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In einer Welt, in der nicht nur Menschen existieren, sondern auch Drachen, Feen und allerlei anderer Übernatürliche, gelten andere Regeln...
Vela van Quan ist eine junge Menschenfrau, geboren in Beleah, Reich des Drachen Ryker.
Als Tochter eines einstigen Sektenführers und ausgebildet zur Auftragsmörderin, gehört sie zum Abschaum der Gesellschaft und genießt somit keinen guten Ruf. Von allen gefürchtet, kommt es daher überraschend, als Vela eines Tages die Nachricht bekommt, dass ihr Vater sie sehen will.
Aber das kann nicht sein. Er ist tot!
Die junge Frau nimmt sich der Sache an, wird zurück in ihren ganz persönlichen Albtraum geworfen und trifft dabei auf den Drachenkönig der Stadt, Ryker Errol.
Durch ihn lernt sie die Welt der Drachen kennen, doch nicht nur das. Wird er ihr auch zeigen können, wie schön das Leben sein kann?
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Wutentbrannt ließ der gigantische rote Drache den Blick über das Land schweifen. Mehrere hundert Meter unter ihm gingen raue Berge in eine steile und zerklüftete Schlucht über, tödlich für all jene, die ihr zu nahe kamen und einen falschen Schritt wagten. Weit hinter dieser Schlucht, hinten am Horizont, ging die karge Landschaft schließlich in eine Wüste über, nicht weniger grausam als das Land unter und hinter ihm. Steinmauern ragten inmitten dieser Wüste in den wolkenlosen Himmel auf und kündigten eine ihm verbotene Zone an. Keelerah. Die Stadt des grauen Drachen, Cain.
Dieser Narr! Die Suhma-Wüste und deren Stadt war ein riesiges Reich, und doch schien es nicht groß genug für diesen gierigen Hurensohn zu sein.
Ryker, der rote Drache, bog seine Flügel dem Wind entgegen, fing ihn ein und setzte rauschend zu einer Landung an der gewaltigen Schlucht an. Staub und Dreck wirbelten auf, schienen den Himmel für einen Moment zu verdunkeln und lichteten sich wieder, als seine Klauen donnernd auf dem erdigen Gestein aufkamen und er die fledermausartigen und ledrigen Schwingen zusammenklappte und am Torso anlegte.
Er hatte die Berge und seine Stadt Beleah verlassen müssen, um diesem verdammten Mistkerl klarzumachen, dass alles hinter der Kanos-Schlucht auch weiterhin ihm gehören würde. So war es schon seit Jahrhunderten und so würde es auch bleiben!
Als die Sonne erneut von einem Drachenkörper verdunkelt wurde, wusste Ryker, dass ein Kampf unumgänglich war. Cain war ein regelrechter Barbar, der seinen Willen in der Vergangenheit schon oft hatte durchsetzen können. Dumm für ihn, dass Ryker von solch leidenschaftlicher Natur war. Er liebte den Kampf und scheute sich keiner Herausforderung, so wie es sich für ein Wesen seiner Art ziemte.
Noch bevor der graue Drache gelandet war, fiel Rykers Blick auf eine kleine Gestalt, nur wenige Kilometer von ihm entfernt. Die schlitzförmigen Pupillen des Königs verengten sich wachsam und misstrauisch zugleich. Eine Menschenfrau, so weit außerhalb der Stadt? Ein leises Knurren entrang sich seiner Kehle, war kaum zu vernehmen, sondern vielmehr in der Erde zu spüren.
Nein, nicht bloß eine Menschenfrau. Eine Auftragskillerin. Er kannte die Frau mit den langen schwarzen Haaren und der ungewöhnlichen Rüstung. Vela van Quan, wenn er sich recht entsinnte. Wo immer es grausam und hässlich wurde, wann immer eine Gräueltat aufgedeckt wurde, war dieses Weib nicht weit.
Ryker fragte sich noch, was sie so weit hier draußen verloren hatte, da trat plötzlich der graue Drache in sein Blickfeld und ging, ohne Zeit zu verschwenden, zum Angriff über. Ryker neigte bloß den Schädel, da krachten einem lauten Donner gleich, ihre Hörner aufeinander. Drachengebrüll erfüllte die Luft, erweckte das Gefühl, inmitten eines scheußlichen Sturms zu stehen. Die Atmosphäre lud sich voll statischer Energie auf, schien regelrecht zu knistern und zu knacken.
Klauen, mit meterlangen Krallen bestückt, sausten durch die Luft, schnitten mühelos durch panzerdicke Schuppen und zerrissen das darunterliegende heiße Fleisch, Sehnen und Muskeln. Mit ihren Schwänzen, zum Teil von Dornen und Stacheln überzogen, holten die Drachen aus, verteilten Schläge und versuchten sich gegenseitig mit ihren massigen und tonnenwiegenden Körpern zurückzudrängen.
Von animalisch blutrünstigem Instinkt getrieben, riss der rote Drache sein Maul auf, bereit eine Salve Feuer aus seinem Rachen abzugeben, da drang ihm eine der gefürchteten Klauen in den langen Hals ein und riss ein Stück seines Fleisches heraus. Brüllend warf Ryker den Schädel hin und her, bereit für seinen Angriff, da drang plötzlich ein dumpfer Schlag, über all den Lärm hinweg, an seine Ohren.
Der graue Drache, Cain, gab einen Schrei von sich, noch bevor Ryker angegriffen hatte. Und da sah er es, den Bolzen, der in dem gesteinsgrauen Auge seines Gegners steckte und ihm zweifelsohne das Augenlicht nahm. Was zum...?
Cain schüttelte sich, trat einem Erdbeben gleich mehrere Schritte zurück und stieß dabei über den Rand der Schlucht. Sein Brüllen hallte von den Felswänden wider und wurde begleitet von einem widerlichen Kreischen, als er versuchte mit Hilfe seiner Klauen irgendwo Halt zu finden.
Erneuter Schmerz explodierte in Rykers Ohren, weshalb er sich flach auf den Boden warf, ein weiteres Beben auslöste, und irgendwie und vergeblich versuchte, sein sensibles Gehör zu schützen. Dabei erfassten seine goldenen Augen jene Menschenfrau, auf die er vorhin schon aufmerksam geworden war. Mit der angelegten Armbrust stand sie da, keinerlei Anzeichen von Furcht zeigend.
Ryker stieß ein furchteinflößendes Knurren aus, fuchsteufelswild darüber, dass dieses Weib es tatsächlich gewagt hatte sich einzumischen.
Vela van Quan, dachte er drohend, wohl wissend, dass der Klang seiner Gedanken sie erreichen würde. Ein Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus als er voller Freude beobachtete, wie ihre Augen groß wurden und sie einen Schritt zurückmachte. Doch dann überraschte sie den König, indem sie ihre Waffe erneut anlegte und damit auf ihn zielte.
Ich dulde keine Einmischung! Verschwinde von hier!, dachte Ryker als nächstes und machte noch drei weitere Schritte auf sie zu.
Wie eigenartig... Sie lief ja gar nicht weg! Sehr spaßig war dies aber nicht.
„Raus aus meinem Kopf!“, fauchte die so mutige Frau und deutete mit ihrer Armbrust auf seine bereits vorhandene Fleischwunde.
Raus aus meinem Revier!, gab Ryker ungehalten zurück. Er war der Killerin mittlerweile so nahe gekommen, dass der Größenunterschied zwischen ihnen nur umso unheimlicher und schrecklicher war.
Der rote Drache war so riesig, dass die Frau vor ihm nur die Größe eines Kaninchens aufwies. Und dennoch erfassten seine goldenen Augen jedes Detail an ihr, so auch ihre jadegrünen Augen, die noch immer auf seine Halswunde gerichtet waren. Fasziniert von der Situation hielt der König inne.
Warum hatte diese Frau ihm geholfen? Und was fiel ihr überhaupt ein, auf einen Drachen zu schießen? Auf dieses Vergehen stand die Todesstrafe, Herrgott nochmal!
Dies schien die Frau so langsam ebenfalls zu begreifen, denn als ob es diesen so seltsamen Moment nie gegeben hätte, machte die Auftragskillerin plötzlich kehrt und lief davon.
Und so blieb der Drachenkönig verwirrt und verletzt an der Grenze seines Landes zurück, in seinem Rücken die Kanos-Schlucht, mitsamt seinem verwundeten Feind.
Einige Jahre später
Fast schon konnte man ihren Blick als verbittert bezeichnen, als sie den Inhalt ihres abgenutzten Kruges betrachtete und darin die Spiegelung ihrer Augen erkannte. Bildete sie sich das ein oder sah man ihr die Müdigkeit etwa an?
„Erde an Vela, was ist los?“
Vela hob den Blick und betrachtete schweigend den einen Meter achtzig großen Hünen. Jonz war mit seinen kleinen braunen Augen, dem kahlen Schädel und den schwieligen Händen nun wahrlich keine Augenweide, nichts desto Trotz war er wohl einer der beliebtesten Männer in ganz Beleah.
Die schäbige kleine Lokalität, in der sie just in diesem Moment saß, war nichts weiter als eine dreckige Absteige für all jene, die Dreck am stecken hatten oder kein Heim besaßen. Was eigentlich nur für Saufgelage entstanden war, war zu so viel mehr geworden, da Jonz, ob man es glaubte oder nicht, ein riesengroßes Herz besaß. Er würde niemals jemanden vor die Tür setzen, selbst sie nicht, die nicht nur in dieser Stadt nicht gerne gesehen war.
Jonz noch immer ignorierend ließ Vela den Blick schweifen. Die kleine hölzerne Spelunke war nicht unbedingt versifft und widerwärtig, dennoch sichtlich heruntergekommen und zerfallen. Die Holzvertäfelungen an den Wänden wiesen unzählige Löcher auf, verursacht von Waffen oder bloßen Faustschlägen. Die Holzdielen des Fußbodens waren von längst getrockneten Blutflecken übersäht und all die Tische und Hocker seit geraumer Zeit sehr wackelig.
Wie viel Blut mochte hier wohl schon vergossen worden sein für Belanglosigkeiten, wie süffiges Gebräu und aufgringliche Dirnen?
Fast hätten Velas Mundwinkel begonnen zu zucken, doch ihre Gesichtsmuskeln waren schon seit unzähligen Jahren regelrecht inaktiv. Sie bemerkte Jonz' breite Unterarme, die sich auf den Rand der schiefen und abgegriffenen Theke abstützten und ließ sich aus purer Bosheit noch ein wenig mehr Zeit damit, ihren Blick wieder auf ihn zu richten. Die Laternen und Kerzen im Raum flackerten leicht und spendeten kaum Licht, doch es genügte um erkennen zu lassen, wie ungeduldig der Schankwirt wurde.
„Ich bin nicht gut darauf zu sprechen“, erlöste Vela ihn mit einer Antwort, die mehr Fragen aufwarf, als beantwortete. Jonz brummte ungehalten und riss ihr den Krug aus der Hand, um ihn aus ihrer Reichweite zu schaffen.
„Du hältst es doch nie lange in Beleah aus. Und in letzter Zeit bist du andauernd hier, um zu trinken. Also, raus damit.“
Vela machte keinen Hehl aus ihrem Zorn darüber, dass er ihr den hochprozentigen und bitteren Alkohol weggenommen hatte und zückte in einer fließenden und eleganten Bewegung ein kleines Messer, geschmiedet, um geworfen zu werden und Feinde aus der Distanz zu treffen. Ohne dass sich jemand daran störte, richtete sie den blanken Stahl auf den Wirt.
„Ich bin hinter jemandem her, der auf meiner roten Liste steht. Aber er ist entkommen. Und jetzt gib mir meinen verdammten Krug zurück!“, stieß sie durch zusammengebissene Zähne aus.
Verdammt und zugenäht, warum erzählte sie ihm das? Was ging es diesen schmuddeligen Taugenichts an, was in ihrem Leben abging? Hach, was regte sie sich eigentlich darüber auf? Sich mit einem Drink in der Hand auszuruhen war ihr im Moment wichtiger, als sich hierrum zu scheren.
Jonz stieß einen Pfiff aus und gab ihr, wonach sie verlangte. Der raue und dunkle Klang ihrer Stimme jagte ihm schon seit geraumer Zeit keine Angst mehr ein, ebenso wenig wie der glänzende Stahl.
„Dir entkommt doch sonst niemand“, meinte er leise und beugte sich ein wenig vor, damit nicht jeder etwas von ihrem Gespräch mitbekam. Ruhig, dachte Vela mit geschlossenen Augen und versuchte somit, ihre eigenen Gedanken gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen.
Sie verlor nicht. Niemals. Einst, vor... sechzehn Jahren, war dies anders gewesen. Sie hatte ihr Zuhause verloren, ihre Familie, ihre Würde und ihrer Selbst. Es hatte gedauert, ehe sie auch nur einen Teil davon zurück bekommen hatte. Sich nun eingestehen zu müssen, dass sie darin gescheitert war einen Feind aufzuspüren und zu eliminieren, fühlte sich an, als würde man sie zurück in die Vergangenheit werfen. Und damit wollte sie sich nicht zufrieden geben. Sie war schließlich nicht umsonst überall so gefürchtet!
Velas schwarze Augenbrauen zogen sich wütend zusammen, doch sie sagte nichts auf Jonz' unverschämte Worte und hob den Krug an die Lippen, um einer Antwort zu entgehen.
Der leichte Geruch eines Männerparfums wehte ihr um die Nase, als jemand mit schweren Schritten neben sie trat und sich auf den Hocker direkt neben ihr fallen ließ. Vela hob den Blick gar nicht erst und völlig egal wie gut und unerwartet herrlich der Duft auch war, sie wollte nicht wissen, wer ihr da so auf den Pelz rückte. Eine Frau wie sie hatte am besten so wenige Kontakte wie möglich. Gegen ihren Willen nahm sie aus den Augenwinkeln heraus aber wahr, wie sich zwei muskulöse Unterarme auf den Tresen legten. Wunderbar männliche Unterarme, von dunklen Härchen überzogen, die Vela sowohl stutzig, als auch aufmerksam werden ließen. Wie eigenartig...
Solch Neugierde zu empfinden war ihr fremd geworden und verwirrte sie ein wenig. Umso stärker fühlte sie sich, als es ihr gelang keinen Blick zu riskieren. Es erschien ihr wie ein Wink des Schicksals als plötzlich lautes Getrappel in der Stiege ertönte, dazu ein Keuchen und aufgeregtes Rufen.
„Vela! Vela, sieh nur!“
Die Frau verzog das Gesicht, ehe sie einen Blick über die Schulter warf und ein verwahrlostes Mädchen entdeckte, die mit einem Blatt Pergament auf sie zugelaufen kam. Mirra, wie Vela feststellte. Die Vierzehnjährige lebte ganz offensichtlich auf der Straße, allerdings war sie so oft hier, dass Vela schon die Vermutung hegte, sie sei Jonz' kleine Schwester oder gar Tochter. Jedoch hatte nie einer ein Wort darüber verloren und Vela wäre mit Sicherheit nicht die Erste, die es täte. Sie empfand Mirra, mit den zerzausten aschblonden Haaren und den roten rundlichen Bäckchen als äußerst nervtötend, doch die Kleine war oftmals so still und unauffällig, dass sie sich wunderbar dazu eignete, durch die Gassen zu streifen und nützliche Informationen zu sammeln. Nicht, dass Vela dies jemals ausgenutzt hätte...
Mirra kam in diesem Augenblick vor ihr zum Stehen und reichte ihr das Pergament, wobei es sich um einen Steckbrief handelte, und zwar über Vela.
„Sie suchen nach dir“, platzte es aufgeregt aus der Kleinen heraus, was Jonz dazu brachte, lauthals zu lachen. Vela ließ sich erstmal nichts anmerken und nahm die Zeichnung von sich selbst in Augenschein. Sie hatten sie gut getroffen dieses Mal. Die schmalen Gesichtszüge mit den hohen Wangenknochen, die großen blassen Augen und den vollen schwunglosen Mund. Die Nase erschien ihr ein klein wenig zu stupsig, aber alles in allem... Wirklich gut.
Vela van Quan, Auftragsmörderin, gesucht. Tot oder lebendig, war zu lesen, direkt darunter eine so hohe Summe von Goldmünzen, dass man sich nicht traute sie laut auszusprechen.
Vela zerknüllte das Pergament, zu oft war die Stadt schon von solch Schmierereien zuplakatiert worden. Es traute sich ja doch niemand an sie heran, außer den Wachen des Königs, die in der Stadt patroullierten. Und die waren gar nicht mal so unfähig. Eines musste man dem König lassen, obwohl niemand wusste wie er hieß oder aussah, wusste er, wie er die Bewohner seines Reiches unter Kontrolle hielt. Seine Gesetze wurden um jeden Preis durchgesetzt, auf einen einzelnen Menschen oder eine Fee nahm er dabei keinerlei Rücksicht.
„Tun sie das nicht immer?“, murmelte Vela nun müde und widmete sich wieder ihrem Krug.
„Du solltest vorsichtig sein, die Stadt ist heute voller Wachen“, plapperte Mirra und rückte noch näher an Vela heran, was in dieser den Wunsch weckte, über die Theke zu springen und in Deckung zu gehen. Sie hasste es, wenn man ihr zu nahe kam und dies bezog sie nicht nur auf ihr eher verkümmertes Gefühlsleben.
„Aber nicht wegen mir“, stellte sie ungerührt klar. Mirra und Jonz sahen sie verwirrt an, weshalb sie beinahe geseufzt hätte, ehe sie zu einer Erklärung ansetzte.
„Wenn sie wirklich meinetwegen in der Stadt wären, dann würde es niemand wissen. Sie haben dazugelernt und greifen mich nur noch aus dem Hinterhalt an. Nicht, dass ihnen das etwas nützen würde.“Himmel, was klang sie überheblich. Aber so war es nun einmal. So klug die Wachen und Soldaten auch waren, so hatten sie es bisher trotzdem nicht geschafft, sie dingfest zu machen. Nicht, dass Vela es jemals zulassen würde. Ihr Wille war zu stark, um gebrochen zu werden, die Erfahrung hatten auch andere schon machen müssen.
„Man munkelt, der König sei in der Stadt unterwegs“, erklang es da auf einmal neben ihr.
Vela kniff die Lippen zusammen. Da hatte sie sich extra vorgenommen nicht hinzusehen und nun tat sie es doch. Sie hielt den Atem an als ein Mann in ihr Blickfeld fiel, der viel zu hübsch und attraktiv war für diese Gegend der Stadt. Obwohl er saß konnte sie erkennen, wie lang seine Beine waren. Sein breites Kreuz war wohl mindestens genauso beeindruckend wie seine muskulösen Arme.
Ob er wohl auch einen Job im Untergrund hatte? Anders konnte sie sich seine gestählte Figur nicht erklären. Doch nein, das passte nicht. Seine Gewandung war viel zu anders, zu vornehm.
Seine ärmellose Tunika war schwarz und an seinem Kragen nicht richtig zugeschnürt worden, wodurch dunkle Härchen in ihr Blickfeld fielen. Sein Bindegürtel aus leichtem Stoff betonte seine schmale Taille und seine ebenso schwarze Hose war eng und von Ledereinsätzen besetzt, doch auch das war es nicht, was sie so wachsam bleiben ließ. Es waren die goldenen Reifen an seinen breiten Oberarmen und sein Gesicht, sein makelloses, perfektes Gesicht. Kantig und wie in Stein gemeißelt, mit eigenwilligem Kinn und einem Mund, der wohl jede noch so starke und sture Frau um den Verstand und in Verführung gebracht hatte. Leicht gebräunte Haut spannte sich über seine Wangenknochen und wurde eingerahmt von schwarzen Haaren, die sich bis zu seinen Schultern wellten. Und dann waren da seine Augen...
Zwei tiefschwarzen und kostbaren Edelsteinen gleich, in denen goldene Einschlüsse aufblitzten und von Innen heraus zu leuchten schienen. Sie fesselten Velas Blick und sie hätte schwören können, dass sie mal größer und mal kleiner wurden.
War dieser mysteriöse Mann möglicherweise gar kein Mensch? War er eine Fee? Nein, unter den Haaren lugten keine spitzen Ohren hervor. Dann vielleicht ein Wolfsmensch? Und was hatte es mit dem funkelnden Gold an seinen Oberarmen zutun? War er etwa gut betucht? Denn das hätte seinen Aufenthalt hier, im Jonz', nur noch seltsamer gemacht.
„Wäre es dann nicht klüger, diesen Ausflug ohne Wachen zu machen? Wäre es auf diese Weise nicht unauffälliger?“, mischte sich Jonz wieder ein und riss die Frau somit aus den Gedanken. Sie erlaubte sich ein winziges Lächeln, doch es war nach Bruchteilen einer Sekunde wieder verschwunden.
„Vielleicht traut sich der König nicht ohne seine Wachen aus dem Palast? Vielleicht ist er so schwach, dass er um sein Leben fürchten muss?“, spieh sie, angewidert von dem Gedanken, dass der Herr dieses Landes tatsächlich ein Schwächling und Feigling sein könnte. Dabei war dies weit mehr als nur unwahrscheinlich. Diebe und andere Kleinkriminelle wurden hart für ihre Taten bestraft, schon so manch Blender war auf dem großen Marktplatz, vor den Augen aller anderen, gesteinigt worden. Außerdem war der König ein Drache. Es war Ewigkeiten her, doch sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Ungeheuer wirklich fähig waren.
„Ich wage zu behaupten, dass ein Drache gar nichts fürchtet“, meldete sich nun wieder der Fremde zu Wort. Vela erschauerte leicht beim dunklen Bariton seiner Stimme und sah ihn an. Er wirkte sichtlich erheitert, allerdings war da auch diese männliche Arroganz in seinen Augen zu erkennen. Warum nur hatte sie dieses ungute Gefühl, dass er sie nicht für voll nahm?
Ihr Blick fiel zurück auf Mirra, die zu der schmalen Tür des Lokals zurückgekehrt war und dort ihren Posten bezogen hatte.
„Vela, du solltest wirklich verschwinden. Ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe, aber du sollst dem Fürsten des Südens ein wertvolles Amulett gestohlen haben“, verkündete sie, sowohl aufgeregt, als auch sichtlich eingeschüchtert. Ihr schien nicht wohl dabei zu sein, Vela so etwas zu unterstellen, dabei musste man wirklich davon ausgehen. Diese Frau hatte nie einen Hehl daraus gemacht, nicht zu der guten Gesellschaft zu gehören. Dies wurde offensichtlich, als Vela ihre Hand in den kleinen Beutel an ihrer Hüfte gleiten ließ und einen filligranen Halsreif herauszog, an dem ein blutroter Edelstein befestigt worden war. Dieser schien das Kerzenlicht einzufangen und in seinem Inneren zu bündeln, wodurch es so aussah, als würde der cabochon geschliffene Stein aus kristallisiertem Blut bestehen.
„Ich habe es nicht gestohlen. Es gehört mir“, erklärte Vela leise, während sie über die zuletzt geschehenen Ereignisse nachdachte.
Dieser Halsreif hatte einst, vor vielen Jahren, ihrer Mutter gehört und es war ihr ein Rätsel, wie der Fürst des Südens da heran gekommen war.
Balker, der Regent des südlichen Beleahs, stand unter dem Befehl des Königs, war aber dennoch ein Adeliger, der vielleicht kein Drache sein mochte, aber fast genauso einflussreich war wie einer. Da die Stadt zu groß war, hatte der König sie in mehrere kleinere Reiche einteilen müssen. Und der Süden war bekannt für seinen Reichtum. Es hätte Vela nicht überraschen sollen, dass dieses kostbare Schmuckstück dort gelandet war, erst recht wenn man bedachte, was ihrer gesamten Familie damals geschehen war. Allerdings hätte sie schwören können, dass keine Besitztümer übrig geblieben waren. Und wenn doch, dann hatte mit Sicherheit ihre Schwester alles an sich genommen. Vela biss die Zähne zusammen bei dem Gedanken, an ihren bösartigen Zwilling, welcher immer mit allem davon gekommen war. Anders, als sie selbst.
Jonz stieß in diesem Moment abermals einen Pfiff aus und beugte sich über die Theke, um das glänzende Metall in Augenschein nehmen zu können.
„Hast du keine Angst, dass der König dich dafür hinrichten lässt? Einen Fürsten zu bestehlen ist kein Kavaliersdelikt“, raunte er leise, in der Hoffnung, der Fremde möge es nicht hören. Auch ihm war dieser nämlich nicht geheuer.
Rasch ließ Vela das gute Stück wieder verschwinden.
„Ich habe vor gar nichts Angst“, erwiderte sie bloß müde, dann war ihr Gespräch beendet.
Mit wachsendem Interesse betrachtete Ryker jene Frau, die er schon seit geraumer Zeit beobachten ließ. Vela war nicht nur hübsch, sie war außergewöhnlich. Ihr herzförmiges Gesicht mit den mandelförmigen blassgrünen Augen, der kleinen Nase und dem vollen, schwunglosen Mund mutete durch und durch weiblich an, ebenso wie ihr voller Busen, die schmale Taille oder ihre sinnlichen Hüften.
Im krassen, ja bestialischen Gegenzug dazu, stand da ihre Rüstung, mit all den Waffen.
Ihr Waffenrock bestand aus dunkelrot gegerbtem Leder, war ärmellos und offenbarte mit seinem tiefen V-Ausschnitt ihre weiblichen Rundungen. Eine asymmetrische schwarze Knopfreihe zog sich bis zu ihrem Unterbauch hindurch, wodurch die Blicke auf die Ledergurte gelenkt wurden, welche den Waffengürtel bildeten. Das rote Leder umschmeichelte ihre Hüften und Beine in mehreren Bahnen, bildeten einen Rock, der ihr reichlich Beinfreiheit schenkte. Er endete an ihren Waden und gewährte einen Blick auf ihre blasse, makellose Haut. Eine einzige Bewegung genügte, um blitzenden Stahl erkennen zu lassen. Rykers Blick glitt wieder höher, hin zu ihren nackten Armen, auf denen deutliche Narben zu erkennen waren, sowie an ihrer linken Augenbraue.
Der Drache hätte beinahe den Kopf geschüttelt bei dem irrsinnigen Gedanken daran, dass er gerne die Kordel ihres langen, geflochtenen Zopfes gelöst hätte, um seine Hände in ihrem schwarzen Haar zu vergraben und somit überprüfen zu können, ob es sich genauso seidig anfühlte, wie es aussah.
Ihm wurde heiß als er grübelte, ob es bloß ein dummer Zufall war, dass ihre Rüstung ausgerechnet rot war.
Diese Frau wirkte in keinster Weise beunruhigt darüber, dass sie von seinen eigenen Leuten gejagt wurde, ganz im Gegenteil, sein Instinkt sagte ihm, dass sie sich einen Spaß daraus machte. Auch als das junge Mädchen an der Tür sie warnte, dass die Wachen näher kamen, blieb sie ganz ruhig und gelassen. Genau diese Eigenschaft war es, die Vela van Quan zu einer so ausgezeichneten Auftragskillerin machte. Recherchen hatten ergeben, dass sie die Tochter des berühmt berüchtigten Sektenführers Rutherford van Quan war. Eines Tages war dieser von der Bildfläche verschwunden und an seiner Stelle war Vela aufgetaucht. Niemand wusste was geschehen war und auch der König selbst hatte es nicht in Erfahrung bringen können. Dafür hatte er andere Dinge herausgefunden.
Mit ihren erst sechsundzwanzig Jahren war diese Frau bereits zu einer Legende geworden.
Nicht, weil sie den Job ihres Vaters übernommen hatte, sondern weil sie ihren eigenen Weg gewählt hatte. Und der war nicht minder blutig und grausam.
Ryker hatte sich nie die Mühe gemacht, in seinem Reich so etwas wie Ordnungshüter auszubilden, denn dazu waren die Auftragsmörder da. Sie töteten nicht nur, sondern nahmen auch andere Aufträge an. Detektivarbeit stand ganz weit oben auf der Liste ihrer Tätigkeiten. Dass dieses Land nicht im Chaos versank, war dabei kein Zufall. Die Männer und Frauen, die sich in diesem Terrain bewegten, ließen sich für ihre Mühen reich entlohnen. Auch Vela hätte sich mühelos ein Quartier im Süden einrichten können. Doch wie auch die meisten anderen zog sie von Gegend zu Gegend und war nie lange in ein und derselben Stadt zu finden.
Ryker wusste von seinen Drachenbrüdern, dass Vela auch in den anderen Städten nicht gerne gesehen war. Sie suchte ihre Jobs ganz gezielt aus, es waren fast immer die Morde und Hinrichtungen. Der König von Beleah fragte sich, was sie dazu bewog. War sie einfach ein schlechter Mensch? Mochte sie es, grausam zu sein? Oder steckte etwas gänzlich anderes dahinter?
Ryker wurde jäh aus den Gedanken gerissen als vor dem heruntergekommenen Schuppen Lärm ertönte, welcher dafür sorgte, dass sich seine Lippen zu einem schadenfrohen Grinsen verzogen. Dieses metallische Scheppern war ihm so vertraut, wie sein eigener dumpfer Herzschlag. Dass seine Wachen hierher kamen war nicht sonderlich verwunderlich, schließlich hatten sie ihn hier hereingehen sehen. Allerdings wunderte es ihn ein wenig, dass sie sich so viel Zeit gelassen hatten.
Neugierig drehte Ryker sich auf seinem Hocker herum, damit ihm auch bloß keine Kleinigkeit entging.
Die Tür der Stiege krachte auf und mehrere Männer in schweren Rüstungen kamen herein, während Mirra rückwärts stolperte und auf ihrem Hinterteil landete. Sämtliche Gäste, bestehend aus Kriminellen, Schurken und Heimatlosen, gerieten in Panik und sprangen fluchtbereit auf. Der Besitzer der Kneipe stieß einen ungehaltenen und bitterbösen Fluch aus, knallte sein Poliertuch auf den Tresen und schnappte sich eine Waffe, die er unter der Bar versteckt hatte. Dabei handelte es sich um eine Armbrust, von der Ryker glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben. Und zwar an Vela.
„Vela van Quan, du bist verhaftet! Leg die Waffen nieder und komm mit erhobenen Händen hierher!“, brüllte einer der Wachen, mit auf Vela gerichteter Lanze.
„An diesem Ort ist Gewalt strengstens untersagt! Verlasst diesen Ort, auf der Stelle!“, schnauzte Jonz zurück. Die Auftragskillerin selbst reagierte erst einmal gar nicht. Ryker gab zu, dass er diese Frau längst hätte selbst verhaften können, aber da war noch immer die Tatsache, dass niemand wissen durfte, wer genau der König eigentlich war. Dieses Verfahren diente der Sicherheit und war einstimmig von allen Drachen beschlossen worden. Zumal sie sich auf diese Weise den ein oder anderen Schabernack erlauben konnten. Doch es sollte auch Ausnahmen geben, wie eben jene Wachen, die dort standen.
Ryker hatte ihre Ausbildung nicht dem Zufall überlassen und beobachtete jetzt deshalb mit purer Zufriedenheit, wie nicht einer von ihnen in seine Richtung blickte. Auf diese Weise schöpfte niemand Verdacht. Seine Leute reagierten selbstverständlich nicht auf Jonz' Worte und ließen die Frau nicht auch nur für einen winzigen Moment aus dem Blick.
Ryker merkte wie fasziniert er von ihrer Ruhe und Gelassenheit war, als sein Blick sich noch weiter schärfte, dank seiner Pupillen, die sich zu Schlitzen verlängerten. Instinktiv atmete er tief ein, auch wenn er es am liebsten vermieden hätte. Der Gestank von Blut und Fäkalien stieg ihm in die Nase, ebenso wie die Angst und das Adrenalin der Menschen. Schweiß und Hormone waren eine widerwärtige Kombination, doch darüber hinaus vernahm er noch etwas anderes. Den süßen Geruch einer Frau, einem schwachen Hauch gleich, aber deutlich vorhanden. Erneut zuckten Rykers Mundwinkel.
Oh, das war interessant. Dank all des Leders und Stahls an ihrem Körper vergaß man schnell, dass sie noch immer eine Frau war.
Seine Gedanken endeten abrupt als die besagte Frau nun endlich reagierte. Scheinbar genervt knallte sie ihren Krug auf die Theke, dann drehte sie sich langsam auf ihrem großen Schemel um.
„Ich bin also verhaftet, ja? Na, dann kommt her und legt mir die Fesseln an“, meinte sie und streckte ganz brav ihre Hände aus.
Ryker musste sich beherrschen, um jetzt nicht loszulachen, denn Porter, der arme Junge welcher nun an sie herantrat, würde wohl gleich die Lektion seines Lebens erteilt bekommen. Nicht nur der König bemerkte sein erbärmliches Zittern, sondern auch Vela, die darüber nur müde lächeln konnte. Doch dann brach auch schon das Chaos aus. Vela zögerte keine Sekunde und knockte Porter so schnell und gekonnt aus, dass dieser nicht einmal die Zeit hatte, einen Laut des Schmerzes auszustoßen. Er sackte zu Boden wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte, alles weitere erfolgte Schlag auf Schlag.
Die Wachen stürzten sich auf Vela, während Mirra und auch alle anderen sich heimlich davonstahlen. Außer Jonz, der sich gemeinsam mit Vela in den Kampf stürzte. Doch diese wollte seine Hilfe nicht und stieß ihn grob und unbeholfen zurück, wobei sie ihm mit düsterer Stimme befahl, von hier zu verschwinden. Ryker irritierte ihr ungezügelter Zorn und fragte sich, was sie so in Rage brachte, weshalb er ungehindert in ihren Kopf eindrang und dort ihren Gedanken lauschte.
Nun, wo sie diesen Ort gefunden haben, wird hier niemals wieder jemand sicher sein!
Entspannt lehnte Ryker sich zurück, wobei er mit ansah, wie die Auftragskillerin den Speeren und Lanzen seiner Wachen auswich, elegant und einem Tanz gleich. Noch nie schien sie in ihrem Leben etwas anderes getan zu haben, als zu kämpfen. Sie musste nicht einmal von ihren eigenen Waffen Gebrauch machen, weil ihre Fausthiebe so gezielt und effektiv waren. Ryker war sich nicht sicher, was für eine Kampftechnik das war, doch sie schaltete einen Mann nach dem anderen so schnell und elegant aus, dass ein gewöhnlicher Mensch wohl Schwierigkeiten hätte, ihre Bewegungen nachzuvollziehen. Als der Frau jedoch klar wurde, dass sie gerade die gesamte Einrichtung des Lokals auseinander nahm, schien sich ein Schalter bei ihr umzulegen. Sie zückte einen Dolch aus einem ihrer Futterale und hielt sich damit die übrig gebliebenen Männer vom Leib, dann schlug sie plötzlich einen Haken und hechtete aus dem Lokal. Zurück blieb einzig und allein Ryker, mit seinen verwundeten und bewusstlosen Männern.
Unauffällig blickte sie von links nach rechts, dann riss sie den Steckbrief von der Steinwand vor ihr. Ein wenig damenhafter Fluch kam ihr über die Lippen, als sie ihn zerknüllte und achtlos auf den Boden warf, ehe sie sich die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht zog und in Bewegung setzte.
Irgendetwas lag heute in der Luft. Die Luft hier oben in den Bergen war immer klar und rein, ganz besonders, wenn der Himmel so wie heute, klar war und die Sonne unbarmherzig auf das trockene Gestein hinabschien. Aber heute war etwas anders. Es schien zu brizzeln und verursachte schon fast ein unangenehmes Brennen auf ihrer Haut. Hatte der Fremde im Jonz' Recht behalten und der König von Beleah war unterwegs? Aber warum waren dann all die Wachposten innerhalb der riesigen Stadtmauern plötzlich verschwunden?
Nach Velas fehlgeschlagener Festnahme war sie erst einmal untergetaucht, nun wo die Sonne allmählich immer tiefer wanderte und sich unmittelbar dem Horizont näherte, war sie wieder auf die Straßen getreten. Beleahs Straßen waren vielfältig und nicht nur von belebten Einkaufspassagen geprägt, sondern auch von Händlern und Betrügern, aus weit entfernten Gegenden. Kleine Wohnhäuser und Verkaufsstände wechselten sich ab und waren mal aus Lehm und Stroh erbaut, oder mal aus direktem Stein geschlagen. Der östliche Teil der Stadt war von Armut geprägt, weshalb Vela einer Bettlerin in zerlumptem Stoff eine Handvoll Goldmünzen in den Beutel warf, den die Frau vor sich hingelegt hatte. Einer Verehrung gleich beugte die Bettlerin den Oberkörper und Kopf zum Boden, einen geflüsterten Dank ausstoßend, doch Vela ging einfach weiter.
Der Osten bot ein armseliges Bild mit all den winzigen Hütten und verdreckten Straßen, weshalb Vela dachte, dass der König alldem ruhig mehr Beachtung schenken könnte, aber vermutlich waren einem Drachen die Menschen wohl egal. Sie waren nur Beute, mit der man entweder bloß spielte, sie um all ihr Hab und Gut betrog, oder zum Fraß vorwarf. Anders sah es da bei den Anderen aus. Nymphen, Feen, Wolfsmenschen und all die anderen Nachtgeister wurden weitestgehend in Ruhe gelassen. Viele von ihnen arbeiteten für den König, indem sie Schulden eintrieben oder jene Drecksarbeit erledigten, für die ein Mensch zu schwach war. Es mochte unfair sein, doch der Erfolg dieser Methoden sprach für den König. Menschen und Andere lebten in Harmonie miteinander und teilten sich Beleah und die anderen Städte. Sie alle waren eine Gemeinschaft, die versuchte, all die Drachen in dieser Welt zu überleben. Natürlich gab es auch Ausnahmen, doch darüber wollte Vela im Augenblick nicht nachdenken.
Ihr Blick fiel in diesem Moment auf eine kleine Gasse, von der sie ganz genau wusste, dass sie in den südlichen Teil der Stadt führte, welcher den beinahe schon schmerzhaften Kontrast zum Osten zeigte. Die aus Sand- oder Kalkstein erbauten Häuser dort machten mit ihren hölzernen Verzierungen, Blumen und hübschen Fenstern unmissverständlich klar, wie viel Geld die Bewohner besaßen. Die meisten von ihnen verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von edlen Schmuckstücken, dem Anfertigen neuer Häuser oder dem Betreiben von Gaststätten und Schänken. Die wirklich harte körperliche Arbeit überließen sie lieber dem restlichen Volk.
Stur wandte die Frau den Blick von der Gasse ab, auch wenn sie aus eigener Erfahrung wusste, dass die Leute dort ihre ganz eigenen Probleme hatten. Der Rest der Stadt hatte nicht auch nur den Hauch einer Ahnung, was in den Untiefen dieser Gemeinde vor sich ging, vermutlich nicht einmal der König selbst. Denn wenn er es gewusst hätte, wäre Vela nicht die, die sie heute war...
Vela biss sich auf die Zunge, bis es weh tat. Im Moment gab es nun wirklich wichtigere Dinge, über die sie nachdenken konnte. Zum Beispiel Jonz. Sie hatte ihm in seiner Kneipe klar gemacht, dass er am üblichen Treffpunkt – wenn es mal wieder Schwierigkeiten gab – auf sie warten sollte, doch er war nicht dort aufgetaucht, was einfach nicht seine Art war. Jonz hasste solch Unverschämtheiten, dementsprechend ließ er selbst auch niemals jemanden warten. Vela wusste sofort, dass etwas passiert sein musste, doch sie hatte ihn nirgends in der Stadt entdecken können. Ebenso wenig Mirra, die mit ihrem zarten Alter wohl in noch viel größeren Schwierigkeiten war. Nicht, dass Vela besorgt gewesen wäre. Sie betrachtete die zwei nicht als ihre Freunde oder gar Familie und sollte sich dementsprechend nicht um ihr Wohlergehen sorgen, sie war vielmehr um ihre eigenen Vorteile besorgt. Das Jonz war schon seit vielen Jahren der Ort, an dem sie sich zurückzog, doch nun wo die Wachen des Königs die schäbige kleine Absteige entdeckt hatten, konnte sie niemals mehr dorthin zurückkehren und dies ließ unbändige Wut in ihr aufsteigen. Was fiel diesen Schwachköpfen eigentlich ein, ihr das letzte Bisschen ihrer Normalität zu entreißen?
Vor vielen Jahren noch hatte sie ein kleines Haus ihr Eigen nennen dürfen, doch weil es eine zu große Gefahr darstellte, hatte sie es aufgegeben. Seitdem war sie immer in den unterschiedlichsten Städten unterwegs gewesen und hatte sich in Gaststätten zurückgezogen oder bei Leuten, die ihr noch einen Gefallen schuldeten. Es fand sich immer irgendwie eine Möglichkeit, doch mit dem Jonz war es einfacher gewesen. Jetzt gab es für sie genau zwei Optionen: Entweder sie suchte sich einen neuen Verbündeten, oder aber sie kehrte zurück zu ihren Wurzeln und ließ nichts und niemanden mehr an sich heran. Für Vela kam nur letzteres infrage. Es hatte sie unglaublich viel gekostet all ihre Gefühle wegzusperren und nicht mehr nach außen dringen zu lassen. Sie konnte gewiss nicht alles verbergen und doch genügte es, um den meisten Bewohnern dieses Reiches das Fürchten zu lehren.
Vela zog sich ihre Kapuze noch tiefer ins Gesicht als sie in eine Straße voller Händler einbog, die heute besonders voll und gut besucht war. Zum Großteil waren nur Menschen unterwegs, aber hier und da waren auch spitze Ohren, Kleinwüchsige oder über zwei Meter große Kreaturen zu erkennen. Um sie herum herrschte dichtes Gedränge, doch einer zwielichten Gestalt wurde kaum Beachtung geschenkt. Laute Stimmen boten einem eine breite Palette unterschiedlichster Ware an und brachten einen gewöhnlichen Menschen schnell in Verlockung.
Vela hatte keine Probleme damit sich durch die Massen zu schieben, ohne auch nur ein einziges Mal berührt zu werden. Es wäre ein Leichtes gewesen ihre Hand in einen Münzbeutel eines beliebigen Passanten zu schieben, doch solch niedere Verbrechen hatte sie nicht nötig. Mit ihren Aufträgen verdiente sie gut und ihre Erfolgsquote machte sie bei allen Interessenten äußerst beliebt. Dafür tat sie jedoch so einiges. Auch in diesem Moment, denn ihre zielgerichteten Schritte führten zur Schmiede der Stadt, wo sie einige neue Messer in Auftrag geben wollte. Eine stumpf gewordene Klinge ließ sich vielleicht ausbessern, doch war die Schneide erst einmal rissig und porös, taugte es nicht mehr viel, ein sauberer Schnitt wäre unmöglich.
In den vergangenen Jahren hatte sie viele gute Messer verloren, teilweise waren sie ihr sogar zerbrochen. Im Moment war es so ruhig, da war der Zeitpunkt günstig sich ein paar neue Messer zuzulegen.
Wäre da nicht dieser unerwartet dunkel klingende Ruf.
Vela van Quan!
Inmitten der Menschenmassen blieb die Frau stehen, dann blickte sie zurück auf den Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte. Sie kannte dieses Knurren, nur war sie sich nicht sicher, woher. Sie zuckte erschrocken zusammen als ihr plötzlich jemand ins Ohr knurrte, bloß stand niemand neben ihr. Keiner beachtete sie, das rege Treiben um sie herum fand kein Ende und doch musste da jemand sein.
Dann aber fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Ein Drache, ein König! Scheiße, das riecht nach Ärger, dachte Vela alarmiert und setzte sich schleunigst in Bewegung. Sie bog in eine müllbeladene kleine Gasse ein und nutzte die groben und griffigen Steine der Häuser, um auf die Dächer zu kommen, welche mal flach und mal schräg waren. Oben angekommen überblickte sie die Stadt und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung der unheimliche Ruf gekommen war.
Es löste Unbehagen in ihr aus zu wissen, dass der König in der Lage war, sie selbst auf diese Distanz aufzuspüren und mit ihr zu kommunizieren, denn dies gab Grund zur Annahme, dass er sehr gut über sie und ihre Taten im Bilde war. Und dabei war sie immer so bemüht, im Untergrund zu agieren.
Böse Verwünschungen ausstoßend sprang und kletterte Vela von Dach zu Dach, in Richtung der Stadtmauern. Wenn es wirklich Schwierigkeiten gab, dann würde der rote Drache seine Stadt und deren Bewohner nicht in Gefahr bringen, also musste sie wohl 'raus aus Beleah.
Vela!, ertönte es da erneut, drängender und harscher dieses Mal.
„Ich sagte es schon einmal, raus aus meinem Kopf!“, flüsterte sie angesäuert und ließ ein Haus nach dem anderen hinter sich.
Rasch hatte sie auch die Stadtgrenze passiert, die von zwei Wachposten bewacht wurde. Streng genommen konnte hier jeder ein und ausgehen, vorausgesetzt, er machte keine Schwierigkeiten. Eigentlich hätten sie Vela aufhalten müssen, doch dass sie es nicht taten, sprach nur zusätzlich für den Ernst der Lage. Was mochte wohl geschehen sein?
Die Auftragsmörderin fand sich gute zweihundert Meter hinter dem schwer passierlichen Bergpfad in einem großen Tal wider, welches einem mit der saftig grünen Wiese nur all zu schnell täuschte und in Sicherheit wog. Der Boden unter ihren Füßen war uneben und die Felsen, die das Tal umsäumten, waren so rau und bröckelig, dass loses Geröll schon den ein oder anderen unter sich begraben hatten. Der schmale Fluss, der sich zusätzlich in Schlangenlinien durch die Landschaft zog, war nicht minder gefährlich. Er mochte sanft und friedlich, wirklich idyllisch wirken, doch seine Strömung war tödlich. Selbst ein noch so guter Schwimmer kam ohne Hilfe nicht dort heraus.
Vela blieb wie vom Donner gerührt stehen, denn die Gefahr bestand nicht aus der Umgebung, sondern aus etwas anderem.
Unmittelbar vor ihr stand der rote Drache, unruhig von einer Klaue auf die andere tretend und die gigantischen ledrigen Schwingen so weit vom Torso gespreizt, dass man meinen könnte, er würde jeden Moment davon fliegen. Täuschte sie sich oder schienen die blutroten spitzen Schuppen von seinem Körper abzustehen?
Vela bemerkte wie angespannt und nervös das monströse Ungetüm war und richtete ihren Blick deshalb auf die anderen Leute.
Zuerst entdeckte sie einen Mann, der nicht nur viel zu klein geraten war, sondern auch ganz offensichtlich ein Adeliger. Vela erkannte die blauen Glubschaugen, die blonden Haare, den gedrungenen Körper und die weiße Uniform sofort. Sowohl das Hemd als auch die Hose waren mit goldenen Verzierungen und Mustern bestickt und so schön diese auch sein mochten, sie konnten dennoch nicht von der Hässlichkeit dieses Mannes ablenken. Bei ihm handelte es sich um Balker Hollister, dem Fürst des Südens. Wenige Meter hinter ihm hatte er zwei seiner Wachleute stehen, die Mirra und Jonz am Schlafittchen gepackt und ihnen augenscheinlich schon weh getan hatten.
Oh nein, dachte Vela, unsicher, ob der König von Beleah es wohl hören konnte. Jonz hatte dem Anschein nach wohl mehr Widerstand geleistet, denn er hatte nicht nur ein tiefviolettes Veilchen, sondern auch mehrere Platzwunden im Gesicht. Mirra hingegen war viel zu ängstlich, um Gegenwehr zu leisten, sie weinte bloß bitterlich. Mitleid hatte Vela keines übrig. Wie hatten die beiden sich bloß fangen lassen, sie waren in der Stadt doch sonst immer unauffindbar? Und was machte der rote Drache hier? Hatte Fürst Balker ihn hinzugezogen, um Vela einer angemessenen Strafe zuteil werden lassen? Hatte er sie absichtlich in eine Falle gelockt?
Sie bedachte den König mit einem bitterbösen Blick, dann riss Balkers Stimme sie aus den Gedanken.
„Vela van Quan, du hast etwas, das mir gehört“, rief er in ihre Richtung. Trotz seines hässlichen Grinsens wirkte er erbost, womit er verdeutlichte, dass er nicht zögern würde Mirra und Jonz wirklich etwas anzutun. Besser, sie ließ sich etwas einfallen. Vela wirkte beinahe gelangweilt als sie den vertrauten Halsreif aus ihrer Tasche zog und diesen provokant in die Höhe hielt.
„Meinst du den hier? Na dann los, komm und hol ihn dir!“, wetterte sie zurück und ließ das Schmuckstück mindestens genauso schnell wieder verschwinden. Sie wollte gar nicht erst verhandeln und erst recht wollte sie nicht darum betteln, dass Mirra und Jonz freigelassen wurden.
Fürst Balker schien ihr dreistes Verhalten gerade recht zu kommen, denn er lachte bitter auf und schnippte mit den Fingern, worauf seine Handlanger von Mirra und Jonz abließen und sich auf Vela stürzten. Sie konnte Jonz noch zu verstehen geben, dass er sich die Kleine schnappen und mit ihr verschwinden wollte, dann musste sie zusehen, nicht verletzt zu werden. Fäuste und kleine Messer flogen über sie hinweg, doch ihr Timing war perfekt und so duckte sie sich einfach unter ihnen hinweg. In Sekundenschnelle war sie hinter die zwei Männer getreten, um ihnen dann zwei einzelne Finger in die zentralen Nervenpunkte zu schlagen. Reize wurden blockiert und so sackten die Handlanger leblos und doch bei vollem Bewusstsein einfach zusammen.
Ein wenig enttäuscht starrte Vela auf die zwei Männer herab. Gewöhnliche Menschen waren so langsam, dass sie schon lange keine Herausforderung mehr für sie darstellten. Anders verhielt es sich da wohl beim Fürsten. Vela wusste nicht, ob Balker auch der menschlichen Rasse angehörte, dabei spielte es eigentlich keine Rolle. Wenn der Drache hinter ihr auf der Seite seines Untergebenen war, dann waren jegliche ihrer Angriffe nutzlos und wohl eher nur eine Gefahr für sie selbst.
Als sie über ihre Schulter blickte musste sie allerdings mit Erstaunen feststellen, dass der Drache sich wie eine Katze auf seine Hinterläufe gesetzt hatte und sie neugierig und wachsam zugleich beobachtete. Wollte er sie denn gar nicht aufhalten oder gefangen nehmen? Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend blickte Vela wieder Balker an. Sein Unmut über die Unfähigkeit seiner Ritter war eindeutig und äußerte sich in einem Fluch, während er selbst einen Dolch zog und damit auf sie zu rannte. Bloß weil sie noch nicht ausgelastet war, ließ Vela sich auf diese Handgreiflichkeit ein. Und Balker war gar nicht mal so ungeschickt. So moppelig und ungelenk er auch erscheinen mochte, er fuchtelte so wild und schnell mit dem Dolch herum, dass Vela wirklich aufpassen musste. Balkers Klinge streifte ihren Arm und hinterließ einen brennenden Schnitt, der ihr klarmachte, dass sie keine Zeit für solch Spielchen hatte. Sie schnappte sich den Arm des Fürstens und riss daran, warf sich auf ihn und begrub ihn mit einem harten Aufprall unter sich.
„Na schön, dann kommen wir mal zur Sache“, murmelte sie und hielt ihm eines ihrer Messer an den Hals. „Hast du die ganzen Steckbriefe aufhängen lassen? Und wie bist du an diesen Halsreif gekommen?“
Ihre Geduld schwand Stück für Stück als die Zeit verstrich und Balker keinerlei Anstalten machte, mit der Wahrheit herauszurücken.
Vielleicht war das aber gar nicht mal so übel, denn wenn Vela die Möglichkeit gehabt hätte, würde sie es vermeiden, dass der König von Beleah einen Teil der Wahrheit, ihrer Geschichte erfuhr. Wenn er nicht schon längst über alles im Bilde war, hieß es...
Vela ritzte Balkers Haut an und wollte ihn somit zum Reden bringen, doch sie hatte einen Fehler begangen. Ihr war entfallen, dass ja auch der Fürst mit einer Klinge ausgestattet war und eben diese Klinge jagte er ihr genau in diesem Moment in den Oberschenkel, welcher ihn gemeinsam mit dem Rest ihres Körpers auf dem Boden hielt. Vela brüllte auf vor Schreck und reagierte instinktiv auf den Angriff, indem sie ihren Angreifer zum Opfer machte und ihm blitzschnell die Kehle durchschnitt. Vela erschauerte schon längst nicht mehr bei dem Gefühl des heißen und klebrigen Blutes, welches ihr über die Hand lief und den Griff des Messers rutschig machte.
Balker gab ein hilfloses Gurgeln von sich, doch er hatte keine Chance. Binnen weniger Augenblicke war all sein Lebenssaft versiegt und sein Körper war nur noch eine kalte und blasse Hülle, absolut leblos.
Vela sprang auf, panisch von dem Gedanken angetrieben, dass der König sie für dieses Vergehen ebenfalls töten lassen würde. Es würde sie nicht wundern, wenn er sie an einem Stück verschlingen würde und dies jagte ihr erst recht Angst ein. Ihr Körper wollte ihr jedoch nicht so ganz gehorchen, denn kaum dass sie stand, gab ihr verwundetes Bein nach und ihr Knie traf auf die Erde. Velas Atem wurde flacher als sie all das Blut sah, welches ihr über die Haut und das Bein hinab lief.
„Scheiße“, flüsterte sie, sich selbst für ihre Unachtsamkeit verfluchend. Sie verlor viel zu viel Blut und wenn sie sich nicht umgehend darum kümmerte, dann...
Warum hast du ihn getötet?
Das laute Donnergrollen zwischen all ihren Gedanken brachte Velas Kopf beinahe zum bersten und ihr Herz für einen Moment zum Stillstand. Als es seinen Rhythmus wieder aufnahm, schlug es gleich doppelt so schnell. Sie riss den Kopf hoch und blickte dem roten Drachen direkt in die unheimlichen goldenen Augen. Der böse und tödlich anmutende Ausdruck in ihnen passte hervorragend zu seinem vorwurfsvollen Tonfall, welcher ihr erneut einen Schauer über den Rücken jagte, als er knurrend nach einer Antwort verlangte.
Doch alles was Vela tat, war ihn fassungslos anzustarren. Warum tat er denn nichts, um Himmels willen? Er müsste sie foltern für das, was sie soeben getan hatte! Doch es wurde noch abstruser.
Ein langsames, provokantes Klatschen ertönte und lenkte ihrer beider Blicke auf einen weiteren Mann, der gemächlich auf die groteske Szene zukam und Vela dabei nicht aus den Augen ließ.
„Welch ein Spektakel!“, lachte er, mit purer Belustigung in den blassblauen und wässrigen Augen. Vela verstand die Welt nicht mehr. Wer war dieser Kerl mit dieser schwächlichen Gestalt? Mit der bleichen Haut und den eingefallenen Wangen wirkte er unglaublich kränklich und seine schmale und knöcherne Gestalt trug nur zusätzlich dazu bei.
„Vela van Quan, ich bin zutiefst beeindruckt!“, fuhr der Störenfried fort. Die Frau wollte ihn nicht aus den Augen lassen, bemerkte aber dennoch wie sich die Haltung des roten Drachen veränderte und sah deshalb zu ihm. Er stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und stellte sich kurz auf seine Hinterläufe, dann machte er Anstalten Vela die Sicht zu versperren. Was ging hier eigentlich vor sich?
Völlig egal wer dieser Kerl auch sein mochte, darauf konnte sie sich jetzt nicht konzentrieren, sie musste sich endlich um ihre Wunde kümmern, ihr wurde allmählich schwindelig!
„Bleib locker, Ryker. Ich bin nur hier, um dieser Schönheit hier eine Nachricht zu überbringen.“
Vela war wie versteinert als diese Worte an ihre Ohren drangen. Immer mehr Fragen brannten ihr unter den Nägeln, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie ansetzen sollte.
Ryker, dachte sie, den roten Drachen anstarrend. Sein Name war Ryker und der schmächtige Kerl kannte ihn. Was zum...? War er ein Teil des Königreichs? Ein Freund des Königs? Ein Verwandter? Niemand wusste wer der König war!
Vela!, ertönte es da plötzlich in ihrem Kopf. Es überraschte sie zu hören, wie leise und warnend die Stimme des Drachen war.
Rühr dich nicht von der Stelle und sieh ihn nicht an. Das ist Thindrel, König von Leroy.
Es kostete Vela all ihre Selbstbeherrschung sich ihren Schock über diese Nachricht nicht anmerken zu lassen. Was? Der? Dieser so schwach wirkende Typ sollte ein Drache sein? Das war absolut unmöglich! Ein Drache zeigte sich nicht in seiner Menschengestalt, niemals! Es war quasi verboten!
In ihrem Kopf drehte sich alles. Hätte sie doch bloß nicht auf den Ruf des roten Drachen gehört.
Ryker, ging es ihr erneut durch den Kopf und dieses Mal hatte er es wohl gehört, denn er starrte sie so seltsam an. Der kleine magische Moment war vorbei als Vela ein Fauchen ausstieß und sich ihre Tasche vom Gürtel riss, um deren Inhalt wutentbrannt auf der Erde zu verteilen.
„Ich hab jetzt keine Zeit für diesen Scheiß“, begann sie und blickte kurz zu Thrindrel. „Sag, warum du hier bist und dann verschwinde.“
Vela begann zu zittern und dies lag nicht an ihrem Blutverlust oder ihrem langsam taub werdenden Bein, sondern an der Tatsache, dass gleich zwei todbringende Monster unmittelbar vor ihr standen. Der König von Beleah war dabei wohl das kleinere Problem. Vela begann, sich die nötigen Materialien zusammen zu suchen, um ihre Verletzung versorgen zu können. Balker musste ihre Arterie knapp verfehlt haben, also entweder vernähte sie den Stich, oder aber sie brannte ihn zu. Nur leider befand sich nichts als Mull und andere Tücher in ihrem Beutel.
„Mist, Mist, Mist“, fluchte sie leise und band rasch mehrere Stoffbahnen um ihren Oberschenkel, um weiteren Blutfluss abzuschnüren. Gleichzeitig vernahmen ihre Ohren den unangenehm kratzigen Klang von Thindrels Stimme.
„Ich soll dir eine Nachricht überbringen. Von deinem Vater.“
Vela blinzelte perplex, ehe ein kurzes und bitteres Lachen aus ihr herausbrach. Verdammt, das war ihr schon seit Jahren nicht mehr passiert!
„Ha, der war gut. Mein Vater ist tot“, spieh sie, dann wurde es Zeit, dass sie wieder auf die Beine kam. Sie musste schleunigst hier weg, denn in diesem Augenblick begann gerade alles furchtbar schief zu gehen. Um dies zu wissen, hätte sie nicht einmal eine Auftragsmörderin sein müssen.
„Ach ja? Und wie konnte er mit dann das hier geben?“, erwiderte Thrindrel und hielt ein kleines Stück gefaltetes Papier in die Höhe.
„Er will dich sehen.“
Vela zögerte anfangs, doch trotz Rykers Warnung sie möge sich nicht von der Stelle rühren, ging sie langsam dem anderen Drachen entgegen. Sie hatte geglaubt, all ihre Gefühle endgültig hinter sich gelassen zu haben, doch ihr misshandeltes Herz machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Sie war wütend, weil sie sich von diesem Thindrel verarscht fühlte, doch auch Angst machte sich in ihr breit. Es war völlig unmöglich, aber was, wenn ihr Erzeuger wirklich noch lebte? Dann wären all ihre Mühen, all der Schweiß und die Tränen, völlig umsonst gewesen! Erinnerungen ergriffen von ihr Besitz, doch ein Blinzeln genügte, um diese zu vertreiben. Nein, diese Zeiten waren längst vorbei. Sie erlaubte es niemandem mehr einen Blick auf ihre Gefühle oder Gedanken zu werfen und so ballte sie ihre zitternden Hände kurz zu Fäusten, ehe sie Thindrel das Papier aus den Fingern riss.
„Das soll wohl ein Witz sein. Ich habe ihn selbst getötet!“, fauchte sie dabei und faltete den Zettel auseinander. Fassungslos starrte Vela auf die kleine gezeichnete Karte, auf der ein kleines Haus markiert war. Es lag im Süden Beleahs.
„Woher hast du das?“, flüsterte sie, ohne den Blick zu heben. Thindrel stieß ein unechtes und irre wirkendes Kichern aus und machte sie nur noch nervöser, was ihr schwerfiel, es sich selbst auch nur einzugestehen.
„Na, von Rutherford“, wieherte er, womit sich die Antwort nicht veränderte. Ihr Vater sollte für all dies verantwortlich sein.
Bei dem markierten Ort auf der Karte handelte es sich um jenes Haus, welches sie vor Ewigkeiten aufgegeben hatte. Und außer ihrer Familie hatte niemals jemand davon gewusst. Selbst ihre Schwester hatte es nicht gewusst.
Vela, deine Wunde. Ich werde sie versorgen, meldete Ryker sich zu Wort, ohne sie aus den Augen zu lassen. Sie reagierte allerdings gar nicht, war zu sehr auf das fokussiert, was Thindrel gerade sagte.
„Dein Vater wartet in...“
„Nein!“, schrie Vela regelrecht und konnte ihn somit rechtzeitig zum schweigen bringen. Ich bin schon ewig nicht mehr laut geworden, dachte sie, während sie den Brief zerknüllte und sich abwandte. Selbst wenn dieser Kerl die Wahrheit sagte und ihr Vater noch am leben war, spielte es keine Rolle. Sie würde ihn gewiss nicht aufsuchen und noch ein weiteres Mal töten.
Thindrel zuckte mit den Schultern und kehrte ihr ebenfalls den Rücken.
„Tja, ich habe meinen Teil erledigt. Tu', was du nicht lassen kannst, aber es steht dir dennoch frei, mich jederzeit in Leroy zu besuchen“, verkündete er, dann setzte er sich auch schon in Bewegung und ließ sie mit dem roten Drachen zurück.
Sofort verschwand ein Teil der Anspannung aus Velas Körper. Sie wollte ihrem Ärger Luft machen, wollte es aufgrund des Drachen aber nicht riskieren. Zu groß war das Risiko, dass er etwas anderes in ihr sah, als eine grausame und kaltblütige Frau.
Ihn ignorierend wollte sie sich aus dem Staub machen, doch gerade als sie auch diesem König den Rücken gekehrt hatte, ertönten plötzlich ganz andere Geräusche hinter ihr. Da war nicht dieses typische Rauschen von ledrigen Schwingen oder das Schnaufen aus den Nüstern, sondern menschliche Schritte, die sich ihr langsam näherten. Oh nein, dachte sie panisch, zu einem Sprint ansetzend, da legte sich plötzlich eine große Hand über ihre Augen und verdunkelte ihre Welt.
Ihre Sinne wurden überwältigt als mehrere Dinge auf einmal geschahen. Ein großer muskulöser Körper drängte sich an ihren Rücken und ein unbeschreiblicher Geruch drang ihr in die Nase. Herb und würzig, eine Mischung aus Rauch und Hölzern, vielleicht sogar ein paar Kräutern.
Ihr Puls beschleunigte sich und ihre Knie wurden weich, auch wenn sie sich diese Reaktion nicht erklären konnte. Es musste am Adrenalin liegen, welches ihr noch durch die Venen rauschte und es in ihren Ohren dröhnen ließ. Jene Hand, die ihre Augen bedeckte, brachte nicht das geringste, früher oder später würde sie in das Antlitz dieses Mannes blicken und dies wäre ihr Untergang! Er würde sie gefangen nehmen und töten, wenn sie nicht endlich etwas unternahm.
„Schön hier geblieben, kleine Jägerin“, dröhnte eine tiefe und raue Stimme an ihrem Ohr, die ihr unangenehme Gänsehaut bereitete. Einen Moment mal...
Hatte sie diese Stimme nicht schon irgendwo einmal gehört? Vela strengte ihre grauen Zellen an, doch sie kam nicht darauf, wo sie diesen drohenden Klang schon einmal gehört hatte. Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, dass sie völlig lebensmüde sein musste als sie antwortete: „Du magst ein König sein, aber selbst einen Befehl von dir werde ich nicht befolgen.“
Vela versteifte sich als sie das Vibrieren in ihrem Rücken spürte, welches von einem Knurren, tief aus seiner Brust zeugte.
„Hast du es so eilig zu sterben, Weib?“
Halt bloß den Mund, dachte sie energisch, doch so gut hatte sie sich dann auch wieder nicht unter Kontrolle.
„Würdest du mich töten wollen, hättest du es schon längst getan“, flüsterte sie grinsend, froh darüber, dass er hinter ihr stand und es somit nicht sehen konnte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er ihr nun den Hals umgedreht hätte, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In diesem Augenblick schien er jedoch etwas anderes mit ihr vorzuhaben, denn als sie sich befreien wollte, drängte er sie zurück an seinen Körper, direkt an seine Brust, wie sie vermutete. Vela geriet in Versuchung sich an ihn zu lehnen, weil er so herrlich duftete und sich so unglaublich stark anfühlte. Selbst durch ihre lederne Rüstung hindurch konnte sie die sengende Hitze seines Körpers spüren. Ob er wohl gut aussah? Nicht so wie dieser Thindrel gerade eben, sondern... männlicher? Rauer? Gefährlicher? Ihre Ohren vernahmen das leise Rascheln von Kleidung und ein seltsam feucht klingendes Reißen, dann hatte sie plötzlich das eigenartige Gefühl, etwas vor dem Gesicht zu haben. Seine Hand lag jedoch noch immer über ihren Augen.
„Ich werde dich ein andern Mal töten, Vela. Und es wird mir eine Freude sein“, raunte er ihr so unverhofft und drohend ins Ohr, dass sie erschauerte und vor Schreck ein Keuchen ausstieß. Dann presste er ihr etwas auf den Mund. Alles in Vela sträubte sich, sie wollte um sich schlagen und ihre Waffen zücken, aber das Risiko war einfach zu hoch. Wo lag die Grenze des Königs?
Sie öffnete den Mund, um wenigstens beißen zu können, da strömte etwas heißes, dickflüssiges hinein. Der unerwartet schwere und metallische Geschmack, zusammen mit der Konsistenz brachte Vela zum würgen, ihr Magen hob sich bereits, da wurde ihr der Mund zugedrückt und der Kopf brutal in den Nacken gerissen.
„Schluck es!“
Wie ein Peitschenhieb knallte des Mannes Stimme durch die Luft und so atmete sie durch die Nase gegen die Übelkeit an und schluckte den Schwall Blut in ihrem Rachen hinunter. Röchelnd und würgend riss sie sich schließlich von dem Drachen los, völlig egal ob sie nun sterben würde oder nicht. Trotz dass sie ihre Sinne nicht alle beisammen hatte und nur schwer atmen konnte, zückte Vela ihre Klingen, wirbelte herum und ging auf den Mann los. Zumindest wollte sie das, denn als sie ihn erst einmal erfasst hatte, glitten ihr die Messer beinahe aus den Händen.
„Du!“, stieß sie bebend vor Zorn aus und ging sogleich einen Schritt zurück. Vor ihr stand ein Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren, markanten Gesichtszügen und faszinierenden Augen, die nicht mehr tiefschwarz waren, sondern strahlend golden, mit schlitzförmigen Pupillen in der Mitte, die sie anstierten. Es war jener Fremde auf dem Jonz, welcher so ungewöhnlich gelassen geblieben war. Und in diesem Moment war ihr auch klar, warum.
Vela wurde siedend heiß als der Zorn sie überwältigte. Das alles war seine Schuld! Seinetwegen waren die Wachen ins Jonz gekommen, seinetwegen war ihr dieser Ort genommen worden und nur seinetwegen war sie jetzt überhaupt erst in dieser Situation!
Angewidert sah sie mit an, wie sich die attraktiven Züge des Mannes verzogen und ein Zähnefletschen entblößten, welches wohl ein Grinsen darstellen sollte, wenn auch ein gefährliches, furchteinflößendes.
Ryker, ging es ihr durch den Kopf, worauf sie plötzlich etwas in seinen faszinierenden Reptilaugen aufblitzen sah. Was war das?
Vela, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf, was ein Zucken durch ihren Körper jagte. Dann konnte er sie also auch in dieser Gestalt hören? Oh oh...
Velas Lippen teilten sich, bereit ihm die boshaftesten und grausamsten Dinge zu wünschen, da spürte sie ein dünnes Rinnsal Blut in ihrem Mundwinkel und ein Stechen in ihrem Bein, welches sie daran erinnerte, was ja gerade geschehen war. Sie schüttelte sich geekelt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, während sie ihr Bein betrachtete, welches nicht nur schmerzte, sondern auch gerade begann zu kribbeln und unerträglich heiß wurde. Sie riss an den Stoffstreifen und wagte es dann nicht mehr, sich zu rühren. Sie hatte schon einiges in ihrem Leben ertragen müssen und dazu zählten definitiv schlimmere Verletzungen als das hier, doch mit bloßen Augen zu sehen, wie die Stichwunde in ihrem Schenkel kleiner wurde, brachte sie beinahe um den Verstand. Ich glaube, ich fall in Ohnmacht, dachte sie und kniff die Augen zu, in der Hoffnung, ihr Verstand möge ihr nur einen Streich spielen. Doch als sie ihre Augen wieder öffnete, war die Wunde fast ganz verschwunden.
Was, zur Hölle, war das? Sämtliche Fragen, alles war sie gerade noch gedacht hatte, war wie weggeblasen. Sie war nicht einmal mehr in der Lage dem König irgendwelche Beleidigungen an den Kopf zu werfen, so verwirrt war sie. Ihr war schwindelig und in ihr kam das Bedürfnis auf, sich schlafen zu legen, aus diesem Grund hob sie stolz das Kinn und spuckte aus.
„Fahr zur Hölle, Drache. Auf dass deine Stadt dem Erdboden gleich gemacht wird.“Dann drehte sie sich um und sprintete los.
Für ihr loses Mundwerk sollte ihr ihr wirklich den Hals umdrehen, dachte Ryker angesäuert, zu gleichen Teilen aber auch belustigt und beobachtete, wie die Auftragsmörderin den Bergpfad verließ. Vermutlich würde sie in sein Reich zurückkehren, ohne von seinen Wachen auch nur gesehen zu werden.