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Abenteuerreihe für alle, die Drachen lieben Das Drachenturnier in der weißen Stadt Irdefia ist das prachtvollste Fest im Grinfjördtal. Yu, Lilja und Rosabella können es kaum erwarten, mit Fexx, Gefion und Ping-Ping gegen die besten Drachenreiter des Landes anzutreten. Doch Yu macht eine seltsame Beobachtung im Hafen. Das Ei eines Urdrachen wird von dunklen Rittern des Drachenordens gestohlen! Natürlich setzen Yu, Rosabella und Lilja alles auf eine Karte, um das einzigartige Ei zurückzuholen ... Dies ist der 5. Band der 6-bändigen Drachenhof-Feuerfels-Reihe. Drachenhof Feuerfels ist eine magische Abenteuerreihe für alle, die Cornelia Funkes "Drachenreiter" oder "Drachenzähmen leichtgemacht" lieben. Presse "... liest sich wie eine Detektivgeschichte und ist spannend bis zur letzten Seite." GEOlino "Yu, Lilja, Rosabella - Abenteuer und Spannung pur." Lesen macht Spaß, Nr. 55 "Das Buch ist so spannend, dass ein langer Abend reicht, um es drachenmäßig zu verschlingen..." Treff - Wissensmagazin für Schüler "Pfiffig und humorvoll geschriebene Drachenbücher, die zum Schmökern verführen." HFK 28
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Drachenhof Feuerfels
Band 5
Die
vergessene
Drachenfestung
Roman von
Marion und Derek Meister
– Digitale Originalausgabe –
als überarbeitete Ausgabe
- 2021 -
Copyright © 2021 by Derek Meister und Marion Meister
Umschlaggestaltung und Innenillustrationen von Marion Meister
v1. 08012022
Impressum
StoryTown – Derek Meister & Marion Meister GbR
Ackerrain 79
30938 Burgwedel
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Wir freuen uns immer auf Feedback
Marion Meister – www.marionmeister.info
Derek Meister – www.derekmeister.com
Über die Autoren
Derek und Marion Meister haben sich während ihres Studiums an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg kennengelernt. Schnell haben sie ihre gemeinsame Liebe für Geschichten entdeckt und schreiben seit 2004 immer wieder gemeinsam Kinderbücher.
Inzwischen sind die beiden verheiratet, haben zwei Kinder und leben auf dem flachen Land in Niedersachsen, wo sie Hirsche, Hasen und Drachen zählen und spannende Geschichten schreiben.
Inhaltsverzeichnis
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Vlammbeeren prasselten auf die schartige Tischplatte. Die Frau hatte Mühe, die umherspringenden, dunkelroten Beeren zusammenzuhalten. Einige hüpften vom Tisch und kullerten durch die winzige Turmkammer, verkrochen sich in den Ritzen des Dielenbodens.
Es war keine Zeit, sie aufzulesen.
Eilig zündete die Frau die Kerzen auf dem Tisch an und stellte eine bauchige Glasflasche in einem Dreibein darüber. Zitternd vor Aufregung sammelte sie die Beeren vom Tisch zusammen und stopfte sie in die alte Weinphiole. Ihre Finger waren fleckig, die Nägel schwarz vor Dreck. Sie brauchte Geduld, um die Beeren nacheinander einzufüllen, denn der Flaschenhals war sehr eng. Fluchend fuhr sich die Frau durch ihr verdrecktes Haar. Sie sah mitgenommen aus. Schrammen und Striemen zogen sich über ihr faltiges Gesicht, das vom Staub ganz grau war. In ihrem verfilzten Haar steckte Stroh, und ihre Kleider waren Lumpen.
Immer wieder spähte sie zum Fenster, prüfte den Stand der Sonne. Noch füllte sie die Öffnung nicht, lugte erst zu einem Teil herein.
Die Zeit drängte.
„Kommt schon ihr Biester“, fluchte sie leise und stopfte so viele Beeren, wie sie erwischte in die Flasche. Endlich begannen die ersten Beeren durch die Hitze der Kerzenflammen zu qualmen, und feine Rauchfäden ringelten sich hinter dem grünen Glas der Flasche. Gut die Hälfte der Beeren, die sie verborgen in der Schürze ihres Kleides auf ihr Turmzimmer geschmuggelt hatte, war inzwischen abgefüllt. Das musste reichen.
Sie drückte einen Korken auf die Flaschenöffnung und eilte zum Fenster.
Ein rascher Blick hinunter zeigte ihr, dass wie immer zur Mittagszeit keine der Wachen auf ihrem Posten war. Noch nicht.
Bald würde das Versorgungsschiff anlanden. Bis dahin musste sie geflohen sein. Für einen Moment verlor sich ihr Blick sehnsuchtsvoll im Blau, das sich vor ihr erstreckte. Ein scheinbar endloses Blau von Himmel und Wasser.
Auf Zehenspitzen streckte sie sich nach einem Mauerstein im Fensterbogen. Wochen hatte sie gebraucht, um den Mörtel herauszukratzen, den Stein zu lockern und dahinter einen Hohlraum zu schaffen, der Platz genug für ihre Aufzeichnungen und den Ballon bot.
Buntes Flickwerk leuchtete ihr entgegen, als sie den losen Stein entfernte. Sobald einer ihrer Bewacher unaufmerksam war, hatte sie Tücher, Schürzen oder Hemden gestohlen, unter ihr Kleid gestopft und es in ihr Gefängnis geschmuggelt. All die Stofffetzen hatte sie mit Fäden, die sie aus ihren Kleidern getrennt hatte, zusammengenäht. Tagelang. Wochenlang. Monatelang.
Sie zog den Ballon aus Stoff vorsichtig hervor, darauf bedacht, dass der raue Mauerstein keine der Nähte aufrieb.
Es gab nur diese eine Chance.
Behutsam legte sie die Hülle des Ballons über den Fenstersims und schnappte sich den Schemel, der neben ihrer Schlafstatt stand. Mit der Zeit war der General großzügig geworden und hatte ihr erlaubt, ihre Zelle etwas wohnlicher einzurichten.
„Dieser selbstherrliche und aufgedunsene Tölpel“, schimpfte sie leise und tastete im Versteck nach den dicken Bastschnüren. Geschickt verknotete sie Schemel und Ballon miteinander, prüfte den Halt und musterte ihr Werk.
Hoffentlich hielt es. Aber was hatte sie zu verlieren?
Nichts.
Alles, was ihr je etwas bedeutet hatte, war schon längst verloren.
Der General hatte es ihr genommen.
Noch einmal atmete sie durch, griff sich die heiße Flasche mit den Beeren und steckte sie zwischen die Stoffhülle. Als sie den Korken löste, schoss der Qualm der Vlammbeeren mit einem dumpfen Knall heraus. Sofort blähte sich der Stoff auf, und der Ballon nahm eine runde Form an. Er richtete sich langsam auf.
Hastig kletterte sie auf den Fenstersims, suchte mit ihren abgewetzten Lederschuhen Halt. Der Ballon füllte sich weiter und begann zu steigen. Sie nahm die Flasche, stopfte die restlichen Beeren hinein, die augenblicklich von der Glut der anderen entzündet wurden.
Der Schemel löste sich vom Boden, und sie griff ihn, hob ihn zu sich auf den Sims und setzte sich. Die Bastschnüre spannten sich. Um einen sicheren Halt zu finden, schlang sie die Füße um die Beine des Schemels.
Die Kraft des Vlammbeerengases zog den Ballon nach oben. Doch noch war sie zu schwer. Sie hielt die Flasche über sich, bewegte sie vorsichtig, damit sich die Glut der Beeren besser verteilte. Sofort stieg neuerlicher Qualm auf, strömte in den bunten Flickenbaldachin und … beinahe hätte sie aufgeschrien, denn … Sie schwebte!
Sie flog …
Ein Ruck. Sie musste sich am Bast festhalten. Und mit einem Mal schwenkte der Schemel unter dem Ballon aus dem Fenster, und sie war im Freien. Unter ihr fiel die Mauer des Turms ab, brachen sich tosend die Wellen am dunklen Fels.
Am liebsten hätte sie laut losgelacht. Endlich frei! Sie war frei!
Ihr Plan funktionierte …
Als sei sie schwerelos, trieb sie mit dem Wind, entfernte sich vom Turm, der so lange ihr Gefängnis gewesen war. Aufgeregt sah sie sich um. Sie kannte nur, was sie im Labor oder im Hof und aus dem Turmfenster tagein, tagaus erblicken musste: Wasser und Himmel. Hin und wieder hatte sie ein Stück vom weißen Segel des Versorgungsschiffs gesehen. Das war alles.
Eine Windböe erfasste den Ballon und trug ihn weiter hinaus aufs Meer, weg von der Insel, auf der die Festung thronte.
Eine Insel, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte so etwas geahnt, doch – wo war das Festland? Verzweifelt suchte ihr Blick den Horizont ab. Da war nichts!
„Dieser verfluchte …!“ Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Der Seewind trieb ihr Tränen in die Augen.
Oder war es die Hoffnungslosigkeit, die sie plötzlich überkam?
Sie hatte damit gerechnet, in einer Bucht zu sein oder zumindest unweit eines Festlandes. Aber ringsum war nichts als tosende See!
Angst legte sich um ihre Brust, und sie blickte auf ihr Gefängnis hinunter.
Eine Burg, erbaut auf einer Felsinsel. Scharfkantiger Stein, an dem sich die Meereswellen brachen, zu Gischt zerschnitten wurden.
Doch sie würde nicht aufgeben. Irgendwo war Land! Sie musste nur sparsam mit dem Vlammbeerenqualm sein. Der Wind würde ihr helfen.
Wieder wurde sie von einer Böe erfasst, diesmal riss es sie auf dem Schemel herum. Sie spürte, wie der Wind den Ballon mit seinen unendlichen Fingern packte und zurück zur Festung drückte.
„Nein“, keuchte sie. „Sei mir gnädig, Wind! Bring mich heim, bring mich fort!“
Ein Schrei ließ ihr Herz erstarren. Jemand rief, dann erklang ein Horn. Die Wachen! Sie waren vom Mittagessen zurück und starrten zu ihr hinauf.
Voller Panik blickte sie nach unten. Sah die Klippen, schwarz glänzend, wie Messerklingen streckten sie sich aus dem Wasser. Leuchtende Uniformen, Armbrüste, Wachen im Laufschritt.
Nicht schießen, betete sie. Bitte nicht schießen.
Tatsächlich vernahm sie kein Sirren von Pfeilen, sondern ein Rauschen. Es wurde lauter und lauter, bis es sich deutlich vom Wind abhob. Ein dunkles Rauschen, ein düsteres Flattern. Ein Schatten senkte sich über sie.
Hektisch sah sie sich um und bemerkte, dass das Flattern von Aberhunderten Flügeln herrührte.
Mycrodragonen! Tausende! Kleine Drachen, nicht größer als der Kopf eines Mannes. Sie kamen in Schwärmen und setzten sich auf den Ballon.
In wenigen Augenblicken war er schwarz vor krabbelnden und huschenden Leibern. Die winzigen Drachen schrien spitz und aufgeregt, und ihr stetes Flügelschlagen zerriss die Luft. Sie gruben ihre scharfen Krallen in den Ballon, schlugen ihre Zähne in den Flickenteppich. Sie konnte nichts tun. Konnte nur hilflos darauf lauschen, wie der Vlammbeerenqualm pfeifend entwich.
Ihre Finger schlossen sich fester um die rauen Bastschnüre.
Sie hatte nur diese eine Chance gehabt.
Der Wind zerrte an ihren verfilzten Haaren, er peitschte über ihre Wangen.
Sie stürzte in die Tiefe.
Frisch geschlagener Flintstein … Yu schloss die Augen. Sie sog den rauchigen Duft ein und schwelgte in jedem Atemzug. Locker lagen die Zügel in ihrer Hand. Sie musste ihren jungen Wilddrachen nicht lenken, denn sie hatte kein Ziel. Yu genoss es einfach, endlich wieder auf Fexx’ Rücken durch den Himmel zu gleiten.
Es war der erste Flug dieses Jahr. Der Winter hatte unendlich lange gedauert. Immer wieder war Schnee gefallen, und Nanthian hatte den Kindern verboten zu fliegen. Nur an klaren Tagen hatten sie ein wenig über dem Übungsplatz kreisen dürfen. Wie langweilig!
Als hätte Fexx ihre Gedanken gelesen, hob er plötzlich an und stieg weiter hinauf, um sich in einer Schraube hinabgleiten zu lassen. Lachend drückte Yu sich an seinen Hals. Sie liebte dieses Kribbeln im Bauch, wenn ihr Wilddrache Loopings flog.
„Und los“, flüsterte sie, woraufhin Fexx schnaubend die Flügel anlegte und sich auf den Rücken drehte. Wie ein Otter im Wasser rollt, so drehte er sich in der Luft mehrfach um die eigene Achse.
Yu jubelte. Das war das Größte! Als Fexx in die normale Fluglage wechselte, drückte sie ihm einen Kuss in die rote Mähne.
Gemeinsam glitten sie durch den wolkenlosen Frühlingshimmel, während unter ihnen die frischen, zartgrünen Wiesen entlangzogen und am Horizont, gleich hinter den Fachwerkhäusern Grinfjörds, silbrig schimmernd der Spiegelsee im Sonnenlicht lag.
„He, ihr zwei! Schlaft ihr?“ Eine Mädchenstimme drang durch den Flugwind zu Yu.
Es war ihre Freundin Rosabella, die elegant auf ihrer grazilen, schynisischen Drachin Ping-Ping saß und sich neben Yu auf ihrem Drachen durch das Blau des Himmels schlängelte. Die Sonne ließ Ping-Pings perlmuttfarbenes Schuppenkleid in allen Regenbogenfarben schimmern.
„Ich dacht’ schon, du kommst heute gar nicht mehr“, beschwerte sich Yu. „Wo doch endlich wieder großartiges Flugwetter ist!“
„Ich habe Besuch“, rief Rosabella herüber. „Wir haben dich gesucht. Lilja und ich. Willst du nicht mitkommen?“
Mit einer sanften Bewegung der Zügel dirigierte Yu Fexx näher an Ping-Ping heran. „Wohin denn?“
„Zum Orden, nach Grinfjörd. Lilja ist schon vorausgeflogen. Wir treffen uns vor dem Stadttor.“
Yu sah zu Grinfjörd hinüber und verzog die Mundwinkel. „Och, komm. In die Stadt? Bei dem Wetter? Wollen wir nicht lieber zum Nihmsee?“
Rosabella seufzte.
Sie hatte sich einen eleganten Reitdress angezogen. Cremefarben mit rosaroten Stickereien an den Ärmeln. Ihr langes, schwarzes Haar war mit einer, ebenfalls rosafarbenen, Schleife hochgebunden. „Wie gesagt, der Besuch wartet. Er würde sich übrigens freuen, dich kennenzulernen.“ Mit einem Schnalzen ließ Rosabella Ping-Ping schneller fliegen. „Es wäre mir eine Ehre, wenn du mir diesen Gefallen erweisen würdest. Das wäre vorzüglich.“
„Beim heiligen Mirgan. Du klingst heute wieder so …“ Yu suchte nach einem passenden Wort. „So rosa.“ Mit einem kurzen Druck der Beine ließ sie Fexx an Ping-Ping vorbeischießen. „Wie sieht’s aus? Ein Wettfliegen zum Stadttor?“
Rosabella lachte. „Du gibst nie auf, wie? Du weißt doch, dass Ping-Ping und ich schneller sind.“
„Hör auf, so geschwollen daher zu reden. Wer verliert, gibt ’n Eis aus. Neun Kugeln! Los, Fexx!“ Sofort schoss der orangefarbene Wilddrache vor.
Yu schmiegte ihren Körper erneut an seinen Hals und feuerte ihren Drachen an.
Hinter sich hörte sie Rosabella noch „Verflixte Echsenschuppe!“ rufen, aber dann spürte sie auch schon den Windstoß von Ping-Pings mächtigen Flügeln.
Kopf an Kopf lagen die zwei Drachen, als sie auf die Landewiese vor dem Stadttor hinabstießen.
Ihre Freundin Lilja wartete bereits an der Brücke, die zum Stadttor führte. Fröhlich winkte sie ihnen zu, ihren Drachen neben sich, der ebenfalls den beiden neugierig entgegenblickte. Zumindest die erste Minute, denn als Yu und Rosabella, ohne abzubremsen, angeschossen kamen, schrie Lilja erschrocken auf.
„Haaaalt! Was zum …“ Ihr Ruf wurde durch Ping-Pings und Fexx’ Flügelschläge erstickt.
Juchzend landeten die beiden Mädchen, während ihre Drachen mit ihren Schwingen so viel Wind verursachten, dass es Lilja glatt von den Füßen riss. Mit einem Aufschrei fiel sie auf den Hintern, und Gefion stupste sie besorgt an.
„Erster!“, rief Yu und sprang von Fexx.
„Von wegen, Ping-Ping hat eindeutig als erste den Boden berührt.“
Hustend rappelte sich Lilja auf und rieb sich erst den Hintern, dann ihre Brille. „Aua! Ihr müsst eindeutig ein wenig an eurer exorbitanten Fallbeschleunigung arbeiten.“
„Exorbi-Was?“ Yu klopfte Lilja den Staub vom schlabberigen Pulli. „Wer hat gewonnen? Daran arbeiten wir.“
„Ich würde sagen …“ Prüfend musterte sie die Gläser ihrer Brille, indem sie sie gegen das Sonnenlicht betrachtete. Sie erschienen Lilja noch nicht sauber genug.
Kurzerhand hielt sie die Brille Gefion, ihrem tapsigen Fjörd-Drachen, unter die Nase. Der junge Drache war das Spielchen anscheinend bereits gewohnt, denn er schnaubte sanft, damit die Brille beschlug, sodass Lilja sie besser abwischen konnte. „Also ich würde sagen …“
„Los, sag schon, wer war schneller?“ Ungeduldig stemmte Yu die Hände in die Hüften.
„Ich fürchte, ich hatte die Augen zu.“
Yu schrie auf. „Waaaaaas! Vereiste Feuerkelle! Jetzt wird Rosabella immer behaupten, dass sie gewonnen hat! Und wer gibt mir jetzt ’n Eis aus?“
„Was heißt hier behaupten?“, fragte Rosabella schnippisch. „Es ist die Wahrheit.“ Vergnügt grinste sie Yu an, nahm Ping-Ping am Zügel und lief auf die Brücke, die über den Fjordar zum Stadttor führte. „Neun Kugeln, Yu! Neun!“, trällerte sie und war bereits halb über dem Fluss.
Hier an der nördlichen Seite Grinfjörds war nie viel los. Die meisten Händler und Besucher kamen entweder mit dem Luftschiff und machten am Landungsturm auf dem Marktplatz fest, oder sie reisten aus dem Süden an, von wo aus sie durch das riesige Haupttor die Stadt betraten.
„Sollen wir die Drachen denn nicht hierlassen?“, fragte Lilja unsicher, weil sie wusste, dass Rosabella normalerweise nicht mit Ping-Ping in die Stadt wollte. Obwohl alle drei inzwischen ihren Drachen-Lenkschein und damit die Erlaubnis hatten, ihre Drachen auch in die Stadt zu führen, hatte Rosabella immer Sorge, dass Ping-Ping mit ihrem langen Schwanz etwas oder gar jemanden von den Füßen reißen könnte.
„Es sind Ferien, Lilja! So viel wird schon nicht los sein“, antwortete Rosabella und richtete ihr Haar, bevor sie weiterging.
Der Hof des Ritterordens, auf den die Mädchen zu steuerten, war von einer hohen Mauer umgeben, die Neugierigen den Blick hinein verwehrte. Vom Marktplatz aus war lediglich die gläserne Kuppel des Turnierplatzes zu sehen, die ihr mächtiges Halbrund gen Himmel spannte. Sie lugte hinter dem mehrstöckigen Fachwerkhaus des Ritterordens hervor, das ebenfalls die Mauer überragte. Unter der Kuppel hielt angeblich der Orden regelmäßig Turniere ab. Aber niemand, der nicht dem Kreis der Ritterschaft angehörte, hatte Zutritt. Zu gern hätte Yu mal einen Blick in die Kuppel erhascht.
Ein Schwarm winziger Mycrodragonen, Drachen klein wie Vögel, stob von den Dachziegeln des turmhohen Fachwerkhauses auf. Aufgeschreckt durch zwei Windschiffe, die aus dem Hof des Ordens starteten. Der Schwarm kreiste fiepend um die Glaskuppel, um sich dann im Blau des Himmels zu verlieren.
Yu beobachtete ein drittes Windschiff, unter dessen Bauch Netze voller Holzkisten baumelten. Es senkte sich in den Hof hinab, um dort seine Ladung abzuliefern.
Es war ungewöhnlich, dass Windschiffe direkt im Hof des Ordens landeten. Normalerweise dockten alle Windschiffe am Landungsturm auf dem Marktplatz an.
Yu schlang Fexx’ Zügel um einen schon abgewetzten Steinpfosten, der vor dem Eingangstor des Ritterordens aus dem Kopfsteinpflaster ragte. Den Hof durften ausschließlich Drachen des Ordens betreten: Funkendrachen.
Eine Rasse, die speziell für die Ritter gezüchtet worden war. Sie waren besonders wendig, was sie zu idealen Reittieren für Turniere machte.
Während Lilja und Rosabella ihre Drachen ebenfalls anbanden, steckte Yu Fexx noch schnell eine Haffarolle zu.
„Ich beeile mich. Schön warten“, flüsterte sie ihrem Wilddrachen zu und eilte Rosabella und Lilja hinterher, die bereits zum Tor gegangen waren.
Etwas neidisch beobachtete Yu, wie Rosabella, als würde sie Leopoldinas Küche betreten, das hölzerne Tor zum Orden aufstieß und hindurchschritt.
Doch ganz so selbstverständlich hatte auch Fräulein Rosabella keinen Zutritt zu den heiligen Hallen des Ordens. Denn mit einem Knurren versperrte ein Wachmann ihnen den Weg. Er knallte den Schaft seiner Hellebarde absichtlich laut auf die Pflastersteine. „Halt!“
Aber Rosabella zeigte sich unbeeindruckt und lief einfach an dem Mann vorbei. Mit einer abfälligen Geste meinte sie nur: „Madame Lys-Camplé – ihrerseits Vertretung der Firma Lanze, Schild & Co. Danke, man erwartet uns bereits.“ Ohne der Wache einen weiteren Blick zu schenken, trippelte sie über den Hof, forderte mit einem lässigen Wink Lilja und Yu auf, ihr zu folgen.
Die beiden sahen ihr ebenso so verdutzt nach wie die Wache. Allerdings brauchte Yu keine zweite Einladung. Diese Gelegenheit, vielleicht einen Funkendrachen zu sehen, der mit seinem Reiter aus der Kuppel vom Training kam, ließ sie sich ganz gewiss nicht entgehen!
Der Soldat entschied sich, lieber doch nachzufragen, ob diese Mädchen wirklich erwartet wurden, und eilte zu einem Sprechkasten. Durch diesen Apparat, mit Zahnrädern und Schläuchen sowie einem kleinen Sprechtrichter, konnte er direkt mit den Wachen im Ordenshaus reden.
Nach ein paar Kurbelumdrehungen hatte er eine Verbindung und sprach durch den Trichter mit einem Ritter.
Die Mädchen waren jedoch schon längst zwischen den Gebäuden Richtung Kuppel verschwunden.
„Wen triffst du denn hier?“, fragte Lilja.
Aber Rosabella antwortete nur: „Meinen Besuch“ und blickte sich suchend im Hof um.
Linkerhand schmiegten sich Wohnhäuser aus Backstein und Stahl an die Wehrmauer, während sich rechts die Stallungen erstreckten. Eigentlich war der Hof mit Steinen unterschiedlicher Farbe gepflastert. Ein Mosaik, das die sieben Urdrachen darstellte. Doch heute war von den prachtvollen Mustern nichts zu sehen. Der Hof war zugestellt mit Kisten, Transportboxen, Futtersäcken und Koffern. Fuhrwagen und Windschiffe wurden von Knechten beladen, einige Ritter trugen Netze voller Waren herbei, während Arbeiter Schilde und Rüstungen zu einem Holzkran brachten, der von zwei alten Funkendrachen angetrieben wurde. Hier wurde gefeixt, gelacht und geflucht, dort wurden Zaumzeug und Sättel auf Hochglanz poliert und drüben vor der mächtigen Kuppel des Turnierplatzes die Mähnen einiger Funkendrachen gewachst. Etliche Drachen-Transportboxen warteten auf ihre Passagiere.
Das Windschiff, das Yu von draußen gesehen hatte, war neben weiteren Schiffen gelandet und wurde von Arbeitern entladen. Das Surren unzähliger Luftschrauben erfüllte den Platz vor dem Fachwerkhaus. Rufe und das Knarzen von Lastkränen, das Poltern von Kisten, das Ächzen und Getrappel von Knechten, die die Lieferungen verräumten. „Was ist denn hier los?“, wunderte sich Yu.
„Zieht der Orden um?“ Lilja duckte sich unter einem Tragjoch durch, mit dem ein Stallbursche Wasser transportierte. Er hatte sich den Balken über die Schultern gelegt, und rechts und links hing je ein voller Wassereimer daran. Lilja hatte er anscheinend gar nicht bemerkt.
Winkend eilte Rosabella zu den Stallungen. „Kommt mit, ich glaube, er ist dort drüben“, rief sie.
Wen meinte Rosabella nur? Yus Blick suchte die Stallungen ab. Da entdeckte sie Jaromir.
Der dunkelhaarige Junge führte, unter der Aufsicht seines Onkels Fraseli, einen der Funkendrachen aus dem Stall. Es war ein junges Tier, wie Yu sofort erkannte, denn seine Kehlflügel waren noch nicht sehr ausgeprägt, und sein Schritt war federnd und voller Energie. Jaromir hatte Mühe, den Drachen festzuhalten, der wegen des bunten Treibens ganz aufgeregt war.
„Sei vorsichtig, Jaromir! Sir Dradumill will ihn vorführen. Und er ist sehr, sehr pingelig, wie du weißt.“
Wollte Rosabella etwa zu Jaromir? Dem selbst ernannten Stallburschen, der mit seiner Bande den Mädchen ständig Streiche spielte?
Kurz sah Yu dem Jungen zu, wie er geschickt mit dem nervösen Drachen umging. Immerhin das musste sie Jaromir lassen: Mit Drachen konnte er wirklich gut. Aber ansonsten war er einfach nur … na ja … dämlich.
Zu Yus Erleichterung nahm Rosabella keine Notiz von Jaromir, sondern lief an ihm vorbei. Stattdessen steuerte sie geradewegs auf den Eingang der Kuppel zu.
Ungläubig schloss Yu zu Lilja auf, die ebenfalls überrascht aussah. „Will Rosabella allen Ernstes da rein?“, flüsterte sie aufgeregt.
Yu legte den Kopf in den Nacken und bestaunte das gläserne Bauwerk, in dem die Ritter mit ihren Drachen übten und das nur wenige Grinfjörder jemals von innen gesehen hatten.
Freudestrahlend lief Rosabella auf ein paar Männer neben dem Eingang zu. Wie Yu an ihren roten Mänteln erkennen konnte, hatten beide einen hohen Rang innerhalb des Ordens. Bei ihnen stand ein älterer Herr in Frack und Zylinder. Die Ritter hatten von dem Fremden einen silberfarbenen Koffer erhalten und verabschiedeten sich gerade, als die Mädchen hinzutraten.
Der Herr begrüßte Rosabella mit einem fröhlichen Lachen, und auch Yus Freundin strahlte wie ein Honigkuchendrache. Die Schläfen des Mannes waren schon grau, doch er wirkte jung in seinem edlen, grauen Frack. Vielleicht auch deswegen, weil er so herzlich lachte und dabei seine blendend weißen Zähne zeigte.
Der Stoff seines Anzugs sah teuer aus, seine Schuhe waren aus feinem Leder, und als Yu sein Hemd bemerkte, musste sie unwillkürlich zu Rosabella sehen. Der Mann trug nicht nur ein rosafarbenes Rüschentuch, das aus der Brusttasche seines Fracks lugte, sein Hemd hatte die gleiche Farbe wie Rosabellas Bluse: Rosa!
Deswegen sieht Rosabella so glücklich aus, dachte Yu, der Herr ist ein Seelenverwandter!
„Darf ich euch vorstellen?“, meinte Rosabella. „Das ist mein Vater – und dies sind meine Freundinnen Yu und Lilja.“
Herr Lys-Camplé schüttelte den beiden die Hand. „Ich habe schon viel von euch und euren Abenteuern gehört.“
„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Lilja, während Yu zu überrascht für eine höfliche Begrüßung war.
„Ach du fette Drachenschuppe. Diese Liebe für hässliches Rosa liegt dann wohl in der Familie, ja?“, platzte sie heraus und biss sich sogleich auf die Zunge. Doch zu spät. Rosabella sah sie ziemlich sauer an.
Herr Lys-Camplé hingegen lachte. „Rosabella hat dich wirklich gut beschrieben, Yu Rothschild. Immer mit der Tür ins Haus.“
Was hat das nun schon wieder zu bedeuten? Sie warf Rosabella einen fragenden Blick zu, doch die schnaubte nur beleidigt.
„Meine Geschäfte haben mich nach Grinfjörd geführt.“ Herr Lys-Camplé deutete zu den beiden Rittern, die mit dem silbernen Koffer gerade im Fachwerkhaus auf der anderen Seite des Platzes verschwanden. „Aber eigentlich wollte ich meine Rosa wiedersehen. Und natürlich ihre überaus entzückenden Freundinnen kennenlernen.“
Überaus entzückenden Freundinnen? … Nun war alles klar, Rosabella hatte nicht nur ihren Rosatick von ihrem Vater, ihre geschwollene Art zu reden hatte sie ebenfalls von ihm geerbt.
„War das die neue Kollektion in dem Koffer, Vater?“ Rosabella lächelte ihr bestes Einschmeichel-Lächeln. „Darf ich sie sehen? Dürfen wir, ja?“
Herr Lys-Camplé schmunzelte über die Ungeduld seiner Tochter. „Es sind hauptsächlich Reitkleidung und Zaumzeug. Wenn ihr unbedingt wollt, könnt ihr sie nachher ansehen. Aber eigentlich hatte ich für euch eine andere Überraschung. Dies war auch der Grund, weswegen ich dich herrief.“ Schelmisch zwinkerte er Rosabella zu.
Ein Drachenschnauben ließ Yu herumfahren. Zwei Funkendrachen wurden von Jaromir und einem Knappen zur Kuppel geführt. Soeben schoben die beiden das riesige Holztor zur Seite, damit die Drachen hineingehen konnten. Allein das Tor war so hoch wie das Schmiedehaus, in dem Yu wohnte, und sie konnte Jaromir vor Anstrengung fluchen hören, als er es Meter für Meter aufdrückte.
Neugierig spähte sie an ihm vorbei, um einen Blick ins Innere der Kuppel zu erhaschen. Ein dünnes Skelett aus Stahl trug die Kristallscheiben, aus denen die Kuppel bestand. Bis hinauf zum höchsten Punkt der Kuppel konnte Yu nicht sehen, obwohl das Tor mindestens fünf Drachenlängen hoch und sieben breit war. Wie viel hundert Drachenlängen die Kuppel wohl im Grundriss zählte?
Im Inneren der gläsernen Kuppel herrschte sanftes, fast milchiges Licht, und der Boden war mit feinem Sand ausgelegt. Er schimmerte und glitzerte wie zerriebene Diamanten. Um die Arena herum, weit hinten am Rand, erkannte Yu turmhohe Tribünen. Sie waren mit bunten Wimpeln geschmückt. Bestimmt saßen dort Generäle und Hauptmänner, wenn die Ritter ein Turnier abhielten.
Mit einem Mal wandte Jaromir sich um, um den Führstrick des Drachens zu nehmen. Ihre Blicke trafen sich.
Verflixt!, schoss es Yu durch den Kopf, und sie drehte sich ertappt weg. Jetzt hat er dich entdeckt, und gleich kommt er rüber und macht irgendetwas Peinliches.
Rosabella sah sie auffordernd an.
„Was?“, fragte Yu etwas ungehalten.
„Willst du nicht wissen, was für eine Überraschung mein Vater hat?“, fragte Rosabella leicht eingeschnappt.
„Doch, natürlich.“ Yu vergrub ihre Hände in den Taschen ihres Lederwamses. „Was ist es denn? Ein rosa Kleidchen?“
„Du machst mir Spaß, Yu Rothschild.“ Rosabellas Vater lachte herzlich.
Yu tat es ihm gleich, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. Erneut wanderte ihr Blick zur Kuppel. Nicht zu Jaromir. Der war glücklicherweise bereits mit dem Drachen in der Kuppel verschwunden. Sie entdeckte in der Arena bunte Ringe, die auf Stäben steckten, und ein paar Strohpuppen. Damit übten die Ritter mit Lanzen im Flug ein Ziel zu treffen.
Weit hinten, hoch oben in der Kuppel sah sie drei Drachen. Sie flogen im Kreis, ließen sich hinabfallen und jagten sich hin und her.
Neugierig ging Yu ein paar Schritte näher und bemerkte ein schwarzes Windschiff, das in der Arena festgezurrt lag. Männer luden hölzerne Truhen ein, während sie von einem Dutzend Ordensrittern schützend umringt wurden. Die Männer trugen allesamt Schwerter und Kettenhemden, hatten teilweise sogar ihre Helme aufgesetzt.
Wieso eskortieren Bewaffnete ein Windschiff, das in der Trainingskuppel, im Hof des Ritterordens, vor Anker lag? Zögernd machte Yu einen weiteren Schritt auf das Eingangstor zu.
Was beschützen die?
Alle Truhen, die die Männer ins schwarze Windschiff luden, waren mit schweren Vorhängeschlössern gesichert. Das Siegel des Ritterordens, ein Drache in drei Flammen, war in das Holz gebrannt und schimmerte im eigentümlichen Licht der Kuppel.
Was da wohl drin ist?
Herrn Lys-Camplés Hüsteln riss Yu aus ihrer Grübelei. „Dir hätte ich selbstredend gern ein Schwert geschenkt“, sagte er. „Aber ich denke, diese Kleinigkeit wird auch dich begeistern, Yu.“
Ertappt drehte sich Yu zu ihm um. Sie hatte nicht mitbekommen, über was die drei gesprochen hatten.
Rosabellas Vater zückte einen rosaroten Umschlag aus seinem Zylinder und gab ihn seiner Tochter. „Ich dachte, dass ihr drei euch mal ein Abenteuer verdient habt. Was ich so höre, ist euer Leben hier ja recht langweilig.“ Er zwinkerte Lilja zu, die kichern musste.
Aufgeregt roch Rosabella am Kuvert. „Für Lilja, Yu und mich?“ Vorsichtig öffnete sie es.
Lilja machte einen langen Hals, um zu sehen, was in dem Umschlag war. Auch Yu trat näher, allerdings sah sie erst noch mal über die Schulter. Doch jemand verdeckte jeden weiteren Blick auf das Windschiff: Jaromir.
Grinsend stapfte er zu ihnen herüber. Anscheinend hatte er den Drachen abgeliefert.