlich beigelegt, aber Wolf fragte sich, ob das Ganze eine »geheimdienstliche« Operation gewesen sei, um Strauss-Kahn bei den französischen Wahlen aus dem Rennen zu nehmen, wo er »wahrscheinlich Nicolas Sarkozy besiegt hätte«).[10] Über die Ergebnisse des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014 (womöglich gefälscht, behauptete sie, gestützt auf eine zufällige Auswahl von Zeugenaussagen, die sie von ihrer Wohnung in New York aus zusammengetragen hatte).[11] Über den Green New Deal (der nicht den Forderungen der Graswurzelbewegung für Klimagerechtigkeit entspreche, sondern eine weitere, von den Eliten orchestrierte Aktion zur Bemäntelung des »Faschismus« sei).[12]
In einer Zeit der extremen Konzentration von Reichtum und der scheinbar grenzenlosen Straffreiheit für die Mächtigen ist es absolut vernünftig, ja klug, die offiziellen Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Reale Verschwörungen aufzudecken ist die unverzichtbare Aufgabe des investigativen Journalismus, ein Punkt, auf den ich später noch genauer zu sprechen kommen werde. Aber meine Doppelgängerin legte keinen Wert auf echte Recherche, als sie ihre reißerischen Theorien über Snowden, den IS und Ebola lancierte. Als sie in ungewöhnlichen Wolkenformationen ein Komplott witterte (ihrer Ansicht nach Teil eines geheimen NASA-Programms, um »in globalem Maßstab Aluminium« am Himmel zu versprühen und damit eine potenzielle Demenzepidemie auszulösen).[13] Und Recherchen spielten ebenso wenig eine Rolle, als sie auf Twitter einige wirklich bemerkenswerte Gedanken über 5G-Mobilfunknetze teilte, darunter auch diesen: »Es war unglaublich, Belfast zu erleben, wo es noch kein 5G gibt, und die Erde, den Himmel und die Luft zu spüren, die Menschen, alles so, wie es sich in den 1970er Jahren anfühlte. Ruhig, leise, friedlich, erholsam, natürlich.«[14] Ihre Bemerkung wurde auf Twitter transnational mit Hohn und Spott überhäuft, wofür die Plattform berüchtigt ist. Die meisten Beiträge wiesen darauf hin, dass Belfast zum Zeitpunkt ihres Besuchs bereits 5G eingeführt hatte und dass Nordirland in den 1970er Jahren von einem schrecklichen und blutigen bewaffneten Konflikt heimgesucht worden war, der Tausende Menschenleben forderte.
Es ist schwer zu glauben, dass all dies von derselben Autorin stammt, die als Rhodes-Stipendiatin in Oxford Der Mythos Schönheit schrieb. »Kleine Mädchen lernen nicht, einen anderen Menschen zu begehren, sie lernen das Begehren, begehrt zu werden«, heißt es darin. »Mädchen lernen, was ihre eigene Sexualität betrifft, nur den männlichen Blick kennen, und dies okkupiert all ihre Kraft, die sie eigentlich darauf verwenden müssten, herauszufinden, was sie selbst wollen, Bücher darüber zu lesen, darüber zu schreiben, es zu suchen und zu finden. Die Sexualität ist eine Geisel der Schönheit, und welche Art von Lösegeld Mädchen zu bezahlen haben, wird ihnen früh und tief ins Bewusstsein gegraben, mit Instrumenten von gefährlicherer Schönheit und größerer Wirksamkeit, als sie Werbung und Pornographie zur Verfügung stehen: Es sind unsere Literatur, unsere Dichtung, unsere Kunst, der Film.«[15]
Das Buch enthielt einige grobe statistische Fehler[16] – ein Vorgeschmack auf das, was kommen sollte, aber es beruhte auch auf geduldiger Archivarbeit. Was Wolf heute im Netz schreibt, ist so frenetisch und phantastisch, dass es verblüffend sein kann, solche frühen Äußerungen von ihr zu lesen und sich daran zu erinnern, dass sie wirklich die Sprache liebte, tiefgründig über das Innenleben von Mädchen und Frauen nachdachte und eine Vision für deren Befreiung hatte.
Anfang der 1990er Jahre erklärte Germaine Greer den Mythos Schönheit zur »wichtigsten feministischen Veröffentlichung seit Der weibliche Eunuch« (Greers eigenem Bestseller von 1970).[17] Das war nicht zuletzt gutes Timing. Nach der verlorenen Dekade der 1980er Jahre – als der Feminismus plötzlich viel zu bodenständig und ernst war, um es in die Hauptsendezeit zu schaffen –, waren die Konzernverlage bereit, eine dritte Welle der Frauenbewegung auszurufen, und Der Mythos Schönheit machte Wolf zu deren telegenem Gesicht. Sie war keineswegs die erste feministische Schriftstellerin, die die den Frauen auferlegten unmöglichen Schönheitsstandards entlarvte, aber sie hatte einen besonderen Blickwinkel. Wolfs Argumentation besagte im Kern, dass in den 1980er Jahren, als die zweite Welle der feministischen Bewegung in Hochschulen und am Arbeitsplatz mehr Gleichberechtigung für Frauen durchsetzte, gleichzeitig der Druck auf die Frauen, unmögliche Schlankheits- und Schönheitsnormen zu erfüllen, so sehr wuchs, dass sie gegenüber den Männern in deren Betätigungsfeldern in einen Wettbewerbsnachteil gerieten. Das sei kein Zufall, erklärte Wolf. Die »herrschende Elite« wisse, dass sie »auf Sesseln sitzt, die nach dem Leistungsprinzip Frauen zustünden, und die von diesen Sesseln weichen müssten, wenn die Frauen ungehindert die Leiter emporklimmen würden«.[18] Der »Mythos« der Schönheit sei erfunden worden, um den Frauen Macht zu entziehen und sie von den wirklich wichtigen Dingen abzulenken – um sie mit Mascara und Hungerkuren zu beschäftigen, statt ihnen die Freiheit zu geben, auf der Karriereleiter nach oben zu steigen und ihre männlichen Konkurrenten zu übertrumpfen. Im Grunde genommen stellte Wolf die höheren Schönheitsstandards der 1980er Jahre als Gegenreaktion auf den Feminismus der 1970er Jahre dar.
Doch der Feminismus, den Wolf als Antwort vorschlug, war keine Rückkehr zu den radikalen Forderungen der 1960er und 1970er Jahre, als Feminismus und Anti-Imperialismus, Antirassismus und Sozialismus eng miteinander verknüpft waren und Aktivistinnen und Aktivisten ihre eigenen Kollektive und Publikationsorgane gegründet und rebellische politische Kandidaten aufgebaut hatten, um die herrschenden Machtsysteme von außen herauszufordern und umzugestalten. Wolfs Vorschlag war das genaue Gegenteil. So wie Bill Clinton und Tony Blair ihre Parteien zur Abkehr von einer Politik der allgemeinen staatlichen Daseinsfürsorge und der Umverteilung des Reichtums aufriefen und auf einen markt- und militarismusfreundlichen »Dritten Weg« einschworen, skizzierte Wolfs Version der dritten Welle des Feminismus einen Weg zur Mitte hin. Frauen aus der Arbeiterklasse hatte dieser Weg wenig zu bieten, aber weißen Mittelschichtsfrauen mit einem höheren Bildungsabschluss, den sie selbst vorweisen konnte, versprach Wolf das Blaue vom Himmel. Zwei Jahrzehnte vor Sheryl Sandbergs Lean In. Frauen und der Wille zum Erfolg veröffentlichte sie ihr zweites Buch, Die Stärke der Frauen, in dem sie die Feministinnen aufforderte, auf Dogmen zu verzichten und »sich zu ihrer Macht zu bekennen«.[19]
Sie beherzigte ihren eigenen Rat. Statt innerhalb der Frauenbewegung Macht aufzubauen, wie es ihre feministischen Vorgängerinnen getan hatten, katapultierte Wolf sich wie eine Rakete ins Herz des liberalen Establishments von New York und Washington. Sie heiratete einen Journalisten, der Redenschreiber für Bill Clinton und Redakteur der New York Times wurde; sie beriet sich mit dem Politikberater Dick Morris, der für Clintons Rechtsruck eine Schlüsselrolle spielte; und sie wurde Mitbegründerin eines Instituts zur Förderung von Frauen in Führungspositionen. Es schien, als wolle sie die elitären Machtstrukturen nicht niederreißen, sondern in sie eintreten.
Die Presse konnte gar nicht genug von Wolf bekommen, die während der ersten zehn Jahre in der Öffentlichkeit große Ähnlichkeit mit Valerie Bertinelli aus meiner Lieblingssitcom One Day at a Time aufwies. Sie war nicht nur selbstbewusst und schön, während sie die Schönheitsindustrie auseinandernahm, sie schrieb auch anschaulich und mutig über Sex und das Recht junger Frauen auf sexuelle Lust.
Viele herausragende feministische Theoretikerinnen vor und nach Wolf brachten intime Erfahrungen – darunter Vergewaltigung, Abtreibung, häusliche Gewalt, rassistisch geprägter sexueller Fetischismus, Krankheit und Geschlechtsdysphorie – mit den sozialen Strukturen in Verbindung, aus denen diese Erfahrungen hervorgingen. In den 1980er Jahren erschienen jede Menge solcher Bücher, viele von Schwarzen Feministinnen: Ain’t I a Woman. Schwarze Frauen und Feminismus von bell hooks; Rassismus, Sexismus und Klassenkampf von Angela Davis; und Sister Outsider. Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen von Audre Lorde, um nur einige zu nennen. Die Vagina-Monologe, das bahnbrechende feministische Theaterstück von Eve Ensler (die sich heute V nennt), wurden vier Jahre nach dem Erscheinen von Der Mythos Schönheit uraufgeführt. Mit ihren persönlichen Enthüllungen trugen diese Werke dazu bei, die Massenbewegungen für kollektive Gerechtigkeit, bei denen das Persönliche politisch wurde, fester zusammenzuschmieden. Was Wolf von den Intellektuellen dieser Bewegungen unterschied, war ihre sichtlich geringe Neugier auf das Leben von Frauen, die nicht wie sie selbst waren und ein völlig anderes Leben führten als sie. Das zeigte sich in ihrem ersten Buch, das eine Studie über die Auswirkungen weißer, europäischer Schönheitsideale war, es aber fertigbrachte, die spezifischen und schwerwiegenden Auswirkungen dieser Ideale auf Schwarze, asiatische und andere nicht-weiße Frauen auszuklammern (ganz zu schweigen von queeren und Transgenderfrauen).
Zwar gab es immer auch skeptische Stimmen – ihre Rivalin Camille Paglia tat Wolf als »Denkerin auf dem Niveau des [Teenager-] Magazins Seventeen« ab[20] –, doch die Kritik an ihrem Werk reichte nur selten über den universitären Bereich der Frauenforschung hinaus. Und am Ende des Jahrzehnts galt Wolf als eine solche Autorität in Sachen Weiblichkeit, dass Al Gore, der Kandidat der Demokratischen Partei, sie im Jahr 2000 für seinen Präsidentschaftswahlkampf engagierte, damit sie ihm beibrachte, für Wählerinnen attraktiv zu werden. Bekanntermaßen gab sie Al Gore den Rat, aus Bill Clintons Schatten herauszutreten und von einem »Beta-Mann« zu einem »Alpha-Mann« zu werden – unter anderem durch das Tragen erdfarbener Anzüge, um seine roboterhafte Ausstrahlung abzumildern.[21] Wolf bestritt zwar, ihm Modetipps gegeben zu haben, trotzdem lösten die Berichte darüber eine Welle des Spotts aus. Maureen Dowd schrieb in der New York Times, Wolf sei »das moralische Äquivalent eines Armani-T-Shirts, weil Mr. Gore für etwas ganz Simples obszön viel Geld bezahlt hat«.[22]
Im neuen Millennium veränderte sich etwas bei Wolf. Vielleicht waren es Gores Wahlniederlage (oder George W. Bushs Wahldiebstahl) und Schuldzuweisungen, die ihre umstrittene Rolle im Wahlkampf in den Mittelpunkt stellten. Vielleicht steckte auch etwas Privates dahinter – eine scheiternde Ehe mit zwei kleinen Kindern (sie selbst sprach von »einem chaotischen Jahr, kurz nachdem ich vierzig geworden war«).[23] Aus welchem Grund auch immer, in den frühen und mittleren Nullerjahren verlor Wolf in der Öffentlichkeit deutlich an Profil. 2005 veröffentlichte sie einen schmalen Band mit dem Titel The Treehouse: Eccentric Wisdom from My Father on How to Live, Love, and See. In dieser Vater-Tochter-Version von Dienstags bei Morrie zeichnet Wolf ein Bild von sich selbst als einer verlorenen Tochter, die nach Jahrzehnten der Rebellion in den Schoß ihres weisen Vaters zurückkehrt. Ihr Vater Leonard Wolf zeigt ihr, wie sie ein professionelles Baumhaus für ihre eigene Tochter bauen kann – und wie man ein gutes Leben führt.
Während ihrer Zeit als feministische Intellektuelle, schreibt Wolf, habe sie harte Fakten und materielle Veränderungen wertgeschätzt – etwas vollkommen anderes als das, was ihr Vater, ein Dichter und Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Gothic und Horror, sie wertzuschätzen gelehrt hatte: »Mein Vater hatte mich dazu erzogen, die Macht der Phantasie über alles zu stellen.«[24] Leonard, schreibt sie, habe verstanden, dass das »Herz« mehr zählt »als Fakten, Zahlen und Gesetze«.[25] Das wurde damals von den meisten Rezensenten als harmlose, wenngleich kitschige Ermunterung zur Kreativität verstanden. Angesichts ihres kreativen Umgangs mit Fakten, Zahlen und Gesetzen im Zusammenhang mit Covid-19[26] wirkt es im Rückblick eher wie eine düstere Vorahnung, die aus einem von Leonard Wolfs Lieblingsbüchern der Gothic Fiction stammen könnte.
Was mir an The Treehouse auffiel, war jedoch eine von Leonards wichtigsten Lebensweisheiten: seine Aufforderung, »die Schublade zu zerstören«.[27] Ihr Vater habe zu ihr gesagt: »Bevor du auch nur daran denken kannst, deine wahre Stimme zu finden, musst du Schubladen ablehnen … Schlag sie kaputt.« Diesen Punkt unterstrich sie: »Sieh dir an, in welcher Schublade du steckst, und sei bereit, sie zu zerstören.«[28]
Bis dahin steckte Wolf, wie sie selbst einräumt, ganz und gar in der feministischen Schublade. Doch zwei Jahre später zertrümmerte sie diese und veröffentlichte 2007 das patriotisch-paranoide End of America.[29] Darin ging es nicht um Frauenfragen, und Wolf schien sich jetzt auch gegen die elitären Institutionen zu stellen, zu denen sie einst unbedingt hatte Zugang finden wollen. Ihr neuer Schwerpunkt waren die Angriffe des Autoritarismus auf freie Gesellschaften und die Gefahren verdeckten Regierungshandelns.
Im Rückblick begannen die Probleme für mich genau an diesem Punkt: als Wolf aufhörte, sie selbst zu sein – die Naomi, die Bücher über die Kämpfe um den weiblichen Körper schrieb –, und anfing, nun ja, mehr wie ich zu klingen – die Naomi, die über die Instrumentalisierung von Schockzuständen durch Konzerne schreibt. Will ich damit sagen, dass Wolf es darauf angelegt hatte, mit mir verwechselt zu werden? Keineswegs. Es ist nur zutiefst bedauerlich.
Und es war nicht nur dieses eine Buch. Ich hatte 2018 angefangen, über den Green New Deal zu schreiben. Das tat sie kurz danach auch, nur mit ihrer besonderen Neigung zu Verschwörungstheorien. Ich begann über die Gefahren des Geoengineering als Antwort auf die Klimakrise zu schreiben, besonders über die Simulation von Vulkanausbrüchen durch Ausbringen von Schwefeldioxid in großer Höhe zur partiellen Verdunkelung der Sonne, wodurch sich allerdings die Niederschlagsmenge auf der Südhalbkugel verringern konnte. Sie spekulierte in den sozialen Medien eifrig über künstliche Wolkenbildung mit Hilfe von Chemikalien und über geheime Massenvergiftungen. Ich stützte mich bei meiner Arbeit auf Dutzende Publikationen in Fachzeitschriften und konnte an zwei nicht öffentlichen Geoengineering-Konferenzen teilnehmen, wo ich einige führende Wissenschaftler interviewte, die an laborgestützten Forschungen zur Einbringung von Partikeln in die Stratosphäre beteiligt waren, um Teile der Sonnenstrahlung abzufangen. Sie begann, im Bundesstaat New York und in London zufällige Wolkenformationen zu fotografieren, was das Umweltmagazin Grist 2018 dazu veranlasste, Wolf als »Cloud Truther« zu bezeichnen.[30]
Ich weiß immer, wann sie aktiv war, denn dann steigen meine Erwähnungen in den sozialen Medien sprunghaft an. In Form von Anprangerungen und Ausgrenzungen (»Ich kann gar nicht glauben, dass ich Naomi Klein einmal respektiert habe. Was zum Teufel ist bloß mit ihr los??«) und von oberflächlichen Sympathiebekundungen (»Das eigentliche Opfer bei alldem ist Naomi Klein« und »Wir denken an Naomi Klein und beten für sie«).
Wie oft findet diese Identitätsverschmelzung statt? So oft, dass ein Gedicht viral ging, das zum ersten Mal im Oktober 2019 gepostet wurde. Es taucht in solchen Momenten immer wieder auf und wurde Tausende Male geteilt:
If the Naomi be Klein
you’re doing just fine
If the Naomi be Wolf
Oh, buddy. Ooooof.
Wie bei jeder Doppelgänger-Geschichte geht die Verwechslung in beide Richtungen. Wolf hat eine große und offensichtlich treue Fangemeinde auf mehreren Plattformen, und gelegentlich habe ich bemerkt, dass sie Leute korrigiert und ihnen sagt, sie fühle sich zwar geschmeichelt, aber nein, sie habe nicht Die Schock-Strategie geschrieben.
In den ersten zehn Jahren der Verwechslung mit ihr bestand meine öffentliche Strategie zumeist in beharrlichem Leugnen. Natürlich beklagte ich mich privat bei Freunden und bei Avi, aber öffentlich schwieg ich meist. Ich setzte mich auch dann nicht mit Wolf auseinander, als sie 2019 anfing, mich in ihren täglichen Tweets über den Green New Deal zu taggen – offenbar wollte sie mich in eine Diskussion über ihre haltlose Theorie hineinziehen, dass es sich dabei um eine Art grüne Schockstrategie handle, einen ruchlosen Plan von Bankern und Risikokapitalisten, um unter dem Deckmantel des Klimanotstands nach der Macht zu greifen. Ich ließ mich nicht darauf ein. Ich sprach die Verwechslung nicht an. Ich schloss mich auch denen nicht an, die sich über sie lustig machten.
Ich spielte zwar mit dem Gedanken, aber es erschien mir nicht klug. Es hat etwas Demütigendes, ständig mit jemandem verwechselt zu werden, denn es bestätigt, dass man austauschbar und/oder nicht der Rede wert ist. Das ist die Crux mit einem Doppelgänger: Was immer man tun könnte, um die Verwechslung aus der Welt zu schaffen, es lenkt die Aufmerksamkeit nur noch mehr darauf und birgt die Gefahr, dass sich diese unliebsame Assoziation in den Köpfen festsetzt.
Somit wirft die Konfrontation mit unseren Doppelgängern unweigerlich existenziell destabilisierende Fragen auf. Bin ich die, für die ich mich halte, oder bin ich die, als die andere mich wahrnehmen? Und wenn genügend Leute anfangen, eine andere Person in mir zu sehen, wer bin ich dann? Doppelgänger sind natürlich nicht der einzige Weg, um die Kontrolle über sich zu verlieren. Das sorgsam aufgebaute Ich kann auf vielerlei Arten und in kürzester Zeit zerstört werden – durch einen schweren Unfall, durch einen psychischen Zusammenbruch oder heutzutage auch durch einen gehackten Account oder einen Deepfake. Das ist der unerschöpfliche Reiz von Doppelgängern in Romanen und Filmen: Die Vorstellung, dass zwei Menschen, die einander gar nicht kennen, ununterscheidbar sein können, rührt an den Kern unserer Identität – die schmerzliche Wahrheit, dass die Person, für die wir uns halten, grundsätzlich verwundbar ist durch Kräfte, die sich unserer Kontrolle entziehen, egal, wie sorgsam wir unser privates Leben und unsere öffentliche Identität hegen und pflegen.
Der Künstler François Brunelle aus Montreal, der für sein Projekt I’m Not a Look-Alike! über Jahrzehnte hinweg Hunderte von Doppelgänger-Paaren fotografiert hat, drückt es so aus: »Jemand da draußen in der Welt betrachtet sich im Spiegel und sieht mehr oder weniger dasselbe, was ich in meinem Spiegel sehe. Damit stehen wir vor der Frage: Wer genau bin ich? Bin ich das, was ich in meinem Spiegelbild sehe, oder bin ich etwas anderes, das nicht definiert werden kann und unsichtbar ist, sogar für meine eigenen Augen?«[31]
In den Dutzenden von Büchern über Menschen, die ihrem Ebenbild begegnen, signalisiert der Doppelgänger stets, dass das Leben des Protagonisten auf den Kopf gestellt zu werden droht: Der Doppelgänger hetzt Freunde und Kollegen gegen ihn auf, ruiniert seine Karriere, hängt ihm kriminelle Handlungen an und – das passiert oft – hat Sex mit seinem Ehepartner oder seiner Geliebten. Ein Standardmotiv des Genres ist die quälende Ungewissheit, ob der Doppelgänger überhaupt real ist. Handelt es sich tatsächlich um einen identischen Fremden, oder ist er ein verschollener Zwilling? Schlimmer noch: Ist der Doppelgänger nur ein Hirngespinst des Protagonisten, Ausdruck eines gestörten Unterbewusstseins?
In Edgar Allan Poes Erzählung William Wilson zum Beispiel glaubt der Leser zunächst an jene »abscheuliche Übereinstimmung«, dass es neben dem wichtigtuerischen Erzähler eine andere Person mit demselben Namen, demselben Geburtstag und demselben Aussehen gibt.[32] Schnell kommt jedoch der Verdacht auf, dass diese Übereinstimmungen ein wenig zu perfekt sind. Am Ende ist klar, dass der Doppelgänger, der seine Stimme nie »über ein sehr leises Flüstern erheben« kann, allein im Unterbewusstsein des paranoiden, sich selbst hassenden Erzählers existiert und dass William Wilson, indem er seinen »Erzfeind und bösen Geist« tötet, sich selber tötet.[33] Dieses Schicksal ereilt auch den Protagonisten von Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray, die Geschichte eines eitlen und ausschweifenden jungen Mannes, der sich, nachdem er sein Porträt hat malen lassen, auf einen teuflischen Deal einlässt, um für immer jung und schön zu bleiben. Während Gray sich seine Jugendlichkeit bewahrt, wird das Gesicht auf dem Gemälde immer älter und hässlicher, eine Art virtueller Doppelgänger. Als Gray versucht, sein gruseliges Double zu zerstören, liegt am Ende er selbst mit runzeligem Gesicht leblos am Boden.
Das ganze Debakel erinnert mich an meine Cockapoo-Hündin Smoke, die allabendlich bei Sonnenuntergang im Fenster unserer Eingangstür ihr Spiegelbild sieht und wie wild zu bellen anfängt. Offensichtlich glaubt sie, dass eine hinreißende weiße Cockapoo-Doppelgängerin sich Zugang zu ihrem Zuhause verschaffen, ihr Futter fressen und sich die Zuneigung ihrer menschlichen Besitzer erschleichen will.
»Das bist du selbst«, erkläre ich Smoke in beruhigendem Ton, aber sie vergisst es immer wieder. Das ist das Dilemma, wenn man mit einem Doppelgänger konfrontiert ist: Man kann so laut bellen, wie man will, am Ende steht man unausweichlich sich selbst gegenüber.
Es gab noch einen Grund, warum ich mich in den ersten Jahren nicht weiter darum bemüht habe, den Ärger mit meiner Doppelgängerin abzustellen. Mit Ausnahme der Toiletten-Episode in Manhattan schien die Verwechslung nur in den sozialen Medien stattzufinden. Meine Freunde und Kollegen wussten, wer ich war, und wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die ich in der physischen Welt nicht kannte, tauchte ihr Name nicht auf; auch in Artikeln oder Buchrezensionen wurden wir nicht miteinander verwechselt. Deshalb legte ich das Naomi-Problem in der Kategorie »Was im Internet passiert, ist nicht ganz real« ab (damals waren wir dumm genug, mit allem Möglichen so zu verfahren). Ich sagte mir, dass nicht ich mit Wolf verwechselt wurde, sondern lediglich unsere digitalen Avatare vertauscht wurden – unsere daumennagelgroßen Profilfotos und die winzigen Kästchen, die auf diesen Plattformen unsere Äußerungen begrenzen, wodurch sie, wie so vieles andere, flach und unscharf werden.
Damals sah ich darin eher ein strukturelles als ein persönliches Problem. Eine Handvoll junger Männer war unermesslich reich geworden mit dem Design von Technologieplattformen, die es uns im Namen der »Konnektivität« nicht nur ermöglichten, Unterhaltungen zwischen Fremden mitzuhören, sondern uns sogar aktiv ermunterten, jene Beiträge aufzurufen, in denen wir auftauchten (unsere »Erwähnungen«). In gewisser Weise war es überaus passend, dass die erste von mir mitgehörte Unterhaltung, bei der ich mit Wolf verwechselt wurde, in einer öffentlichen Toilette stattfand. Als ich Twitter beitrat und das Glockensymbol anklickte, das meine »Erwähnungen« anzeigte, war mein erster Gedanke: Ich lese Kritzeleien über mich, die in Endlosschleife über eine Toilettenwand laufen.
Da ich an der Highschool Gegenstand vieler Wandkritzeleien gewesen war, kam mir das total bekannt vor. Es war aber auch zutiefst verstörend. Ich wusste sofort, dass Twitter nicht gut für mich sein würde – trotzdem war ich, wie so viele, unfähig, mich davon abzuwenden. Wenn es also eine Botschaft gibt, die ich dem destabilisierenden Auftauchen meiner Doppelgängerin hätte entnehmen können, dann vielleicht diese: Hör ein für alle Mal auf, in den sozialen Medien, dieser überfüllten und schmutzigen globalen Toilette, Unterhaltungen zu belauschen, bei denen Fremde über dich reden.
Vielleicht hätte ich diese Botschaft sogar befolgt. Wenn Covid nicht dazwischengekommen wäre.
»Darf ich dir mal eben diesen Tweet hier vorlesen?« Ich komme in die Küche, meinen Laptop auf einer Hand balancierend.
»Klar«, sagt Avi und kneift die Lippen zusammen. Er hat beschlossen, für einen Sitz im kanadischen Parlament zu kandidieren, und plagt sich mit lauter weitreichenden Entscheidungen herum: Er muss einen Wahlkampfmanager engagieren, ein Wahlprogramm erstellen, hunderttausend Dollar auftreiben.
»Sie schreibt, ›der Urin und die Fäkalien von Geimpften‹ müssten getrennt ›vom allgemeinen Abwasser‹ entsorgt werden, bis ihre Auswirkungen auf das Trinkwasser der Ungeimpften untersucht worden seien.[1] Ist das zu fassen? Sie hält Geimpfte für ein Biorisiko! Sie möchte eine parallele Kanalisation aufbauen!«
»Worauf willst du hinaus?«, fragt Avi nicht besonders geduldig.
Ja, worauf eigentlich?