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Abenteuerreihe für alle, die Drachen lieben. Eigentlich wollten Yu und Rosabella ihrer Freundin Lilja zur Aufnahme an die Grinfjörder Alchemisten Akademie nur eine kleine Aufmerksamkeit schenken. Doch als sie in einem geheimnisvollen Trödelladen einen seltsamen, alchemistischen Kreisel entdecken, nimmt ein unvorstellbares Abenteuer seinen Lauf. Denn das merkwürdige Spielzeug entpuppt sich als ein wertvolles Artefakt aus uralten Zeiten ... Führt es zum sagenhaften Drachenvolk und zu den Urdrachen? Die drei Drachenreiterinnen ahnen nicht, welch große Gefahr sie heraufbeschwören ... Dies ist der 2. Band der 6-bändigen Drachenhof-Feuerfels-Reihe. Drachenhof Feuerfels ist eine magische Abenteuerreihe für alle, die Cornelia Funkes "Drachenreiter" oder "Drachenzähmen leichtgemacht" lieben. Presse „... liest sich wie eine Detektivgeschichte und ist spannend bis zur letzten Seite.“ GEOlino „Yu, Lilja, Rosabella - Abenteuer und Spannung pur.“ Lesen macht Spaß, Nr. 55 „Das Buch ist so spannend, dass ein langer Abend reicht, um es drachenmäßig zu verschlingen...“ Treff - Wissensmagazin für Schüler „Pfiffig und humorvoll geschriebene Drachenbücher, die zum Schmökern verführen.“ HFK 28
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Drachenhof Feuerfels
Band 2
Der Fluch
des Drachenvolks
Roman von
Marion und Derek Meister
– Digitale Originalausgabe –
als überarbeitete Ausgabe
- 2020 -
Copyright © 2020 by Derek Meister und Marion Meister
Umschlaggestaltung und Innenillustrationen von Marion Meister
v2.04012022
Impressum
StoryTown – Derek Meister & Marion Meister GbR
Ackerrain 79
30938 Burgwedel
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Marion Meister – www.marionmeister.info
Derek Meister – www.derekmeister.com
Über die Autoren
Derek und Marion Meister haben sich während ihres Studiums an der Filmhochschule Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg kennengelernt. Schnell haben sie ihre gemeinsame Liebe für Geschichten entdeckt und schreiben seit 2004 immer wieder gemeinsam Kinderbücher.
Inzwischen sind die beiden verheiratet, haben zwei Kinder und leben auf dem flachen Land in Niedersachsen, wo sie Hirsche, Hasen und Drachen zählen und spannende Geschichten schreiben.
Inhaltsverzeichnis
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Luftblasen strömten an den Bullaugen vorbei, waren nur verzerrt durch das Kristallglas zu erkennen. Ein leises Rauschen, dann hatte das Wasser die hölzerne Tauchglocke vollends umspült, und sie glitt weiter in den See hinab, versank gurgelnd tiefer und tiefer.
Narill gähnte übertrieben, um den Druck auf seinen Ohren loszuwerden. Das Auf und Ab an der Kurbel ließ ihn schwitzen. Es war ihm zu eng in dieser Tauchglocke und die Luft zu muffig. Sie stank nach Holz, Harz und Teer. Lange würde er das Tempo an der Kurbel nicht mehr durchhalten. Bevor er noch einmal gähnen konnte, fuhr Zyl’Pak ihn an. „Nicht einschlafen!“
Mit einem aufgesetzten Lächeln wischte sich Narill den Schweiß von der Stirn. „Sehr witzig“, brummte er und musterte seinen Bruder. Zyl’Pak war gut zwei Köpfe größer als er und konnte nur gebeugt in der kleinen Glocke stehen. Tätowierungen schlängelten sich die nackten Arme seines Bruders hinauf. Es waren Stammeszeichen der alten Fahrensmänner.
Da bemerkte Narill, dass draußen vor dem Bullauge die Muschelbänke an den Felsen viel zu schnell vorbeizogen. Ein dumpfes Blubbern drang zu ihnen, und immer wieder knarrte das Holz, ächzte unter der Last des Wassers. Mit Pech und Schilf hatten sie die Bretter aus Speektuarienholz abgedichtet. Die Tauchglocke sollte halten, denn Speektuarien waren hart wie Eisen. Aber dennoch hatte Narill ein ungutes Gefühl.
„Wir tauchen zu schnell“, keuchte er. „Wir müssen die Fahrt verlangsamen.“ „Tiefer“, blaffte Zyl’Pak ihn an. „Nicht Quatschen! – Kurbeln!“
Narill bedachte seinen Bruder mit einem Fluch.
Zyl’Pak stand an der runden Einstiegsluke aus Kristallglas. Auch er starrte nervös durch das Bullauge auf die näherkommenden Muschelbänke. Ein Fehler und sie würden an die Felsen krachen. „Wie tief seid ihr?“ Eine raue Frauenstimme drang schnarrend aus dem Blechtrichter, der über ihren Köpfen befestigt und durch einen Schlauch mit der Oberfläche verbunden war. Ungestüm riss Zyl’Pak den Trichter aus der Verankerung, um besser hineinsprechen zu können. Die Tauchglocke war so eng, dass er Narill an der Kurbel anrempelte.
„Pass doch auf, verdammt“, zischte der.
Da erschütterte plötzlich ein Knacken die Kugel. Erschrocken hielten die beiden inne und starrten auf die Holzplanken. „Was ist los?“, quäkte es aus dem Trichter.
„Nichts.“ Zyl’Pak warf Narill einen Blick zu. „Alles in Ordnung.“ Die beiden Männer sahen sich um, doch das Dröhnen war verklungen. Zyl’Pak klopfte gegen eines der runden Zeigerinstrumente, die unter dem Sprechtrichter angebracht waren – die Nadel stand auf 47,3 Meter.
„Sind jetzt über 45 Meter tief“, sagte er.
„Seht ihr schon etwas?“, fragte die Stimme.
Zyl’Pak drehte sich wieder der Luke zu, legte seine Stirn an das Kristallglas und spähte in die Tiefe. „Antwortet mir! Was seht ihr?“, schrie es aus dem Trichter.
„Nichts“, erwiderte Zyl’Pak tonlos.
„Geht tiefer.“
„Tiefer?“ Fassungslos starrte Narill seinen Bruder an. „Das kann sie nicht machen, die Kugel wird sicher zerquetscht.“
Doch Zyl’Pak zuckte nur grimmig mit den Schultern und griff in seine Hosentasche. Er zog einen dreckigen Lappen hervor und wischte sich den Mund ab, dann nickte er zur Kurbel. „Mach weiter. Aber langsam, Brüderchen.“
Narill war übel. Murmelnd rief er Frigor an, der Urdrache möge ihnen beistehen. Die Luft schien immer stickiger zu werden, die zarten Federn, die sie vor den Windschacht gesteckt hatten, um zu sehen, ob noch Luft in die Glocke gepumpt wurde, zitterten nur leicht. Das Drehen an der Winde ließ Narill schwindeln – und ebenso der Gedanke an die Wassermassen die über, unter und um ihn herum auf die Tauchglocke drückten. Erneut erschütterte ein Dröhnen die Kugel. Das Holz ächzte und knarrte. Bei jeder Umdrehung der Kurbel schien sich die Glocke gegen das Wasser zu wehren und vor Schmerzen zu jammern.
Langsam sank sie weiter. Stück um Stück.
„Ich – ich glaube, ich sehe etwas.“ Während Zyl’Pak aus dem Bullauge der Luke sah, dirigierte er Narill, ganz behutsam die Winde zu drehen.
„Habt ihr sie gefunden? Wie sieht sie aus?“
Sie hatten keine Zeit zu antworten, denn wenn Narill die Gesten seines Bruders richtig deutete, war dort draußen im Wasser wirklich etwas. Das erste Mal bemerkte er einen Hauch von Ungeduld und Aufregung in Zyl’Paks Stimme.
„Langsamer“, brummte der, und Narill versuchte, an seinem Bruder vorbei, ebenfalls einen Blick durch das Lukenfenster zu erhaschen. Felsen, von Muscheln überwuchert … Schillernde Fischchen und …
Ja. Dort war etwas im Wasser, da an den Felsen …
„Zyl’Pak? Melden! Zyl’Pak? Narill?“
Mit einem Handzeichen wies Zyl’Pak Narill an, noch ein wenig das Kurbelrad zu drehen. Nur noch ein kleines bisschen, ein winziges Stück und … Ornamente waren zwischen Algen und Wassergras zu erahnen. Kanten zeichneten sich unter dem Seemoos und den Muscheln ab. Keine fünf Meter von ihnen entfernt war etwas in die Felsenwand geschlagen worden. Es war eindeutig von Menschenhand bearbeitet. Glatt und eben. Ein blanker Stein mit einer großen, rechteckigen Vertiefung in der Mitte, in der eine Zeichnung zu sehen war. Sie hatten sie tatsächlich gefunden.
Die Felsentür. „Stopp“, rief Zyl’Pak. Seine Ruhe war verflogen, er wandte sich zum Trichter und schrie hinein. „Die Tür! Wir haben sie. Sie ist intakt. Raxima! Sie ist unbeschädigt!“
„Sehr gut. Öffnet sie. Aber seid vorsichtig“, schallte es zurück. „Hört ihr?“
Sofort ließ Narill die Kurbel einrasten und schlang ein Seil drum, damit sie sich keinesfalls lösen konnte.
„Wir sind die Ersten, die es sehen werden, kleiner Bruder.“ Mit einem breiten Grinsen zwinkerte Zyl’Pak Narill zu, dann wandte er sich wieder zur Luke. Seitlich war ein Hebelmechanismus angebracht. Drei Schalthebel und einige Ventilräder neben Schläuchen und Kupferrohren. Zyl’Pak ließ seine Finger knacken und umfasste den linken Hebel. Langsam drückte er ihn nach vorne. Mit einem Sirren fuhr außen an der Luke der Tauchglocke ein langer Schlauch aus. Es war ein kompliziertes Skelett aus Speektuarien-Stäben, bezogen mit robustem Fischleder. Der Schlauch entfaltete sich, streckte sich immer weiter. Auf der einen Seite umschloss er die Luke der Tauchglocke, am offenen Ende waren Saugglocken befestigt. Surrend strebten diese durch das Wasser auf die Felstür zu.
Einige Fische stoben auseinander, als der Schlauch mit einem Schmatzen mit dem Fels Kontakt aufnahm. Zyl’Pak griff sich den zweiten Hebel, zog ihn zu sich und drehte ein weiteres Ventilrad. Mit einem Zischen saugte sich der Schlauch am Felsen fest, dann wurde er mit Luft geflutet.
„Angedockt.“ Zyl’Pak wischte sich mit seinem dreckigen Lappen den Schweiß von der Stirn. Per Knopfdruck wurde das letzte Wasser aus dem Schlauch abgepumpt, und ein schmaler Holzsteg klappte sich automatisch darin aus. Sie konnten hinüber.
„Öffnen jetzt die Luke“, rief Zyl’Pak in den Sprechtrichter und wandte sich dann an Narill. „Hilf mir.“
Narill griff sich sein speckiges Pergamentbuch und drängte sich ungeschickt neben Zyl’Pak an die Luke vor. Er klemmte sich das Buch unter die Achsel und packte die Verriegelung der Luke. „Und der Schlauch?“, fragte er unsicher. „Der hält uns?“
„Sollte er. Ja. Das Wasser trägt uns.“ Mit einem Ruck öffneten sie gemeinsam das Schott der Tauchglocke. „Aber wenn du meinst, geh du als Erstes. Du bist leichter.“ Zyl’Pak grinste.
Unsicher sah Narill seinen Bruder an, dann blickte er zur Felsentür am Ende des Schlauchs. Sie schimmerte nass und trotz all der Jahrhunderte zeichneten sich die eingeritzten Ornamente darauf deutlich ab. Seltsame Zeichen einer untergegangenen Kultur, eines geheimnisvollen Volkes, von dem man nicht sehr viel wusste. Auch nicht, wie kriegerisch sie gewesen waren – das Volk der Hadunar.
Vorsichtig setzte Narill einen Fuß auf den schmalen Steg.
Das Fischleder des Schlauchs spannte sich, aber die Konstruktion hielt. Geduckt schob er sich voran, täppisch, darauf bedacht nicht an die Hülle zu stoßen. Bei der Vorstellung, dass er fünfzig Meter tief unter Wasser stand, freischwebend, nur von Fischleder umgeben, verkrampfte sich erneut sein Magen. Sie bekamen viel zu wenige Silberlinge für diese Arbeit. Viel zu wenige.
Plötzlich begann der Steg zu schwanken und zu schlingern – doch es war nur Zyl’Pak, der mit schnellen Schritten zu Narill aufschloss. Das Gewicht des stämmigen Manns und die Grobheit seiner Bewegungen brachte alles ins Wanken.
Narill hätte beinahe das Gleichgewicht verloren und wäre in die Schlauchhülle gefallen.
Heiliger Frigor steh uns bei, betete er.
„Was ist? Hosen voll?“ Lachend schob Zyl’Pak seinen schmächtigen Bruder zur Seite. „Lass mal sehen.“
Mit hektischen Bewegungen riss Zyl’Pak Algen, Muscheln und Seemoos von der Tür. Jetzt war das Relief noch besser zu erkennen. Umrahmt von seltsamen Schriftzeichen, schlängelten sich drei Drachen um einen Kreis. Sofort begann Narill, die Zeichnungen in sein Pergamentbuch zu übertragen. Er hatte sich extra ein wenig Tinte abgefüllt und eine Entenfeder eingesteckt. Während er zeichnete, drückte Zyl’Pak auf dem Kreis herum, versuchte, einen Hebel oder ein Rad zu finden.
„Geh auf, verflucht noch mal“, brummte er und wurde immer ungeduldiger.
Kopfschüttelnd beobachtete Narill Zyl’Paks vergebliche Bemühungen, die Felstür zu öffnen. „Die Tür ist uralt. Der Mechanismus wird eingerostet sein. Außerdem lag die Tür früher nicht unter Wasser“, erklärte Narill schließlich. „Dafür ist sie nicht gebaut. Siehst du das hier?“
Er deutete auf die Runen, seltsame Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte. Sie waren in Mosaiksteinchen geritzt worden, die die Hadunar um die drei Drachen angebracht hatten. Es sah aus, als könne man die kleinen Steinchen mit den Zeichen einzeln in den Felsen drücken, wie Tasten an einem Apparat. Sorgfältig malte er sie in sein Buch.
„Hm. Ich fürchte, wir brauchen einen Schlüssel, ein Losungswort, um die Tür zu öffnen.“
„Was? Losungswort? Blödsinn“, fuhr Zyl’Pak Narill an. „Bin nicht umsonst hier runter.“ Ärgerlich schob er seinen Bruder zur Seite und warf sich mit aller Kraft gegen die Felstür.
Die Tür rührte sich nicht.
Verächtlich spuckte er auf die Stegbalken und sprang abermals mit seinem ganzen Gewicht nach vorne. Der Steg schwankte.
„Hör auf. Lass es bleiben!“ Narill schob sich vor die Tür, um seinen Bruder aufzuhalten, der erneut Anlauf nahm und alles ins Schwanken brachte und …
Klack.
Die Mosaiksteine. Narill hatte sie mit den Fingern gestreift, in zufälliger Reihenfolge waren sie in den Fels gedrückt …
Fassungslos sah Narill seinen Bruder an, dann auf die eingerasteten Runenzeichen. Das Klackern von Zahnrädern drang zu ihnen, etwas begann im Felsen zu rumoren.
„Was in Frigors Namen …“, raunte Zyl’Pak.
Da zischte irgendetwas knapp an Narills Ohr vorbei.
Die Brüder erstarrten.
Was war das?
In diesem Moment ertönte ein weiteres Zischen. Narill riss sein Buch hoch und … Es steckte etwas in dem dicken Ledereinband! Als die beiden erkannten, was aus einem kleinen Felsloch unterhalb des Kreises auf sie schoss, stockte ihnen der Atem!
Ein Pfeil. Er steckte in Narills Buch und der andere …?
Er hatte die Fischhaut durchbohrt!
Ungläubig musterten die beiden das Geschoss. Noch saß der Pfeil wie ein Pfropfen in der Haut. Doch der Wasserdruck würde sicher jeden Augenblick den Schlauch zerreißen …
„Oh nein.“ Die falsche Kombination hatte einen Schutzmechanismus ausgelöst. Narill war starr vor Angst. Sie mussten fliehen, sie mussten …
„Weg hier“, schrie Zyl’Pak und rannte an Narill vorbei zur Tauchglocke.
Da schoss ein dritter Pfeil aus der Tür und blieb in der Fischhaut stecken. Riiiiiiiitsch …
Der Schlauch riss blitzschnell. Das Wasser brach herein, spritzte auf den Steg und schlitzte in Sekunden mehr und mehr der schützenden Hülle auf.
Mit einem schrillen Angstschrei stürzte Narill seinem Bruder nach. Zur Luke, dachte er, du musst es in die Glocke schaffen. Er hechtete vor. In dem Moment sprengte die Kraft des Wassers das Fischleder gänzlich. Der Schlauch platzte. Narill wurde vom Wasser herumgewirbelt, klammerte sich an sein Buch. Zyl’Pak packte seinen Arm. Mit einem Ruck hievte er Narill zu sich in die Tauchglocke. Der See schoss durch die Luke herein. Das Wasser riss Narill herum, und er prallte mit dem Kopf gegen den Sprechtrichter, dann gegen die Winde. Zyl’Pak brüllte Befehle, aber Narill hatte nur die scharfen Pfeilspitzen vor Augen, die aus der Tür geschossen waren. Wasser strudelte um ihn. Kälte umhüllte und lähmte ihn.
Seine Finger hatten die Mosaiksteine berührt. Klack. Und die Drachen hatten Pfeile gespieen … Riiiiiiiitsch …
Das Tosen des Wassers brandete um ihn, als die Tauchglocke mehr und mehr volllief. Das Wasser nahm Narill die Sicht und raubte ihm den Atem. Mit einem Mal wurde alles um ihn zu einer kalten Schwärze.
Yu kniete sich in das feuchte Gras vor dem kleinen Schrein. Sie nahm den Reithelm ab, ließ ihn neben sich gleiten und versuchte vergeblich, ihre kurzen, strubbeligen Haare zu richten.
Weil man von hier aus weit in das Grinfjördtal sehen konnte, hatten Yu und ihr Vater den Tölmannfelsen, eine kleine Anhöhe am Fuß der Roten Berge, als Ort für den Gedächtnisschrein ausgewählt. An klaren Tagen konnte man sogar bis über die Stadt Grinfjörd hinweg zum Spiegelsee sehen. Ariadne hatte hier oft gesessen und nachgedacht.
„Hallo Mama“, flüsterte Yu und legte die Handflächen aneinander. Sie senkte den Kopf und berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. So betend verharrte sie eine Weile mit geschlossenen Augen, bis sie sich wieder aufrichtete und den schmiedeeisernen Schrein liebevoll betrachtete.
Ihr Vater hatte ihn zum Andenken an Ariadne geschmiedet. Ein Grab gab es nicht, denn Yus Mutter war nie gefunden worden.
Ariadne war einfach von einer ihrer Expeditionen nicht mehr zurückgekehrt.
Unbewusst griff Yu nach dem Amulett, das ihre Mutter ihr einst geschenkt hatte. Den verzierten Silberkranz, in dem ein mandelförmiger Stein eingefasst war, trug sie immer unter ihrem Wams. Der flache Stein funkelte violett in der Sonne. Yu betrachtete ihn. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Alles schien mit der Zeit zu verblassen – aber an den Moment, als Ariadne ihr diesen Stein geschenkt hatte, daran erinnerte Yu sich gut. Damals war sie erst vier Jahre alt gewesen.
Laub, vor Nässe glitzernd, haftete auf dem Dächlein des Schreins. Sorgsam zupfte Yu die braunen Blätter ab. Der Schrein hatte die Gestalt einer Hütte mit quadratischem Grundriss. Xonia, die Mutter der Urdrachen, ringelte sich um eine kleine Tür, hinter der Platz für ein Seelenlicht war. Mit der Hand fuhr Yu den geschwungenen Drachenkörper entlang. Sie hatte nicht lange mit ihrem Vater überlegen müssen, wie sie den Schrein schmücken wollte. Denn ihre Mutter hatte ihr ganzes Leben der Erforschung der Urdrachen gewidmet. Stets war Ariadne auf der Suche nach Spuren, nach Beweisen für die einstige Existenz der uralten Drachen gewesen. Als Archäologin hatte sie geglaubt, dass die sieben Urdrachen mehr als eine Legende, mehr als ein Volksglaube waren.
Doch ihre Suche hatte sie das Leben gekostet.
„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Yu leise und wischte sich eine Träne von der Wange. Sie kramte aus ihrem Rucksack eine Talgkerze und zwei Flintsteine heraus. Behutsam schob sie den Riegel der Schreintür auf. Yu ersetzte die abgebrannte Kerze durch die neue und entzündete sie mit nur einem Schlag der Flintsteine.
„Papa war heute nicht hier, hm?“ Sie klappte das Türchen wieder zu und beobachtete den tanzenden Lichtschein der Flamme hinter dem Glas. „Sei ihm nicht böse. Er bringt’s einfach nicht übers Herz herzukommen. Er vermisst dich zu sehr.“
„Yu?“
Erschrocken fuhr Yu aus ihren Erinnerungen. Rosabella stand in gebührendem Abstand hinter ihr, gleich neben Yus Wilddrachen Fexx, den sie bei ein paar Büschen angebunden hatte. Rosabella hatte ihre perlmuttschimmernde Drachin Ping-Ping am Zügel. Die Drachendame freute sich anscheinend, Fexx wiederzusehen und schnaubte. Das Tier war über zehn Meter lang, allein der Schwanz maß gute sechs. Ping-Ping glich einer eleganten, weißen Schlange mit gepflegter Mähne und riesigen, wunderschönen Flügeln.
„Entschuldige. Ich hab’ dich gesucht, weil – wir wollten doch noch …“ Es war Rosabella unangenehm, Yu bei ihrer Andacht zu stören.
„Ja, natürlich.“ Schnell stand Yu auf. Mit gefalteten Händen verbeugte sie sich vor dem Schrein und flüsterte eine Verabschiedung. Sie sammelte Helm und Rucksack auf und ging zu Fexx. Der orangefarbene Wilddrache stupste sie an und schüttelte freudig seine rote Mähne.
„Ich wollte dich nicht stören“, sagte Rosabella.
„Schon gut. Ich bin ja oft hier. Ich hab’ die Zeit ganz vergessen.“ Gemeinsam schlenderten die beiden den Hang hinunter.
„Der Stein ist toll.“ Rosabella nickte zu Yus Amulett. „Ist bestimmt wertvoll.“
Yu zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hat ihn mir geschenkt. Damit ist er unbezahlbar.“ Sie blickte sich noch einmal zu dem Schrein um. Das Seelenlicht brannte still. Sein Licht brach sich funkelnd an Xonias Schuppen.
„Ich hoffe, wir finden für Lilja etwas ebenso Schönes“, meinte Rosabella und schwang sich in Ping-Pings Sattel.
Yu bemerkte, dass ihre Freundin einem Gespräch über Ariadne auswich. Rosabellas Eltern waren geschieden, aber immerhin waren sie beide für sie da, wenn Rosabella ihre Hilfe brauchte.
Yu steckte das Amulett wieder unter das Wams und saß ebenfalls auf.
„Ich hab’ ja an Haarspangen gedacht“, meinte Rosabella.
„Rosafarbene vielleicht?“, fragte Yu mit einem Grinsen.
„Was ist falsch an Rosa?“ Gespielt erstaunt blickte Rosabella an sich und Ping-Ping herunter. Sattel und Zaumzeug waren rosa und mit Glitzersteinchen verziert. Rosabella selbst trug eine rosa Schleife im Haar, und ihre Stiefel waren ebenfalls mit rosafarbenen Bändern geschnürt.
„Ich weiß nich’, ob meine Augen noch mehr Rosa vertragen.“ Yu lachte. „Ich denke, wir sollten etwas suchen, das rechteckig ist und aus Papier. So mit ganz vielen Buchstaben drin. Ich glaub, das ist besser für unsere kleine Alchemistin.“
„Bitte? Von den Dingern hat Lilja doch nun wirklich genug. Wollen wir ihr denn nicht was Hübsches schenken? Die Spangen, die ich erwähnte, würden gut zu ihrem … ihrem …“ Vermutlich wollte Rosabella Kleid sagen, aber Lilja hatte noch nie eines getragen. „Ihrem schlabberigen Pulli passen“, beendete sie ihre Ausführung.
„Siehst du.“ Yu musste erneut lächeln. Lilja war eine Bücherratte und gab nicht viel auf Anziehsachen und Schmuck. Was Lilja begeisterte, waren Bücher und Alchemie. „Wenn wir Lilja was zur Aufnahme an die Alchemisten-Akademie schenken wollen, wie wäre es dann mit etwas – na ja – eben Alchemistischen?“
Rosabella überlegte einen Moment, schließlich schnipste sie mit den Fingern. „Genau! Was Alchemistisches. Aus dem Trödelladen.“
„Was für ein Trödelladen?“ Doch dann fiel es Yu ein. Richtig. Erst vorgestern war Lilja in einem Laden in der Mühlengasse gewesen. Sie hatte eigentlich nur einen Mörser kaufen wollen, war aber mit einem ganzen Arm voller Tiegel, Spatel und Spezialgeräten für Alchemisten herausgekommen. Als ihr Vater die Rechnung gesehen hatte, war er beinahe in Ohnmacht gefallen, aber Lilja hatte steif und fest behauptet, die ganzen Sachen für den Unterricht an der GAA zu brauchen.
„Auf zum Trödler“, sagte Yu und ließ Fexx starten. Mit weit ausholenden, kräftigen Flügelschlägen schoss der Wilddrache in den Himmel. Yu hielt die Nase in den Flugwind. Mit Fexx zu fliegen war das Größte. Sie liebte den Wind in ihren struppigen Haaren, die Geschwindigkeit und das gute Gefühl, so geschmeidig durch die Luft zu sausen, als sei man schwerelos. Lachend hielt sich Yu an Fexx‘ Mähne fest und rief, er solle schneller fliegen.
Doch da kam Ping-Ping auch schon heran und zog an Fexx vorbei. Mühelos überholte die schynisische Drachin, nutzte elegant jede Luftströmung zu ihren Gunsten aus. Ihr langer, schmaler Körper schlängelte sich durch die Luft. Seite an Seite rasten Yu und Rosabella mit ihren Drachen auf das nördliche Stadttor von Grinfjörd zu. Dann gingen sie in einen Sturzflug über und setzten zur Ladung an.
Es herrschte reger Betrieb auf dem Weg in die Stadt, denn es war Markttag. Einige Besucher sprangen zur Seite, und eine Frau mit Obst lief fluchend weg, als die beiden Mädchen ihre Drachen knapp vor der Holzbrücke zum Stehen brachten.
Kichernd warfen Yu und Rosabella sich einen Blick zu.
Yus Wangen waren ganz rot und glühten vom scharfen Wind des wilden Ritts. Sie stiegen von ihren Drachen ab. Locker nahm Yu Fexx am Zügel und ging auf die Holzbrücke zu, die über den Fjordar zum Stadttor führte. Rosabella folgte ihr. Doch kaum waren die beiden über die Brücke gegangen, verstellte ein Wachmann ihnen den Weg.
„He ihr da! Aufgepasst mit euren Drachen.“ Der Mann schmiss seine abgenagte Entenkeule beiseite, zog seinen dicken Bauch ein und plusterte sich auf. Seine Uniform hatte schon bessere Tage gesehen. Der Brustharnisch war fleckig, stellenweise hatte er Rost angesetzt.
„Habt ihr überhaupt einen Drachenschein?“, knurrte der Mann.
„Klar doch.“ Mit einem Griff hatte Yu das Pergament aus ihrem Rucksack gefischt. Es war so neu, dass es noch ganz steif war.
Yu, Lilja und Rosabella hatten erst vor Kurzem die Lenkprüfung bestanden und ihren Schein bekommen. Der Drachenritterorden hatte ein Gesetz erlassen, wonach jeder, der einen Drachen in einer Stadt führen oder gar reiten wollte, eine besondere Prüfung ablegen musste. Denn zu oft waren in den letzten Jahren Unfälle geschehen, wenn ein Drachen durch falsche Führung, Marktstände umgeworfen, mit dem Schwanz Häuser beschädigt oder gar Menschen eingequetscht hatte.
Ausgenommen von der Prüfpflicht waren nur Zwergrassen, die wendritischen Drachen, Kressfäller und kleinere Hausdrachen unter einem Meter Stockmaß.
„Die habt ihr aber noch nicht lang“, grunzte der Torwächter, nachdem er die beiden Pergamente einer genauen Prüfung unterzogen hatte. „Hm.“
„Was ist nun?“ Ungeduldig mustert Yu den Mann. Der zögerte noch, doch schließlich gab er brummelnd den Weg frei. „Scheint mir alles in Ordnung zu sein. Aber keine solchen Manöver wie diese Landung eben. Habt ihr verstanden? Und wehe, ihr fliegt in der Stadt irgendwelche Rennen!“
Yu wollte ihm frech antworten, doch Rosabella bedankte sich artig beim Wachmann und schob Yu vorwärts. Gemeinsam mit ihren Drachen schritten sie durch das haushohe Nordtor.
Bunte Wimpel flatterten im Wind, und aus Schornsteinen und Backöfen kräuselten sich kleine Rauchsäulen in den blauen Himmel. An dem hoch aufragenden Landungsturm nahe dem Marktplatz hatte ein Reisewindschiff angedockt. Sein mächtiger Bauch schwebte über mehreren Häuserzügen der Fachwerkstadt, und eine nicht enden wollende Passagierschlange quoll aus ihm heraus. Einige Kinder sprangen zwischen den Marktbuden herum, während Verkäufer nicht müde wurden, ihre Waren schreiend anzupreisen. Ihre Rufe, das Gemurmel und das Lachen der Leute vermischten sich in der Morgenluft.
Der Trödelladen in der Mühlengasse, die sich vom Markt hinab zur Stadtmauer zog, schien nachträglich zwischen zwei höhere Fachwerkhäuser gesetzt worden zu sein. Der schmale Laden mit seiner staubigen Schaufensterscheibe, der schlanken Holztür und dem Gildenschild wirkte wie eingequetscht. Seine durch Holzstreben und Gefache unterteilte Front war schief, und durch die Jahre war das Fachwerk ausgeblichen und hatte Moos angesetzt. Über der Holztür schaukelte das schmiedeeiserne, verrostete Schild mit dem Schriftzug Antiquitäten sanft im Herbstwind. Die schnörkelige Schrift blätterte bereits ab. Im Schaufenster waren auf einem Samttuch allerlei seltsame, mechanische Geräte ausgestellt. Yu legte die Hände an die Scheibe und spähte hinein, doch es war zu dunkel, um Genaueres zu erkennen.
Als die beiden die Holztür öffneten, stieß sie an ein Glöckchen. Ein helles Bimmeln ertönte. Langsam traten Yu und Rosabella ein. Erwartungsvoll blieben sie stehen und warteten, aber anscheinend war keiner hier. Der Laden war düster und roch muffig. Ein dicker Teppich schluckte jeden Laut. Vor den beiden standen etliche alte Tische, Stühle und Regale, die meisten aus poliertem Holz. Auf ihnen drängten sich Schalen, Kolben und Bücher. Einige Ablagen waren derart überladen, dass sie gleich zusammenzubrechen drohten. Seltsame Waffen und Werkzeuge waren auf einen antiken Sekretär gelegt worden, flankiert von kopfgroßen, bronzenen Statuen der sieben Urdrachen.
„Sieht hier ein bisschen so aus wie bei Nanthian im alten Schuppen“, flüsterte Yu. Bevor der Verschlag abgebrannt war, hatte Nanthian, der Herbergsvater von Hof Feuerfels, eine beachtliche Sammlung von – nun ja – von Schrott sein Eigen genannt. Natürlich alles Dinge, die Nanthian angeblich noch reparieren und verwenden hatte wollen. Jetzt war alles verbrannt und Nanthian hatte seit Tagen vergeblich versucht, Geld für einen neuen Schuppen zusammenzubekommen.
Rosabella nickte zustimmend. „So viel Gerümpel. Und diesen Laden findet Lilja toll? Es ist hier doch ziemlich dunkel für meinen Geschmack, und irgendwie müffelt es auch. Riechst du das? Eine Grundreinigung wäre wohl nicht das Verkehrteste.“
Neugierig ging Yu zu einem schiefen Regal aus wurmstichigem Holz, in dem Dreibeine und Kessel gestapelt waren. „Ich hab doch gesagt, dass rosa Glitzerkram nix für unsere Lilja ist.“
„Iiiiigit! Was ist das denn?“
Yu drehte sich zu Rosabella um, die an den antiken Sekretär getreten war und mit spitzen Fingern irgendetwas Verschrumpeltes hochhielt. Es war weiß und sah aus, als habe es Haare.
„Es kostet 482 Silberlinge“, sagte Rosabella und starrte das Ding fassungslos an. „Und ich glaube, es ist verschimmelt.“
„Die Zunge eines Schneehorns. Gute Wahl. Sehr selten“, erklang eine tiefe Männerstimme.
Mit einem Aufschrei ließ Rosabella die mumifizierte Zunge zurückfallen. Auch Yu erschreckte sich, aber mehr über Rosabellas Schrei.
„Pfui. Das ist ja ekelhaft.“ Angewidert wischte sich Rosabella die Finger an einem ihrer Rüschentaschentücher ab. „Sie können doch nicht einfach Teile von toten Tieren hier herumliegen lassen!“
Ein Mann trat lachend aus einer dunklen Ecke, in der ein schwerer Samtvorhang einen anderen Teil des kleinen Ladens abgrenzte. Er trug eine übergroße Strickjacke mit Lederflicken an den Ellbogen. Auf seiner schmalen Nase saß ein goldener Zwicker, durch den er die Mädchen belustigt ansah.
„Ich hab euch hier noch nie gesehen. Sucht ihr etwas Bestimmtes? Ich habe hinten auch Schwänze vom Sonnenwurm.“
„Äh, danke. Die nehmen wir nächstes Mal.“ Yu grinste. „Haben Sie etwas … so mit Alchemie drin?“
„Na, vor allem sollte es hübsch sein“, meinte Rosabella. „Und … und nicht leben.“ Sie schloss dicht zu Yu auf, konnte ihren Blick aber nicht von der Schneehornzunge lassen. „Beziehungsweise nicht tot.“
„Vor allem soll es nützlich sein“, warf Yu mit Nachdruck ein.
„Nützlich und hübsch“, meinte Rosabella. „Vielleicht mit ein paar Verzierungen? Vielen Verzierungen, vielleicht rosa? Oder aus Gold. Führen Sie vielleicht auch Schmuck?“
„Du gibst nicht auf, hm?“, murmelte Yu.
Interessiert musterte der Mann die beiden, rieb sich dann mit seinen langen Fingern am Kinn und meinte: „Soso. Ihr sucht also ein Geschenk für eine Freundin? Ist wohl eine Alchemistin. Oder will eine werden. Ist sie an der GAA aufgenommen?“
Erstaunt sahen Yu und Rosabella ihn an. „Woher wissen Sie denn das?“
Mit einem Lächeln wandte der Mann sich ab. „Nun, man kennt die Wünsche seiner Kunden eben. Außerdem war doch gerade erst die Aufnahmeprüfung zur GAA.“
Er ging auf seinen Tresen zu, den Yu nur anhand der Kasse als solchen erkannte, denn er war mit Papieren und alten Büchern regelrecht zugeschüttet.
„Ich denke, ich habe da genau das Passende für euch“, sagte der Händler und winkte ihnen, näherzutreten. Dann verschwand er hinter dem Tresen, um einige Holzkisten zu durchwühlen, in denen – durch Stroh geschützt – Teller, Krüge und allerlei kurioses Zeug lagen.
Abwartend spähten Yu und Rosabella über den Tresen, konnten aber nicht genau erkennen, was der Mann suchte. Schließlich verschwand der Händler hinter dem Vorhang. Was er ihnen wohl anbieten würde? Gab es denn irgendetwas, das auf all ihre Wünsche passte? Während sie warteten, musterte Rosabella den Tresen. Eine aufwendig geschmückte, silberne Schatulle fesselte ihre Aufmerksamkeit.
„Was für ein hübsches Schmuckkästchen.“ Rosabella nahm es und öffnete den Deckel. „Ach du qualmendes Drachenei.“ Schnell schloss sie den Deckel und stellte die Schatulle zurück.
„Was ist drin?“, fragte Yu neugierig.
Doch Rosabella schüttelte sich lediglich. „Das willst du nicht wissen.“
„So, da haben wir es.“ Der Mann tauchte hinter dem Tresen auf und legte sorgsam ein Bündel aus feinem Fischleder ab, in dem etwas Handtellergroßes eingeschlagen war. Das Leder sah abgegriffen aus und roch nach Metall. „Es ist hübsch, es ist alchemistisch und …“ Er zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. „Es ist geheimnisvoll.“
„Geheimnisvoll?“ Neugierig wollte Yu das Bündel zu sich ziehen, aber der Mann hielt ihre Hand fest.
„Vorsicht“, sagte er. „Es ist über tausend Jahre alt.“
Mit Bedacht schob er Yu das Bündel hin. Yu zögerte, bevor sie das speckige Leder langsam aufschlug. Zuerst dachte sie, es sei ein Teller darin eingeschlagen, doch dann erkannte sie eine silberne Scheibe. Sie war so groß wie ihre Hand, und in ihrer Mitte lugte auf der Oberseite eine Halbkugel heraus. Als Yu den Teller drehte, sah sie, dass die Kugel auf der Unterseite des Tellers wie ein sehr spitzes Ei zusammenlief. Die ovale Kugel hatte die Farbe von glühendem Eisen und schien von innen heraus zu strahlen. Ein Netz feiner Linien war in sie eingraviert.
Als Yu das Ding in die Hand nahm, merkte sie, dass der breite Teller eigentlich aus drei Ringen bestand, die man gegeneinander verschieben konnte. Ihr war nicht ganz klar wie diese Ringe, die die Kugel umliefen, gehalten wurden, vermutete aber, dass Alchemie dahinter steckte. Die Oberseiten der flachen Ringe waren mit seltsamen Runen und Darstellungen einiger Urdrachen verziert.
„Was ist das?“, fragte Rosabella verwundert.
„Ein Schmuckstück“, sagte der Händler und hielt es sich wie ein Amulett an die Brust. „Doch es ist auch nützlich, als Briefbeschwerer zum Beispiel.“ Wie um es den Mädchen vorzuführen, legte er es auf einen Stapel Papiere, der unsortiert bei der Kasse lag. „Und es ist alchemistisch.“
„Alchemistisch?“, hakte Yu nach.
Er nickte, stellte es mit einem schelmischen Grinsen zurück auf das Leder, dann zupfte er seinen Zwicker zurecht und versetzte plötzlich der Kugel mit einer schnellen Bewegung von Daumen und Zeigefinger einen Stoß.
Für einen kurzen Moment dachte Yu, die Kugel mit den Ringen würde vom Tresen kullern, doch stattdessen begann sie, sich zu drehen. Wie von Geisterhand, so schien es Yu, beschleunigte sie immer mehr, wirbelte wie ein Kreisel schneller und schneller um die eigene Achse.
Ein heller, pulsierender Ton entstand und erfüllte den Raum. Er war wie ein fernes Flüstern aus einer anderen Zeit. Ein lockendes Sirren, das Yu und Rosabella sofort in seinen Bann zog.
Sie beobachtete, dass die Runen auf dem inneren Ring durch die schnelle Kreiselbewegung zu einer Wellenlinie verschmolzen. Nur die eingravierten Drachen auf dem äußeren Ring waren weiterhin gut zu erkennen.
Staunend sahen die Mädchen zu, wie die Drachen begannen, zum Auf und Ab des Sirrens zu tanzen. Es sah aus, als schlängelten sie sich zur feinen Melodie um die Kugel in ihrer Mitte.
„Das – das ist wunderschön“, flüsterte Rosabella.
„Ich denke, so was suchen wir. Genau so was.“ Yu konnte den Blick nicht von dem Kreisel abwenden. „Wie viel kostet es?“
„Nun ja.“ Der Händler räusperte sich. „Es ist ein äußerst ungewöhnliches Objekt. Das macht es natürlich sehr wertvoll.“
Yu nickte. Das hatte sie befürchtet. Sie würden es sich nicht leisten können. Zusammen hatten sie nur fünfzehn Silberlinge und siebenunddreißig Olle.
„Neun Silberlinge“, sagte Rosabella schnell und streckte dem Händler die Hand hin. „Schlagen Sie ein.“
Verdutzt sah der Händler sie an. Auch Yu war über das plötzliche Angebot überrascht.
„Neun? Das erscheint mir doch sehr wenig, junges Fräulein“, sagte der Mann und rückte seinen Zwicker zurecht. „Überleg einmal, wie vielseitig es ist.“
„Neun Silberlinge. Nicht mehr.“
Lachend schüttelte der Mann den Kopf, stoppte den Kreisel und zog ihn zu sich heran. „Nein, das ist zu wenig. Viel zu wenig. Ich hatte an zwanzig Silberlinge gedacht.“
„Na gut. Sie haben recht. Der Kreisel ist etwas Besonderes. Deswegen wird es Ihnen wohl nicht schwerfallen, einen anderen Käufer zu finden.“ Rosabella sah ihn direkt an.
Was tat sie denn da? Unsicher blickte Yu zwischen dem Händler und Rosabella hin und her und schließlich wieder auf den Drachenkreisel. Er war so schön, er war perfekt für Lilja. Wie konnte Rosabella nur so gleichgültig sein? Wollte sie denn gar nicht handeln? Eifrig mischte sich Yu ein. „Wir könnten Ihnen dafür auch zwölf – autsch!“ Rosabella hatte sie getreten.
„Wir gehen, Yu. Wir nehmen das andere Geschenk. Es war sowieso passender.“ Rosabella packte Yu am Ärmel und schob sie zum Ausgang. „Und hübscher auch. Los komm jetzt.“
„Was für ein anderes Geschenk–? Au!“ Tatsächlich hatte Rosabella Yu gekniffen! „Was tust du denn?“
„Ssssht! Yu!“, zischte Rosabella und legte die Hand auf die Türklinke. „Noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen“, rief sie dem verdutzten Händler zu und schob Yu aus dem Laden.
„Aber es war doch das perfekte Geschenk, bestimmt hätten wir es für zwölf oder dreizehn Silberlinge bekomm–“
„Pssssst! Einfach mal die Klappe halten!“ Rosabella hielt Yu den Mund zu und schob sie weiter die Gasse herunter in Richtung Markt. Hier hatten sie ihre Drachen an der Ecke festgebunden. Sie waren kaum einige Meter gegangen, als sie den Händler rufen hörten.
„Halt! Wartet! … Wartet doch mal!“
Breit grinsend blieb Rosabella stehen und zwinkerte Yu zu. Dann wandte sie sich mit einem übertrieben unschuldigen Blick zu dem Mann um. „Ja? Was gibt’s denn?“
„Beim fauligen Drachenzahn … Na gut, Kinder, weil ihr es seid. Ich geb‘ ihn euch für zwölf. Zwölf Taler.“
„Siehst du“, setzte Yu an, die noch immer nicht verstand. „Zwölf, hab ich doch – Au!“
„Neun.“ Rosabella hatte ihren Fuß auf Yus gestellt und achtete nicht auf ihre Freundin, sondern blickte den Händler auffordernd an.
„Elf“, knurrte der.
„Neun.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Zehn. Mein letztes Angebot.“
„Neun Silberlinge und fünfzig Olle, und wir sind im Geschäft.“ Schnurstracks marschierte Rosabella mit ausgestreckter Hand auf den Mann zu. „Abgemacht?“
Grummelnd schlug der ein. Dann wickelte er den Kreisel wieder in das Leder und reichte ihn Rosabella. „Hier. Und wenn du mal Arbeit suchst, Fräulein, komm zu mir. Du bist eine gute Händlerin.“
Rosabella zählte ihm die Münzen in die Hand, bedankte sich lächelnd für das Kompliment und eilte zurück zu der immer noch fassungslos dreinschauenden Yu.
In sanften Wellen zogen die Drachen in der Mittagssonne dahin, tanzten um den feurigen Ball in ihrer Mitte, während die Runenzeichen zu sich schlängelnden Linien verschwammen. Gebannt beobachtete Yu den Kreisel, den sie vor sich auf einen Stapel Bretter gesetzt hatte, und gab ihm immer wieder einen Stoß.
„Yu, es reicht.“ Rosabella riss sie aus ihren Beobachtungen. „Wir haben hier noch eine winzige Kleinigkeit zu tun, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Der ist klasse. Ich glaube, Lilja wird ihn toll finden.“ Seufzend erhob sich Yu und stoppte den Kreisel. Langsam rollte er auf den Brettern aus und blieb liegen. Die hübschen Drachen erstarrten in ihren fließenden Bewegungen.
Yu schnappte sich einige Transportbänder von einer improvisierten Werkbank, die sie erst vor wenigen Stunden auf dieser Steinnadel des Felsenlabyrinths aufgebaut hatten. Gutgelaunt folgte sie Rosabella zu den Drachen.
Die Tiere warteten vor einem Planwagen, den sie ebenfalls auf die Steinnadel geflogen hatten.
Während die Roten Berge hinter Drachenhof Feuerfels mehr als fünfzig Meter aufragten, war der Fels beim Stelzenhaus der Stallburschen zu vielen kleinen und größeren Säulen zerbrochen. Vor etlichen tausend Jahren hatten Wasser und Eis ein natürliches Felsenlabyrinth entstehen lassen.
Vor ein paar Tagen hatten die Mädchen Fexx, Ping-Ping und Liljas Drachen Gefion ein Transportgeschirr umgeschnallt und mit ihrer Hilfe Querrus‘ Planwagen aus den Roten Bergen zum Drachenhof geflogen. Es war Liljas Idee gewesen, den Wagen auf einen der größten Steinblöcke zu heben. Yu war sofort begeistert! So hatten sie ihr eigenes Clubhaus. Genau wie das Baumhaus der Rote Kralle, der Jungsbande von Jaromir. Nur ihr Clubhaus war viel besser!
Querrus hatte den Mädchen seinen Planwagen sozusagen überlassen. Als die Adexi-Seuche auf Hof Feuerfels ausgebrochen war, hatten sich Querrus und ein fremder Mann namens Nötrem auf dem Drachenhof einquartiert, um die Drachen zu retten. Yu konnte sich noch gut an die Angst erinnern, die sie um Knorre und Fexx gehabt hatte. Zum Glück hatte sie mit Lilja und Rosabella auch dieses Abenteuer gemeistert.
Yu wischte die dunklen Erinnerungen beiseite und sah sich voller Stolz um. Der Wagen diente jetzt als geheimes Lager. Na ja, so geheim war es nicht, denn sie hatten Nanthians und Leopoldinas Erlaubnis gebraucht. Aber dennoch würde es ein viel besserer Rückzugsort sein, als das Turmzimmer, in dem sie weiterhin schliefen, wenn sie auf dem Drachenhof waren. In dem feuerfesten Planwagen, der wie ein Windschiff mit mannshohen Scheibenrädern aussah, konnten sie ihre ganzen Sachen unterbringen, gemütlich Leopoldinas Snöbs naschen und über neue Abenteuer beratschlagen. Gesetzt den Fall, sie würden ihn fertig bekommen, denn noch waren neben Querrus‘ ganzen Laborutensilien erst ein paar Stühle und ein Tisch darin.
Von hier oben hatte man den perfekten Blick auf Drachenhof Feuerfels, der am Ende der Dragaad Schlucht, auf den Ruinen einer alten Burg errichtet worden war. Eine niedrige Bruchsteinmauer umgab die Hofanlage mit den Stallungen, dem Stelzenhaus und dem Wohngebäude mit dem Turm. Darin befanden sich die Gästezimmer für die Mädchen. Auch Yu, Lilja und Rosabella hatten dort ein Zimmer. Der Turm aus Bruchsteinen stand schief und war auf einer Seite mit Moos bewachsen. Er war das Einzige, was von der einst mächtigen Burg Dragaad übrig geblieben war.
Von oben beobachtete Yu den Rauch, der aus einem der Schornsteine des an den Turm angrenzenden Querhauses quoll. Dort hatte Leopoldina, die Herbergsmutter, ihre Küche. Bestimmt buk sie gerade wieder ihre leckeren Apfelkuchen.
„Jetzt glotz keine Löcher in die Luft, sondern hilf mir endlich, Yu! Lilja wird gleich hier sein und wir haben abgesprochen, den Ofen an seinen Platz zu stellen.“ Seufzend klopfte Rosabella auf einen kleinen, runden Bollerofen, der vor ihr auf dem Felsplateau stand.
Nachdem die beiden den Kreisel gekauft hatten, waren sie zur Schmiede von Yus Vater gegangen. Unter Anleitung ihres Vaters, Sören Rothschild, hatte Yu das gute Stück in den letzten Wochen wieder flottgemacht. Sie hatte eine neue Klappe geschmiedet, die Beine verstärkt und das Rohr ausgebessert.
Rosabella versuchte, den schweren Eisenofen zu schieben. „Wie kriegen wir den denn nur in den Wagen? Vielleicht rollen wir ihn einfach?“ Ohne zu zögern, wollte Rosabella das hüfthohe Ding umkippen.
„Nein, nein. Bloß nich’!“ Erschrocken rannte Yu zu ihr. „Dann war ja meine Schmiedearbeit ganz umsonst. Nee. Wir müssen ihn tragen.“
„Tragen?“ Rosabella sah Yu fassungslos an. „Yusmay-Henriette-Gerlinde Rothschild! Ich trage keine Bolleröfen. Das macht die Hände kaputt und die Kleider schmutzig. Weißt du, wie schwer der ist?“
Sauer musterte Yu ihre Freundin. Sie mochte es gar nicht, wenn Rosabella ihren vollen Namen benutzte. Genau genommen mochte sie es nicht, wenn überhaupt irgendwer ihren vollen Namen nannte.
„Nun komm schon, Yu. Wirklich. Allein kriegen wir das Ding doch nie in den Planwagen. Mit Fexx‘ Hilfe haben wir es gerade mal hier rauf bekommen. Aber da rein? Wir sollten Nanthian fragen.“
Yu rubbelte sich das Kinn. Verfaulter Drachenzahn! Rosabella hatte recht. Der Ofen war zu schwer, jedoch hatte sie keine Lust einen Erwachsenen um Hilfe zu bitten. Das würden sie schon allein hinbekommen. Irgendwie. Grübelnd sah sie zum Planwagen. Fexx und Ping-Ping knabberten friedlich am frischen Heu, das sie ihnen in eine Holzkiste gefüllt hatten. Schmunzelnd beobachtete sie die beiden Drachen. Das war einer der großen Vorteile des Plateaus, es bot genügend Platz für ihr Clubhaus und die Drachen. So konnten sie immer mit ihnen zusammen sein. Und ohne Drachen oder Windschiff konnte niemand hier heraufkommen, da es von unten keinen Zugang gab. Lediglich mithilfe der Drachen, war …
Die Drachen. Na klar! Mit den Drachen! Yu lachte und wandte sich an Rosabella.
„Fexx wird uns helfen“, sagte sie strahlend. „Wir schlingen das Transportgeschirr wieder um den Ofen, und Fexx kann das Geschirr dann ins Maul nehmen und den Ofen in den Wagen stellen.“
„Wenn du meinst, dass er das kann.“
„Klar kann Fexx das. Kleinigkeit.“ Mit einem kurzen Pfiff rief Yu Fexx zu sich. Schnell verstand der Drache, was Yu von ihm wollte, nahm die Lederriemen des Geschirrs sanft ins Maul und hob den Ofen an. Dann folgte er Yu vorsichtig zum Wagen.
„Hier komm … Hier hinein“, lockte Yu ihn und platzte fast vor Stolz, dass Fexx so klug war. Eilig kletterte sie über die Stufen in das Innere das Wagens – aber Fexx wollte ihr nicht folgen. Er schnaubte lediglich und legte den Kopf schief. Der Ofen baumelte knapp über dem Boden.
„Na, nun komm, Fexx. Hier koooooomm …“ Mit ausgestreckten Armen versuchte Yu Fexx hereinzulocken, schob mit dem Fuß schnell die Stühle beiseite, um Platz zu machen. „Nun komm.“
Doch der störrische Wilddrache setzte den Ofen vor den Stufen ab und spuckte die Riemen aus. Er sah seine Herrin fröhlich an und wartete auf ein Leckerli.
„Manno. Was denn jetzt?“ Enttäuscht ließ Yu die Arme sinken.
„Ich glaube, dein Drache hat einen zu großen Dickschädel“, meinte Rosabella. Mit einem Grinsen zeigte sie auf den Türrahmen.
„Verflixt.“ Schon wieder hatte Rosabella recht. Der Durchgang war viel zu schmal für Fexx‘ breite Schnauze. Yu ging aus dem Wagen, und sofort schleckte Fexx ihr mit seiner rauen Drachenzunge über das Gesicht. Lachend wischte sich Yu die Drachenspuke mit dem Ärmel ab.
„Ist ja gut Fexx, hast du toll gemacht, wirklich.“ Zum Glück hatte sie noch ein bisschen Haffa in ihrer Tasche, das sie ihm zur Belohnung geben konnte.
„Ping-Pings Schnauze ist schmaler. Meinst du, sie kann uns den Ofen hineinheben?“, fragte Yu.
Rosabella sah zweifelnd zu Ping-Ping. „Ping-Ping ist doch kein Arbeitsdrache. So was hat sie noch nie tun müssen.“
„Gibt immer ein erstes Mal.“ Auffordernd hielt Yu Rosabella die Riemen des Geschirrs hin, die ganz schmierig von Fexx‘ Spucke waren. Mit spitzen Fingern hielt Rosabella die Riemen hoch und rief Ping-Ping zu sich. Dann wischte sie mit gerümpfter Nase mit einem ihrer Taschentücher die Bänder trocken.
„Das machst du großartig“, lobte Rosabella ihre schynisische Drachin kurz darauf. Langsam setzte die Drachin eine Tatze vor die andere, während Rosabella rückwärts die Stufen zum Wagen hinauf ging. Sie stellte sich in den Eingang. „Keine Angst, Ping-Ping. Komm … Jaaaa, so ist gut. Guuuut. Ja …“
Mit ihren großen, dunkeln Augen sah Ping-Ping den Wagen ängstlich an. Ein Rauchwölkchen puffte aus ihren Nüstern.
„Bestimmt riecht sie noch Querrus hier überall im Wagen“, meinte Yu. „Sie hat Angst.“
Geduldig kraulte Rosabella Ping-Ping die Nüstern und strich ihr ein paar der Haarsträhnen aus der Stirn. Dann sprach sie beruhigend auf sie ein, und tatsächlich streckte Ping-Ping vorsichtig ihren Kopf mit dem baumelnden Ofen in den Wagen.
„Gut gemacht, mein Mädchen. Ganz toll! Jetzt setz‘ ihn ab“, befahl Rosabella und zupfte leicht an den Riemen. Da klappte Ping-Ping einfach ihr Maul auf, und der schwere Ofen krachte auf den Boden. Mit einem lauten Scheppern durchschlug er den Holzboden.
Ping-Ping scheute, erschreckt durch den Krach, bäumte sich auf, stieß an die Plane des Wagens. Die Drachin meinte, in dem engen Planwagen gefangen zu sein, und geriet in Panik. Schnaubend und knurrend warf sich Ping-Ping hin und her.
Rosabella versuchte, sie zu beruhigen, doch Ping-Ping hörte nicht. Die Drachin wollte zurückweichen, riss Tisch und Stühle um, und peitschte draußen mit ihrem Schwanz gegen den Wagen. Sie erwischte den Futtertrog, und das Heu stob davon. Die Kiste schmetterte an eines der großen Scheibenräder des Wagens und zerschellte.
„Vereiste Feuerkelle!“ Mit einem Sprung rettete sich Yu hinter ein paar Felsen, bevor Ping-Ping sie aus Versehen mit dem Schwanz erwischen konnte. In ihrer Panik stieß die Drachin mit der Schwanzspitze die Werkbank um und riss den Bretterstapel ein, auf den Yu den Kreisel gelegt hatte.
Endlich hatte sich Ping-Ping aus dem Wagen befreit und wich bis an den Rand des Plateaus zurück. Dort stand sie zitternd und zerzaust. Knurrend starrte sie auf den Wagen, nur gut, dass Rosabella sofort zu ihr eilte, denn sonst hätte Ping-Ping wohl versucht, den Wagen mit einem Feuerstoß abzufackeln.
Fexx trabte zu seiner Freundin und rieb tröstend den Kopf an ihrer Schulter. Auch Rosabella sprach beruhigend auf Ping-Ping ein, während Yu den Schaden besichtigte. Der Bollerofen war zum Glück unbeschädigt geblieben, aber dafür war im Wagen so ziemlich alles gesplittert und gebrochen. Der Tisch hatte ein Bein verloren und ein Stuhl war zu Bruch gegangen. Auch vor dem Wagen herrschte Chaos. Die Werkbank war zerschlagen, Bretter und Werkzeug lagen verstreut. Der Holzstapel war umgekippt.
Da fiel Yus Blick auf den Kreisel. Verflixt! Ein paar Bretter waren auf ihn gefallen, hoffentlich war er nicht kaputt. Sie kniete sich hin und zog ihn unter dem Kram hervor. Doch dann stutzte sie bei seinem Anblick.
„Rosabella!“ Yu sprang auf und lief zu ihrer Freundin. Ungläubig hielt sie Rosabella den Kreisel hin. „Sieh mal.“
Die Kugel war entlang einer der dünnen Linien aufgesprungen. Darin zeigte sich ein schmales Band, das mit ähnlichen Runen ausgestanzt war, wie sie auch auf den Ringen eingraviert waren. Die fremden Symbole waren in das feine Metall geschnitten worden, gewundene Löcher in einem dünnen Band.
„Ein Geheimfach?“, fragte Rosabella.
„Hm. Kann sein. Was das wohl heißt? Was meinst du, ist das für eine Schrift?“
Neugierig setzte Yu den Kreisel auf den Boden und drehte ihn. „Er funktioniert noch.“
Wieder tanzten die Drachen, aber diesmal war das Sirren nicht zu hören.
Eine seltsame Stille senkte sich über das Plateau. Und plötzlich lief Yu ein Schauer über den Rücken. Sie bekam Gänsehaut.
Irgendetwas war zu hören … Ja, aus den Tiefen des Kreisels schnarrte etwas …
Es war jedoch zu leise, um es wirklich wahrzunehmen, irgendwas schien zu flüstern und …
Krr au pu pneck, schnarrte es dumpf.
„Was ist das? Hast du das auch gehört?“ Erstaunt ging Rosabella neben Yu in die Hocke und starrte auf den Kreisel.
Krr au pu pneck, erklang es wieder. Ein leises Schnarren. Dumpf, mechanisch, unheimlich. Krr au pu pneck …Krr au pu pneck …
Gebannt beobachteten die beiden Mädchen auf den Tanz der Drachen. Es war ein Flüstern.
Krr au pu pneck …
Eine Stimme.
Der Kreisel sprach zu ihnen.
„Der Sturm des Sandes soll euer heißes Grab werden! Ihr habt alles ruiniert!“ Fassungslos sah sich Raxima den Schaden an der Tauchglocke an. Die Einstiegsluke hing verbogen in den Angeln. Der Schlauch aus Fischleder war nur noch ein löchriger Fetzen, und der ausklappbare Steg abgebrochen. Wasser rann aus der Kapsel. Algen und Muscheln hatten sich an der Kurbel verfangen.
Die junge Frau wandte sich von dem Jammerbild ab. Obwohl Raximas Augen hinter einer dunklen Brille verborgen waren, war der Zorn in ihnen zu spüren. Mit einer festen Bewegung klappte Raxima den hohen Kragen ihres Kleides hoch. Er war aus rotem Leder, reichte ihr bis zur Stirn und schützte ihren Nacken vor der Sonne. Ihr bodenlanges Kleid flatterte im Wind. Eingehüllt in den wehenden, roten Stoff, sah Raxima aus, als stünde sie in Flammen.
„Es … Es … Es war eine Falle“, versuchte Narill ihr zu erklären. Er hatte die Schuhe ausgezogen und wärmte seine Füße, indem er einen auf den anderen stellte. Der dürre Mann zitterte wie einer der Fische, die vor der Luke nach Luft schnappten. Sein Pullover klebte ihm am Körper, und seine Lippen waren von der Kälte blau. „Wir brauchen einen Schlüssel, Raxima. Ein Losungswort. Sonst schießen die Wächterdrachen wieder auf uns.“ Er hielt sein Pergamentbuch hoch, in dem noch immer der Pfeil steckte. Das Buch war völlig durchnässt. Seiten waren durch das Wasser herausgerissen worden oder aufgeschwemmt.
„Wächterdrachen!“ Raximas Lachen schallte rau über den kleinen Bergsee, an dessen Ufer sie ihr Zeltlager aufgeschlagen hatten. „Wächterdrachen“, sagte sie noch einmal verächtlich und wischte sich eine ihrer aschblonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Die Hadunar sind tot. Sie sind tot und mit ihnen ihr Glaube. Ausgestorben sind sie. Versteht ihr? Also hör mir mit Wächterdrachen auf. Ihr habt versagt.“
Verängstigt nickte Narill und schielte zu Zyl’Pak. Sein Bruder hatte sich vor eines der Zelte gesetzt und war dabei, sein klitschnasses Unterhemd auszuwringen. Er ignorierte Raximas Wutanfall.
„Dummköpfe. Repariert es.“ Als würde sie ihrem Befehl Nachdruck verleihen müssen, trat Raxima mit ihrem kniehohen Stiefel gegen die Tauchglocke, dann schritt sie mürrisch zu den Zelten hinauf.
Raxima hatte das Lager direkt an den Klippen aufschlagen lassen, sodass es nur wenige Meter bis zu dem kleinen Bergsee waren, in dem sie den Zugang vermutet hatte.