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In einer zauberhaften Welt namens Terrandessa liegt das kleine, fast vergessene Land Anthurien. Zehn Jahre lang war Ruhe, doch damit ist es jetzt vorbei. Ein besiegt geglaubter Feind taucht wieder auf - der Drache Moladusa will Anthuriens Thron. Gleichzeitig spinnt der Hohepriester Amicanthus seine Intrigen, um an die Macht zu gelangen. Die junge Königin Alyssa kann jede Hilfe gebrauchen. Ihre Getreuen suchen nach einer Möglichkeit, den Drachen für immer loszuwerden. Mit dem heldenhaften Sir Rabe und dem geheimnisvollen Diffusius mit seinem Babydrachen kommt Verstärkung von unerwarteter Seite, doch es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und Moladusa kommt immer näher ...
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Seitenzahl: 640
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In einer zauberhaften Welt namens Terrandessa liegt das kleine, fast vergessene Land Anthurien. Zehn Jahre lang war Ruhe, doch damit ist es jetzt vorbei.
Ein besiegt geglaubter Feind taucht wieder auf - der Drache Moladusa will Anthuriens Thron. Gleichzeitig spinnt der Hohepriester Amicanthus seine Intrigen, um an die Macht zu gelangen.
Die junge Königin Alyssa kann jede Hilfe gebrauchen. Ihre Getreuen suchen nach einer Möglichkeit, den Drachen für immer loszuwerden.
Mit dem heldenhaften Sir Rabe und dem geheimnisvollen Diffusius kommt Verstärkung von unerwarteter Seite, doch es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und Moladusa kommt immer näher ...
Silke Schäfer (Jahrgang 1957) ist gelernte Grafische Zeichnerin und lebt in Duisburg. Als ein beruflicher Wechsel in eine künstlerisch vergleichsweise trockene Sparte nötig war, blieb sie trotzdem – oder gerade deshalb – ihrer Liebe zu Bild und Wort treu. Das Schreiben von Kurzgeschichten mündete schließlich wie von selbst in einen längeren Text, der sich in ihrem humorigen Debüt-Roman "Drachengrün und Rabenschwarz" präsentiert.
Für Andreas
Die Hauptpersonen und einige Nebenpersonen in der Reihenfolge ihres Auftretens
Moladusa – ganz nach eigenem Wunsch mal Frau, mal Drache, und wenn es nach ihr ginge, gern auch mal Königin von Anthurien. Den Thron müsste man natürlich vorher leerfegen…
Mothian Lacrimas – mächtiger Magier, dessen ehrgeizigstes Experiment einen unerwarteten Erfolg zeigt. Nicht nur einmal fragt er sich danach, ab welcher Stelle alles aus dem Ruder lief.
Lord Timmik Triskell – Urgestein des anthurischen Königshofes und unverzichtbarer Berater mit Heldenstatus als Drachenbezwinger. Doch einmal reicht, meint er.
Jon Kappel – Knappe von Lord Timmik und ihm treu ergeben. Er folgt seinem Herzen und wächst in Erfüllung seiner Aufgabe über sich selbst hinaus.
Sebastian Rayven von Corlan – ein Vertriebener, der seine Ehre zurückgewinnen will und dem das Schicksal es nicht leicht macht.
Andreas Diffusius von Styrum – Freigeist mit einem Hang zu Hochprozentigem und einer starken Abneigung gegen die Langeweile des alltäglichen Lebens.
Gustav und Alenna Feylsch – Kaufmannsehepaar aus Lilientorf, das trotz bester Geschäfte sich damit abfinden muss, dass Geld allein nicht adelt.
Alyssa die Erste von Anthurien – als letzte Nachfahrin des alten Königs sozusagen direkt aus dem Pferdesattel auf den Thron, und der ist in Gefahr. Mit Unerschütterlichkeit und Mut zu Neuem stellt sie sich der Herausforderung.
Neola – dauerbeurlaubte Stammesführerin der Karamani und beste Freundin der Königin. In einem schwachen Moment hat sie eine gute Idee.
Allegra Giravia – Befehlshaberin mit einem Blick für Details. Unter ihrem Kommando können Lilientorfs Bürger ruhig schlafen.
Vater Amicanthus – nach eigenem Dafürhalten der einzig würdige Anwärter auf die Rolle des Seelsorgers für alle Anthurier. Um sein Vorhaben durchzusetzen, geht er ein ungewöhnliches Bündnis ein.
Donar ab Asnidae – kampferprobter Abenteurer aus Edessa-Tyra, der am Königshof Karriere macht und seine harte Schale nur wenigen öffnet.
Aurelio Elio – handwerkliches Multitalent, dessen geistige Spannweite so groß ist, dass er sich zum Ausgleich dafür lieber mal zum Narren macht.
Meister Rahavin Timudis – Hochschulabsolvent aus Kemiland. Seine erste Stelle als Hofmagier in Anthurien lenkt sein Leben in eine ganz neue Bahn.
Sir Robert Helbrand – pflichtbewusster und sangesfreudiger anthurischer Ritter, der leider ins Mahlwerk einer Intrige gerät.
Krischan von der Brauck – ein zuverlässiger Mann mit ruhigem Temperament, ideal als ausgleichende Kraft bei einem heiklen Außeneinsatz.
Lady Cascada und Lord Lothar Bausch – gemeinsam meistern sie alle Schwierigkeiten, ohne einander erschaffen sie neue.
Professor Rhince Valerius – unbändiger Forscherdrang gepaart mit einer gewissen Weltfremdheit, das bringt einen schon in merkwürdige Situationen. Andererseits kann das auch zu netten Überraschungen führen.
Emmo Visser und Cord Smitt – Burgwächter zu sein kann auch Spaß bedeuten, wenn man etwas nachhilft.
Lady Arboretas da Silva – eine hochgezogene Augenbraue sagt mehr als tausend Worte. Sie ist Hüterin alten Wissens und Vertreterin des Landes Dendrobien.
Baltasar Bard – hoffnungsvoller Rekrut der Rabenkrieger und nebenbei auch auf der Suche nach den eigenen Wurzeln.
Bent Belial – böse Zungen würden sagen, er sei außen hui und innen pfui. Wenn er wollte, könnte er vermutlich auch nett sein.
Sarro – Frohnatur mit ein wenig Selbstüberschätzung, doch im entscheidenden Moment beweist er großes Geschick für rechtzeitiges Eingreifen.
Antinea Lorandis – Spezialistin für die Heilkräfte der Natur; und allerlei Neuigkeiten erfährt man von ihr nebenbei auch noch.
Dimetrius Bärenquell – ein Mann, ein Ziel: Rabenkrieger werden. Traditionsbewusster Naturbursche, der aber auch neuen Erfahrungen gegenüber sehr aufgeschlossen ist.
Vorgeschichte
Tag Eins: Sieben Jahre später
Tag Zwei: Fremdlinge und Begegnungen unterwegs
Tag Drei: Rückkehr zur Burg
Tag Vier: Auf allen Wegen
Tag Fünf: Audienz
Tag Sechs: Null Null Elf
Tag Sieben: Endlich in Bewegung
Tag Acht: Kampfbeginn
Tag Neun: Jubiläumstag
Tag Zehn: Aufräumen
Epilog
Am Anfang war das Wasser, und im Wasser waren die Vulkane. Das Wasser war angenehm warm, so beschloss die Göttin Dandess, ein Bad zu nehmen.
Sie tauchte ganz unter, und aus den Luftblasen ihres Atems entstanden die Fische und alles, was im Wasser lebt.
Sie kämmte ihr Haar, eins davon fiel ins Wasser, und daraus entstand ein großes, festes Land.
Sie lächelte, und aus ihrem Lächeln entstanden alle Pflanzen, Blumen und Bäume.
Sie wusch sich das Gesicht und verlor eine Wimper, daraus entstanden alle Lebewesen, die das Land bevölkern.
Sie sang ein Lied, und aus ihrer Stimme entstanden die Insekten und Vögel und alles, was fliegt.
Sie schlief ein und träumte, und ihr Traum nährt die Magie, die in allem wohnt.
Möge die Göttin ewig schlafen und träumen, denn so lange währt die Magie, die uns Leben schenkt.
Wandinschrift im Hauptheiligtum der Göttin Dandess, Höhle in den Blausteinen
Auf einer Insel im Westen, an einem kalten, zugigen Ort mit fahlem Licht und dicken Gitterstäben, öffnete Moladusa die Augen. Sie fühlte, dass ihre Lebenskraft langsam zurückkehrte. Wieder hatte sie monatelang geschlafen und sich damit dem Tag ihrer Befreiung nähergebracht. Sowohl ihre Träume als auch ihre wachen Gedanken kreisten unablässig um das Land, in dem sie vor drei Jahren verwundet und aus dem sie vertrieben worden war. Vorsichtig tastete sie mit der Pfote nach dem Hornstumpf. Es würde noch einige Zeit dauern, bis das nachgewachsen war.
„In deiner menschlichen Gestalt gefällst du mir besser.“
Ihre andere Hälfte (nein, nicht die bessere) war hereingekommen und warf dem Drachen einen resignierten Blick zu. Mothian Lacrimas war Schwarzmagier durch und durch, und er hatte sich vor Jahren seinen größten Traum erfüllt. Seine ganze Kunst hatte er aufgeboten, hatte bestochen und gemordet, hatte schließlich sein eigenes Selbst zerteilt, um Unsterblichkeit zu erlangen.
Alles dazu Notwendige hatte er in einem alten, vergessenen Buch gefunden, und als er erst angefangen hatte und die ersten Erfolge sich einstellten, konnte er auch nicht mehr damit aufhören. Es war einfach undenkbar, so dass er die Alarmglocken seines Geistes ignorierte und auch das letzte, vollendende Ritual ausführte, das ihm ewiges Leben bescheren sollte.
Später mutmaßte er, dass der Verfasser des Buches entweder einen makabren Sinn für Humor gehabt haben musste oder dass er selbst einen Fehler bei der Übersetzung des altertümlichen Textes gemacht hatte. Denn nirgends war da ein Hinweis auf einen Drachen gewesen.
Aus einer Hälfte von Mothian Lacrimas’ Seelenanteilen hatte der Zauber einen Drachen geformt, ähnlich gestaltet wie einige der längst ausgestorbenen Wesen, deren Knochen man hin und wieder fand.
Dieser Drache konnte mit seinem Blick Menschen versteinern lassen, darum hatte Lacrimas ihn zunächst Medusa genannt, nach einem ähnlichen mythischen Wesen. In Anlehnung an seinen eigenen Namen und unter Verwendung der Anfangsbuchstaben wurde aber bald Mo-La-Dusa beziehungsweise Moladusa daraus, das erschien dem Magier angemessener.
Mit dem Vorgang des Versteinerns ging das bis dahin erreichte Lebensalter der Menschen auf die Drachen-Magier-Einheit über, sodass man mit dieser Methode tatsächlich unendlich alt werden konnte.
Und dann war da noch die Sache mit der Verwandlung. Zu seinem Erstaunen hatte Lacrimas feststellen müssen, dass der Drache genau seine weiblichen Anteile verkörperte und außerdem ganz nach Belieben (fast) menschliche Gestalt annehmen konnte. Das Ergebnis war eine kurvige Amazone mit grünen, strähnigen Haaren, die äußerst launisch war und keinerlei Orientierungsvermögen hatte. Wo der Drache ein Horn auf der Stirn hatte, saß bei ihr eine kleine Warze, die Augen sahen noch immer nach Reptil aus, und die Haut behielt einen leichten Grünschimmer. Außerdem konnte sie sich nicht beherrschen, wenn es um Kleider, Schmuck oder Schuhe ging.
Ihm hingegen fiel es seitdem schwer, sich auf zwei oder mehr Experimente gleichzeitig zu konzentrieren, und es gab in seiner Kleidertruhe nur noch lauter einzelne Socken, aus denen sich kein einziges zusammengehöriges Paar zusammenfinden ließ. Beim Erkennen feiner Farbabstufungen versagte er völlig, und seine Intuition, auf die er sich immer hatte verlassen können, hatte er verloren. Und sein größter Schrecken war: Er konnte sich von diesem Drachen nicht trennen. Eine Existenz, ein Leben war nur beiden „Teilen“ gemeinsam möglich, doch waren sie nicht unverwundbar. Starb der eine durch Krankheit oder im Kampf, konnte auch der andere nicht überleben.
Die letzte Konfrontation mit einem vorzeitigen Tod lag erst wenige Jahre zurück, als Moladusa es sich in den Kopf gesetzt hatte, Königin von Anthurien sein zu wollen und nach einer Zeit des Terrors dort im Kampf gegen einen mächtigen Verteidiger unterlag.
Moladusas Horn war dabei ein wichtiges Detail, denn darin lag ein großer Teil ihrer Magie und ihrer Lebenskraft. Als sie damals nach ihrer Niederlage hornlos und geschwächt zurückkehrte, sperrte Lacrimas sie kurzerhand ein. So war sie in Sicherheit und er damit auch. Nun beobachtete er sie und versuchte sich vorzustellen, wie für ihn und sie die (unendliche) Zukunft aussehen mochte. Er war jetzt seit 235 Jahren 42 Jahre alt und hatte keine Ahnung, wie viele Versteinerungen er noch „ableben“ musste.
Mothian Lacrimas war nach all dieser Zeit müde und enttäuscht, aber das wagte er Moladusa nicht zu sagen, zu sehr fürchtete er ihre launischen Ausbrüche. Er hatte sie beide in eine ausweglos scheinende Lage gebracht und zerbrach sich den Kopf darüber, wie es weitergehen – oder besser, wie das beendet werden konnte. Und langsam reifte in ihm ein verzweifelter Plan (zumindest das funktionierte noch), den er tunlichst vor ihr geheim zu halten versuchte. Doch wie das immer so ist: Sie beobachtete ihn, deutete die Zeichen richtig und ahnte bald, was er vorhatte.
Na gut, dachte Moladusa. Spielen wir das Spiel erst mal gemeinsam. Du glaubst, du kontrollierst mich? Nur so lange, bis ich den Spieß umdrehe. Aber noch ist es nicht soweit. Anthurien wird auf mich warten, und bis dahin schlafe ich noch ein bisschen.
Gleichzeitig war man am anthurischen Königshof mit Eifer dabei, dem heutigen Krönungstag besondere Pracht zu verleihen.
König Zachelias der Achte war tot, doch an allen Masten und Pfosten flatterten jetzt Wimpel und bunte Bänder, und die Trauerbeflaggung der letzten Wochen war den Landesfarben Grün-Gelb gewichen, die majestätisch vor einem strahlendblauen Himmel wehten.
Der Oberste Zeremonienmeister Lord Timmik hatte keine Mühen gescheut, denn das Volk brauchte nach der langen, leidvollen Regierungszeit des vorangegangenen Monarchen ein Zeichen zum Neuanfang. Er hatte auf dem weiten Gelände vor der Lilienburg einen Turnierplatz abstecken und Bänke für die Adligen und Reichen aufstellen lassen, dahinter eine prachtvolle überdachte Tribüne für die neue Landesherrin und ihren Hofstaat. Ihre Krönung sollte hier geschehen, öffentlich vor ihren Untertanen, für die der vorherige Herrscher zuletzt nur noch ein Name ohne Gesicht gewesen war und von dem man noch nicht mal mehr gewusst hatte, ob er noch lebte oder ob ein Stab von Befehlshabern seine eigenwilligen Regierungsgeschäfte weiterführte.
Aus diesem Grund hatte Lord Timmik den Thron herausbringen lassen, auch die Tapisserien und die hohen Kerzenleuchter und all die schönen Dinge, die in der düsteren Burg kaum je einen Blick der Bewunderung abbekommen hatten. Zumindest das war er der neuen Königin schuldig: Er konnte für einen bestmöglichen Start in ihre hoffentlich lange Regierungszeit sorgen.
Dem alten König hatte er gedient, seit er alt genug gewesen war, als Page die einfachsten Aufgaben zu übernehmen. Mit Strebsamkeit und taktischer Klugheit hatte er all dessen mentale Klippen umschifft und war dabei zu höchsten Ehren gekommen. Vor kurzem hatte er seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert und hoffte nun, dass mit der neuen Königin auch eine neue, ruhigere Zeit anbrach.
Noch nie in seinem ganzen bisherigen Leben (und das waren immerhin schon zehn Jahre!) hatte Jon so etwas Schönes gesehen. Mit offenem Mund stand er neben seiner Mutter in der Menge vor der Tribüne und schaute auf den mit schimmerndem Brokat bezogenen Thron unter dem rotseidenen Baldachin, auf dem gleich die neue Königin Platz nehmen würde. Die hölzerne Wand dahinter war mit Leinentüchern straff bespannt, auf denen die besten Künstler Anthuriens bunte Ornamente und blühende Blumen gemalt hatten.
„Mama… ähm, Mutter?“ Mit zehn Jahren sagte man nicht mehr Mama. Da war man doch schon fast erwachsen.
„Ja, mein Lieber?“
„Wer ist der Mann da oben, der mit dem roten Rock und dem Schnauzbart? Der da gerade den Wächter anbrüllt?“
„Das ist Lord Timmik.“ In der Stimme von Jons Mutter vibrierte Ehrfurcht. „Das ist der Mann, der unser Land vor dem Drachen gerettet hat. Weißt du noch, bevor wir in dem Haus am Ortsrand gewohnt haben? Als dein Vater noch lebte? Nein, da warst Du vielleicht noch zu klein. Schlimme Zeiten. Das Haus, in dem wir vorher wohnten, ist damals abgebrannt. Fast die ganze Stadt brannte. Lord Timmik haben wir es zu verdanken, dass der Drache verschwand und dass wir alles neu aufbauen konnten.“
„Ich war sieben“, korrigierte Jon, der sich mit sieben Jahren als nicht zu klein empfand. „Natürlich erinnere ich mich an den Brand. Und seitdem wohnen wir in dem neuen Haus. Was vorher passiert ist, weiß ich allerdings nicht mehr. Ich erinnere mich auch an Vater nur noch sehr undeutlich.“
„Du bist ihm sehr ähnlich. Er war der Typ Mensch, bei dem man sich sofort geborgen fühlte. Lord Timmik erinnert mich ein wenig an ihn.“
Jon betrachtete den Lord mit neuem Interesse und zunehmender Bewunderung. Genau so stellte er sich einen Helden vor, der einen Drachen besiegte – stattlich, energisch und überlegen. Ein Beschützer. Ein Mann, zu dem man aufsehen konnte.
Am selben Nachmittag, jenseits der nördlichen Landesgrenze, grübelte Sebastian Rayven von Corlan, der junge Erbe der Burg Rabenhorst, über die Schicksalsschläge des Lebens, insbesondere seines eigenen. Soeben hatte ihn die Nachricht seiner Verlobten erreicht, dass sie sich nach diesem Skandal gezwungen sehe, die Verbindung zu lösen, schließlich habe sie auf ihren guten Ruf zu achten. Möge es ihm wohl ergehen und so weiter, blabla…
Nun hatte er also auch sie verloren. Alles verloren. Seine Ehre, seinen Titel, seine Heimat. Blieb nur noch die Entscheidung zu treffen, wohin er jetzt gehen sollte.
Sein Bündel war gepackt, er wollte nur das Nötigste mitnehmen. Unschlüssig streifte er durch die Räume, die er so gern bewohnt hatte, sah durch jedes Fenster und nahm die ihn umgebende Landschaft in sich auf, um sich später daran erinnern zu können. Vor allem der tiefe, dunkle See, unermesslich groß, seine Ufer, im Dunst der Ferne kaum zu erkennen. Wie würde er ihn vermissen!
Die Dienerschaft hielt stillen Abstand oder wich ihm ganz aus.
Verbannt!
Wieder und wieder stand ihm die Szene vor Augen. König Berwolf, bedauernd aber fest, der die schicksalsschweren Worte sprach. Daneben die Königin, mit kaum verhohlenem zufriedenem Lächeln, die genau wusste, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Rundherum die anderen, die sich um neutrale Gesichter bemühten und ihn doch auch mit verurteilten. Unter ihnen der eine, der ihn verraten hatte. Sein eigener Vetter.
Und warum das alles? Hatte er es ihm geneidet, dass er mit nur fünfundzwanzig Jahren schon so beliebt bei Hofe war? Dass der König ihn in seinen Beraterstab aufgenommen hatte? Dass er das Vertrauen der anderen Clanführer genoss und von ihnen als ebenbürtig betrachtet wurde? Dass er bei allen Burgfesten der begehrteste Tänzer war?
Und doch – wäre er jetzt noch einmal in derselben Situation, er hätte es wieder so gemacht.
Mit leisem Ekel rief Lord Rayven sich den Moment wieder ins Gedächtnis, als dieser Mund sich ihm näherte, dieser Geruch nach Wein, dieses vertraute Gesicht, plötzlich unschicklich nah. Aus der Entfernung mochte Königin Kermia als hübsch gelten, und in ihrer Jugend war sie das sicherlich gewesen, aber die Verbitterung über ihre Kinderlosigkeit hatte sichtbare Spuren hinterlassen. Sie aß zuviel, vor allem Süßes. So musste man mit fünfunddreißig Jahren noch nicht aussehen.
Cambert war zufällig hinzugekommen. Zufällig? Er sah, was er sehen wollte.
Und dann der König, der von seiner eben erst angetretenen Reise an die Küste eiligst zurückkam, weil sie ihm einen Boten nachgesandt hatte, man habe versucht, ihr Gewalt anzutun. Sein schmerzlicher Gesichtsausdruck, das verlorene Vertrauen. Berwolf wusste nicht, wem er glauben sollte, und letztlich musste er den Ruf der Königin schützen und dem Gesetz Genüge tun.
Wenigstens kein Kerker.
Aber er musste Corlan sofort verlassen und durfte nicht zurückkehren, bevor seine Ehre wiederhergestellt war.
Während er den Blick schwermütig über den See schweifen ließ, meldeten sich leise Stimmen am Rande seiner Wahrnehmung. Er drängte sie entschlossen zurück und sagte laut: „Lasst mich in Ruhe. Dabei könnt ihr mir jetzt nicht mehr helfen. Ich muss es allein durchstehen.“ Er fuhr mit den Fingern über das gestickte Wandbild, das den Stammbaum seiner Familie darstellte und fuhr versöhnlicher fort: „Wacht über das Haus. Ich kann es nicht mehr. Wo immer ich bin, ich werde in Gedanken hier und bei euch sein.“
Die Stimmen wisperten leiser und verklangen mit einem traurigen Seufzer. Rayven richtete sich auf, nahm Haltung an und ging langsam aus dem Zimmer.
Am Fuß der Steilwand, auf der die Burg mit Blick über den See stand, lenkte Rayven sein Pferd dem Weg nach Osten zu. Er war noch nicht weit gekommen, als er galoppierende Hufschläge hinter sich hörte. Etwa ein Verfolger, ein Rächer, der ihn jetzt noch herausfordern wollte? Die Hand am Schwertgriff wandte er sich um, dann entspannte er sich. Es war der Sohn eines der Clanführer, und er sah eher besorgt als angriffslustig aus. Sie waren gleichaltrig und gute Freunde.
„Elfred! Du solltest lieber umkehren. Ich bin deiner Gesellschaft nicht mehr würdig.“
„Unsinn! Lass mich mit dir gehen. Niemand von uns glaubt an deine Schuld.“
„Die Schande ist ein Fleck, der sich nicht wegwaschen lässt. Ich gehe fort, und ich weiß noch nicht einmal, wohin. Vielleicht kann ich nie wieder zurückkehren. Es wird nicht leicht sein, einen Ort zu finden, wo ich bleiben und ein neues Leben anfangen kann.“
Er schürzte die Lippen und blickte den Weg entlang. Weit fort. Und welche Herausforderungen mochten ihn dort erwarten? Sein Pferd spürte seine Anspannung und tänzelte nervös.
Elfred machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Lass uns wissen, wo du bist. Wir wünschten alle, dass das nicht passiert wäre. Ohne dich wird es nie mehr so sein wie zuvor, vor allem auch deshalb, weil jetzt dein Vetter deinen Platz einnehmen wird.“
Vetter Cambert. Oh ja. Rayven machte eine unwillige Kopfbewegung, woraufhin sein Pferd sich wieder in Marsch setzen wollte. Ihm war es recht. Wo Cambert ins Spiel kam, war für ihn kein Platz mehr.
„Geh zurück, bleib hier und pass auf alles auf. Ich sende Nachricht, wenn sich die Umstände gebessert haben, aber erhofft das nicht zu bald.“ Mit einem Galoppsprung stob er davon und trieb sein Pferd noch an und redete sich ein, dass es der aufgewirbelte Staub war, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Und das musste niemand sehen.
Elfred stand erst ein bisschen verloren auf dem Weg, dann ließ er sein Pferd langsam zurücktrotten.
Am späten Nachmittag, in der Nähe des Ortes Dreywege, stand ein Mann leise fluchend in einem Gebüsch und beobachtete die Straße vor sich. Er machte keinen sonderlich gepflegten Eindruck, hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert, und seine gute Kleidung war schmuddelig. Dazu kamen einige Schrammen und blaue Flecken, so dass ein Beobachter leicht zu dem Schluss kommen konnte, dieser Mann habe eine Tracht Prügel bezogen.
„Dreimal verdammter Idiot von Vetter“, murmelte der Mann halblaut vor sich hin. „Kann nicht zufrieden sein mit dem, was er hat. Kriegt seinen unersättlichen Hals nicht voll und meint, dass er mich einfach so aus dem Weg räumen könnte. Aber so lasse ich mich nicht behandeln. So nicht.“
Er löste einige kleine Zweige aus seiner üppigen blonden Mähne und dem zerzausten Bart und zerknackte sie gedankenverloren. Wenn die Verfolger, die Raffke auf ihn angesetzt hatte, hier entlangkämen, würde er sie früh genug sehen und sich davonmachen können.
Seitlich hinter ihm raschelte es. Er drehte sich um und konnte der auf ihn zu fliegenden Faust noch so eben ausweichen. Sie hatten ihn weit umgangen und sich von hinten angeschlichen!
Der Mann nahm einen Rest von Würde zusammen, stand wieder auf und klopfte sich den Staub vom Ärmel. Sollten sie ruhig herankommen. Er würde sein Leben teuer verkaufen.
Sie waren zu dritt. Drei untersetzte, muskulöse Kerle, typische Vertreter des Schlages Mensch, womit Vetter Raffke sich gern umgab, bemerkte der Mann. So fiel es ihm nämlich leichter, aus ihrer Mitte herauszustechen, wie ein Pfau inmitten von Geiern, dachte er. Konnte man mit ihnen reden? Konnte er sie so beschwatzen, dass sie ihn gehen ließen?
„Meine Herren, da Ihr mich aus Kemion heraus verfolgt und nun hier gefunden habt und seht, dass ich weit vom Ort des Geschehens entfernt bin, könnt Ihr meinem geschätzten Vetter ausrichten, dass ich mitnichten zurückkehren werde und ebensowenig plane, ein Heer aufzustellen, damit ich ihn zu Hause angreifen kann. Ich will nichts als diesen Weg weiter nach Norden gehen und in Ruhe gelassen werden.“
Sie stierten ihn kurz an, als ob sie erst warten mussten, bis alle Worte in ihren Gehirnen angekommen waren und einen Sinn ergaben. Dann trat einer vor und baute sich auf, sein komisch verzerrtes Gesicht sollte wohl überlegenes Grinsen darstellen.
„Unser Auftrag lautet ganz einfach, Euch zu erledigen, und genau das tun wir.“
„Aber wozu? Raffke ist in der direkten Linie, ich nur in einem völlig bedeutungslosen Nebenzweig. Ich fechte sein Erbe nicht an, er hat ohnehin alles von Wert bekommen. Er hat Schloss Starkroth und all das Land … ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass er auch noch unbedingt diese kleine Berghütte will, die mir Heimstatt ist. Oder war, besser gesagt. Er hat Höhenangst, mag ja noch nicht mal auf einen Turm steigen, warum also lasst ihr mich nicht einfach gehen?“
„Wir haben unseren Auftrag …“
„Ja, das sagtet Ihr bereits. Und wir sind hier im Ausland, da gilt das doch nicht mehr, oder? Dort entlang geht es zurück, ihr Herren, mit den besten Grüßen von mir und auf Nimmerwiedersehen.“
Statt einer weiteren Wiederholung, dass das ihr Auftrag sei, rückten die drei Schläger vor. Ihr Opfer wich ins Buschwerk zurück und suchte nach etwas, mit dem er sich verteidigen konnte. Aber hier konnte ihm nur seine Wendigkeit helfen und die Tatsache, dass zwischen all den Zweigen für einen richtig kräftigen Schlag kaum genug Platz zum Ausholen war.
Die hinter den Baumwipfeln versinkende Sonne zauberte lange Schatten auf den Weg, Mückenschwärme tanzten in den schrägen Strahlen. Hufschlag und das Rumpeln von großen Rädern gesellten sich zum Rascheln und Knacken, dann ein Plumps, ein Stöhnen und eilige, sich entfernende Schritte.
Ein von zwei Pferden gezogener Reisewagen näherte sich, in der dahinplätschernden Geräuschkulisse einer weiblichen Stimme: „… so eine Schande, dass wir es nicht zur Krönung schaffen! Und nur, weil du mit dem Kerl nicht handelseinig werden konntest … und weißt du, mein Lieber, ich halte es nicht für richtig, allzu schnell auf so ein Preisangebot einzugehen. Wenn wir zu teuer einkaufen, bleibt am Ende nicht genug Gewinn, also müssen wir unseren Preis höher ansetzen, und das macht es für uns schwieriger. Er ist ein Betrüger, das wissen wir. Und er weiß, dass wir das wissen. Trotzdem lässt du dich immer wieder von ihm an der Nase herumführen … oh. Sieh mal, liegt da jemand im Graben?“
„Alenna, bleib sitzen. Ich sehe nach. Vielleicht ist er verletzt.“
„Dann braucht er meine Hilfe umso mehr.“
„Bleib trotzdem sitzen.“
„Jede Sekunde zählt. Wenn er stirbt, Gustav, ist es deine Schuld.“
„Also gut, wenn du meinst …“
Der Fremde sah übel aus, auch wenn anscheinend der überwiegende Teil seines zerrauften Aussehens auf Zusammenstöße mit der Vegetation zurückzuführen war. Nach einer kurzen Untersuchung und vielen mitfühlenden Lautäußerungen von Alenna hoben sie den Verletzten auf den Wagen und setzten ihre Fahrt fort. Bis Dreywege war es nicht mehr weit, und in der dortigen Herberge würden sie sich besser um alles kümmern können.
„Ich bin sicher, dass ich Euch mit meinem bescheidenen Heilwissen helfen kann, doch wüsste ich gern, für wen ich mich bemühe. Der Kleidung nach zu urteilen seid Ihr weder ein armer Mann noch kommt Ihr hier aus der Gegend. Wie lautet Euer Name?“ sagte Alenna, während sie vorsichtig den Schmutz von den Wunden abzuwischen versuchte.
Der Mann hustete ein paarmal, bevor ihm ein fast geflüsterter Satz gelang.
„Ich bin Andreas Diffusius von Styrum aus Kemion, und ich bin derzeit auf der Flucht. Eine Erbschaftsangelegenheit. Dank Euch wurden meine Angreifer von ihrem Tun abgelenkt und lassen mich jetzt hoffentlich unbehelligt weiterziehen.“
„Das mit dem Weiterziehen lasst Ihr lieber noch ein paar Tage bleiben“, verkündete Alenna. „Aber dann solltet Ihr wieder in Ordnung sein. Eure Blessuren scheinen nur oberflächlicher Natur zu sein, und ich habe keinen Bruch festgestellt.“
Er entspannte sich und schloss die Augen. Nur einige Tage, und er würde weiterwandern können, weg von seiner Heimat, wo man ihm nach dem Leben trachtete, und hin zu unbekannten Orten und Abenteuern, die auf ihn warteten. Nur eins fehlte jetzt zu seinem Glück.
„Meine werte Retterin, vergebt mir … aber ich habe diese Köstlichkeit in den letzten Tagen so entbehren müssen. Hättet Ihr für einen armen Verwundeten ein Schlückchen Wein?“
Alyssa, die noch ungekrönte junge Königin von Anthurien, saß in ihrem Gemach und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Dieses ganze Krönungstheater fand sie absolut überflüssig, aber sie sah auch ein, dass die Zeremonie ein wichtiges Zeichen für ihre künftige Herrschaft setzte. Die Einwohner des kleinen Ortes und alle Burgbewohner hatten sie freudig begrüßt und schienen sehr froh, dass sie des Königs Nachfolge antrat. Andererseits – die Leute hätten Alyssa auch bejubelt, wenn sie schielend und hinkend dahergekommen wäre, denn alles andere als Zachelias der Achte war auf jeden Fall eine Verbesserung.
Der alte König hatte sich mit den Jahren immer mehr in ein verqueres Traditionsbewusstsein verrannt und alles „Moderne“ abgelehnt. Anfangs ging es hauptsächlich um gewisse Bestandteile des Essbestecks und exotische Gewürze, erfasste jedoch nach und nach auch andere Bereiche des täglichen Lebens. Dies führte zu teilweise recht bizarren Regeln. Ausländische Barden zum Beispiel durften zwar einreisen, jedoch nicht singen, weil das dem althergebrachten anthurischen Liedgut Schaden zufügte. Wenn beim Pferderennen ein Tier mit ausländischen Vorfahren im Stammbaum startete, wurde es, selbst als Sieger, automatisch einen Platz hinter das nächste „reinfamiliäre“ zurückgestuft. Zur offiziellen Religion wurde die erklärt, welche ihre (einheimische) Entwicklung am weitesten zurückverfolgen konnte, alle anderen wurden verboten und galten als Blasphemie.
Als der König sein Augenmerk auch noch auf das Waffenwesen richtete und ein Gesetz formulierte, dem alle nicht in Anthurien entwickelten Verteidigungsmittel zum Opfer fielen, versuchten die Ratsmitglieder alarmiert, das Ruder herumzureißen. Vergeblich. Keulen, Speere, Jagdbogen und kleine Steinschleudern – mehr blieb zuletzt nicht übrig. Und wegen der Steinschleudern hatte es lange Streitgespräche mit den Historikern gegeben.
Diese Abrüstung führte dazu, dass Anthurien so sicher war wie eine offene Geldbörse. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es draußen jemandem auffiel, dass man hier mit einer bequemen Eroberung rechnen durfte.
Und das hatte letztlich den Drachen auf den Plan gebracht.
Zum Glück hatte König Zachelias nie auch nur im Mindesten geahnt, welch progressive Ader in Lord Timmik steckte, sonst hätte er ihn auch verboten. Denn zu dieser Zeit begann der Lord mit vorsichtigen Nachforschungen, ob es denn jemanden für eine eventuelle Thronfolge gäbe.
Alyssa war die Tochter der Halbschwester des Vetters von Zachelias dem Achten. Von höfischen Angelegenheiten völlig unbetroffen war sie in einem entfernten kleinen Dorf aufgewachsen, wo ihre Eltern eine erfolgreiche Pferdezucht betrieben. Sie hatte sich mit ihrem Leben dort wohlgefühlt und gab nichts auf ihre hohe Abstammung. Was immer auch andere behaupten mochten, sie hatte es nie darauf angelegt, eine Position bei Hof zu bekommen, und nun war sie doch hier, sogar an vorderster Stelle. Nachdem Lord Timmik sie als letzte und einzige Blutsverwandte des alten Königs endlich ausfindig gemacht und hierher gebracht hatte, war ihr kaum Zeit geblieben, die Regeln des Lebens bei Hofe zu verinnerlichen. Eine Woche nach ihrer Ankunft in der Burg war Zachelias der Achte verschieden, und es war nie ganz geklärt worden, welcher Umstand letztlich der Grund seines Ablebens war. Zur Auswahl standen eine Lungenentzündung, ein Kelch vergifteten Weines (eine regionale Sorte aus eigenem Anbau), ein Dolch und ein Fluch. Man fand auch noch Katzenhaare in seinem Bett, aber den Verdacht auf Tod durch eine Katzenhaarallergie konnte man wohl vernachlässigen.
Bei ihrer Ankunft am Königshof war Alyssa entsetzt über den Zustand ihres zukünftigen Heimes. Gegenüber ihrer vorherigen, gutbürgerlich-schlichten Wohnstatt bedeutete dies hier eine gewaltige Umstellung. Nicht zuletzt deshalb, weil der letzte Hausherr seit Jahren seine Zurück-zu-den-Ursprüngen-Macke ausgelebt hatte und es der Burg deshalb an den mindesten Bequemlichkeiten mangelte. Über einige Baumaßnahmen hatte die zukünftige Königin deshalb schon nachgedacht. Ohne ein vernünftiges Badezimmer zum Beispiel war von ihr kaum Begeisterung fürs Regieren zu erwarten.
Die Burg und die angrenzende Ortschaft waren auf einer großen felsigen Fläche inmitten eines weitläufigen Moor- und Sumpfgebietes erbaut, durch das zwar viele mehr oder weniger sichere Pfade führten, aber nur ein befestigter Weg, der breit genug für Wagen war. In den ganz alten Zeiten war Anthuriens Küste immer wieder Ziel von Eroberungsversuchen der Westlichen Inselreiche gewesen und die königliche Nachfolge dadurch mehr als einmal gefährdet. Der legendäre König Anthuras der Weise hatte darum nach einem Platz gesucht, der seiner Familie wirklich Schutz bot. Es hieß, dass er während einer Jagd im Landesinneren weit vom Weg abkam und dadurch diese ideale Stelle fand. Er ließ die ersten Gebäude errichten und verlegte seinen Hof vom küstennahen Ort Doldermund hierher. Gezieltes Trockenlegen und Fluten bestimmter Bereiche verwandelten das Terrain in einen natürlichen Schutzgürtel. Tatsächlich war diese Burg nie von einem Angreifer eingenommen worden.
Im Vergleich zu seinen Nachbarn war das Königreich Anthurien nicht sonderlich groß, aber mit vielerlei Landschaftsformen ausgestattet. Im Westen war es vom Meer begrenzt, das an die Steilküsten der Nördlichen und Südlichen Kandelberge brandete. Sanfteres Bergland neigte sich einer großen Ebene zu, in deren Mitte sich besagtes Moor befand. Dort hindurch hatte sich Anthuriens Hauptstrom Dold sein Bett gegraben und mündete in einem breiten Delta, wo sich auch das Dorf Doldermund befand, ins Meer. Er hatte viele Nebenflüsse, und seine Quelle lag irgendwo weit im östlichen Teil des dichten Waldes, der das Land an drei Seiten umschloss und eine natürliche Grenze bildete.
Das alles lag Alyssa nun zu Füßen wie ein herrenloser, erwartungsvoll schwanzwedelnder Hund, und sie war bereit, ihn zu adoptieren.
„Du sieht fantastisch aus in diesem Kleid!“ Das war Neola, die als einzige Vertraute mitgekommen war. Sie und Alyssa kannten sich seit Kindertagen und lachten heute noch gelegentlich über ihr erstes Zusammentreffen. Die eine folgte ihrer entlaufenen Katze in den Wald, die andere suchte nach ihrer beim Pilzesammeln verlorenen Kette. Plötzlich standen sie sich gegenüber, Neola mit der fremden Katze auf dem Arm und Alyssa mit der gefundenen Kette in der Hand. „Tauschen wir?“ hatten sie gleichzeitig gefragt und waren dann in lautes Gelächter ausgebrochen (woraufhin die Katze erschreckt vom Arm gesprungen und wieder weggelaufen war). So unterschiedlich sie waren, so gut freundeten sie sich an und bestanden viele Abenteuer miteinander. Vor allem in der Zeit des sogenannten Drachenkrieges waren sie füreinander da. Es war Alyssas Bedingung gewesen, dass sie ihre Freundin mit an den Hof bringen durfte.
„Findest Du? Ich glaube, nach der Krönung werde ich als allererstes diese altmodische Kleiderordnung ändern. Dem alten König hat der Anblick vermutlich gefallen, aber welche Frau will schon ständig ein enges Schnürmieder tragen? Ich kann mich in diesem Panzer aus Seide und Perlen kaum bewegen. Auch diesen ganzen zeremoniellen Schnickschnack werde ich abschaffen, so kann man ja nicht arbeiten. Und ich hoffe, dass die Krone nicht so schwer ist. Das meine ich im wörtlichen und im übertragenen Sinne.“
Neola kam näher und baute ihre zierliche Statur herausfordernd vor der Königin auf. „Sieh es doch mal so“, sagte sie. „Welche Zukunft hätte dir zu Hause in Klein-Eichenhain gewunken? Gänse hüten, Pferde zureiten, Gemüse züchten – ich finde das nicht so spannend. Hier kannst du etwas bewirken, kannst deine Träume verwirklichen. Und auch die anderer Leute. Außerdem hast du hier ziemlich große Gänse zu hüten“, sie warf einen Blick auf die bei den Kleidertruhen beschäftigten Zofen, „du kannst die besten Pferde haben, die du willst, und Gemüse“, sie zwinkerte schelmisch, „bestimmt bald auch.“
Wer die beiden so sah, in Samt und Seide, konnte leicht einen falschen Eindruck gewinnen. Alyssa war mittelgroß und schmal. Sie wirkte fast abgezehrt, doch das lag nur daran, dass ihr einerseits all das Neue sehr zusetzte und sie andererseits mit dem Koch der Lilienburg noch keine zufriedenstellende Übereinkunft gefunden hatte. Ihr stets ruhiges und gemessenes Verhalten täuschte. Sie vereinigte Sturheit mit einem eisernen Willen, und wüssten die Zofen, welche Schimpfwörter sie kannte, wären sie entsetzt.
Neola war noch ein Stück kleiner und wesentlich lebhafter. Ihr war an den dunklen Haaren und Augen deutlich anzusehen, dass sie zu den Karamani gehörte, einem Volk im Wald lebender Nomaden, die ihr Sommerlager in dem Gebiet bei Klein-Eichenhain hatten. Eigentlich wäre es ihr bestimmt gewesen, den Stamm anzuführen, aber durch die Freundschaft mit Alyssa war sie neugierig auf die Welt da draußen geworden und hatte sich für eine Weile aus der Verantwortung gestohlen.
„Mutter, was macht der Lord Timmik denn jetzt?“
Jons begeistert leuchtende Augen klebten an seinem Helden und verfolgten jeden Schritt, jede Handreichung, jedes Gespräch mit anderen Leuten. Im Moment stand der schnauzbärtige Lord in beeindruckender Pose mit stolzgeschwellter Brust neben dem Thron und überwachte das Ausrollen der langen Teppiche, über die die Königin aus der Burg hierherkommen sollte. Sein roter Rock leuchtete in der Sonne, die polierten Metallbeschläge glänzten wie Spiegel.
Plötzlich kam von der Seite her ein Diener, hochbeladen mit Sitzkissen, die er zu den Bänken tragen wollte. Er sah den Teppich nicht und stolperte über die Kante. Die Kissen flogen in hohem Bogen in Richtung Tribüne. Eins davon traf Lord Timmik ins Gesicht, so dass er überrascht einen Schritt seitwärts tat und heftig mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zu halten.
Eine kleine schmutzige Hand packte den Lord fest am Ärmel und verhinderte, dass er sich mit einem Plumps auf den Thron setzte. Jon war ohne nachzudenken nach vorn geschossen und hatte zugegriffen, um sein Idol vor der Peinlichkeit zu bewahren. Nun fand er sich Auge in Auge mit ihm gegenüber und war selbst betroffen über seine Tat.
Lord Timmik fand schnell seine Fassung wieder. „Nun, wer bist du denn, junger Mann?“ fragte er freundlich.
„Das ist Jonathan, Eure Lordschaft, bitte vielmals um Entschuldigung, dass er Euch belästigt hat.“ Jons Mutter war schnell dazugetreten und versuchte ihren Sohn wegzuziehen. Der aber starrte immer noch wie hypnotisiert seinen Helden an und rührte sich nicht vom Fleck.
„Ein flottes, mutiges Bürschchen, und stark dazu.“ Jetzt lächelte der Lord sogar. „Solche Eigenschaften schätze ich bei einem Knappen. Kommt morgen mit ihm zur Burg, dann wollen wir mal sehen, was noch alles aus ihm werden kann.“
„Ja, mein Lord. Gern, mein Lord. - Verbeug dich, Jon - Danke, Eure Lordschaft…“ Mutter und Sohn zogen sich rückwärts in die Menge zurück, die eine stammelnd und knicksend, der andere selig breit lächelnd in dem Bewusstsein, dass der berühmte Drachenlord persönlich soeben zu ihm gesprochen hatte.
Die Leute ringsum applaudierten. Sie waren so euphorisch über diesen Krönungstag, dass sie bereit waren, alles gut zu finden, das eine bessere Zukunft versprach.
Fanfarenklänge ertönten, und die Aufmerksamkeit richtete sich auf das Burgtor. Ein bunter, quirliger Zug bewegte sich heraus, allen voran Gaukler und Jongleure, die das Volk und vor allem die Kinder begeisterten. Dahinter gingen die Musikanten, gefolgt von einigen Adligen und der ernst dreinblickenden Palastwache, wiederum gefolgt von einer Schar junger Hofdamen, die Blütenblätter verstreuten. Zwei herausgeputzte Höflinge führten einen großen Schimmel, in dessen Mähne und Schweif man Hunderte von Goldfäden und Perlen eingeflochten hatte. Er tänzelte stolz und glitzernd über den Teppich und war das perfekte Reittier für die umjubelte Gestalt auf seinem Rücken. Auf zwei schlichter geschmückten Pferden dahinter ritten als Ehrengeleit Neola und die Kommandeurin Allegra Giravia, der die Wache unterstand.
Alyssa lächelte, winkte, lächelte, winkte, biss die Zähne zusammen und lächelte weiter. Hoffentlich war das hier bald vorbei und sie konnte sich wieder mit Bereichen des Lebens befassen, die ihr vertraut waren. Leider hatte sie bis jetzt nur eine sehr lückenhafte Vorstellung davon, wie ihr zukünftiger Königinnenalltag aussehen würde, aber sie war sicher, dass es um mehr ging als Stickarbeiten und Besuche im Waisenhaus.
Hinter den berittenen Damen gingen wieder einige Wachen, darum bemüht, auch dann Respekt gebietend auszusehen, wenn sie mitten durch Pferdeäpfel marschieren mussten. Das Schlusslicht bildeten der niedere Adel und die reichen Kaufleute, alle in ihren besten Kleidern und in bester Laune (bis sie zu den Pferdeäpfeln kamen).
Hinter der Tribüne ging Lord Timmik im Geiste noch einmal seine Ansprache durch. Gleich musste er hinaustreten und die Königin zu ihrem Thron geleiten.
Eine dezent vorwurfsvoll klingende Stimme erklang dicht neben ihm: „Gott zum Gruß, Eure Lordschaft.“ Der Lord drehte den Kopf und schenkte dem Mann nur einen gelangweilten Blick. Innerlich seufzte er. Warum konnten Menschen ein Nein nicht ohne Widerspruch annehmen?
„Von welchem Gott sprecht Ihr, Vater Amicanthus? Ich dachte, die Frage der Glaubensrichtung in diesem Land hätten wir erschöpfend geklärt.“
Der Mann in der dunklen Kutte reckte das Kinn vor und schoss zurück: „Ihr wisst genau, dass unser viel zu früh dahingeschiedener König gewollt hätte, dass mein Orden des Einen Blutigen Richtschwerts die alleinige Aufsicht über das Seelenheil der Anthurier erhält. Denn diese Religion hat die tiefsten und ältesten Wurzeln in diesem Land. Was Ihr da Religionsfreiheit nennt, ist schlimmstes Chaos!“
„Nein, mein Herr“, sagte Lord Timmik leise und emotionslos. „Das schlimmste Chaos habe ich gesehen, just bevor es mir gelang, den Drachen aus dieser Welt zu schleudern. Wo wart Ihr damals, um mir beizustehen? Nun haben wir jede Menge Götter, Göttinnen, heilige Tiere, heilige Bäume – und für alle ist Platz. Diese Königin wird nicht von Priestern gekrönt. Nicht von Euch, nicht von den Barmherzigen Brüdern, nicht von den Kristallanbetern oder den Dandessianern. Sie wird vom Volk gekrönt, und das vertrete ich.“
Aber damit ließ der Hohepriester sich nicht abwimmeln.
„König Zachelias persönlich hat mit mir den Ort besucht, wo der junge Espadus vor tausend Jahren seine Vision hatte und den ersten Tempel baute, auf dem unser Kloster Santa Spada gründet. Der König wollte sogar dem Orden beitreten und das Richtschwert damit in die ihm zustehende Vorrangstellung erheben.“
„Vielleicht war das so“, räumte Lord Timmik ein, „aber er tat es nicht. Ihr seid mit Eurem Orden in tausend Jahren kaum über die Grenzen Anthuriens hinausgekommen, also gebt jetzt Ruhe. Möge unsere Große Mutter Dandess Euch diesen Irrweg verzeihen.“
Mit diesen Worten schob der Lord den Hohepriester beiseite und trat aus dem Schatten nach vorn, um die Königin zu begrüßen. Das gemurmelte „Eines Tages werdet Ihr das bereuen“ hinter sich hörte er nicht mehr.
Stille trat ein. Aller Augen waren auf die Königin gerichtet, die vor dem Thron stand und in ihrem hellen Kleid wie eine überirdische Erscheinung gleißte und glänzte. Lord Timmik stand in tadelloser Haltung neben ihr, den Pagen mit der Krone auf dem Samtkissen an seiner Seite. Dies war der Augenblick, auf den er so lange hingearbeitet hatte, und er genoss ihn sehr. Alyssa aus Klein-Eichenhain. Er hatte sie gesucht, er hatte sie gefunden. Ihm vertraute sie, und durch ihn bekam dieses Land eine neue Zukunft. Bei aller Königstreue gönnte er sich dieses warme Gefühl von verdientem Eigenlob.
„Ehrenwerte Lords und Ladies, geschätzte Bürger dieses Landes, seid alle hier willkommen und auch Ihr, weit gereiste Gäste“, tönte seine redegeübte Stimme über die Menge. „Mit dem heutigen Tag beginnt ein neues Leben, eine neue Zeitrechnung. Wir lassen die dunklen Zeiten hinter uns und schauen zuversichtlich nach vorn in eine Zukunft, die uns Frieden und Wohlstand bringen soll. Diese Krone verleihen wir der (hier schwindelte er der Einfachheit halber ein bisschen) Großnichte des verstorbenen Königs Zachelias des Achten. Möge ihr ein langes gesundes Leben beschieden sein, in dem sie unser Land gütig regiert. Dies ist eure Königin Alyssa die Erste!“
Unter tosendem Jubel nahm er die Krone vom Kissen und senkte sie langsam auf Alyssas Kopf. „Sitzt sie?“ zischte er zwischen den Zähnen hervor.
„Mmmmh“, machte sie mit unbewegter Miene, trat einen kleinen Schritt vor und winkte, bis wieder Ruhe war. Nun war sie an der Reihe, ihre erste offizielle Rede zu halten, auch wenn sie so viel Aufmerksamkeit eigentlich scheute. Doch das gehörte ab jetzt dazu, und sie hatte lange und gründlich darüber nachgedacht, was sie sagen wollte.
„Ihr habt mich willkommen geheißen, obwohl ihr nicht wissen konntet, ob ich meinem (hier schwindelte auch sie) Großonkel in gewissen Dingen ähnlich bin oder nicht. Darum bitte ich euch – messt mich an meinen Taten und nicht an meinem Blut. Viel Übles ist geschehen und ruft nach Wiedergutmachung, und so werde ich am heutigen Tag direkt damit beginnen!“
Leises Raunen erhob sich, die Adligen runzelten die Stirn, selbst Lord Timmik war angespannt, denn er war von Alyssa nur in groben Zügen eingeweiht worden.
„Zuerst das Übliche. Bei der Krönung eines neuen Regenten werden alle Gefangenen des vorherigen begnadigt. Ich bin sicher, wer hier noch im Kerker sitzt, hat inzwischen genug gebüßt. Und als öffentliches und bleibendes Zeichen unserer Zusammengehörigkeit ändere ich den Namen dieser Stadt.“ Hier wurde das Gemurmel lauter. „Zum Gedenken an die Gräuel im Drachenkrieg wurde sie Drakenstorf genannt, doch das ist nun vorbei, und es ist Zeit, sich von dieser Last zu befreien und vertrauensvoll nach vorn zu blicken. Damals schlug Lord Timmik des Drachen Horn ab und verbannte ihn aus unserem Land. Heute werde ich den Drachen aus dem Namen der Stadt verbannen, und sie soll von nun an Lilientorf heißen. Und sie soll blühen und gedeihen, so wie die Lilien, die hier im Sumpf wachsen. Es gibt keine schöneren Blumen als sie.“
Jetzt wurde der Jubel ohrenbetäubend. Mützen, Kappen, Blumen flogen durch die Luft, und Alyssa die Erste setzte sich zufrieden und mit der uneingeschränkten Zustimmung aller auf den Thron. Mit dem Lord tauschte sie ein kleines Augenzwinkern und gab dann das Zeichen zum Turnierbeginn.
Es wurde ein wundervoller Krönungstag, von dem noch lange hinterher die Rede war. Das Turnier zu Ehren der neuen Königin wurde mit viel Spaß und Kampfgeist ausgetragen, der Sieger war ein gewisser Donar ab Asnidae, ein Fremder aus einem weiter im Nordosten gelegenen Nachbarland, der von Alyssa persönlich einen Siegeskranz aus weißen Blumen umgelegt bekam. Die von ihm besiegten Gegner, allesamt mindestens einen halben Kopf größer, waren sich einig, dass allein der Anblick der sanft lächelnden Königin ihm übermenschliche Kräfte verliehen haben musste.
Alle Personen, die sich einen Vorteil davon erhofften, der Regentin persönlich vorstellig zu werden, machten ihr beim anschließenden Empfang ihre Aufwartung und wünschten ihr mit wohlbedachten Worten Glück und Gesundheit. Lord Timmik und Kommandeurin Allegra hatten neben dem Thron Aufstellung bezogen und kündigten die Besucher abwechselnd mit Namen an, dazu im Flüsterton noch einiges mehr. Und unsichtbar hinter der Wandbespannung hockte Neola mit Schreibfeder, Tinte und Pergament und schrieb sowohl dies als auch die gemurmelten Anmerkungen der Königin auf.
Später beim Bankett ließ Alyssa ihren Blick über die fröhlich feiernden Gäste schweifen und fragte sich, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, wohin sie das noch bringen werde. Nun hatte sie also ein Königreich am Bein. Noch dazu eins, das der Vorbesitzer in den sechzig Jahren seiner Regierung nicht sonderlich gut gepflegt hatte und das sie erst wieder aufpäppeln musste. Dazu brauchte sie eine einfache, klare Struktur, besetzt mit zuverlässigen Leuten anstatt dieser geschäftstüchtigen Kaufmannselite. Neola würde sie als Schatzmeisterin einsetzen, an ihr konnten sich die Pfeffersäcke die Zähne ausbeißen. Lord Timmik hatte sie als eine Art Majordomus der Burg kennengelernt, außerdem war er für die Bevölkerung eine lebende Legende. Wen brauchte sie noch in ihrem Gefolge?
„Lord Timmik, auf ein Wort …“
„Meine Königin?“
„Haben wir eigentlich einen Magier am Hof?“
Mit dieser Frage rannte Alyssa offene Türen ein. Zu jedem Hofstaat gehörte mindestens auch ein Magier, und der Lord bedauerte es zutiefst, dass Meister Klebsam nicht mehr da war.
Der alte Magier war Spezialist für Schutzkreise und Arzneikräuter gewesen. Er hatte vor einigen Jahren gehen müssen, weil er Zachelias mit seinen Experimenten zu fortschrittlich schien und ständig neue Heilmittel entdeckte, wo die alten doch auch ausreichten, nicht wahr? (Sehr begrüßt wurde allerdings die Entwicklung eines hochwirksamen Mittels gegen Mücken, das allen Bewohnern endlich ein sorgen- und stichfreies Leben ermöglichte.) Seinen Bannzaubern war es zu verdanken gewesen, dass Anthurien von Kriegshandlungen verschont geblieben war, und sicher hätten sie auch nie ein Drachenproblem gehabt, hätte Meister Klebsam bleiben können.
Doch auch wenn es jetzt keinen Drachen mehr gab, ein Magier gehörte unbedingt dazu. Sterndeutung, allgemeine Naturwissenschaft, Technik – ein Burghaushalt wie dieser bot ein weites Betätigungsfeld.
„Ich werde mich morgen sofort darum kümmern, Hoheit“, lächelte der Lord. In Gedanken machte er einen weiteren dicken Haken auf seiner Liste und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner auf der anderen Seite zu.
Alyssa nickte zufrieden und dachte über einen weiteren wichtigen Posten nach, der zu vergeben war. Mit dem Kommando der Stadt- und Burgwache schien Allegra überfordert, also musste jemand her, mit dem das zu teilen war. Sinnend schaute die Königin in die Runde und blickte unversehens in dunkle Augen über einem weißen Blumenkranz.
Ach ja. Genau.
Sie hob ihren Kelch und prostete dem Gast zu: „Nun, Herr Turniersieger, habt Ihr ab morgen schon etwas vor?“
Als der Erste Lichtstrahl auf den Ersten Kristall traf, brach sich das Licht in vielerlei Farben. Aus ihnen entstand die ganze Welt.
Als das Erste Mondlicht auf den Ersten Kristall traf, begann er zu glühen. Das Glühen dehnte sich aus, bis es die ganze Welt umschloss. Aus ihm entstand das Leben.
Als der Erste Schatten auf den Ersten Kristall traf, begann er zu schwinden. Hieraus entstand der Tod.
Der Erste Kristall zerbarst in tausend Splitter, und aus ihnen wuchsen neunhundertneunundneunzig Lilien und in ihrer Mitte ein neuer Kristall. Er war die Wiedergeburt und das Versprechen auf Heilung für alles und jedes, selbst den Tod.
Schöpfungsmythos der Karamani
Die Morgensonne fand Königin Alyssa die Erste im Erker ihrer Kemenate sitzend, in ein weites, kuscheliges Morgengewand gehüllt, ein leichtes Frühstück neben sich auf dem Tischchen, und mit schläfrigen Gedanken über die weitere Gestaltung des Tages.
Inzwischen fühlte sie sich sehr wohl hier und hatte die Lilienburg als ihre Heimat akzeptiert. Das Regieren ging ihr leicht von der Hand, da sie sich auf einen Hofstaat ausgesuchter Frauen und Männer stützen konnte, die absolut loyal zu ihr standen.
Heute war Gerichtstag, also musste sie repräsentieren und sich mit viel Feingefühl um das mitunter seltsame Rechtsverständnis ihres Volkes kümmern.
Zuerst würde sie ein ausgiebiges Bad nehmen, während ihr die Gerichtssekretäre (hinter einem Wandschirm sitzend) schon die Fälle vortragen konnten, die für heute angemeldet waren. Fast immer kamen auch noch ein, zwei außerplanmäßige Klagen hinzu, auf die sie unvorbereitet reagieren musste, und das waren die echten Herausforderungen.
Seit ihrer Thronbesteigung vor sieben Jahren hatte Königin Alyssa im Lande nach und nach „aufgeräumt“, wie sie sich selbst ausdrückte. Zuerst hatte sie in der Burg selbst angefangen und streng gesiebt, wer bleiben durfte und wer nicht. Alle Höflinge und Bediensteten, die noch zu sehr an König Zachelias’ Ideologie festhielten, wurden freundlich aber unnachgiebig zurück auf ihre Ländereien geschickt bzw. außer Dienst gestellt.
Die Ratsmitglieder, samt und sonders Adlige und Kaufleute aus der Stadt, hatten zuerst versucht, ihrer Bequemlichkeit zuliebe die Königin auszubremsen, mussten aber bald feststellen, dass das unmöglich war. Mit Charme, Intelligenz und dem unerbittlich prüfenden Blick des Herrn Donar ab Asnidae, seines Zeichens Kommandeur der Burgwache, schaffte sie es, auch diese Erzschmarotzer zur Mitarbeit zu bewegen.
Ein großes Anliegen war es ihr gewesen, das Leben bei Hof von der erstickenden Steifheit zu befreien, die von uralten, nie angepassten Traditionen strotzte und nichts als hinderlich war. Die Standardantwort auf ihr häufiges „Warum ist das so?“ fing an mit „Das haben wir immer schon so gemacht …“, und wenn „das“ nicht wirklich Vorteile brachte, wurde es gestrichen. Alyssa verabscheute unnötigen Pomp (den nötigen behielt sie allerdings bei, das gehörte sich einfach so) und legte Wert auf höfliche, aber unverbogene Umgangsformen.
Dann wandte sie sich der Welt außerhalb der Burgmauern zu. Zum Glück war Anthurien bisher trotz der verordneten altmodischen Methoden fähig gewesen, sich selbst zu ernähren. Jetzt wurden vernachlässigte Straßen instandgesetzt, die Bauern wurden zur Aussaat neuer Gemüsesorten und Obst ermuntert, und wer sein Haus nun modernisieren wollte, musste nicht mehr mit Einkerkerung rechnen, sondern wurde öffentlich belobigt und als gutes Beispiel hingestellt.
Sobald die wenigen Fernstraßen wieder passierbar waren, ließ die Königin vorsichtige Kontakte zu den Nachbarländern herstellen, die überrascht und erfreut reagierten und die vor Jahren eingeschlafenen Handelsbeziehungen gern wieder aufnahmen. Denn Anthurien verfügte über gute Handwerker, die ihre Arbeitsverfahren beibehalten und verfeinert hatten, während überall sonst Fertigungsarten weiterentwickelt und verändert wurden. Wer also wirklich hochwertige „alte“ Handwerkskunst suchte, fand sie in Anthurien und war auch bereit, einen entsprechenden Preis dafür zu bezahlen.
Siedlungen und Dörfer verzeichneten langsam wieder steigende Einwohnerzahlen, denn wer unter Zachelias’ Herrschaft das Land verlassen hatte, kehrte nun gern zurück. Es gab auch Einwanderer aus dem Ausland, die sich wünschten, an dieser Entwicklung teilzuhaben, und Anthurien hieß sie willkommen.
Die schönste Bestätigung ihrer Arbeit sah Alyssa täglich direkt vor ihrer Tür: Die kleine Ortschaft Drakenstorf hatte Zachelias der Achte zuletzt fast völlig vernachlässigt, Zerstörungen aus dem Drachenkrieg nicht wieder aufgebaut. Sie galt ihm gerade noch als Wohnstatt für die Bediensteten der Burg sowie für einige Kaufleute und Bauern.
Aus diesem Ort war die strahlende, aufstrebende Stadt Lilientorf geworden, die sich stolz den Beinamen „Blume von Anthurien“ gab. Die zerstörte, ohnehin nicht sehr starke Schutzmauer war abgetragen und als wirklich Vertrauen erweckende Stadtmauer neu errichtet worden, wobei die Stadtfläche mit den vielen neuen Häusern gleich auf das Doppelte anwuchs. Alle öffentlichen Gebäude erstrahlten in neuem Glanz, und jeder, der hier wohnte, wollte seinen Teil dazu beitragen, Lilientorf schöner zu machen.
Ein Stehendes Heer gab es schon seit dem Drachenkrieg nicht mehr, und weil zu allen Nachbarländern (und mittlerweile auch zu den Westlichen Inselreichen) ausnahmslos gute Beziehungen bestanden, wollte Alyssa auch keins mehr unterhalten. Die Anthurier waren ein grundsätzlich friedliebendes Volk, was natürlich Ladendiebstahl, Steuerhinterziehung, Tavernenprügeleien und dergleichen nicht ausschloss.
Für Ordnung und Sicherheit sorgte die Wache, deren Kommando sich Allegra Giravia und Donar ab Asnidae gleichberechtigt teilten. Meist ergab es sich, dass Allegra sich mehr der äußeren Sicherheit annahm und in der Stadt oder im Umfeld der Burg patrouillierte. Donar war mehr ein Mann der inneren Sicherheit und allgemein in unmittelbarer Nähe der Königin zu finden (darin mochten manche Leute noch einen anderen Grund sehen). Sein Kampftraining war gefürchtet, aber er hatte damit aus der vormals eher zu dekorativen Zwecken geeigneten Wachtruppe fähige Kämpfer gemacht.
Auch nach außen bestand Alyssa auf der Abschaffung allzu strenger Protokolle und verschachtelter Hierarchien, da sie das in den meisten Belangen für hinderlich hielt. Nach anfänglichem Befremden erkannte und schätzte man die Vorteile allgemein oder fand sich wenigstens damit ab.
Die Anthurier nannten ihre Königin liebevoll „Mamalyssa“, weil sie wie eine gute Mutter ihren Kindern gegenüber handelte und wirklich darauf bedacht war, dass es ihrem Volk gut ging. Es hatte sich auch noch ein zweiter Name für sie eingebürgert, der zunächst in den Schreibstuben der Burg entstanden war, wo aus Zeitersparnisgründen immer häufiger mit Abkürzungen gearbeitet wurde. So stand als Randnotiz in den Abrechnungen irgendwann nicht mehr „Eine Lieferung von 3 (drei) Säcken feinster „Lavendeltraum“ der Manufaktur Puderquast & Sohn an Ihre Hoheit Alyssa die Erste“ sondern kurz und knapp „PuS 3 Badesalz für A1“. Das fand bald auch Eingang in die Zeitrechnung, und dieses siebte Jahr ihrer Regentschaft wurde allgemein das Jahr 7A1 genannt.
Alyssa wusste, dass das keineswegs respektlos gemeint war und amüsierte sich im wahrsten Sinne des Wortes königlich darüber, außerdem war es ein Beweis dafür, dass die Menschen die Zeit unter König Zachelias endgültig hinter sich gelassen hatten.
Sieben Jahre, da konnte man schon einiges bewegen. Bald würde sie ihr siebtes Krönungsjubiläum feiern, ein besonderer Festtag für die ganze Stadt, und bestimmt würde auch dieser Tag so gut gelingen wie die anderen zuvor.
Zur Mittagsstunde versammelten sich Gerichtsschreiber, Wachen und die unvermeidlichen Schaulustigen im Thronsaal, wo sich die Königin einmal im Monat der komplizierteren Fälle annahm, die die Kommandeure der Wache nicht zwischendurch selbst aburteilen konnten. Ganz im Gegensatz zu ihrem Vorgänger verfolgte sie eine Politik der Offenen Burgtür, um jeden Verdacht der Geheimniskrämerei im Keim zu ersticken.
Eine weitere Neuerung war die Möglichkeit, dass die Kläger Mitspracherecht bei der Art der Bestrafung bekamen. Einige ungewöhnliche Fälle hatten dafür gesorgt, dass die Leute inzwischen nachdachten, bevor sie etwas Ungesetzliches taten, da sie möglicherweise eine fantasievolle Strafe zu erdulden hatten. Herr Kurzbein jedenfalls bereute es sehr, dass er bei der Bebauung die Grundstücksgrenze zu seinen Gunsten verschoben hatte, da sein Nachbar ihm jetzt offiziell seine Gartenabfälle über die Mauer kippen durfte.
Unverzichtbarer Helfer bei den Verhandlungen war der Hofnarr Aurelio, eines der wertvolleren Erbstücke, die Alyssa von Zachelias dem Achten übernommen hatte. Auch er hatte bei Hofe überlebt, indem er seine Intelligenz unter den Scheffel gestellt und seine Späße auf das abgestimmt hatte, was sein Herr hatte hören wollen. Er trug stets ein naiv-erstauntes Gesicht zur Schau und wurde von denen, die ihn nicht gut kannten, kaum ernst genommen. Dabei hatte er seine Augen und Ohren überall und kannte alles und jeden. Für Königin Alyssa war er jetzt eine Art geheimer Sicherheitsbeauftragter, und bei Gericht spielte er manchmal den Verteidiger, manchmal den Anwalt der Anklage und oft genug auch einfach nur den Narren.
Alyssa hatte ihren Platz auf dem Thron eingenommen, und Aurelio stand dicht neben ihr. Nach einem aufmerksamen Rundblick bemerkte er: „Der werte Vater Amicanthus ist heute nicht hier erschienen. Wahrscheinlich sind die Herren Verbrecher ihm nicht sündig genug, um sie auf den Pfad der Tugend und Erleuchtung zu führen.“
Die Königin nickte Zustimmung. Gab es tatsächlich einmal ernstere Vergehen zu behandeln wie zum Beispiel Mord oder Totschlag, so war es häufig vorgekommen, dass bereits ein Bittgesuch des Ordensvaters vorlag, der versprach, dem Verurteilten eine schwere Buße aufzuerlegen und ihn in den Dienst des Klosters zu übernehmen. Das funktionierte im Großen und Ganzen recht gut, die Rückfallquote lag bei Null, und es sparte der Allgemeinheit auch noch Kosten.
Heute jedoch ging es nur um zwei Juwelendiebe, die behaupteten, unter fremdem Zwang gestohlen zu haben. Ihretwegen war auch der junge Magier Rahavin Timudis anwesend, bester Absolvent der Magischen Akademie in Kemiland, den Lord Timmik unter Aufbietung all seiner Redegewandtheit nach Anthurien geholt hatte. Zusammen mit Neola sollte er feststellen, ob die Diebe wirklich unter einem Bann standen oder ob sie sich nur rausreden wollten.
Die Wache hatte die beiden deshalb gefasst, weil sie in der Werkstatt des weithin berühmten Goldschmiedemeisters Baclavy mit ihren gefüllten Ledertaschen einen Spiegel umgestoßen hatten. Das laute Klirren hatte die Hausherrin alarmiert, und zwei Wächter waren bei ihrer nächtlichen Runde gerade zufällig vor dem Haus vorbeigekommen. Nun knieten die Gefangenen mit gefesselten Händen und entrücktem Gesichtsausdruck vor den Stufen, die zum Thron hinaufführten.
„Wie wollen wir es angehen?“ fragte Rahavin leise Neola. „Erst du mit deinen Orakelkarten als schmerzfreies Angebot für ein Geständnis, und wenn sie darauf nicht eingehen, mache ich sie mit der harten Tour bekannt?“
Es kam öfter vor, dass magische Unterstützung bei einer Aufklärung vonnöten war. Rahavin und Neola hatten im Laufe der Zeit eine gewisse Routine darin entwickelt, und, da sie sich dem Ziel auf unterschiedlichen Wegen näherten, auch Respekt für die jeweils andere Vorgehensweise gewonnen. Das hatte zu einer engen Vertrautheit geführt, die von einigen Burgbewohnern gelegentlich mit Anzüglichkeiten kommentiert wurde, aber, um mit Neola zu sprechen: „Was kümmert es die Eiche, wenn die Sau sich dran schubbert?“ Sie wusste, welch feinsinnigen Freund sie an Rahavin hatte, mit dem sie magische Themen von Gleich zu Gleich diskutieren konnte. Mehr steckte nicht dahinter.
Sie standen etwas abseits und warteten darauf, von der Königin dazugerufen zu werden. Neola nickte, ohne den Blick von den Jammergestalten abzuwenden. „Das hat bis jetzt noch am besten funktioniert. Machen wir es wieder so. Aber ich weiß nicht so recht – die hier sehen nicht so aus, als ob sie simulieren würden. Wenn du mich fragst, sind die entweder unter Drogen oder hypnotisiert.“
Allegra verlas die Anklageschrift: „Diese beiden Anwesenden, nach eigenen Angaben Justus Menk und Elgar Kasten geheißen, werden des Diebstahls in der Werkstatt des ehrenwerten Andrasz Baclavy beschuldigt. Die Nachtwächter Basel und Teckerel ertappten sie auf frischer Tat, als sie das Gebäude gerade verlassen wollten und dabei einen Spiegel zerbrachen. Bei ihnen wurde auch das Diebesgut gefunden, insgesamt zwei Kilo erlesenster Goldschmuck, dazu Edelsteine in roher und bereits geschliffener Form. Angeklagte?“ Allegra erhob die Stimme und wandte sich direkt an die Gefangenen. „Bekennt ihr euch der Tat schuldig?“
Menk, das war der mit den abstehenden Ohren und der breiten Lücke zwischen den Schneidezähnen, erwischte die Kommandeurin kurz mit seinem unsteten Blick und nuschelte: „Ja nee, nich so richtig … wir ha’m das Gold genommen, aber das war auf Befehl …“
Kasten, mit einem Kreuz wie ein Stier, aber wohl kaum über den Stimmbruch hinaus, wiegte sich langsam vor und zurück und summte leise vor sich hin. Er hatte seit der Festnahme außer seinem Namen nichts gesagt.
„In diesem Fall“, fuhr Allegra fort, „beantrage ich die magische Untersuchung der Umstände, unter denen dieser Befehl zum Diebstahl gegeben wurde, um die verantwortliche Person auszumachen.“ Die Zuschauer reckten neugierig die Hälse. Magische Untersuchungen waren immer ein tolles Spektakel mit Lichtblitzen und Rauch, und einmal musste hinterher ein Teil des Bodenmosaiks neu verlegt werden. Einer der Affenfiguren in dem umlaufenden Fries hatte es glatt den Kopf weggesprengt. Dies hier versprach ebenso spannend zu werden.
Alyssa in ihrer Rolle als Richterin machte eine zustimmende Geste.
„Der Antrag ist bestätigt. Ich fordere hiermit die Vertreter der Magie auf, eine Untersuchung durchzuführen.“
Neola ging zu den Angeklagten hin und setzte sich vor ihnen auf die Stufen. Unschlüssig zog sie ihr Kartendeck aus dem Beutel. Das Verfahren bestand daraus, dass sie eine kleine Auslegung, meist „Die Acht der Universellen Wahrheit“, machte und daraus Details ableitete, die spätestens beim Aufdecken der letzten Karte zu einem Geständnis führte. Aber heute hatte sie ein ungutes Gefühl dabei. Das hier ging tiefer, und mit den Karten würde sie wahrscheinlich nicht weit kommen.
Sie zuckte mit den Schultern und mischte die Karten. Acht davon zog sie wahllos aus dem Stapel und ordnete sie verdeckt zu einem Rechteck an. Dann atmete sie tief durch und öffnete die Pforten ihrer Wahrnehmung.
Erste Karte, auf der Position der Alten Wahrheit. Neola streckte die Hand danach aus, doch bevor sie sie umdrehen konnte, ging ein Zucken durch ihren Körper, sie warf den Kopf zurück und gab einen unmenschlich klingenden Laut von sich, der selbst die hartgesottenen Wachmänner schaudern ließ.
Mit einem Satz war Rahavin bei Neola und hielt sie fest. Ihre Augäpfel rollten nach hinten, sie atmete stoßweise und warf den Kopf ruckartig hin und her. Er presste seine Hände auf ihre Schläfen und versuchte eine Verbindung zu ihr herzustellen, gleichzeitig tastete sein Inneres Auge nach der Lücke im Schutzbann, durch die offenbar etwas eingedrungen war.
„Sprich mit mir, Neola! Sag mir, was passiert ist“, sagte er unablässig, bis sie ruhiger wurde und auf ihn zu reagieren schien. Erst war es nur undeutliches Gebrabbel, aus dem sich allmählich einige klare Worte herausschälten, deren letztes alle Umstehenden klar verstehen konnten: „Moladusa!“
Neola sackte zusammen, sie war ohnmächtig geworden. Rahavin nahm die zerknitterte Karte aus ihrer schlaffen Hand und drehte sie um. Der Drache.
In einer fließenden Bewegung stand er auf, mit der kleinen reglosen Gestalt in den Armen, und im gleichen Augenblick war die Königin neben ihm. „Bringt sie weg“, sagte sie leise und eindringlich. „Rauf in ihr Zimmer. Wir kommen gleich nach.“
Während der Magier zur Treppe eilte, wandte sich Alyssa an die anderen Anwesenden. „Wir unterbrechen die Gerichtsverhandlung und setzen sie an einem anderen Tag fort. Allegra, lasst die Gefangenen wieder ins Wachhaus bringen. Donar, räumt den Saal. Und dann kommt mit Lord Timmik und Aurelio nach oben ins Grüne Turmzimmer. Wir müssen uns besprechen.“