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In einer Welt, in der nicht nur Menschen existieren, sondern auch Drachen, Feen und allerlei anderer Übernatürliche, gelten andere Regeln...
Die Nymphe Xhoma ist schon lange auf der Suche, nach sich selbst. Anders, als bei den anderen ihres Stammes, schlummert in ihr ein Freiheitsdrang, der ihr unerklärlich erscheint.
Als sie eines Tages den Auftrag erhält, dem Drachenkönig von Keelerah einen Brief auszuhändigen, sieht sie ihre Chance. Sie begibt sich auf eine lange Reise und lernt dabei Cain kennen, den Drachen der Wüstenstadt. Aber dieser weist sie und die Bitten ihres Volkes ab, droht der jungen Nymphe all ihre Hoffnungen und Träume zu nehmen.
Werden die beiden einen Weg finden, den Frieden und sich somit gegenseitig zu unterstützen? Oder ist Cain wirklich ein Barbar und Schlächter, so, wie alle behaupten?
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Der Tag war noch längst nicht angebrochen, da rollte die zierliche Nymphe sich aus ihrer einst selbst geknüpften Hängematte und schlich sich barfuß aus ihrer Hütte.
Man würde ihr die spitzen Ohren langziehen, wenn jemand von den Oberhäuptern herausfand, dass sie zu dieser Stunde schon über den Wipfelpfad nach draußen schlich. Aber sie konnte nicht anders. Schon seit geraumer Zeit erwachten ihre Sinne noch vor dem Morgengrauen zum Leben und da es zu diesem Zeitpunkt noch nichts zu tun gab, tat sie jeden Morgen genau das Gleiche.
Kaum war sie aus der Hütte heraus, bog sie nach links ab, schlich lautlos an der Kinderstube vorbei, winkte den ersten Spatzen und Drosseln auf ihren Ästen zu und blieb am Ende der Holdzielen stehen, um mit einem gekonnten Satz auf die mehrere hundert Jahre alte Eiche zu springen und in deren Wipfel zu klettern.
Fast ganz oben angekommen, lehnte sie sich gegen den tragenden Ast inmitten des üppigen Blattwerkes, ließ die Beine baumeln und starrte verträumt über den Lereos-Wald hinweg, dem fesselnden Sonnenaufgang entgegen. Kaum zu glauben, wie still es hier sein konnte. Der Wald war mit all seinen Bewohnern nicht nur ein sehr mystischer Ort, sondern auch eine riesengroße Gefahr, die von vielen unterschätzt wurde. Einst auch von ihr selbst.
Sie war noch eine kleine Nymphe gewesen, keine fünf Jahre alt, da war sie blindlings in den Wald gelaufen, wollte sich aus einem Spaß heraus vor den Lehrmeistern verstecken, da war sie einem Wolfsmenschen in die Fänge geraten, der sie teuer auf einem Markt verkaufen wollte. So klein, wie sie einst gewesen war, hatten wenige kraftvolle Hiebe ausgereicht, um sie gefügig zu machen, aber es mussten viele Jahre vergehen, ehe sie sich von diesen seelischen Narben erholt hatte.
Es war Lijin gewesen, dem ihr Verschwinden aufgefallen war. Nur ihm konnte sie ihr Leben verdanken. Von diesem Tag an wusste sie, wie wichtig es war, auch schon den Kleinsten und Jüngsten beizubringen, wie sie sich dort draußen zu verhalten hatten. Nun, die Zeiten hatten sich allerdings ein wenig verändert.
Jetzt, da Frieden herrschte, kam niemand aus einem anderen Volk auf die Idee, eine Nymphe zu entführen. Andere wollten nicht gegen das Friedensabkommen verstoßen, aber Ausnahmen würde es wohl auch weiterhin geben. So wusste sie zum Beispiel von einer alten Hexe, die häufig bei Vollmond durch den Wald schlich, oder von einigen Alchemisten, die auf der Suche nach wertvollen und seltenen Zutaten waren, wie Feen-Membranen. Sie wusste dies, weil ihr Volk in jeder Generation Wächter und Späher ausbildete, die jede Ecke des Waldes sorgsam im Blick behielten. Sie duldeten keinen Verrat an der Natur, die immer so gnädig mit ihnen war.
Ohne die Natur gäbe es keine Nymphen und ohne sie gäbe es wiederum keinen Wald. Auch die Feen waren dieser Meinung, auch wenn sie den Lereos längst nicht so sehr huldigten, wie der Stamm der Nymphen.
Aufgrund der strengen Traditionen und Bräuche, war in ihr schon so oft der Wunsch aufgekommen, auch mehr über die anderen Völker in Erfahrung zu bringen. Sie wollte reisen und all die anderen Kulturen kennenlernen, aber dergleichen wurde nicht von den Oberhäuptern geduldet. Sie sagten, dass es viel zu gefährlich war und Nymphen nicht dafür gemacht waren, um auf Entdeckungsreise zu gehen, aber wie kam es dann, dass die Evolution sie dann so reich mit diesen Fähigkeiten beschenkt hatte? Warum besaßen sie alle diese langen Klauen, wenn sie sich damit nicht verteidigen sollten? Warum konnten sie in gewisser Weise mit den Tieren kommunizieren, wenn sie keine Feinde, sondern Freunde waren? Ganz gleich wer sie war oder wo sie herkam, sie war davon überzeugt, dass sie sich überall auf der Welt Freunde machen konnte.
Schon oft war ihr deshalb Naivität an den Kopf geworfen worden, aber nie war ihr deshalb in den Sinn gekommen, mit dem Lernen aufzuhören. Sie sprach nicht nur die Sprache der Nymphen oder der Menschen, sondern auch die der Feen, der Wolfsmenschen, der Nixen oder der Harpyen. Im Augenblick war sie auch dabei, die der Greifen zu lernen, aber davon erfuhr besser niemand etwas. Sie könnte den ganzen Tag darüber nachdenken, da drang plötzlich das leise Piepen von Vogelküken an ihre Ohren.
Lächelnd hob sie den Blick. Sie wusste ganz genau, dass sich rechts über ihr das Nest eines Falkenpaares befand, wurde aber von einem seltsamen Gefühl erfasst als sie bemerkte, dass sie fast in das Nest hineinblicken konnte. Beim letzten Mal war das noch nicht so gewesen und sie hatte sich ganz schön lang machen müssen. Besorgt betrachtete sie ihre langen Finger.
Das war gar nicht gut. Vor etwas längerer Zeit schon, waren bei ihr unerklärlicher Weise Wachstumsschübe eingesetzt. Wenn die nicht bald ein Ende nahmen, wäre sie demnächst gut zwei Köpfe größer, als der Rest ihres Stammes. Bisher war von noch niemandem ein Wort darüber gefallen, aber sie bemerkte die eigenartigen und stechenden Blicke der anderen durchaus. Bisher hatte sie kein Selbstvertrauen gehabt, um die Oberhäupter von sich aus danach zu fragen. Sie konnte nicht sagen, ob es nur ein harmloser Gendefekt war, oder gar eine schlimmere Krankheit, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, war sie viel zu ängstlich, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Es gab nicht viele Dinge, die sie fürchtete, aber der Trubel in einer Drachenstadt oder unveränderliche Dinge schafften es sehr wohl, sie zu ängstigen. Ihre Sorgen gerieten vorerst in Vergessenheit, als in diesem Augenblick die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht kitzelten. Auch die piependen kleinen Küken, die sie hatte begrüßen wollen, entfielen ihr.
Sie lehnte sich einfach zurück und genoss den traumhaften Anblick des riesigen Feuerballs, der den wolkenlosen Himmel in ein loderndes Panorama verwandelte. Ob der Sonnenaufgang wohl in jedem Teil dieser Welt so wunderschön war? Wie schade es sein musste, dass eine Nixe beispielsweise diesen Anblick niemals würde genießen können...
„Xhoma!“
Der ungeduldige Ruf riss die Nymphe aus ihren Träumereien und ließ sie verwundert durch das üppige Blattwerk der Eiche schielen.
Lijin klang hellwach, was alles andere als typisch war. Hatte sie ihn aus Versehen geweckt oder war ihr mal wieder ein Fehler unterlaufen, den er bestrafen musste? Von Müssen konnte wohl keine Rede sein, viel zu oft schon war es ihr so vorgekommen, als machte dieser Idiot sich einen regelrechten Spaß daraus, sie zu triezen.
Je länger sie Lijin würde warten lassen, desto mehr Ärger bekäme sie, also kletterte sie brav die dicken Äste hinunter und sprang ihm genau vor die Füße. Mit einem davon tippte er ungeduldig im Stakkato auf die Holzplanken des Wipfelpfades.
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, wollte sie wissen. Noch nie war ihr in dieser Früh jemand begegnet, selbst Lijin hatte sie schon unzählige Male in seiner Hängematte liegen und schlafen sehen. Als Bote und Leibeigener der Oberhäupter konnte er es sich nämlich durchaus mal erlauben, ein wenig länger dem Schlaf zu frönen. Er konnte also genauso wenig von ihren früh morgendlichen Spaziergängen wissen, wie auch die Kinder, die noch in ihren Bettchen lagen. Dachte sie zumindest, denn Lijins Augenrollen jagte ihr einen kleinen Schrecken ein.
„Ich weiß mehr, als du denkst, meine liebe Xhoma. Unter anderem, dass du schon wieder gewachsen bist und mir eine Schrift gestohlen hast, die vom Volk der Greifen, aus der Suhma-Wüste stammt.“
Seine weiche Stimme war genauso tadelnd wie sein Blick, aber ein schlechtes Gewissen bekam sie dadurch nicht. Im Grunde wussten sie beide, dass er sich längst an ihre kleinen Eskapaden gewöhnt hatte.
„Selbst schuld, wenn du immer alles vor mir versteckst“, gab Xhoma nur schulterzuckend zurück, ohne auf das andere, heiklere Thema einzugehen.
„Was willst du so früh von mir?“, hakte sie dann nach, während sie leise zurück zu ihrer Hütte schlichen. Außer ihnen waren jetzt mit Sicherheit nur die wichtigeren Bewohner auf den Beinen, wie eben jene Wächter oder Späher.
Xhoma stutzte als sie sah, dass Lijin auf ihre Frage hin auf einmal ungeheuer geknickt wirkte. Seine fliederfarbenen Augen, die sonst immer sehr wachsam funkelten, schienen sich regelrecht zu verdunkeln, nahmen die Farbe von verwelkten Krokussen an, die das Ende eines Winters ankündigten. Xhoma fragte sich, was geschehen sein musste, damit sich solch sorgenvoller Ausdruck auf seinem femininen Gesicht abzeichnete.
„Die Oberhäupter verlangen nach dir“, sagte er bloß, was sie stocksteif stehen bleiben ließ.
Was? Aber warum, ging es ihr nervös durch den Kopf. Wollten sie sie etwa für etwas bestrafen? Sie wollte ihrem Redefluss nachgeben, da starrte sie Lijin plötzlich an. Nun war ihr klar, warum er so betroffen wirkte.
„Du weißt, worum es geht, nicht wahr?“, fragte sie scharf. Sie wusste, dass er ihr kein Wort sagen würde, so war er schon immer gewesen, aber ein wenig übel nahm sie es ihm schon. Es gab einen guten Grund, warum sie so oft zusammen waren und er ihre Bezugsperson war, denn er war in gewisser Weise ihr großer Bruder. Nicht blutsverwandt, doch weil von ihren Eltern seit jeher jede Spur fehlte, war er für sie quasi Mutter, Vater und Bruder geworden. Diese Aufgabe hatte er nicht freiwillig übernommen, sondern war ihm aufs Auge gedrückt worden, aber noch nie war ihm eine Beschwerde über die Lippen gekommen, immerzu beschützte er sie, auch wenn dies manchmal bedeutete, der große böse Spielverderber zu sein.
Wie Xhoma, besaß auch er seine Macken und die Loyalität und der absolute Gehorsam gegenüber den Oberhäuptern, war definitiv eine davon. Er hätte Xhoma verstoßen, würden sie es ihm befehlen.
„Ja. Und lass dir gesagt sein, dass ich nicht ihrer Meinung bin“, antwortete er nun.
Ohne, dass sie es bemerkte, waren sie weiter gegangen, bis direkt vor den Eingang der großen Sitzungshalle, am höchsten Punkt der Stadt. Unter dem Baumpfad erstreckte sich ein kilometerlanges Netz, bestehend aus Gehwegen, ästenden Verbindungen, Hütten, Bäumen und Lastzug ähnlichen Transportwegen. Direkt hinter ihnen jedoch fand sich jener riesige Raum, in denen die Oberhäupter über das Schicksal ihrer Stadt entschieden. Xhoma hatte nie verstanden, warum dieser Raum so groß sein musste, da sich in ihm nicht mehr befand, als mehrere große Kristalle, angeblich für irgendwelche Energien, und vier Bastmatten auf der Erde, auf denen die Oberhäupter immer im Schneidersitz Platz nahmen.
Xhoma konnte nicht leugnen, dass dieser Raum eine eigenartige Wirkung auf sie hatte, aber was genau dahinterstecken mochte, konnte man nur mutmaßen. Sie sinnierte noch darüber, was Lijin mit seinen Worten wohl gemeint haben könnte, da lief ihr ein Schauer über den Rücken.
„Xhoma!“
Hilfesuchend blickte sie zu Lijin, aber sie musste sich ihrem Schicksal wohl oder übel ergeben und so machte sie kehrt und betrat erhobenen Hauptes den Saal der Oberhäupter. Alle vier saßen auf ihrem Platz. Cuthhu, Mana, Tii und Weench. Ihre sitzenden Gestalten waren gänzlich von Umhängen verhüllt, ein Umstand, über den Xhoma sich schon so oft Gedanken gemacht hatte. Außer ihren Boten und engsten Vertrauten hatten sie sich noch nie jemandem offenbart, was mehr als nur eine Frage aufwarf. Waren sie so abscheulich, dass sie niemandem ihr Gesicht zeigen konnten? Weil Lijin quasi direkt unter ihnen stand, war Xhoma recht schnell damit herausgeplatzt, ob sie mit solchen Vermutungen richtig lag.
Lijin hatte damals beteuert, dass sie unerträglich schön waren und sich deshalb verhüllten, aber sie war nicht sicher, ob sie das glauben sollte. Ausnahmslos alle Nymphen waren wunderschön und jeder aus dem Stamm, auf seine ganz eigene Weise, etwas ganz Besonderes. Wie anders konnten die Oberhäupter da schon sein? Ihre Stimmen klangen schließlich auch ganz normal, wie Weench in diesem Moment bewies.
„Xhoma, es tut uns leid, dich schon so früh hierher beordert zu haben, aber wir haben einen wichtigen Auftrag für dich, der sehr bedeutungsvoll ist“, erklärte er ruhig, wenn auch monoton.
Xhoma zog die Brauen hoch und wunderte sich darüber, dass ihre Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war. Für gewöhnlich war die alltägliche Meinung, dass sie nicht immer zuverlässig genug war. Also worum ging es hier?
Erneut warf sie Lijin einen hilflosen Blick zu, aber der stand schweigend und mit gesenktem Blick am Rande. Ob er wohl eine ausschweifende Diskussion mit den Oberhäuptern geführt hatte?
„Ich will Eure Entscheidung wirklich nicht anzweifeln, aber seid Ihr Euch sicher? Ich weiß nicht, worum es geht, aber Ihr habt mir in der Vergangenheit nie so wichtige Aufgaben zuteilwerden lassen“, warf sie leise ein. Einerseits empfand sie ehrliche Dankbarkeit darüber, da sie sich so ihren Interessen und ihrer Freizeit widmen konnte. Andererseits jedoch, war sie auch ein wenig verletzt darüber.
Sie mochte ja noch eine junge Nymphe sein, aber ein Kind war sie nicht mehr.
„Nun, wir haben unsere Gründe. Lijin, den Brief bitte“, mischte Tii sich ein und streckte verlangend die Hand aus. Lijin war selbstbewusst genug, um das gefaltete Schriftstück in seiner Hand nicht den Oberhäuptern auszuhändigen, sondern Xhoma zu überreichen, die darüber erst recht verwirrt war. Das edle Pergament war mit Goldstaub betupft worden, welcher davon zeugte, wie wichtig und kostbar es sein musste.
„Ich dachte, wir dürfen Nymphengold nicht einfach so benutzen?“, murmelte sie unsicher und versuchte, einen Blick auf die Gesichter der Oberhäupter zu erhaschen. Diese blieben ihr zwar verwehrt, aber wenigstens setzten sie zu einer Erklärung an.
„Das würden wir nicht, wäre es nicht eine äußerst wichtige Angelegenheit“, begann Mana. „Du wirst zu der Stadt Keelerah reisen und dort dem König diesen Brief überreichen. Du wirst ihm keinen Boten oder Diener überreichen, sondern dem Drachen dieser Stadt höchstpersönlich, damit das klar ist. Und damit du nicht auf die Idee kommst, den Brief selbst zu öffnen, sagen wir dir einfach, was darinsteht. Wir bitten um eine Zusammenkunft und ein Abkommen, um mit dem grauen Drachen eine Allianz zu gründen. Es mag Frieden herrschen, aber es ist unglaublich bedeutsam, dass wir noch mehr Verbündete haben und Freundschaften pflegen.“
Xhoma konnte kaum glauben, was sie da hörte.
„Wollt Ihr wirklich mich mit dieser Aufgabe betrauen? Aber warum?“, flüsterte sie. Egal wie sie auch darüber denken mochte, ihr ganzes Leben schon, war sie immer klein gehalten worden. Sämtliche Vertrauensvorschüsse hatte sie immer verspielt und auch Lijin war ja ehrlich gewesen, als er sagte, er sei nicht mit ihrer Entscheidung einverstanden. Also worum ging es hier wirklich?
Lag es an ihrer Furchtlosigkeit? Denn selbst bis heute pflegte sie eine gute Freundschaft zu König Ryker und seiner Königin Vela, etwas, wofür nicht jede Nymphe Verständnis aufbringen konnte. Drachen waren nach wie vor sehr gefürchtet, konnte es also sein, dass sich schlichtweg einfach alle anderen geweigert hatten, diesen Auftrag anzunehmen?
Die Suhma-Wüste und deren Stadt Keelerah waren sehr weit weg, die Reise wäre lang und sehr beschwerlich. Würde Xhoma das wirklich übernehmen, würde sie sich ausreichend vorbereiten müssen. Cuthhu mischte sich ebenfalls ein.
„Wie gesagt, wir haben unsere Gründe. Aber dein Sprachtalent dürfte für einen wesentlichen Vorteil sorgen. Nun denn, wirst du dich darum kümmern?“
Xhoma starrte unaufhörlich den Brief an.
„Aber natürlich!“, platzte es aus ihr heraus. Wie könnte sie auch nicht? Wie lange wartete sie schon darauf, ihrer Abenteuerlust zu frönen? Dies war die Gelegenheit, um aus der Nymphenstadt heraus zu kommen und die würde sie nicht einfach so verstreichen lassen! Dies wäre ihre Geschichte!
Xhomas Blick ruckte nach oben, denn sie hätte schwören können, ein Lächeln aus Tiis Stimme herausgehört zu haben. Konnte das sein?
„Sehr schön. Gib uns Bescheid, ehe du aufbrichst. Es eilt nicht, also nimm dir die Zeit, die du brauchst.“
Xhoma wäre vor Freude am liebsten auf und ab gesprungen, begnügte sich aber damit, zu Lijin herum zu wirbeln und ihn anzustrahlen. Sein gezwungenes Lächeln vermochte ihre Stimmung aber nicht zu trüben.
„Und Xhoma?“, schnitt Manas Stimme da aber plötzlich scharf durch die Luft. Die junge Nymphe blickte fragend zurück.
„Enttäusch uns nicht, hast du verstanden?“
Alles war wie immer. Sonnenschein tanzte durch die Baumwipfel und tauchte die Stadt ein in ein fahles Goldlicht. Vögel zwitscherten, Schmetterlinge und andere Insekten zogen ihre Bahnen und geschäftiger Lärm zog sich über die Pfade. Kinder rannten vergnügt lachend über die Planken, einige von ihnen lieferten sich sogar ein Wettrennen, indem sie von Baum zu Baum sprangen und kletterten. Weit unter ihnen, auf dem Blätter und Moos bedeckten Waldboden, war von dem Trubel nicht das geringste zu bemerken.
Hirsche und Rehe setzten gemütlich ihre Wege fort, waren Zeuge von der Ruhe und dem Frieden. Xhoma atmete die klare und frische Luft tief ein, ohne das breite Grinsen in ihrem Gesicht unter Kontrolle zu bringen. Sie liebte ihre Heimat. Sie liebte aber auch das, was außerhalb des Lereos lag und für sie bis dato noch nicht zu fassen gewesen war.
Sie reckte das Gesicht gen Sonnenstrahlen, ehe sie in ihre Hütte einbog und dabei endlich Lijin mit einem tadelnden Blick bedachte.
Ein Blick, der für gewöhnlich immer von ihm kam.
„Hör auf, so ein Gesicht zu ziehen. Du beschwörst sonst noch einen Regenschauer“, grinste sie und spielte somit auf eine uralte Legende an, mit der Lijin ihr immer Angst einzujagen versuchte.
Als sie noch jünger gewesen war, war die Trauer ihr ständiger Begleiter gewesen. Selten war ein Lachen über ihre Lippen gekommen, bis Lijin ihr plötzlich erzählt hatte, dass es auf der Erde nur dann regnete und stürmte, wenn eine Nymphe schlecht gelaunt war. Dies anfangs nur für ein Ammenmärchen haltend, war Xhoma nie darauf eingegangen. Hin und wieder war ihr diese Geschichte dann aber auch in anderen Teilen der Stadt begegnet, worauf ihr klar geworden war, dass diese Legende sich schon so lange hielt, dass ihr ein lebhafter Glauben eingehaucht wurde. Und wer weiß, vielleicht war da ja doch etwas dran?
Lijin jedenfalls konnte das nicht besänftigen oder gar aufheitern. Voller Missmut sah er mit an, wie sie sich einen Lederbeutel mit Schulterriemen schnappte.
„Das gefällt mir nicht, Xhoma. Du warst noch nie so weit von Zuhause fort. Was, wenn dir etwas geschieht? Wenn du vom Weg abkommst? Es kommt mir so vor, als würden die Oberhäupter dich loswerden wollen!“
Anfangs noch über seine irrsinnigen Worte lachend, verharrte sie plötzlich regungslos und ließ den Beutel sinken.
„Wie bitte?“, stieß sie aus und wirbelte herum. Sauer ließ sie den Blick über ihn gleiten. Seine taillenlangen schwarzen Haare waren heute tief in seinem Nacken zusammengebunden und lenkten den Blick auf sein weiches und feminines Gesicht, welches aus leicht hohlen Wangen, dichten schwarzen Brauen und einer langen Nase bestand. Sein schmaler Mund wirkte verkniffen und seine fliederfarbenen Augen waren in diesem Augenblick von kleinen Fältchen umgeben, die in der Tat von Sorge zeugten. Aber der Ausdruck in diesen blassen Farbtiefen war tatsächlich völlig... ahnungslos! Lijins gerade und selbstbewusste Haltung bot mit seinem hellbraunen knielangen Gewand und dem Gürtel um seine Taille ein imposantes, als auch ein seltsam ruhiges Bild. Diesem Mann war sein hoch angesehener Rang auch ganz ohne Muskeln anzusehen.
Er wirkte gelassen und klug und dabei fiel seine hagere Gestalt kaum auf. Er antwortete Xhoma nicht, weshalb sie vor ihn trat und ihn wütend anfunkelte. Dabei bemerkte sie voller Schrecken, dass sie wenige Zentimeter größer war, als er. Ein Umstand, der erst gestern noch nicht so da gewesen war. Sie verdrängte diesen Gedanken.
„Was willst du damit sagen? Wieso sollten mich die Oberhäupter loswerden wollen?“, fauchte sie.
Es war nicht üblich für sie, so ungehalten zu werden, aber seine Worte trafen sie hart. Sie erkannte in seinen Augen, dass er sich nichts dabei gedacht hatte, aber nun sah sie sein Unbehagen.
„Kommt es dir denn nicht komisch vor, dass sie ausgerechnet dir einen solchen Auftrag überlassen? Ich liebe dich wirklich, Xhoma, aber du weißt selbst, wie ungestüm und launisch du sein kannst. Du bist ein Wirbelwind und das wirst du auch immer bleiben“, erklärte er notgedrungen, doch Xhoma begann längst, ihn in ihren Gedanken zu beschimpfen, und dies nicht nur in der Sprache der Nymphen!
„Das bin ich überhaupt nicht!“, zischte sie, darum bemüht, nicht laut zu werden. „Soll ich dir sagen, warum ich wirklich immer so hibbelig wirke? Weil ich hier 'raus will! Ich will reisen und die Welt entdecken und ich will noch so viel mehr lernen. Mein eigenes Volk zu studieren reicht mir nicht, Lijin! Nun endlich herrscht Frieden, da kann ich mir diese Chance doch nicht entgehen lassen. Dir mag es genügen, den Oberhäuptern und dem Volk zu dienen, aber mir nicht. Verstehst du das?“
Nahezu flehend sah sie ihn an, doch der Mann stand einfach nur still da und sah sie an. Im Grunde sollte ihn nicht ein einziges ihrer Worte überraschen. In Xhoma schlummerte so viel mehr, als nur eine ruhige und gehorsame Nymphe, eine von vielen in dieser einzigartigen Stadt.
Mit ihrem Aussehen täuschte sie jedoch wunderbar jeden darüber hinweg. Ihre blasse Haut schimmerte nahezu wie Perlmutt und überspannte ein schmales Gesicht, mit kleiner Stupsnase, schmalen gewölbten Augenbrauen und einem geschwungenen Mund, dessen Unterlippe voller war, als die obere. Ihre Katzenaugen waren eisblau, in einer Nuance, die mit keinem wilden und noch so klaren Gewässer auf dieser Welt zu vergleichen war. Ihre weichen und filigranen Züge wurden eingerahmt von Silberhaaren, die ihr auf die Schultern fielen und dessen Spitzen ebenfalls dieses außergewöhnliche blau aufwiesen.
Sie war zu einer hübschen Frau herangewachsen, auf den ersten Blick eine ganz typische Nymphe, mit leicht spitzen Ohren und schmalem Körperbau, aber dass sie immer größer wurde und immer anders dachte, war nicht nur für ihn eindeutig.
„Ich versuche es zu verstehen“, gab Lijin vorsichtig zurück. „Aber mir will nicht in den Kopf, warum du so besessen von den anderen bist. Der Lereos bietet doch unzählige Möglichkeiten.“
Xhomas Blick trübte sich und so wandte sie sich seufzend von ihm ab. Er würde es nie verstehen...
„Ich werde lange weg sein, wirst du ohne mich zurechtkommen?“, fragte sie stattdessen gespielt fröhlich. Das falsche Grinsen tat ihr in den Wangen weh und sie konnte nicht sagen, ob Lijin es längst durchschaut hatte oder ob er es schlichtweg nicht bemerken wollte. Er stieß ein Schnauben aus und ließ sich darauf ein.
„Die Frage sollte ich wohl eher dir stellen. Können wir dir nicht wenigstens ein Pferd besorgen? Du wirst zu Fuß ewig unterwegs sein, das ist nicht in Ordnung.“
Xhoma zog die Brauen hoch bei dem Gedanken daran, auf den Rücken eines Tieres zu steigen und dieses dann die ganze Arbeit verrichten zu lassen. Das wäre wirklich nicht in Ordnung!
„Ich werde doch kein armes Tier quälen“, gab sie entschieden zurück und begann, Proviant einzupacken. Dieser bestand erst einmal nur aus Früchten, Nüssen und Wasser, aber auch aus einem Schutzamulett und verschiedenen Währungen, wie Goldmünzen oder Edelsteinen, wovon letztere ganz typisch für Nymphen waren.
Lijin rückte ihr derweil ziemlich auf den Pelz, weshalb Xhoma versuchte, ihn zu verscheuchen.
„Es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen um mich machst, Lijin, aber mir wird nichts geschehen. Die Natur ist unser Freund, ich werde also überall zurechtkommen.“
Sie lächelte ihn an, dieses Mal ganz ehrlich und ohne einen schlechten Gedanken. Die Welt, in der sie lebten, mochte eine sehr gefährliche sein, aber als Waldwesen, ausgestattet mit Klauen und geschärftem Gehör, war sie den Menschen beispielsweise weit überlegen. Sie war noch nie in der Suhma-Wüste gewesen, aber sie war sich ziemlich sicher, dort nicht auf feindlich Gesinnte zu treffen, dafür war eine Wüste schlicht zu lebensfeindlich. Aus diesem Grund musste sie auch daran denken, sich vorher schon um genügend Wasser zu kümmern. Ihre Körper waren zwar sehr widerstandfähig, mehrere Tage ohne Wasser und Nahrung kamen aber auch sie nicht zurecht.
Lijin war noch immer nicht beruhigt und legte ihr besorgt die Hand auf die zarte und nackte Schulter.
„Ich schicke dir alle zwei Tage Pepe vorbei, damit wir in Kontakt bleiben können und du wirst ihn gewähren lassen, nur damit das klar ist!“, drohte er leise, worauf Xhoma nichts anderes tun konnte, als ihm zuzustimmen. Pepe, der kleine Wanderfalke, war ein ausgezeichneter Bote, mittels dem sie schon seit Jahren Nachrichten austauschten, sollte einer von ihnen unterwegs sein. Der erfahrene Greifvogel gehörte quasi mit zur Familie und diente dem gesamten Dorf, kaum vorstellbar, dass er nun einzig und allein für eine unbedeutende Nymphe wie sie, zur Verfügung stehen sollte.
Lijins Worte waren gar nicht mal so unbedacht, da Xhoma Pepe in der Tat ohne Nachricht wieder nach Hause schicken könnte, aber sie wollte mal nicht so sein und so packte sie auch einige Bögen Pergament und eine kleine Phiole Tinte ein. Die Feder würde dann wohl Pepe lassen müssen.
Xhoma überlegte, ob sie nicht auch Sachen zum Wechseln mitnehmen sollte, traute sich aber nicht, Lijin danach zu fragen und blickte deshalb zweifelnd an sich hinunter.
Seit neuestem verzichtete sie auf immergrüne Blätter und Farne, die sie kunstvoll miteinander verknüpfte. Sie war zu dem besten Ausrüstungshändler der Stadt gegangen und hatte sich einen BH und einen engen Rock aus Metall anfertigen lassen, die sie ein wahres Vermögen gekostet hatten.
Ihre kleinen Brüste wurden von floralen Körbchen gehalten, deren Prägungen Ranken und Blüten zeigten und weiß und hellblau eingefärbt worden waren. Dazwischen blitzten die Metallstreben auf, hauchfein und in der Sonne glitzernd. Sie wickelten sich in schmalen Bahnen über ihren Brustkorb und wurden auf ihrem Rücken, genau mittig unter ihren Schulterblättern durch einen Mechanismus verschlossen, der sich an zwei Punkten ineinander verhaken ließ. Ihr nackter Bauch war flach und gewährte freien Blick auf den Rock, der sich, ähnlich eines breiten Metallrings, tief auf ihren Hüften hielt. Der oberste Ring zeigte das gleiche Muster wie ihr Brustschutz, ebenfalls in den gleichen Farben, doch das weiß gegerbte Leder, welches ihr bis zur Mitte der schmalen Oberschenkel reichte, gewährte ihr weitaus mehr Beinfreiheit, als man vermuten würde.
Ihre zierlichen Füße waren nackt und für gewöhnlich störte sie dies auch nicht, aber barfuß in einer Wüste zu laufen, könnte in der Mittagshitze durchaus unangenehm werden. Sie würde noch einmal bei dem Händler vorbeischauen und sich ein paar Sandalen besorgen, die ihre Sohlen schützen würden. Vielleicht wäre auch ein leichter Umhang angebracht gewesen?
Ob ihre Ersparnisse dafür wohl noch ausreichen würden? Sie hatte sich in der Vergangenheit mit einfachen Jobs gut über Wasser halten können. Ein Botengang hier, ein Babysitterjob da und lauter solcher Dinge. Wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, könnte sie in anderen Städten ein paar Nymphengüter verkaufen, aber so weit würde es wohl nicht kommen.
„Du solltest dich wieder deiner Arbeit widmen, ehe du Ärger bekommst“, brach Xhoma nun das Schweigen und drehte sich um, nachdem sie den Lederbeutel vorerst fest verschlossen hatte. Ihr Ziehbruder wirkte nach wie vor sichtlich verstimmt, erkannte aber, dass er hier nichts mehr tun konnte.
„Komm zu mir, ehe du dich auf den Weg machst, hörst du?“, verlangte er noch, ungewöhnlich barsch, da drehte er sich um und verließ eiligen Schrittes ihre Hütte.
Dass es in der Tat eine sehr lange und beschwerliche Reise werden würde, wurde Xhoma in dem Moment klar, als sie den Lereos-Wald, den Masha-Fluss und im Anschluss die Stadt Beleah hinter sich ließ. Mit der Bergstadt verließ sie auch das letzte Bisschen vertrautes Terrain und als ob das nicht schon genügen würde, wurde dies auch noch von schlechtem Wetter untermauert.
Der einheitlich graue Himmel hatte es schon angekündigt, doch die Tore des Himmels öffneten sich in jenem Moment, als Xhoma den Beginn der Kanos-Schlucht erreichte, die das Bergland von der Suhma-Wüste trennte.
Die Nymphe fand Schutz unter einem kleinen Felsvorsprung, wusste aber noch nicht, wie sie die Schlucht passieren sollte. Am besten wartete sie erst einmal das Unwetter ab.
Sie nutzte die Zeit unter dem Hang, um ein kleines Feuer zu entfachen und in Ruhe über alles nachzudenken. Ihr Aufbruch aus dem Lereos war schneller gekommen, als gedacht. Nachdem sie wegen ihres Umhangs und der Sandalen beim Händler gewesen war, hatte sie sich noch durch ein paar Schriften gelesen, ehe sie dann zu den Oberhäuptern und Lijin gegangen war, um sich von ihnen zu verabschieden. Xhoma rief sich die Szene noch einmal vor Augen, denn etwas an ihr war ihr seltsam vorgekommen. Alle vier Oberhäupter hatten sich auf ihren üblichen Plätzen befunden, wie immer verhüllt und absolut emotionslos.
Dennoch waren Xhoma deren Blicke nicht entgangen. Ein nahezu brennendes Kribbeln war auf ihrer Haut zu vernehmen gewesen und hin und wieder hatte sie unter ihren Kapuzen blasse Schimmer von grünen, violetten und silberfarbenen Augen aufblitzen sehen.
Xhoma fühlte sich beschmutzt und entblößt, wenn sie nur daran dachte und schüttelte sich instinktiv und wie ein Tier. Hätte sie Fell, hätte sie es nun gesträubt. Ob sie wohl in der Lage waren, bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken? Natürlich war ihr die Frage in den Sinn gekommen, warum sie sie so anstarrten und sie konnte auch nicht leugnen, dass sie deshalb nahezu ununterbrochen Lijins Worte im Kopf hatte. Wollten die Oberhäupter sie wirklich loswerden? Aber wenn ja, warum? Und Xhoma würde nach ihrem Auftrag doch wieder zurückkehren, also was mochte dann der Sinn dahinter sein?
War Xhoma vielleicht doch zu wild? Ging sie mit ihrem Verhalten allen auf die Nerven? Waren ihre kleinen Ausrutscher in den vergangenen Jahren etwa schon zu viel gewesen? Sie glaubte das nicht. Einige Aufträge hatte sie mit Bravour gemeistert, so zum Beispiel die Aufgabe, Vela van Quan in ihre Stadt zu bringen, damit sie ihnen helfen konnte. Dies mochte schon einige Jahre her sein, aber es schmälerte ihren Wert nicht. Xhoma hatte schon viele gute Dinge verrichtet, aber darauf kam nie einer zurück. Viel lieber wurde an ihre Fehltritte erinnert...
Lijin nahm sie es nicht übel, allen anderen aber schon. Niemand war perfekt, ganz gleich welch kostbaren Eindruck eine Nymphe auch machen mochte. Diese Philosophie verfolgten aber die wenigsten.
Xhoma dachte nicht länger über die Beweggründe der Oberhäupter nach und dachte stattdessen an deren Warnung. Der graue Drache sollte gefährlich sein, ein regelrechter Barbar und Schlächter, anders als Ryker, der König von Beleah.
Xhoma schenkte diesen Gerüchten bisher noch keinen Glauben und auch machte sie sich keine Sorgen darüber, auf Granit zu beißen. Wenn der König erst einmal hörte, dass ihr Volk dazu bereit war, mit ihm zusammen zu arbeiten, konnte er nicht nein sagen.
Erst recht nicht, wenn er in dem Brief las, auf welch kostbare Güter er zum Teil zurückgreifen konnte. Sie konnte natürlich nicht mit Bestimmtheit sagen, welch Kostbarkeiten genau ihm versprochen wurden, aber irgendein Lockmittel war mit Sicherheit erwähnt worden. Xhoma gab zu, dass sie längst in Verlockung geraten war, den Brief zu öffnen. Er mochte mit einem Siegel versehen sein, aber auch dies könnte sie nicht aufhalten.
Der Gedanke an den grauen Drachen hielt sie dann aber doch zurück. Wenn sie ihm erst einmal gegenüberstand, wollte sie keinen schlechten Eindruck erwecken. Und was würde er wohl von ihr denken, sähe er, dass sie heimlich den Brief geöffnet hatte? Der laut rauschende Regen um sie herum, konnte ihre eigenen Gedanken nicht übertönen. Außer Ryker kannte sie keinen Drachen persönlich und deshalb fragte sie sich, wie der Herrscher der Wüste wohl so war.
Wie hieß er noch gleich? Cain? Cain Zandros? Ohne, dass sie einen Einfluss darauf nehmen konnte, stellte sie sich einen jungen und gutaussehenden Mann vor, mit sonnengebräunter Haut und goldblondem Haar. Gleichzeitig bot er ein majestätisches Bild als Drache, mit sandfarbenen Schuppen, einem massiven Schädel, mit Hörnern und Reißzähnen, die sie wohl das Fürchten lehren sollten. Ob sie wirklich Angst vor ihm haben würde, blieb abzuwarten.
Noch zierte ein Lächeln Xhomas Mund, doch dieses verschwand schlagartig, als sich da ein winziges Problem in ihr Bewusstsein drängte. Niemand durfte die wahre Gestalt eines Königs sehen. Auch keine dahergelaufene Nymphe, die eine Nachricht überbringen musste.
Nachdenklich starrte sie in die Flammen des Feuers. Nun, das könnte zu einem Problem werden. Die Oberhäupter befahlen ihr ausdrücklich, den Brief dem König zu übergeben, allmählich wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wie genau sie das eigentlich anstellen sollte. Schulterzuckend öffnete sie ihren Lederbeutel, um sich an ein paar Nüssen zu bedienen.
Darüber würde sie nachdenken, wenn es soweit war. Erst einmal musste sie überlegen, wie sie die gigantische Schlucht überwand.
So fernab von sämtlichen Dörfern und Städten gab es niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte, alles was ihr also blieb, waren ihre eigenen Fähigkeiten. Sie betrachtete ihre klauenartigen Nägel und befand, dass diese stark genug wären, um sie eine gewisse Zeit lang tragen zu können. Sie würde klettern und sich eine möglichst grobe und nicht so steile Felswand suchen, an der sie den Abstieg wagen konnte. Sie würde mehrere Stunden über an ihrer körperlichen Grenze sein und auch konnte sie nicht sagen, welch grausames und raubtierhaftes Leben sie am Grund der Schlucht erwartete, aber wenn sie nicht umkehren und nach Hause zurückkehren wollte, dachte sie auch darüber besser nicht mehr nach.
Drei Sonnenaufgänge waren seit ihrem Aufbruch bereits vergangen, wie viele würden wohl noch vergehen, ehe sie auch nur in die Nähe der Wüstenstadt Keelerah kam?
Nachdem sie ihre Nüsse gegessen hatte, versuchte Xhoma es sich bequem zu machen, indem sie sich auf dem Steinboden zusammenrollte und den Lederbeutel als Kopfstütze verwendete. Den Regen könnte sie ruhig verschlafen, so wie Pepe es wohl auch machen würde. Der kleine Falke kündigte sich mit seinem typischen Ruf an, ehe er plötzlich am Hang auftauchte, darunter schlüpfte und vor dem Feuer landete. Er schüttelte den Regen ab und plusterte sich auf, dann hüpfte er neben die Nymphe und kuschelte sich an die Kuhle deren Halses.
Lächelnd strich Xhoma sanft mit ihren Fingerspitzen über sein braungeflecktes Federkleid.
„Ruhen wir uns aus, Pepe. Und sobald das Unwetter nachlässt, gehen wir beide wieder unseren Aufgaben nach“, entschied sie leise und schloss die Augen.
Xhoma wurde aus ihrem leichten Dämmerungszustand gerissen, als ein seltsames Geräusch an ihre Ohren drang. Der dunstige Sonnenschein um sie herum fiel ihr als erstes auf, als sie blinzelnd die Augen öffnete. Dann das Fehlen von Pepe und zum Schluss das erloschene Feuer, von dem noch die letzten Rauchschwaden aufstiegen. Und dann ertönte schon wieder dieses komische Geräusch. Ein stetiges Rauschen, fast schon wie ein Stürmen, nur mit einem undefinierbaren Rhythmus.
Xhoma blinzelte benommen, da bemerkte sie auf einmal den riesigen Schatten, welcher dem Felsvorsprung immer näherkam. Nein, kein Schatten, sondern ein riesiges Ungetüm, welches Xhoma schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Es war ein Drache, blutrot und mit goldenen Augen, die auf sie aufmerksam geworden sein mussten, als er zu seinem täglichen Kontrollflug aufgebrochen war.
Xhoma? Was machst du hier oben? Noch dazu alleine?, konnte sie die Stimme des Königs in ihrem Kopf hören. Im ersten Moment so geschockt davon, war sie zu keiner Regung fähig. Sie sah mit an, wie er auf der Stelle zu schweben schien, direkt vor dem Spalt im Felsen, unter dem sie sich zurückgezogen und ihr Lager aufgeschlagen hatte. Dann aber fing sie sich.
„König Ryker! Ich bin auf einer Mission und muss nach Keelerah. Ihr könnt mich nicht zufällig auf der anderen Seite der Schlucht absetzen?“, erwiderte sie mit ihrer melodischen Stimme und kitzelte somit das Erstaunen in dem roten Drachen.
Nach Keelerah? Bist du dir sicher? Der graue Drache ist ein Barbar, er wird für dich zur Gefahr, wenn du unbefugt in sein Territorium eindringst, knurrte er ungehalten.
Xhoma wurde eigenartig warm ums Herz, als sie die Sorge aus seiner Stimme heraushörte. Dieser Drache war durch und durch gut und nur deswegen traute Xhoma sich, ihn um seine Hilfe zu bitten. Noch wusste sie aber nicht, was sie von seiner eindringlichen Warnung halten sollte.
„So lautet mein Auftrag. Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, ich warte schon sehr lange darauf, aus meiner Stadt heraus zu kommen“, erklärte sie und kam leichtfüßig auf die Beine. Dabei bemerkte Ryker, dass die Nymphe sich verändert hatte. Nicht nur, dass sie größer geworden zu sein schien, nein, sie war mittlerweile auch sehr offen. Von ihrer damaligen kühlen Ablehnung war keinerlei Spur mehr, stattdessen gewährte sie ihm und Vela kleine Einblicke in ihr Leben und auf ihre wahre Persönlichkeit. Noch nie hatte er so etwas an einer Nymphe gesehen und er konnte nicht leugnen, dass er fasziniert war.
Aus diesem Grund veränderte er seine Flugbahn so, dass er seinen langen Hals zu Xhoma hinunter beugen konnte. Trotz seiner Sorge, gewährte er ihr dieses Risiko.
Steig auf, befahl er kurz angebunden, sichtlich verblüfft darüber, dass die Nymphe sich nicht zweimal bitten ließ und geschickt auf seinen, von Schuppen überzogenen Körper kletterte und sich an seinen dicken Hals klammerte. Selbst Vela gestattete er dies eigentlich nicht. Als einstiger Mensch war sie für solch ein Manöver viel zu zerbrechlich, aber Xhoma nahm bisher keinen Platz in seinem Herzen ein. Ein möglicher Unfall würde ihm nicht das Herz brechen.
Ich kann dich wirklich nur auf der anderen Seite absetzen, ich darf Cain nicht zu nahekommen. Wir haben unsere Streitigkeiten noch nicht beigelegt. Wie lautet dein genauer Auftrag?, fragte er.
Vorerst herrschte jedoch Stille zwischen ihnen. Xhoma war zu sehr davon abgelenkt, was hier gerade geschah.
Sie konnte es kaum glauben! Sie flog! Sie tauchte ein in goldenes Sonnenlicht, badete im Sonnenschein und riss die Augen auf beim Anblick der weiten Landschaft, die einfach kein Ende nehmen wollte. Sie konnte nicht nur die Berge sehen, sondern auch den Lereos-Wald, der ihr so unvorstellbar weit weg erschien. Das Grün der Bäume funkelte im Licht, als bestünden sie selbst aus kostbaren Edelsteinen und auch der Masha-Fluss glitzerte und funkelte inmitten der Landschaft, als hätte es dieses kurze Unwetter nie gegeben.
Xhoma blickte in die andere Richtung, mit Tränen des Glücks in den Augen. Auch die Wüste, dort hinten, am Ende der gewaltigen Felskette, bot einen unglaublichen Anblick. Der goldgelbe Sand erstreckte sich meilenweit, bis hinter den Horizont und wurde nur an wenigen Stellen von winzigen grünen und blauen Punkten durchbrochen. Wahrscheinlich kleine Oasen und Wasserlöcher.
Ob sich hinter der Wüste wohl die Tundra erstreckte? Oder lauerte dort gar ein unbeschreiblich gigantisches Meer? Eines Tages würde sie es herausfinden, das schwor sie sich!
Im Moment konnte sie sich nur auf das leichte Zittern konzentrieren, welches ihren Körper durchlief. Scharfer Wind schnitt ihr in die Haut und ließ sie frösteln, dennoch lächelte sie.
„Ich halte es für besser, Euch nicht die genauen Umstände zu erklären. Aber um Euch zu beruhigen, ich muss nur einen Brief überbringen“, antwortete sie nun auf Rykers Frage. Xhoma sah seine Goldaugen aufblitzen, als er den Schädel ein klein wenig neigte.
Ja, du hast Recht. Es ist besser, wenn ich auch weiterhin nicht allzu viel über Cains Aktivitäten weiß. Sei dennoch vorsichtig. Vela würde einen erneuten Krieg anzetteln, wenn ihr zu Ohren kommt, dass ihre liebste Nymphe ausgerechnet vom grauen Drachen in der Luft zerrissen wurde, mahnte er erneut und setzte auch schon zur Landung an.
Xhomas erfreutes Lachen brach völlig unerwartet aus ihr heraus, so sehr freute sie sich über das versteckte Kompliment. Dennoch wurde sie von Bedauern erfasst, als der gewaltige Drachenkörper auf der anderen Seite der Schlucht auf dem erdigen Boden aufkam und die Welt somit regelrecht erschütterte.
Es war nur ein sehr kurzes Vergnügen gewesen und dennoch wusste Xhoma, dass sie ihr ganzes Leben lang noch von diesem Moment träumen würde. Von dem Moment, als sie keinen Erdboden mehr unter ihren Füßen gehabt hatte und geflogen war!
„Bevor ich mich wieder auf den Weg mache, wüsste ich gerne, ob Ihr mir mehr über den grauen Drachen sagen könnt. Wie ist er so?“, hakte sie leise und ein wenig ernster nach. Ryker musterte sie und spielte mit dem Gedanken, sich zurück zu verwandeln, ließ es dann aber bleiben, weil er nicht riskieren konnte, dass Cain ihn bemerkte. Auf dieser Seite der Schlucht begann sein Territorium, ganz gleich, wie weit seine Stadt eigentlich noch entfernt war.
Der graue Drache besaß das unheimliche Talent, immer wie aus dem Nichts heraus aufzutauchen.
Er ist ein grausamer Mann, sehr kalt und analytisch. Nett zu sein liegt ihm nicht. Ich kann nicht einmal sagen, wie sein Volk über ihn denkt, dafür lässt er nicht genug Informationen nach außen durchsickern. Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Du wirst ihn wahrscheinlich nicht einmal zu Gesicht bekommen, aber sei bitte dennoch auf der Hut. Vela hat er nämlich schon einmal erwischt und das wäre beinahe böse ausgegangen, teilte Ryker der Nymphe mit, worauf diese eine Trübung in seinen goldenen Augen ausmachen konnte. Scheinbar waren düstere Erinnerungen über ihn gekommen.
Xhoma verbeugte sich leicht und zeigte ein kleines Lächeln.
„Ich werde auf der Hut sein, seid unbesorgt. Und vielen Dank für Eure Hilfe. Ich werde mich, so schnell es geht, dafür erkenntlich zeigen“, beteuerte sie, woraufhin Ryker sich von ihr abwandte und einmal kräftig mit den Flügeln schlug.
Nicht der Rede wert, meinte er noch, dann schlug Xhoma ein stürmischer Wind entgegen, als er davonflog. Schützend hielt sie sich die Hand vor Augen, dann sah sie mit an, wie seine dunklen Umrisse am Horizont immer kleiner wurden und schließlich ganz verschwanden. Eine Weile sah sie ihm hinterher, dann wandte sie sich um und setzte sich in Bewegung. Ihr stand ein langer Fußmarsch bevor.
Während sie einen Schritt nach dem anderen machte, dachte sie darüber nach, was der rote Drache über den Grauen gesagt hatte.
Dass er ein Barbar war, grausam und kalt. Keinerlei Furcht kam in ihr auf. Waren denn nicht alle Drachen und Könige so? Sie standen schließlich nicht wegen ihrer Freundlichkeit und Gutmütigkeit an der Spitze der Nahrungskette.
Xhomas Vorstellung vom König Keelerahs bekam langsam Risse, entwickelte sich zu einem älteren Herrn, der bereits tiefe Furchen im Gesicht hatte, verursacht von seiner eigenen Bitterkeit. Dabei klangen noch immer Rykers Worte in ihren Ohren. Sie würde dem grauen Drachen wohl wirklich nicht begegnen, ganz gleich, welch Anweisungen die Oberhäupter ihr auch erteilt hatten.
Xhoma lächelte breit, denn all das spielte keine Rolle. Alles was zählte, was ihre neu gewonnene Freiheit. Endlich könnte sie die Welt entdecken, nach ihren eigenen Regeln leben. Und wenn sie erst einmal in die Nymphenstadt zurückgekehrt war, würde sie dies auch Lijin und den Oberhäuptern klar machen! Vielleicht könnte sie als Botschafterin dienen? Oder sie wurde zu einer einfachen Händlerin, die von Stadt zu Stadt reiste? Irgendetwas würde sich schon finden, bei dem sie auch weiterhin auf Erkundungstour gehen konnte. Seit Jahren träumte sie schon davon und sie war es leid, diesen Wunsch zu unterdrücken.
Xhoma machte eine Pause beim Nachdenken, als sie irgendwann spürte, wie sich das Klima um sie herum veränderte. Die klare und reine Luft der Berge musste den schwülen und stickigen Winden der Wüste weichen, gleichzeitig konnte die Nymphe schon den Staub in ihren Lungen spüren, als sie ein und ausatmete. Sie lief den ganzen Tag ohne Pause und so lange, bis nicht nur ihre Füße schmerzten, sondern auch die Sonne allmählich unterging. Und während langsam die Dämmerung die Welt in Dunkelheit hüllte, wurde ihr allmählich unwohl.
Die Wüste fand gerade erst ihren Anfang und weit und breit war niemand zu sehen. Keine reisenden Händler oder Söldner, keine Wüstenbewohner und auch keine Tiere oder andere Lebewesen. Hin und wieder sah sie einen Käfer über den Sand huschen, aber das war es dann auch schon. Unsicher blieb Xhoma stehen, blickte von links nach rechts, von Ratlosigkeit erfasst. Hier gab es keinen Ort, an dem sie sich ein Lager aufschlagen konnte, ihr blieb also keine andere Wahl, als weiter zu laufen. Dabei taten ihr die Füße doch so weh...
„Blöde Sandalen“, maulte sie und bückte sich, um die verflochtenen Riemchen um ihre zierlichen Fußknöchel zu lösen. Sie schleuderte sich die hübschen Sandalen von den Sohlen und ließ sich dann in den Sand plumpsen, um ihre Füße zu massieren und betrachten. Waren das etwa Blasen?
„S-Sire? E-Es tut mir furchtbar leid, Euch zu stören, a-aber...“
Yrim unterbrach sich selbst, indem er ein schrilles Quieken ausstieß, als der tödliche Blick seines Meisters ihn traf und somit vor Angst erstarren ließ.
„Ich habe befohlen, mich nicht zu stören! Was fällt dir ein?“, brüllte der Mann da auch schon und brachte die gesamte Oase seines Palastes zum Erbeben. Der junge Bursche Yrim, der noch nicht lange in diesem Dienst stand, zog die Schultern hoch, kniff die Augen zusammen und versuchte vergeblich, sich klein zu machen. Er war bereits der achte Laufbursche des Königs und allmählich dämmerte ihm auch, warum.
Eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination ergriff von ihm Besitz, als er den unglaublichen Mann vor sich betrachtete. Völlig nackt stand er da, hüfthoch im Wasser des großen Pools, der im Boden eingelassen worden war. Der fast zwei Meter große Hüne war gestählt von all seinen Kämpfen und dafür mit erstaunlich wenig Narben übersäht. Er passte überhaupt nicht in dieses Bild aus güldenem Prunk, Palmwedeln und anderen Pflanzen, Krügen und Kelchen, in denen dutzende Flüssigkeiten und Pflanzenextrakte enthalten waren. Dies war nicht nur ein Ort der Entspannung, sondern auch einer der Fleischeslust und dies passte nicht zu diesem Mann, nein, Drachen, ganz gleich, welch Reaktion sein Anblick auch in einem auslösen mochte.
Yrim war zwar erst seit wenigen Wochen hier, aber bereits dieser kurze Zeitraum war ausreichend gewesen, um in Erfahrung zu bringen, wie einsam dieser Drache lebte. Nur sehr wenige Bedienstete standen unter seinem Befehl. Er besaß kein Dienstmädchen oder Küchenpersonal, sondern kümmerte sich meistens selbst um alles.
Yrim war sein Laufbursche und quasi zuständig für alles, dann gab es da noch einige Soldaten und Jäger und bloß ein einziges Zimmermädchen, welches für Ordnung und Sauberkeit sorgte. Ansonsten war dieser Drachenhort verlassen. Wie groß dieser eigentlich war, vermochte Yrim nicht zu sagen, denn er hatte zu einigen Korridoren und Räumen keinen Zugang. Der Privatflügel des Königs war ihm strengstens untersagt und eigentlich war auch die Oase ein Tabu für ihn. Das erinnerte ihn daran, warum er eigentlich hier war.
„Oh, i-ich weiß, Sire, aber es wurde ein Eindringling gesichtet“, beeilte Yrim sich zu sagen, ehe sein Meister wirklich noch auf die Idee kam, ihm etwas anzutun. Der König bestrafte es, wenn man sich ihm oder seinem Wort widersetzte auf der Stelle und der Junge wollte nicht der nächste sein, der Opfer seines Zornes wurde.
Der König drehte sich nun gänzlich um und starrte ihn aus unheimlichen und kalten grauen Augen an.
„Wie war das?“, knurrte er leise, einem trügerischen Flüstern gleich. Yrim schrumpfte scheinbar noch ein Stückchen mehr.
„Eine Nymphe, so wie es aussieht. Sie befindet sich noch außerhalb der Stadt, mitten in der Wüste. Laut einem der Soldaten wirkt sie erschöpft, aber entschlossen. Sie ist allein“, berichtete er und sah mit an, wie sein Meister aus dem kristallklaren Wasser watete und sich ein Tuch schnappte, welches er sich um die Lenden band. Yrim schoss die Röte ins knabenhafte Gesicht.
„Ich kümmere mich darum. Die genauen Koordinaten?“, brummte der Drache.
Yrim wandte den Blick ab.
„Viereinhalb Kilometer südwestlich der Stadt, nicht weit vom Wasserloch entfernt, Sire.“
Cain beachtete den Jungen nicht länger, während er begann, sich anzukleiden. Eine Nymphe, so weit außerhalb ihres Territoriums?
War so etwas je vorgekommen? Warum ging dieses Wesen ein solches Wagnis ein? Dürfte diesem Volk nicht bekannt sein, dass er keine Außenseiter in seinem Reich duldete? Welchen Grund könnte es wohl für eine Nymphe geben, um eine lange und so beschwerliche Reise auf sich zu nehmen? Wollte sie sein Revier auskundschaften? Informationen sammeln, die ihm insgeheim schaden könnten? Oder war es ganz anders und eine unbekannte Gefahr hatte sie aus ihrem Dorf vertrieben? Eine Verstoßene vielleicht, die einfach nur auf der Durchreise war?
Er wusste, dass es an der Grenze seines Reiches noch einen anderen Nymphenstamm gab, aber mit dem hatte er nie etwas zu tun gehabt. Wollte er auch gar nicht. Frieden hin oder her, aber er war nicht an irgendwelchen Freundschaften interessiert.
Der graue Drache verließ die Oase mit dem Entschluss, dass er die Nymphe zwar passieren, aber nicht in seine Stadt hineinlassen würde.
Cains Entschluss geriet beinahe in Vergessenheit, als seine Reptilaugen das faszinierende Wesen erst einmal erfasst hatten. Yrims Worte entsprachen der Wahrheit, die weibliche Nymphe lief eisern vorwärts, aber selbst auf die Distanz erkannte der Drache, wie sehr ihre schmalen Beine zitterten.
Gemächlich und doch wachsam und in Alarmbereitschaft bewegte er sich auf sie zu. Welch unerwartet reizvoller Anblick.
Die Frau mit dem grazilen Körper war erstaunlich groß für eine Nymphe, würde ihm aber dennoch kaum bis zur Brust reichen. Ihre sahnefarbene Haut leuchtete und schimmerte in der glühenden Sonne und wurde nur leicht geschützt von einem zarten Umhang, den sie zwischen ihren Schlüsselbeinen mit einer Schleife zugebunden hatte. Eine zweiteilige knappe Rüstung, eindeutig aus Metall, verdeckte ihre kleinen Brüste, Scham und ihren Po und gewehrte dem Drachen einen ungeschönten Blick auf die feinen Linien ihres Körpers. Wie war es möglich, dass dieses zarte Wesen so fraulich anmutete, mit der schmaler werdenden Taille und dem leichten Schwung ihrer Hüften? Sie war so zerbrechlich, ein Schlag von ihm und sie wäre aus dem Leben geschieden! Und doch fiel sein Blick wie von selbst auf ihre schmalen Schenkel, die köstlich weich erschienen.
Cain witterte leicht. Sie roch eindeutig nach Wald. Nach Laub und Holz. Ein Geruch der ihm hier, in der Wüste, fremd war und die unterschiedlichsten Regungen in ihm auslöste. Er war nun fast bei ihr und konnte jetzt auch ihr Gesicht in allen Einzelheiten erkennen.
Es mutete puppenhaft an, mit den schmalen Zügen, der kleinen Nase und dem geschwungenen Mund, dessen volle Unterlippe wie dafür gemacht zu sein schien, an ihr zu knabbern.
Cain hätte sich beinahe geschüttelt bei diesem Gedanken und richtete seinen Blick deshalb schnell auf ihre Katzenaugen, die sehr zu seinem Leidwesen nicht minder faszinierend, ja schlicht atemberaubend waren. Mit ihrer tiefen und eisblauen Farbe und dem eigenartigen Glitzern, wirkten sie nicht wie Kristallsplitter, sondern wie zerstoßene Gletscher, die in der Sonne funkelten, einem eiskalten Hauch gleich. Cain neigte ganz raubtierhaft den Kopf, als er dachte, dass er diese Augen stundenlang hätte betrachten können, so hypnotisch wirkten sie.
Auch in ihrem schulterlangen, welligen Silberhaar war diese seltsame Farbe zu finden, färbte ihre Spitzen blau. Sie sah überhaupt nicht aus wie eine Nymphe aus dem Wald, sondern vielmehr wie eine zu Mensch gewordene Nixe. Sehr eigenartig...
Als er nun stehen blieb und sie vor ihn trat, weiteten sich ihre Augen vor Verblüffung. Sie konnte kaum glauben, dass ihr hier wirklich jemand entgegenkam und sie somit quasi in Empfang nahm.
„Oh, wie unerwartet. Ich dachte nicht, dass...“, begann sie mit ihrer klaren Stimme, da stieß dieser imposante Mann vor ihr plötzlich ein lautes und tiefes Brummen aus.
„Schweig! Was hast du hier zu suchen? Dies ist das Reich des grauen Drachen, Cain. Es ist dir untersagt, es zu betreten“, knurrte er sie an und brachte sie somit wirklich zum Verstummen.
Man hat mich ja gewarnt, dachte Xhoma und nutzte den kurzen Moment der Ruhe, um den Fremden zu betrachten. Er war so groß!
An die zwei Meter vielleicht? Sein breiter und muskulöser Körper war kaum verhüllt, er trug lediglich eine locker sitzende rote Stoffhose, die von einem Bindegürtel auf seinen Hüften gehalten wurde. Seine Haut war ungewöhnlich blass für einen Ort wie diesen, aber auch der Rest von ihm passte nicht hierher.
Sein markantes und scharf geschnittenes Gesicht war raue und pure Männlichkeit, ausgezeichnet durch ein kantiges Kinn und hervorstehende Wangenknochen. Sein voller Mund war schwunglos, doch die Kerbe in seiner Oberlippe unerwartet tief. Seine Nase war ein wenig zu lang, aber da achtete man überhaupt nicht drauf, da alle Aufmerksamkeit auf seinen stahlgrauen Augen lag, von denen sie hätte schwören können, leuchtend silberne Einschlüsse in ihnen zu erkennen, welche das Licht beinahe reflektierten. Aber da war noch etwas. Eine leichte Trübung in seinem rechten Auge, die kaum zu bemerken war und nur auffiel, weil sie sich wie ein milchiger Schleier über die schwarze Pupille legte. Wie alt diese Verletzung wohl sein mochte?
Xhoma stutzte leicht über die hellen Bartstoppeln auf seiner Haut. Sie hatten die gleiche Farbe, wie sein mittellanges Haar, welches er nachlässig zurückgestrichen hatte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob man die Farbe weiß oder grau bezeichnen konnte, es schien eine ganz eigenartige Mischung zu sein. Es ließ ihn in jedem Fall nur noch kälter erscheinen.
Xhoma konnte nicht leugnen, wie beeindruckend seine Gestalt war und erschauerte leicht, als er einen Schritt auf sie zu machte und ihr dabei der Geruch von Leder, Amber und Mineralien in die Nase stieg. Das war seltsam...
Wie konnte ein Mann aus der Wüste nur so vertraut duften? Xhoma entspannte sich unwillkürlich und ihr wurde klar, dass er noch immer auf eine Antwort von ihr wartete. Selbstbewusst sah sie also zu ihm auf.
„Nun, mir bleibt leider keine andere Wahl, ich muss zum König, es ist wichtig“, gab sie zurück, wobei sie sich darüber bewusst war, dass ihre Erklärung wohl viel zu dürftig ausfiel. Und da stieß der hübsche Fremde auch schon einen abfälligen Laut aus.
„Niemand darf zum König. Und so wichtig kann es gar nicht sein, wenn dein Volk nur eine einzige Nymphe losschickt. Ein Wunder, dass du noch lebst“, spuckte er aus.
Nicht seine tiefe und brummige Stimme ließ Xhoma erzittern vor Wut, sondern seine Worte. Er war ganz schön unverschämt! Sie fletschte die Zähne und stieß ein Fauchen aus.
„Ihr solltet vorsichtig sein, eine einzige Nymphe kann einen weitaus größeren Schaden anrichten, als Ihr für möglich haltet.“
Cains Blick fiel auf ihre Klauen, dennoch zeigte er nur ein müdes und unbeeindrucktes Lächeln. Schweigend sah er mit an, wie sie eine davon in einen kleinen Beutel gleiten ließ und dann ein gefaltetes Schriftstück hervorzog, um es dann demonstrativ in die Höhe zu halten.
„Seht Ihr das hier? Ich muss es dem König bringen. Unverzüglich!“, stieß sie dann aus. Cain zog die Brauen hoch. Dafür, dass die Nymphen so bekannt für ihre Zurückhaltung waren, war diese hier ganz schön kratzbürstig. Nun gut, für ihre Grausamkeit mochten sie dafür nur allzu bekannt sein, allerdings erweckte diese Nymphe hier keinen besonders grauenhaften Eindruck. Ganz im Gegenteil, er fand diese hier unerwartet liebreizend, trotz ihrer scharfen Zunge.
Besser, er bekam seine Instinkte zügig unter Kontrolle. Cain zog lediglich die weißblonden Augenbrauen hoch und entriss ihr den Brief, um sich damit von ihr abzuwenden.
„Ich werde ihn zustellen“, grummelte er.
Xhoma verzog das Gesicht. Was fiel diesem überheblichen Klotz eigentlich ein? Na warte, dachte sie und sprang ihn regelrecht an, um ihm den Brief mit den Klauen zu entreißen.
„Ich muss ihn persönlich überbringen, also gebt ihn her!“, fauchte sie und ließ sich auf eine Rangelei mit ihm ein. Sie hätte beinahe Spaß darüber empfinden können, wäre da nicht plötzlich die große Pranke des Mannes gewesen, die sich schlagartig um ihren Hals legte und zudrückte. Sie rang nach Luft.
„Hast du wirklich geglaubt, du würdest bis zum König durchkommen?“, brüllte Cain, nachdem er sein Gesicht direkt vor ihres gebracht hatte. Deutlich konnte Xhoma die Abscheu in seinem Gesicht erkennen, aber sie konnte nach wie vor nicht sagen, was genau dieser Mann eigentlich war. Für einen gewöhnlichen Menschen war er viel zu stark.
„Dummes Ding“, schnaubte er. „Ich werde dem König deinen Brief geben, aber dein Leben hat dabei keinerlei Bedeutung mehr.“
Immer weiter schnürte er ihr die Luft ab, bis sie genug hatte und begriff, dass sie ihre Träume nur verwirklichen konnte, wenn sie sich niemals unterkriegen ließ. Erst recht nicht von einem Mistkerl, wie diesem hier. Ohne zu überlegen holte sie aus und zog ihm ihre Klaue geradewegs durchs Gesicht. Und obwohl sie deutlich mit ansehen konnte, wie seine Haut an drei Stellen aufriss und lange Schnitte über Nase und Wange offenbarte, gab dieser Mann keinen Laut von sich. Sie sah ihn zwar schmerzerfüllt zucken und auch verschwand seine Hand von ihrem Hals, aber er war die Ruhe selbst. Er wirkte fast verblüfft als er sich an die blutige Wange fasste und sie mit seinen Augen fixierte, in denen sich das silberne Leuchten nun auszubreiten schien.
Ein Schauer lief Xhoma über den Rücken, als sich die Luft um sie herum elektrisch aufzuladen schien. Ihr blühte ein Kampf auf Leben und Tod und dennoch versuchte sie nun, ihre Fassung zu wahren.
„Ich werde dabei sein, wenn der König diesen Brief liest und Ihr könnt mich nicht daran hindern. Und nun bringt mich zu ihm“, sagte sie möglichst ruhig, wenn auch unnachgiebig.
Cain biss die Zähne zusammen und musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um seine animalischen Wesenszüge und seine Instinkte nicht nach außen dringen zu lassen. Der Drache in ihm wollte diese Nymphe blutend im Sand liegen sehen, sein Verstand teilte ihm jedoch mit, dass dieses Wesen noch einen anderen Nutzen für ihn haben musste. Sie war unerwartet zäh und widerspenstig und auch konnte er nicht leugnen, dass seine Neugier geweckt war. Warum bestand sie so vehement darauf, dies persönlich zu klären?
Und warum fürchtete sie sich nicht vor ihm, so, wie alle anderen es taten? Abfällig warf er einen Blick auf ihre nackten und wunden Füße, dann setzte er sich in Bewegung.
„Nur zu, komm“, begann er, mit unverhohlenem Spott in der Stimme. „In deinem Zustand wirst du es so oder so nicht bis zum Hort schaffen.“
Ohne es auch nur zu ahnen, erweckte er somit den Ehrgeiz in Xhoma. Glaubte dieser aufgeblasene Volltrottel etwa wirklich, dass sie wegen schmerzender Füße auf- oder nachgeben würde?
Xhoma wusste nach wie vor nicht, wie dieser beängstigende Mann eigentlich hieß, doch er stellte sie auf die Probe und hielt sich nicht zurück. Er ging schnell und machte große Schritte und hoffte somit wohl, sie abschütteln zu können, aber diesen Gefallen würde die Nymphe ihm nicht tun.
Jeder ihrer Schritte schmerzte und längst waren die Blasen unter den Sohlen aufgeplatzt, doch mühsam versuchte sie, mit ihm Schritt zu halten. Es dauerte nicht allzu lange, da tauchte direkt vor ihnen eine Stadt auf, die nicht nur unglaublich imposant war, sondern auch ungeheuer faszinierend. Es gab keine Mauern, die einen aufhielten, stattdessen tauchten wie aus dem Nichts heraus kleine Zelte und Häuser aus Sandstein auf. Alles wirkte wie aus einer Fantasie, wie ein Gemälde, welches auf bloße Vorstellungskraft basierte.
Die Häuser aus Sandstein besaßen allesamt flache Dächer, standen dicht an dicht und erschufen somit ein verflochtenes Straßennetz, mit versteckten Gassen und Winkeln. Händler säumten die Ränder der Straßen, hatten mal hier, mal da kleine Zelte aufgeschlagen oder aber bloße Matten und Teppiche ausgebreitet, auf denen sie ihre Ware anboten. Diese bestanden aus Lebensmitteln, Körben, Krügen, Teppichen, Schmuck und noch vielem mehr, was Xhoma ins Staunen versetzte. Sie wäre gerne stehen geblieben, um alles genauer unter die Lupe nehmen zu können, aber der Mann vor ihr nahm noch immer keinerlei Rücksicht.
Wenn sie ihn erst einmal aus den Augen verloren hätte, war es das, dann käme sie niemals in den Palast des Königs. Obwohl sie diesen schon von hier aus erkennen konnte. Es war kein hoch erbautes Schloss, so wie es in Beleah zu finden war, sondern ein flaches und kastenförmiges Gebilde, mit riesigen Säulen an der Vorderfront, die ein Dach trugen. Es war auf einem Hügel erbaut worden, weshalb man einen guten Blick darauf hatte, trotz der Häuser um sie herum.
Der Lärm hier war ohrenbetäubend und nicht zu vergleichen mit dem geschäftigen Treiben in der Stadt der Nymphen. Xhoma erkannte um sich herum mehr Menschen als Andere und wunderte sich darüber, gleichzeitig nahm sie deren Kleidung unter die Lupe, welche größtenteils aus langen Gewändern bestand, ebenso aus Tüchern, Schals und Kopfbedeckungen. Die schützten zwar vor der sengenden Sonne, aber ob sie wohl auch die Wärme abhalten konnten?
Xhoma jedenfalls wäre nun am liebsten in einen eiskalten See gesprungen. So mystisch und faszinierend dieser Ort auch war, gerne hätte sie sich nun an einem schattigen Plätzchen niedergelassen und ausgeruht.
Sie war für einen kurzen Moment so abgelenkt von dem Treiben um sich herum, dass sie den Mann vor sich beinahe aus den Augen verloren hätte, aber als er irgendwann einen Blick über die Schulter warf und sie den wütenden Ausdruck in seinen Augen erkannte, wurde ihr klar, dass er es doch glatt darauf angelegt hatte. Er versuchte vorsätzlich, sie in der Menschenmasse abzuschütteln! Ihre Wut darüber trieb sie erneut an, auch wenn sie mittlerweile nur noch humpeln konnte.
„Wer seid Ihr eigentlich?“, fauchte sie, während er sie nun durch abgelegene Straßen führte, die so aussahen, als würden sich hier sonst nur Kriminelle herumtreiben. Dies war also die Wüstenstadt Keelerah...
Der Fremde schwieg und so ließ Xhoma einfach wieder ihren Blick schweifen. Sie fragte sich, wie es wohl im Inneren der Häuser aussehen mochte, denn über ihr konnte sie Balkone erkennen, die ungeheuer gemütlich aussahen. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf gut ausgepolsterte Sitzecken, mannshohe Pflanzen und Webteppiche mit aufwendigen und komplizierten Mustern.