Julie Jewels - Perlenschein und Wahrheitszauber - Marion Meister - E-Book

Julie Jewels - Perlenschein und Wahrheitszauber E-Book

Marion Meister

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Beschreibung

»Julie Jewels – Perlenschein und Wahrheitszauber« ist der erste Teil einer zauberhaften Trilogie, die sich rund um Magie, Liebe und Freundschaft dreht und um die alte Weisheit: Sei vorsichtig, was du dir wünschst – es könnte wahr werden! Ein mysteriöses Geburtstagsgeschenk stellt Julies Leben völlig auf den Kopf: Durch eine Schatulle voller Schmucksteine entdeckt sie ihre magische Begabung. Julie kann Wünsche wahr werden lassen! Einmal der Star der Schule sein, den Jungen ihrer Träume für sich gewinnen … die Möglichkeiten sind grenzenlos! Doch schnell wird klar: Die Magie hat nicht nur gute Seiten, und jeder Wunsch kann verhängnisvolle Folgen haben. Denn will man wirklich von der besten Freundin die reine Wahrheit hören und nichts als die Wahrheit? Und ist erzauberte Liebe noch echte Liebe? Alle Bände der »Julie Jewels«-Trilogie: Band 1: Perlenschein und Wahrheitszauber Band 2: Silberglanz und Liebesbann Band 3: Mondsteinlicht und Glücksmagie

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Seitenzahl: 341

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Marion Meister

Julie Jewels

Perlenschein und Wahrheitszauber

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung1234567891011121314151617181920212223242526272829303132LESEPROBEAn der Promenade schloss [...]

Für Doro

1

Für eine Sekunde fühlte ich mich schwerelos in meinem kuscheligen Bett. Dann erst wachte ich richtig auf und grinste. Ein schneller Blick auf den Kalender bestätigte mir, dass heute der beste Tag meines Lebens war. Ich war sechzehn!

Dem Wunsch folgend, mein Glück in die Welt hinauszuschreien, riss ich die Vorhänge zur Seite, öffnete das Fenster – und blieb stumm.

Na gut.

Statistisch gesehen werden an jedem Tag sicher einhundertsiebenundneunzigtausend Mädchen sechzehn, und es kann natürlich nicht für jedes dieser großartigen Mädchen auch großartiges Traumwetter geben. Aber muss es ausgerechnet an meinem Geburtstag junge Hunde regnen?

Unsere Wohnstraße lag verlassen da, hinter den Dächern rauschten vom Regen aufgewühlte Wellen an den Strand, den ich von meinem Fenster immerhin noch als schmalen Streifen erkennen konnte.

Keine Ahnung, wie sich Regentage in den Bergen anfühlten, Regentage am Meer fand ich jedenfalls immer extrem trostlos. Nicht nur der Himmel war dann trübe, auch die See färbte sich bleigrau.

Der Wind trieb Nieseltröpfchen zu meinem Fenster herein, die mich in meine schlafwarmen Wangen pieksten.

Hastig schlug ich das Fenster wieder zu und zog den Vorhang vor.

Ich kippte zurück ins Bett.

Eigentlich sollte das heute der mit Abstand wunderbarste Tag meines bisher eher langweiligen und durchschnittlichen Lebens werden.

Auf der anderen Seite: Sollte es sich doch ordentlich ausregnen, meine Sweet-Sixteen-Party fand erst nächsten Samstag statt, dann konnten wir auch ordentlich lange feiern.

Ich angelte meinen Planer vom Nachttisch – einen fliederfarbenen, den ich mit gelben Punkten verschönert hatte. Dort hatte ich eine Liste angelegt. Eine Liste von Dingen, die ich unbedingt tun wollte, jetzt, wo ich endlich sechzehn war.

Eine Party ohne Mom und Paps stand auf Platz vier. Theoretisch war die Party schon akribisch organisiert. Ein paar Zusagen fehlten aber noch – und vor allem ein zuverlässiger Plan, meine Eltern davon abzuhalten, ständig zu stören. (Mit dem billigen Vorwand, den Getränkestand zu kontrollieren oder den Kuchenbedarf zu erfragen. So was verdirbt doch jede Partystimmung.)

Auf Platz drei der Liste: mit Merle, meiner besten Freundin, allein zu einer der Band-Sessions im Club zu gehen. (Allein! Ich durfte zwar zu den Auftritten unserer Schulband in der Schule, aber das war definitiv weniger aufregend als abends in einen Club.)

Auf Platz zwei stand ein Name. Auch jetzt, als ich ihn las, klopfte mein Herz schneller. Weshalb ich Punkt zwei zusammen mit Punkt eins mit einem Herzchen umrahmt hatte.

Punkt eins?

Ein Kuss wahrer Liebe. (Rumknutschen zählt nicht. Hier geht es um Liebe!)

Ich genoss mein Grinsen, das sich nun wieder von einem Ohr zum anderen zog.

Endlich sechzehn! Jetzt begann mein Leben!

 

Als ich aus dem Bad zurückkam, musste ich feststellen, dass ich einen wichtigen Punkt bei meinen Planungen übersehen hatte: Was zieht man am wichtigsten Tag des bisherigen Lebens an?

Gute Frage – vor allem wenn’s regnet …

… und man mit der Familie artig am Tisch hocken und Geburtstagstorte essen muss.

Kurzerhand schlüpfte ich in Jeans und Shirt. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und begutachtete meine Schmucksammlung. Aus einem Zweig hatte ich mir ein Bäumchen gebaut, an dem meine Lieblingsstücke hingen. Es funkelte in allen Farben mit Ohrringen, Ketten und Armbändern.

Ich liebte Schmuck! Es war meine Leidenschaft, ich trug immer irgendetwas. Egal ob Armband, Kette, Ohrring oder Haarspange.

Es mussten jedoch besondere Stücke sein, mit Persönlichkeit. Deshalb war ich Stammgast auf Flohmärkten. Und seit ein paar Jahren machte ich vieles auch selbst. Mittlerweile war ich richtig gut, und an ein paar Mitschülerinnen hatte ich sogar schon Sachen verkauft. Deshalb hatten sie mir den Beinamen Jewels gegeben. Ich fand das klang gar nicht schlecht: Julie Jewels.

Ratlos hielt ich mir abwechselnd Ohrringe an und prüfte ihre Wirkung im Spiegel. Viele erschienen mir zu kindisch. Ich pflückte sie vom Baum und legte sie in eine meiner Schmuckschatullen. Kleine Kätzchen oder auch Tinkerbell waren ab diesem Tag nicht mehr angemessen.

Nach einer Weile musste ich mich nur noch zwischen einem Paar rosafarbener Kugeln, die mit Glitzer bestäubt waren, und Ohrringen mit tropfenförmigen Amethysten entscheiden. Die waren in Silber gefasst, und ihr Violett schimmerte geheimnisvoll.

»Julie? Bist du schon wach?«, hörte ich meine Mutter rufen.

Seit einem Jahr bewohnte ich das Dachgeschoss unserer Residenz (wie Paps das kleine Einfamilienhaus nannte). Hier oben war ganz allein mein Reich, und ich liebte es. Im ersten Stock unter mir lagen Tür an Tür das Schlafzimmer meiner Eltern, Mikes Zimmer, das Badezimmer sowie mein ehemaliges Kinderzimmer. Mom hatte ein Arbeitszimmer gebraucht. Warum sie nicht unters Dach gezogen war, sondern mein altes Zimmer wollte, würde wohl ein Geheimnis bleiben, aber ich war ihr dafür sehr dankbar. Deshalb übte ich mich auch in Nachsicht, wenn ich von der Schule nach Hause kam und das Erdgeschoss schon wieder anders aussah als beim Frühstück. Denn meine Mom war Designerin. Sie gestaltete Räume. Und um ihren Kunden ihre Ideen von Material und Farbe anschaulich zu machen, musste unser Wohnzimmer herhalten. Leider schlossen Küche und Essbereich daran an, so dass man nirgends vor den tollen neuen Looks sicher war. Einmal hat sie mir zugeflüstert, ihr Job sei reine Zauberei. Sie verkaufe den Leuten die Möglichkeit, jemand anderes zu sein. Und oft ändern sich die Menschen, wenn sie sich mit einem entsprechenden Raumgefühl umgeben. Meint sie.

Bei mir war sie kläglich gescheitert.

Sie hatte mein Zimmer im Dachgeschoss eingerichtet, und es sah wirklich großartig aus. Hell und geräumig, mit hübschen Details wie den Vorhängen mit den Rosenknospen. Sie meinte, hier könnte ich zu einer hübschen und ordentlichen (dieses Wort betonte sie besonders) jungen Frau werden.

Ich bin nicht sonderlich hübsch. Und das mit der Ordnung … Na ja, vielleicht klappt’s mit dem nächsten Raum-Umstyling, Mom.

»Beeil dich, Julie! Alle warten!«

Alle warten? Ziemlich übertrieben. Mom, Paps und Mike waren alle. Und Letzterer auch nur, weil Mom ihm sicher gedroht hatte, seinen Internetzugang zu sperren. Damit hatte sie wahrscheinlich seine Urangst getroffen: offline sein. Ich konnte mich gar nicht mehr genau erinnern, wann ich Mike das letzte Mal in die Augen gesehen, geschweige denn mit ihm ein Gespräch geführt hatte. Seit Weihnachten nannte ich ihn nur noch Muffel-Mike. Zum einen wegen seines Geruchs, da er seinen grauen (ich meinte, mich zu erinnern, dass er mal hellblau gewesen war) Kapuzenpulli auch zum Schlafen nicht ablegte. Zum Zweiten, weil er nie gute Laune hatte. Oder überhaupt eine Laune. Immer wenn er aus seinem Zimmer auftauchte, glotzte er auf das Display seines Phones. Und zum Dritten, weil er meist ein Geräusch von sich gab, das ziemlich genau wie Mmh-uff klang (wenn man doch einmal das Glück hatte und er auf einen Reiz seiner Umwelt reagierte).

Bevor ich mein Zimmer verließ, um zu meinem Geburtstagstisch hinunterzugehen, sah ich noch mal in den Spiegel. Rechts baumelte nun eine rosa Glitzerkugel, und links strahlte magisches Violett. Ich war hochzufrieden. Damit hatte ich genau meine Gefühlslage getroffen.

 

Schon auf der Treppe roch ich Schokoladenduft. Die Stufen mündeten auf den Hausflur mit der Garderobe. Von dort zweigte eine Tür zur Küche und eine ins Wohnzimmer ab. (Das Gästeklo lasse ich als einen Ort der unangenehmen Gerüche lieber unerwähnt.)

Ich hüpfte gerade von der untersten Treppenstufe und wollte durch die Wohnzimmertür, als ich meine Eltern in der Küche streiten hörte.

»Warum stellst du es nicht einfach dazu, Caroline? Wo ist das Problem?«, hörte ich meinen Vater hitzig fragen. Anscheinend lief diese Diskussion schon länger.

»Weil ich erst wissen will, was drin ist«, antwortete Mom patzig. »Ist das so schwer zu verstehen?«

»Herrgott nochmal! Was denkst du denn? Glaubst du, Daria würde ihr Gift schicken? Oder eine Bombe?«

Meine Mutter schwieg. Ich konnte hören, wie sie den Messerblock und das Gewürzkarussell auf der Küchenplatte hin und her schob. Das tat sie immer, wenn sie wütend war: Dinge neu arrangieren.

»Caroline.« Mein Vater hatte nun seinen Ich-bin-sehr-geduldig-und-verständnisvoll-Tonfall eingelegt. »Ich weiß ja, dass du mit deiner Mutter Streit hast. Aber die Kinder haben keinen Streit mit ihr. Lass sie doch endlich ihre Großmutter kennenlernen.« Er machte eine Pause. »Sonst ist es irgendwann zu spät.«

Wie angewurzelt stand ich in unserem Hausflur und starrte die Küchentür an. In den sechzehn Jahren hatte ich meine Großmutter nie gesehen. Noch nicht mal ein Foto hatte Mom von ihr. Die beiden hatten sich bereits vor Mikes Geburt heillos zerstritten. Oft hatte ich darüber nachgedacht, was zwischen ihnen vorgefallen sein mochte. Was war so schlimm, dass Mom ihr nicht verzeihen konnte?

Paps hatte sie anlässlich jedes größeren Familienfests gebeten, über ihren Schatten zu springen und Daria einzuladen. Ihm war Familie extrem wichtig. Zu seinem Bruder und seiner Schwester hatte er sehr engen Kontakt und auch Opa und Oma rief er jede Woche an. Außerdem kamen die beiden oft zu Besuch.

»Lass gut sein.« Mom seufzte. »Julie ist gleich da. Wenn ich mir das Geschenk angesehen habe, entscheide ich, ob sie es bekommt. Okay?«

Das war mein Stichwort. Ich löste mich von der Küchentür und ging geradewegs zum Wohnzimmer. »Kann ich rein?«, rief ich.

»Moooment!«, antwortete Paps. Ich hörte ihn eilig in den Wohnzimmerbereich hasten. Durch das Riffelglas erkannte ich schemenhaft, wie er die Kerzen anzündete, dann öffnete Mom die Tür. So strahlend, als hätte sie selbst Geburtstag – und als hätte sie nicht noch vor zwei Minuten mit Paps gestritten. Sie umarmte und drückte mich, dass ich fast keine Luft mehr bekam.

»Alles, alles Gute, Julie. Dass sich all deine Wünsche erfüllen mögen!«

Ich dachte an meine Liste. Platz zwei und eins.

Dann war Paps an der Reihe. Er drückte und knuddelte mich und verwuschelte meine Haare. Er wusste, ich konnte das nicht leiden. »Mein Mädchen! Sechzehn!« Lachend versuchte er, mich gleich noch mal zu verwuscheln, doch ich wich ihm geübt aus.

»Mike!«, mahnten dann meine Eltern im Chor. Mit einem Mmh-uff erhob sich Muffel-Mike vom Sofa und schlurfte zu mir. »Alles Gute, Schwesterchen.« Murmelnd klopfte er mir auf die Schulter. Wow! Er hatte dafür von seinem Handy aufgesehen! Also schenkte ich ihm ein dankbares Lächeln und wandte mich dann meinem Geburtstagstisch zu.

Meine Mom hatte sich im Styling wieder selbst übertroffen. Eine Wolke an rosa- und pinkfarbenen Tulpen schwebte über den Geschenken, die natürlich auch rosa verpackt waren. Ich musste lächeln. Der Tisch war so schön. Natürlich brannten sechzehn rosarote Kerzen in einem Ring um einen Kuchen – auch rosa.

»Und bevor du denkst, Rosa sei nur was für kleine Mädchen«, begann meine Mutter, »Pink ist die Trendfarbe für Sweet-Sixteen-Partys. Ein zeitloser Klassiker.« Und schon wieder umarmte sie mich. »Sechzehn!«, flüsterte sie dabei fassungslos.

»Danke. Es ist wirklich traumhaft.« Und das meinte ich ehrlich. Es sah wunderschön aus.

Neugierig begann ich, die Geschenke aufzureißen. Muffel-Mike hatte mir (natürlich) einen iTunes-Gutschein geschenkt. Ich bedankte mich, doch er nahm mich gar nicht mehr wahr. Von Mom und Paps hatte ich neues Lesefutter bekommen und einen Zuschuss für meinen Führerschein, den ich in sechs Monaten beginnen wollte.

Oma und Opa hatten ebenfalls etwas geschickt. Als ich erfahren hatte, dass sie zu meinem sechzehnten (!) Geburtstag nicht kommen konnten, war ich ziemlich traurig gewesen. Doch logischerweise war die Kur, auf die sie schon eine Ewigkeit warteten, ausgerechnet für diesen Monat bewilligt worden.

Während ich das Päckchen von Oma und Opa aufriss, entgingen mir die mahnenden Blicke nicht, die sich meine Eltern zuwarfen. Und ich fragte mich, was genau passiert war. Wenn ich an der Küchentür richtig gehört hatte, hatte Daria mir etwas zum Geburtstag geschickt. Das war erstaunlich. Sie hatte uns noch nie etwas geschickt. Noch nicht mal eine Karte zu Weihnachten. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wo Daria überhaupt lebte. Ich fand, Paps hatte recht. Aus irgendeinem Grund wollte Daria sich mit uns – also eigentlich mit Mom – aussöhnen. Wie alt mochte sie sein? Mom ist ja schon uralt. (Sie ist knapp über vierzig.) Ob Daria älter als Oma und Opa ist? Ich war auf jeden Fall komplett auf Paps’ Seite: Wir sollten sie kennenlernen, solange dafür noch Zeit war. Außerdem brannte ich darauf, zu erfahren, was sie mir schenken wollte. Sie kannte mich schließlich nicht. Sie wusste rein gar nichts über mich.

Nicht so Oma und Opa, die mir eine supersüße Handtasche geschenkt hatten: mit Strass bestickt, sie war großartig. Oder Tante Dagmar, die mir zwei (!) Karten für ein Musical geschickt hatte.

Mom erinnerte mich daran, die Kerzen auszupusten, also schloss ich die Augen, dachte an Nummer eins auf meiner Liste und pustete. (Alle Kerzen auf einmal. Yes!)

Mom und Paps applaudierten, dann nahm meine Mutter den Geburtstagskuchen mit in die Küche, und ich aß mit Schokomousse gefüllten Kuchen zum Frühstück. Wunderbar. Geburtstage sollten immer sonntags sein!

In der Küche hatte Mom sogar den Frühstückstisch in Rosa und Pink dekoriert! Herzchenluftballons an der Lampe, Glitter-Herzchen-Konfetti um meinen Teller. Und Paps hatte eine Papierkrone an meinen Stuhl geklebt. Ein Ritual, das er seit meinem ersten Geburtstag pflegte. Bei Mike provozierte all der Glitter auf dem Tisch eine Abwehrreaktion. Mit seinem Phone schob er die glitzernden Herzchen, die auf seine Seite gefallen waren, zu mir herüber. Hurra! Mh-uff lebte!

Gerade hatte ich mir mein (zweites) Stück Kuchen auf den Frühstücksteller gehievt, als es klingelte.

Mom öffnete, und als ich hörte, wer der Besucher war, sprang ich quietschend auf. Mit einem dicken Knuddel begrüßte ich Merle, meine absolut beste Freundin. Sie war letztes Jahr hergezogen.

Als wir uns das erste Mal in der Klasse getroffen hatten, wussten wir sofort, dass wir füreinander bestimmt waren. Nicht nur, weil wir die gleichen Bücher lasen und dieselbe Musik mochten – oder uns gegenseitig beim Versagen in Mathe trösten konnten. Ich liebte es ebenfalls, mit ihr über Flohmärkte zu stromern. Sie hatte denselben Geschmack wie ich, und wir verstanden uns einfach ohne Worte.

»Ich dachte, bei diesem herrlichen Geburtstagswetter komm ich rum und feiere mit dir.« Merle streckte mir ein Schächtelchen entgegen. Bevor es ihr in die Hände gefallen war, hatte es ein langweiliges Dasein als Zigarrenschachtel fristen müssen. Jetzt hatte sie es mit ihrem wunderbaren Talent in ein Kunstwerk verwandelt.

Andächtig strich ich über die Box. Merle hatte sie mit Bildern von weißen Tauben und rosa Masking Tape verziert und mit einem Seidenband zugebunden. Unter der Schleife steckte ein eingerollter Zettel, auf dem mit Feder und Tusche etwas geschrieben stand.

Als ich das erste Mal Merles Terminkalender gesehen hatte, war ich fast umgefallen vor Staunen. Jedes Wochenblatt schmückte, klebte und bemalte sie so unglaublich hübsch. Ich blätterte ihren Planer wahnsinnig gerne durch, denn er war wie ein Tagebuch. Obwohl nicht viel darinstand, erzählten die Seiten trotzdem eine Menge über Merle. Wo sie den Tag verbracht und wie sie sich gefühlt hatte.

Ich war sehr neugierig, was sich in der Schachtel verbarg. Mit Sicherheit war es bezaubernd und romantisch. Merle eben.

Mom nickte anerkennend. »Das sieht märchenhaft aus, Merle. Du solltest später etwas mit Gestaltung machen.«

»Danke, Frau Weidmann. Mal sehen.«

»Doch, wirklich, du hast ein Händchen dafür.«

»Schnapp dir Kuchen. Wir gehen hoch, okay?« Ich wollte nicht, dass Mom und Paps lange Hälse machten und sahen, was in Merles Schächtelchen war. Meine Mutter hätte Merle sonst nur noch mehr mit Design-Zukunftsmöglichkeiten zugetextet.

Mit vier Stück Kuchen sowie Tee plus Tassen stiegen wir hinauf in mein Reich.

Dort zog ich den Zettel unter der Schleife hervor und sah Merle lächelnd an. »Da hast du dir sicher wieder etwas Supergeniales ausgedacht.«

Grinsend schüttelte sie ihre dunklen Locken. (Um die ich sie sehr beneidete. Meine Haare waren irgendwie, na ja, schlammfarben und hingen mir immer strähnig in die Augen. Egal, was ich mit ihnen anstellte.)

Auf dem Zettel – ich glaube, es war eine Art Seidenpapier, jedenfalls fühlte er sich ganz weich an – stand in schnörkeliger Handschrift Bäumchen, rüttel dich, Bäumchen schüttel dich – wirf Gold und Silber über mich.

Ich musste lachen. »Du bist so romantisch und kitschig!« Ich öffnete die Schachtel. Darin wuchs ein kleines Bäumchen. Vor einen tiefblauen Hintergrund, auf dem Sternchen funkelten, hatte sie einen Zweig geklebt. An dem dünnen Bäumlein hingen drei vergoldete Haselnüsse. Vorsichtig tippte ich sie an.

»Ich schwöre dir, sie sind magisch.« Merle lachte. »Ich dachte, als kleine Hilfe. Für deine Liste.«

»Du bist so süß! Danke!« Ich fiel ihr um den Hals und drückte sie.

»Aber überleg genau, mein Kind, wofür du deine Wünsche einsetzt!«, rezitierte sie mit verstellter Stimme.

»Ich werde sie natürlich für coole Partyoutfits verschwenden.« Und wir lachten beide.

Während wir den Kuchen verdrückten, erzählte ich ihr vom Streit meiner Eltern.

»Ich platze vor Neugier, was Daria mir wohl geschenkt hat. Aber ich kann ja schlecht zu Mom gehen und sie auffordern, es mir zu geben.«

»Dann wüsste sie, dass du gelauscht hast.«

»Ganz genau.« Ich wischte mir etwas Schokomousse von der Lippe. »Andererseits hab ich ihnen ja nicht nachgestellt. Sie hatten mich gerufen, und ich bin runter. Und da habe ich es eben einfach gehört.«

»Und wenn du deinen Vater darauf ansprichst? Er will es dir ja geben.«

Dass Paps Mom so einfach überzeugen konnte, mir das Geschenk zu geben, bezweifelte ich stark. Wenn es irgendwann irgendeine Chance gegeben hätte, unsere Großmutter kennenzulernen, hätte er sie ergriffen. Da war ich mir sicher.

»Oder ich muss es mir selbst holen«, murmelte ich.

»Julie Jewels!«, tadelte mich Merle empört. »Schmieden Sie etwa einen Plan, in den Sachen Ihrer Mutter herumzuwühlen?«

Ich grinste.

»Lass dich nicht erwischen«, meinte Merle und tupfte die Krümel von ihrem Teller. »Und weil du danach wahrscheinlich bis zu den Sommerferien Hausarrest hast, würde ich vorschlagen, wir fahren gleich ins Lorenzo.«

Und genau das taten wir.

Aber den ganzen Weg zum Café grübelte ich über Mom und Daria. Ich wusste gar nichts über meine Großmutter. Und eigentlich auch nichts über Mom. Wo war sie geboren, wo aufgewachsen? Wer war ihr Vater? Und was zum Henker hatte dazu geführt, dass sie ihre Mutter derart hasste? Ein anderes Wort fiel mir für ihre Ablehnung nicht ein.

Merle radelte schweigend neben mir. Wie immer wusste sie, wann ich Zeit für meine Gedanken brauchte.

2

Das Café Lorenzo lag direkt an der Strandpromenade. Und damit praktischerweise so nah an der Schule, dass während der Freistunden alle rüberwanderten, um sich mit Kaffee, Tee, Kuchen und Sandwiches zu versorgen.

An diesem Tag war das Lorenzo wie immer gut besucht – was kein Kunststück war, denn es war das einzig wirklich gute Café, draußen war Schietwetter und außerdem noch Sonntag.

Eigentlich war das Gebäude ein überdimensionierter Wintergarten, weshalb man auch bei Regen hervorragend das Meer beobachten konnte. Bei gutem Wetter saßen wir auf der Terrasse, chillten und sahen den Wellen zu.

Ich liebte das Lorenzo nicht nur, weil es am Meer lag, sondern vor allem, weil es so viele kuschlige Ecken bot. Die zahlreichen Grünpflanzen, in denen zu jeder Jahreszeit Lichterketten eine romantische Stimmung verbreiteten, bildeten regelrechte Oasen. Darin versteckt standen die Tische – und deshalb trafen sich hier auch alle Pärchen der Schule. Es gab einem das Gefühl von Intimität, aber man wurde doch gesehen und konnte andere beobachten. Weshalb jeglicher Klatsch und Tratsch im Lorenzo seinen Anfang nahm.

Mein Lieblingsplatz war die Kissenecke. Aus zwei Gründen. Der erste war, dass dort breite Sofas um den Tisch standen, die mit viel zu vielen, herrlich kuscheligen Kissen dekoriert waren.

»Och nö«, murmelte ich, als ich bemerkte, dass mein Lieblingsplatz leider bereits weg war, und »Auch das noch« nuschelte ich, als ich erkannte, wer dort Platz genommen hatte: Chrissy und Leonie.

»Du hast ihnen Bescheid gesagt?«, flüsterte ich Merle entsetzt zu.

»Sie hat mich gefragt, wann wir uns treffen. Da konnte ich ja schlecht lügen. Sie wäre sowieso hier aufgekreuzt.«

Seufzend steuerte ich auf Chrissy zu. »Hätte ich mal jetzt eine der Wunschnüsse.«

»Hey! Geburtstagsschnecke«, begrüßte Chrissy mich viel zu laut. Wir tauschten Wangenküsschen aus. Sie trug die Ohrringe, die ich ihr mal geschenkt hatte. Neonfarbene Spiralen. (Laute Farben für eine laute Person.) Ich kannte Chrissy schon seit der Grundschule, und es hatte Zeiten gegeben, da wussten wir quasi alles voneinander.

Bis vor dreieinhalb Monaten …

Denn vor dreieinhalb Monaten war Chrissy mit Paul zusammengekommen. Und plötzlich war da eine Kluft in unserer Freundschaft entstanden. Wenn ich ehrlich war, waren wir seitdem gar keine echten Freundinnen mehr. Leonie war jetzt Chrissys Seelenverwandte. Schließlich hatte sie auch einen Freund. Den dritten. Oder vierten. Keine Ahnung.

Mein Blick glitt möglichst unauffällig durchs Café. War Noah schon da? (Noah. Der Name auf Platz zwei meiner Liste.) Er traf sich hier immer mit seinen Kumpeln, um Billard zu spielen. Doch der Billardtisch, der in einem Seitenzimmer stand – in das man von der Kissenecke aus den besten Einblick hatte –, war verlassen. Ja, das war übrigens der zweite Grund, warum die Kissenecke mein Lieblingsplatz war: freie Sicht auf den coolsten Typen von allen – ohne selbst gesehen zu werden.

»Und? Was hast du bekommen? Waren deine Eltern brav?«, scherzte Chrissy.

Ich lächelte leicht gequält. »Die waren wirklich schräg drauf.«

»Streit?« Leonie sah mich mitleidig an. »Das is’ ja voll daneben. Du hast doch Geburtstag!«

Standhaft lächelte ich weiter. Wollte ich mit Leonie über meine Eltern quatschen? Wohl kaum. Zum Glück gab mir Chrissy gar keine Chance, zu antworten.

»Mein Stichwort«, trällerte sie und zog eine Zellophankugel hinter einigen der Kissen hervor. Ein Geschenkkorb. Wow. Total beste-Freundinnen-like.

Ich lächelte immer noch und hoffte, es wirkte nicht so angestrengt, wie es sich anfühlte.

Sie schob ihn auf mich zu, und ich erkannte Schaumbadbomben, Nagellack und Lipgloss unter dem Glitter-Zellophan. »Danke«, stammelte ich, und Chrissy zwinkerte, als müsste ich gar nicht erst sagen, dass dies das mit Abstand beste Geschenk meines Lebens war.

»Keine Ursache«, sagte sie und tätschelte mir doch tatsächlich die Hand. »Noah steht auf den Duft von Vanille. Hat mir Paul verraten.«

Entsetzt starrte ich sie an. »Du hast Paul gesagt, dass ich Noah … interessant finde?« Das Wort verknallt würde ich niemals in Gegenwart von Chrissy und Leonie benutzen. Ich war auch gar nicht verknallt. Ich hatte ja noch nie mit Noah gesprochen. Aber ich war mir sicher, wir hatten eine tiefe Seelenverwandtschaft. Es musste einfach so sein … Ja okay, ich war verknallt.

»Mann! Klar!«, Chrissy grinste. »Dich muss man ja irgendwie schubsen. Von allein machst du ja nix.«

Die Bedienung tauchte auf und rettete mich davor, mich an meinem Geburtstag mit meiner (ehemals besten) Freundin zu zoffen. Ich bestellte eine Doppel-Schoko-Schokolade mit extra Sahne und hoffte, die erneute Schokoladendröhnung würde diesen Tag wieder zu einem wirklich wunderbar glücklichen machen.

Ich bemerkte, wie der Geschenkkorb von mir wegwanderte. Leonie zog ihn zu sich und inspizierte die Kosmetik darin. Sie hielt sich selbst für die absolute Kosmetik-Fachfrau. Zugegeben, sie benutzte auch alle Produkte, die der Markt hergab. Vermutlich, weil sie sonst einfach nur farblos gewesen wäre. »Echt jetzt? Den Karmesin-Nagellack?« Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte Zweifel. Vermutlich nicht, ob mir die Farbe stand, eher, ob ich überhaupt in der Lage war, Nagellack aufzutragen. Denn im Gegensatz zu ihr und Chrissy benutzte ich nur sehr selten Make-up. Was jedoch nicht daran lag, dass ich nicht wusste, wie, sondern nicht wusste, wann – morgens aufstehen und pünktlich in der Schule zu sein, war für mich auch ohne perfekten Lidstrich eine knappe Sache. Außerdem hatte ich meinen Schmuck. Was brauchte ich da noch Lipgloss und Lidschatten, wenn ich mit Ketten und Ohrringen alles ausdrücken konnte?

»Wie weit bist du mit der Partyplanung?«, lenkte Merle mich ab.

»Eigentlich alles klar.«

»Eigentlich?« Sie sah mich über den Rand ihrer Brille an.

»Na ja. Ein paar Details fehlen noch.« Mein Blick glitt wieder zum Billardtisch.

Woraufhin Merle kicherte.

»Was?« Leicht beleidigt sah ich sie an.

»Details.« Sie grinste. Und mir war klar, dass sie wusste, wen ich mit Details meinte.

Chrissy und Leonie fachsimpelten inzwischen über den Inhalt des Geschenkkorbs und waren ganz in ihrer Welt. Für eine Sekunde fragte ich mich, was mich jemals mit Chrissy verbunden hatte. Sie war so oberflächlich und offensiv. Zumindest seit sie Paul hatte. Ihre Tops waren immer knapper geworden, ihre Haare wechselten ständig die Farbe, und sie plapperte nur noch in einer Tour über Kosmetik und Outfits. Und Paul. Ihren Ach-so-großen-Helden. Paul war eigentlich eher unter der Kategorie Spargeltarzan zu führen. Aschblond. Wässrig blaue Augen, die irgendwie immer wie im Halbschlaf blickten und ihn dadurch nicht gerade helle wirken ließen … Ja, ich konnte ihn nicht leiden.

Was mich betraf, war es ja nicht so, dass ich nie versucht hätte, mit Noah zu reden. Schon oft hatte ich es vorgehabt. Und zweimal hatte ich es getan. Beinahe. Das erste Mal stand er plötzlich am Schulkiosk genau vor mir. Mit einem dieser ekelhaften Ketchup-Brötchen. Um ein Haar wäre er damit in mich hineingerannt. Er entschuldigte sich, und ich – ich nickte. (Fällt zumindest unter Kommunizieren. Man muss ja nicht immer sprechen.)

Das zweite Mal lief ich ihm beim Einkaufen über den Weg. In dem wunderbaren Künstlerbedarf-Laden an der Promenade. Wir suchten beide nach Skizzenbüchern. Er hat mir eins empfohlen. Einfach so. Und dann ist er seins bezahlen gegangen. Leider hatte ich einen solchen Frosch im Hals, hätte ich gesprochen, es hätte sicherlich wie Würgen geklungen. Deshalb hatte ich nur nicken können. Vermutlich dachte er damals, ich sei stumm.

Merle tippte mich an. »Zu deinen Details …«

»Lass gut sein. Ich mach das schon noch.« Ja. Ich würde Noah einladen. Zu meiner Party. Denn von nun an würde ich mein Leben selbst in die Hand nehmen. Ich hatte es satt, darauf zu warten, dass er endlich den ersten Schritt machte. Noah war mein Mr Right. Da war ich mir zu zweihundert Prozent sicher. Ich musste nur an seinen Namen denken, und in mir flatterten Tausende Schmetterlinge. Wenn das kein Beweis für die große wahre Liebe war! Mein Noah, der fest davon ausgehen musste, dass ich stumm war, wenn er sich überhaupt bewusst war, dass es mich gab. Ich stellte mir kurz sein erstauntes Gesicht vor, wenn ich ihn ansprach.

Merle zupfte mich am Ärmel. Und deutete zur Tür.

Ich schwöre, die Musik und die Gespräche im Lorenzo erstarben für zwei Atemzüge, und alle Augen richteten sich auf die Neuankömmlinge.

Noah.

Ich schätze, in Wahrheit setzte nur bei mir die Atmung aus und die Welt hatte absolut keine Notiz von ihm genommen. Er von mir allerdings auch nicht. Wie immer.

»Atmen«, flüsterte Merle mir zu. Und Chrissy und Leonie begannen zu kichern.

»Mensch, Julie! Du hast heute Geburtstag! Jetzt los! Wir gehen zu ihm.«

»Was?« Ich starrte Chrissy an, als hätte sie mich ganz beiläufig zu einem Banküberfall aufgefordert. Ist doch nichts dabei.

»Ist doch nichts dabei«, sagte sie glatt.

Es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum das die schlechteste Idee des Jahrhunderts war. Ich war völlig unvorbereitet. Kein Plan für einen coolen Spruch. Meine regennassen Haare ließen mich sicher wie einen begossenen Pudel aussehen! Ich merkte, wie sich ein Kloß in meinem Bauch zusammenballte. Ich würde sicher nur Örks sagen können! »Er – Er – Er ist Noah!«, stammelte ich.

Er sah so umwerfend aus. Also, ich meine gar nicht, dass er so ein Schönling war. Klar, seine Augen waren toll. Grau. Je nach Wetter hell oder dunkel. Er trug immer Jeans und T-Shirt. Anscheinend war ihm nie kalt. Er designte seine T-Shirts selber, und ich mochte seinen Zeichenstil total. Oft waren seine Zeichnungen auf eine ganz ernste Art lustig. Und dann wieder einfach schön. Letztendlich wusste ich nur, was seine Zeichnungen über ihn verrieten. Er las viel – oft waren es Figuren aus Büchern –, er mochte das Meer und Seevögel (genau wie ich), und ihm waren die Blautöne lieber als Rot und Orange, vielleicht, weil er eher leise als laut war (so wie ich).

Merle kicherte.

Irritiert sah ich sie an.

»Du seufzt … ziemlich laut … und schmachtend.«

Natürlich schoss mir sofort das Blut in die Wangen. »Gar nicht«, motzte ich ein bisschen, trank meine XXL-Schokolade in einem Zug aus und orderte sofort noch eine. Irgendwann mussten die Glücklichmacher darin ja wirken.

»Jetzt komm schon, du verknalltes Huhn.« Chrissy schob sich aus der Bank und zupfte ihren entschieden zu knappen Rock zurecht. Panisch beobachtete ich, wie sie tatsächlich zum Billardtisch hinübertippelte und die Jungs begrüßte.

»Du hättest auch den zweiten violetten Ohrring anlegen sollen«, murmelte Merle.

»Meinst du?« Ich beobachtete, wie Chrissy ihr Top über die Schulter rutschen ließ, als sie übertrieben lachte.

»Ja, klar. Tiefgründiges Violett. Das ist magisch. Das hätte vielleicht geholfen.« Ich war nicht sicher, ob das ironisch oder ernst gemeint war, doch Merle hatte sich bereits weggedreht und sah über die Schulter zum Billardtisch. Chrissy ließ sich gerade von Noah zeigen, wie sie den Queue halten musste. Wo war eigentlich dieser dusslige Paul, wenn man ihn brauchte?

Eine Verwünschung zischend stand ich auf. Also gut! Ich wollte mein Leben selbst bestimmen? Dann musste ich handeln – jetzt. Schluss, aus mit feigem Verkriechen. »Los, Merle. Wir können Noah nicht mit Chrissy allein lassen!«

»Wow«, meinte sie. »Du meinst es echt ernst mit dem Ich-will-nicht-mehr-Warten.«

Ich beobachtete, wie Chrissy schon wieder lachend ihre himmelblau gesträhnten Haare nach hinten warf. Ich war mir sicher, dass Noah nichts derart Lustiges gesagt hatte. Nie und nimmer machte Noah Witze, über die Mädchen mit blauen Strähnen, zu kurzen Röcken und aufdringlichem Wimperngeklimper wahrhaft lachen konnten. Niemals. (Ich hätte seine Witze natürlich sofort verstanden. Wir waren auf derselben Welle. Ganz sicher.)

Er wechselte einen Blick mit seinen Kumpeln. Und soweit ich es erkennen konnte, hatte er gerade genervt die Augen verdreht. Ich liebte ihn dafür.

Entschlossen wollte ich los, doch ich stolperte … in Bens Arme.

Mein Sandkastenkumpel Ben. Natürlich. Niemals würde er meinen Geburtstag vergessen. Er wohnte in unserer Straße, zwei Häuser weiter auf der gegenüberliegenden Seite. Von unserem Garten aus konnte ich ihm zuwinken. Wie Chrissy kannte ich ihn seit Kindergartentagen. Wir hatten sehr viele Matschbuddelburgen zusammen gebaut und einst als Strandpiraten Schätze gehoben. Eine Zeit lang hatten wir uns aus den Augen verloren. Er war so ein Mathe- und Physiktyp geworden. Mom hatte ihn mal für mich als Nachhilfelehrer angeheuert. Das hatte nicht so richtig funktioniert, was aber eindeutig an mir gelegen hatte. Ich konnte Ben einfach nicht ernst nehmen. Sprich, wir hatten eigentlich nur Quatsch gemacht und uns schlappgelacht. Mathe war danach immer noch ein unlösbares Rätsel für mich gewesen. Inzwischen sahen wir uns wieder regelmäßig, er und Merle waren meine Clique. Wir waren jetzt quasi erwachsen, auch wenn Ben für mich immer dieser Sandkastenzwerg bleiben würde. Wir gingen zu dritt ins Kino, hingen am Strand ab oder trafen uns im Lorenzo. Ja, man kann einen besten Freund haben!

»Darf ich dich geburtstagsknuddeln?«, fragte er, und sein keckes Grinsen spiegelte sich in seinen dunklen Augen.

Lachend warf ich mich ihm in die Arme. Er roch nach Strand. Irgendwie roch er immer nach einem Sommertag am Meer.

»Alles Gute, Julie«, flüsterte er mir ins Ohr und drückte mich.

»Danke dir«, flüsterte ich zurück, drückte ihn und bemerkte in diesem Moment Chrissy. Und Noah.

Ganz nah an meinem Ohr sagte Ben: »Ich wünsche dir, dass du –«

Was genau Ben mir wünschte, hörte ich nicht. Denn die Zeit blieb stehen. Als müsste sie gegen zähen Sirup kämpfen, winkte Chrissy zu mir herüber. Grinsend, ihre Hand auf seine Schulter gestützt.

Und Noah sah mich an.

Unsere Blicke trafen sich.

Mein Herz setzte aus. Und plumpste tot auf den Boden.

Hätte Ben mich nicht fest umarmt, wäre ich direkt hinterhergefallen.

Dann raste die Zeit wieder voran, und mir wurde klar, was Noah gerade gesehen hatte: Die stumme Julie umarmte glücklich strahlend Ben. Als wären wir … O nein!

Sofort löste ich mich aus Bens Umarmung.

Ich ließ mich in die Kissen fallen und konnte weder Ben ansehen noch Noah. Niemals würde Noah ein Mädchen küssen, das vermeintlich einen anderen liebte. Dazu war er einfach viel zu großartig perfekt. Na, wunderbar!

3

Ben hatte mir wunderschöne Muranoglasperlen geschenkt. Sie waren ganz klein und orange-rot-gelb-weiß. Daraus würde ich ein herrliches, dreireihiges Collier fertigen. Beinahe hätte ich ihn nochmals umarmt, denn er hatte damit wirklich absolut meinen Geschmack getroffen. Er kannte mich eben einfach schon zu lange. Wir stießen mit Schokolade auf meinen Geburtstag an und nachdem wir noch eine kleine Weile über Chrissy – die zusammen mit Leonie bei den Billard-Jungs blieb – gelästert hatten, war ich zusammen mit Chrissys Geschenkkorb nach Hause geradelt. Denn ich ertrug es nicht mehr, Miss Ach-so-Toll beim Flirten zuzusehen, war aber dennoch zu feige hinzugehen. Anscheinend brauchte ich noch etwas Zeit, um mein Leben zu ändern. Es war ja auch erst Tag eins meiner neuen Zeitrechnung. Und eine Seelenverwandtschaft vergeht schließlich nicht. Die bleibt. Für immer.

Als ich das Lorenzo verließ, hätte ich schwören können, dass Noah mir nachsah, doch ich versteckte mich erfolgreich hinter dem Glitzer-Zellophan des Korbs. Und hoffte, dass er die Nachricht verstand: Ich hab Geburtstag. Da umarmt einen jeder. Ob man will oder nicht. Ich versteckte mich aber auch, weil ich nicht noch mal seinem Blick begegnen wollte. Es hatte sich angefühlt, als sähe er auf den Grund meines Herzens. Und das, während ich mich von einem anderen Jungen umarmen ließ! Ich hoffte inständig, dass Noah eine Kumpel-Umarmung von einer Liebes-Umarmung unterscheiden konnte. Wenn nicht … Klasse: Alle Gerüchte nahmen im Lorenzo ihren Anfang …

Ich trat schneller in die Pedale, um Noahs lächerlichen Wahrscheinlich-Verdacht, Ben und ich könnten etwas anderes sein als Kindergartenfreunde, abzuschütteln. Der Nieselregen hatte inzwischen aufgehört, und ein kühler Wind vom Land drängte die Wolken ab. Ich reckte die Nase in die salzige Luft und atmete tief ein.

Heute – war – mein – Geburtstag!

Jetzt war ich sechzehn.

Und, immerhin, auch wenn es nicht ganz meiner erträumten Situation entsprach: Noah hatte mich angesehen. Vielmehr als das. Er hatte mich gesehen. Wir hatten einander in die Herzen geblickt.

Ich lehnte mich zurück und fuhr freihändig, die Arme weit ausgebreitet, die schmale Gasse hinter den hölzernen Fischerhäuschen durch. Wie auf einer Welle puren Glücks flog ich dahin.

Denn als Noah mir direkt ins Herz geblickt hatte, musste er doch erkannt haben, dass wir füreinander bestimmt waren. Und deshalb konnte er ganz sicher nicht auch nur im Mindesten glauben, ich könnte mit Ben zusammen sein. Ja, ich weiß, Schönreden ist eins meiner besten Talente. Die Chancen standen gut, dass ich etwas zu ihm sagen würde, wenn ich ihn wiedersah.

Doch kaum betrat ich einige Minuten später mein Elternhaus, verpuffte mein schwebendes Glücksgefühl.

»Nein. Ihr haltet euch da raus!« Die Stimme meiner Mutter zitterte.

»Wir sind aber eine Familie!« Anscheinend diskutierten sie schon eine Weile, denn in Paps’ Tonfall schwang Ungeduld. Das passierte eigentlich nicht so schnell. »Es kann nicht sein, dass du irgendein fürchterliches Geheimnis vor uns verbirgst! Wir sollten es alle wissen! Und vor allem ich!«

»Nein«, fauchte Mom meinen Vater an. »Es hat ausschließlich mit mir und Daria zu tun. Das geht euch nichts an!«

»Himmel, Caroline! Merkst du nicht, was du anrichtest? Dein Schweigen wird uns kaputtmachen!«

Meine Mutter schwieg. So leise ich konnte, streifte ich meine Schuhe ab. Das Zellophan knisterte, wenn ich mich bewegte. Also blieb ich lieber stehen, hielt die Luft an und lauschte.

»Du hast recht.« Moms Stimme klang tränenerstickt. »Es hat schon immer alles kaputtgemacht.« Eine Schranktür wurde zugeklappt, eilige Schritte waren zu hören.

»Nein. Warte!«

»Lass mich. Ich muss los. Der Kunde wartet.« Mit diesen Worten kam Mom aus der Küche und rannte direkt in mich hinein. Zutiefst erschrocken starrten wir uns an. Ihre Augen waren rotgeweint und geschwollen. Und bevor mir irgendwas einfiel, was ich hätte sagen können, hatte sie meinen Kopf zwischen ihre Hände genommen und mir einen langen Kuss auf die Stirn gedrückt. Dann schnappte sie sich ihre Autoschlüssel und verließ das Haus.

Als die Tür ins Schloss fiel, kam Paps aus der Küche. Er sah sehr mitgenommen aus.

»Was ist passiert?« Meine Stimme war ganz dünn.

Noch nie hatte ich einen so heftigen Streit zwischen meinen Eltern erlebt. Er nahm mich in den Arm und strich mir über die Haare. Ausnahmsweise ließ ich es zu, denn mein Bauchgefühl sagte mir, dass es ihm guttat. »Warum hat Mom geweint?«, fragte ich leise.

Er rückte mich ein Stück von sich weg und sah mich lange an. Schließlich sagte er: »Ich habe keine Ahnung, Julie.«

4

Den idiotischen Geschenkkorb in den Armen ging ich in mein Zimmer hinauf und setzte mich aufs Bett. Meine Eltern stritten sich, weil Daria dieses Päckchen an mich geschickt hatte. Anscheinend hatten Mom und Paps es noch immer nicht geöffnet. Oder doch? In den Gesprächsfetzen, die ich mitgehört hatte, war es um ein Geheimnis gegangen. Paps hatte eben zugegeben, dass er gar nicht wusste, worum es genau ging. Außer, dass es völlig daneben war, überhaupt ein Geheimnis vor uns allen zu haben. Und damit hatte er recht.

Was also konnte zwischen Mom und ihrer Mutter passiert sein, dass sie so heftig reagierte? Es hat schon immer alles kaputtgemacht, hatte sie gesagt. Mich schauderte. Ich stellte endlich den dämlichen Korb beiseite und nahm stattdessen Herrn Ha, meinen Kuschelhasen, in die Arme. (Es gibt Ausnahmesituationen im Leben einer Sechzehnjährigen, in denen das Kuscheln mit Stofftieren aus Kindheitstagen eindeutig erlaubt ist.) Die schrecklichsten Gedanken flatterten durch meinen Kopf, als ich darüber nachdachte, was meine Mutter nach all den Jahren ihrer Mutter noch immer nicht verziehen hatte. Und mir wurde erneut klar, dass ich eigentlich gar nichts über Mom und ihre Kindheit wusste.

Ich sah Herrn Ha in die Augen und fasste einen Entschluss.

Ich brauchte Antworten. Paps brauchte Antworten. Und ich würde sie finden.

Sogleich schnappte ich mir meinen Planer und notierte alle Räume in und um unser Haus, in denen Mom dieses Päckchen versteckt haben könnte. Dann machte ich mich daran, die Liste abzuarbeiten.

Ich begann mit Moms Büro, meinem ehemaligen Kinderzimmer. Viel zu durchsuchen gab es da nicht. Ihr Büro war so was von minimalistisch. Auf dem kleinen Tisch stand der Laptop. In einem niedrigen Schubladenteil lagen nur Stifte, Briefumschläge, Heftnotizen und anderer Bürokrempel. Das einzige Regal war locker mit Büchern gefüllt. Schwere Fotobände über Architektur, Innendesign und Kunst. Dazwischen standen Staubfänger, wie Paps die Vasen und Glasskulpturen nannte. Wenn Mom kein Geheimversteck unter den Bodendielen besaß, dann war das Päckchen nicht hier.

Als Nächstes schlüpfte ich in das Schlafzimmer meiner Eltern. Es war mir ein Rätsel, wie sie es schafften, dass es hier so ordentlich war. Das Bett war gemacht, Kissen drapiert. Wenn es ein Versteck gab, dann im Kleiderschrank. Ich schob die Tür auf und musterte den Inhalt. Fein säuberlich waren Pullover und Shirts gestapelt, die Hosen auf Bügeln, die Socken gebündelt und in den Schubkästen nebeneinandergeschichtet. Nein. Niemals hätte Mom hier ein Paket hineingestopft. Ich schloss den Schrank und schlich aus dem Zimmer. Haken dahinter, next.

Kurz dachte ich darüber nach, in Muffel-Mikes Zimmer nachzusehen. Er würde es sicher nicht merken, wenn Mom etwas in seinem Kleiderschrank versteckte, denn darin tobte das Chaos in seiner ganzen Herrlichkeit. Doch für so ausgebufft hielt ich meine Mutter nun auch wieder nicht. Ich strich Mikes Unordnung von der Liste.

Die Garage konnte ich ebenfalls abhaken. Da hätte Paps es gefunden. Was sein Werkzeug anbetraf, war er ein Ordnungsfanatiker. Er merkte es immer sofort, wenn ich eine Zange nicht dorthin zurücklegte, wo sie hingehörte.

Als Nächstes stand auf der Liste der Geräteschuppen im Garten.

Da ging kaum einer von uns rein. Ein prima Ort, um Darias Geschenk zu verstecken. Ich wollte schon in meine Schuhe schlüpfen, als mein Blick auf die Kellertreppe fiel. Und irgendetwas sagte mir, ich solle doch lieber dort unten einmal nachsehen. Also setzte ich die Gartenhütte gedanklich auf den letzten Listenplatz und schlich in den Keller. Der Raum war vollgestopft mit Nützlichem – das so nützlich war, dass es niemandem nutzte. Ein Schrank mit der Jahreszeitenkleidung, zahlreiche Kisten und Kartons und Plastikcontainer. Unter anderem angefüllt mit alten Spielsachen von Mike und mir – sauber sortiert und beschriftet.

Ich sah in jede Kiste. Doch es war immer genau das drin, was Mom draufgeschrieben hatte. Bastelsachen, Nähzubehör, Picknickausrüstung, Strandsachen, alte Steuerunterlagen und so weiter. Enttäuscht wollte ich schon die Treppe wieder rauf, als mein Blick auf Moms Kistenlager fiel. Sie behielt quasi jede Pappkiste und bewahrte sie unter der Treppe auf. Früher hatten Mike und ich uns dort jederzeit bedient und die genialsten Pappburgen gebastelt. Jetzt waren die Kartons ziemlich ungenutzt. So viele Pakete konnte niemand verschicken, um den Berg je aufzubrauchen. Unschlüssig sah ich den wackeligen Stapel an. Eine falsche Bewegung, und die Konstruktion würde zusammenstürzen.

Aber war diese Sammlung nicht das beste Versteck für ein (noch volles) Päckchen?

Ich drückte mich unter die Treppe und nahm die Kisten genauer in Augenschein. In den meisten war irgendwas an uns geliefert worden. Ich konnte im Schummerlicht die Adressaufkleber entziffern, doch von Daria war keines zu entdecken. Kurzerhand begann ich, den Berg abzutragen. Ich konnte es fühlen. Hier wartete etwas auf mich. Etwas, das für mich bestimmt war.

Vorsichtig hob ich eine Kiste vom vordersten Turm, dann eine zweite und warf sie einfach hinter mich.

Hinter dem wackligen Stapel kam eine weitere Reihe Kar