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Hoch im Norden der Welt, die man die »Straße der Götter« nennt, liegt der Wunderwald. Hier ist das Reich der Elfen und Fabelwesen, eine Insel des Friedens inmitten eines gewaltigen Schlachtfelds, auf dem seit Jahrtausenden die Mächte des Lichts und der Dunkelheit ihren ewigen Kampf austragen.
Der heilige Schatz des Wunderwalds ist die Kristallrose, ein Kleinod von unschätzbarem Wert. Um ihren Besitz entbrennt ein Kampf zwischen Göttern und Menschen, Elfen, Riesen und Zwergen, der den Frieden des Wunderwalds bedroht.
Zwischen den Fronten stehen nun Sina, die Diebin von Salassar, und ihre Freunde – und der kleine Drache Thaluga mit dem großen Herzen.
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Rolf Michael
Ein Abenteuer
mit Schwert und Magie
Band 2
Drachenvater
Fantasy-Saga
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © Steve Mayer nach Motiven, 2023
Karte der »Straße der Götter« © Dr. Helmut W. Pesch
Korrektorat: Christian Dörge
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Drachenvater
Die Karte der Straße der Götter
1 – Die Kristallrose
2 – Zwergenlist und Riesenkraft
3 – Die Herrscher der Kristallwelt
4 – Die Höhle der Traumweberinnen
5 – Nachts, wenn die Trolle kommen …
6 – Diebespech und Räuberglück
7 – Küchenzauber in Salassar
8 – Gefahr für den Wunderwald
9 – Auf den Schwingen des Pegasus
Eine kleine Auswahl der Romane von Rolf Michael, die bereits erhältlich sind oder sich in Vorbereitung befinden
Hoch im Norden der Welt, die man die »Straße der Götter« nennt, liegt der Wunderwald. Hier ist das Reich der Elfen und Fabelwesen, eine Insel des Friedens inmitten eines gewaltigen Schlachtfelds, auf dem seit Jahrtausenden die Mächte des Lichts und der Dunkelheit ihren ewigen Kampf austragen.
Der heilige Schatz des Wunderwalds ist die Kristallrose, ein Kleinod von unschätzbarem Wert. Um ihren Besitz entbrennt ein Kampf zwischen Göttern und Menschen, Elfen, Riesen und Zwergen, der den Frieden des Wunderwalds bedroht.
Zwischen den Fronten stehen nun Sina, die Diebin von Salassar, und ihre Freunde – und der kleine Drache Thaluga mit dem großen Herzen.
Taucht ein in dieses wunderbare Lese-Abenteuer, das euch atemberaubende Spannung schenkt!
***
Vieles habe ich dir, o Suchender der Wahrheit, von jener Welt berichtet, die man in der Sprache deines Volkes die Straße der Götter nennt. Du hast meinem Gesang gelauscht, als ich vom Tod und der Wiedergeburt des hohen Drachenlords berichtete, der nun wieder auf Coriella, dem hoch getürmten Schloss im Noord der Welt, über die Geschicke seines Drachenvolkes gebietet. Er bewahrt die Völker der Menschen jener Welt davor, sich den Zorn des friedlichen Drachenvolkes zuzuziehen. Thaluga, der kleine Drache mit dem großen Herzen und der Weisheit und Einsicht eines Kindes, dagegen schwebt als der neue Drachenvater über die Welt, um zwischen den Menschen und den Drachen den Frieden zu vermitteln.
Doch wenn du einer derjenigen bist, die zum ersten Mal den Fuß auf die Straße der Götter setzen, so wisse, dass dies eine Welt ist mit anderen Gesetzen und anderen Göttern als die, die du kennst:
Im Anfang war Dhasor, der Weltenvater, der die Straße der Götter erschuf, unter dem Gesetz der Schicksalswaage. Denn die Ordnung kann nicht ohne das Chaos bestehen – da es sonst kein Maß für die Gesetze aller Dinge geben kann.
Wo Dhasor, der Weltenvater, die Ordnung ist – da ist Thuolla, die Herrin der Tiefe, das Chaos. Sie wurden nicht geschaffen – sie umreit. Und sie existieren nicht – sie sind. Niemand kennt die Gestalt von Dhasor und Thuolla. Geistwesen sind sie, die alles umschweben. Dhasor gibt das Leben, und Thuolla nimmt es. Der Weltenvater erschafft, und die Herrin der Tiefe zerstört.
Auch die Straße der Götter erschuf Dhasor aus seinen Gedanken. Eine Welt, in der sich Dhasors und Thuollas Kinder tummeln sollten. Aus der Verbindung von Leben und Tod entstanden Alessandra, die Göttin der Liebe und Mamertus, der Herr des Krieges. Von ihnen stammen alle anderen Götter ab, die in der Straße der Götter wohnen.
Die Wissenden verkünden, dass die Götter in den alten Tagen in Eintracht lebten. Doch dann wollten sie gemeinsam das herrlichste Wesen schaffen und gerieten darüber in Streit. Dieses Wesen war Dhaytor, der Drachenvater, der jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilt und dessen Nachfolger der kleine Drache Thaluga ist.
Seit diesen Tagen haben sich die Götter in zwei Lager gespalten. Sie hausen in den Höhlen des Orthos und in den lichten Höhen im Kristallpalast des Olympos. Zwietracht herrscht zwischen ihnen. Doch die Götter wissen um ihre Macht und wagen es nicht, sich ernsthaft zu bekämpfen, weil bei einem Kampf die Straße der Götter zerstört werden könnte. Sie versuchen vielmehr, sich mit List und Tücke Schaden zuzufügen und sich nicht nur die Menschen, sondern alle Lebewesen in der Straße der Götter für ihre Pläne dienstbar zu machen.
Den Göttern im Olympos steht Baran, der Gott der Weisheit, vor. Vitana, die Göttin des Lebens, schenkt ihren Hauch nicht nur den Menschen und den anderen Geschöpfen in der Straße der Götter, sondern auch den Kindern Animas, der Herrin über die Tiere, und den Schützlingen Fionas, die über das Pflanzenreich gebietet. Fruga heißt die Göttin der Erde und ihrer Fruchtbarkeit. Watran bewacht Flüsse, Quellen und Seen. Wer Croesor, den Gott des Geldes und der guten Geschäfte, anruft, dem folgen zumeist auch die Diener Manos, des listigen Gottes aller Diebe. Medon, der Gott der Heilkunst, schützt die Menschen vor Krankheiten, und die jungen Mädchen und Frauen bitten Sabella, die Göttin der Schönheit, um ihre Gunst.
Den zehn Göttern aus der lichten Höhe des Olympos stehen jene zehn Götter gegenüber, die in der unterirdischen Höhlenwelt des Orthos ihr Unwesen treiben. Als ihr Oberhaupt gilt Fulcor, der Gott des Feuers. Ihm zur Seite steht Sulphor, der Herr der Vulkane. Zardoz gebietet über Winde und Stürme, Oceana hingegen bewacht die endlos weiten Meere. Die jungen Männer in der Straße der Götter verehren besonders Cromos, den Gott der Stärke, während die Feiglinge und Lügner unter den Menschen heimlich Wokat, den Gott der Niedertracht und des Verrates, um Hilfe anrufen. Assassina aber gilt als grausamste Gottheit der Orthoswelt. Sie nennt sich die Schutzpatronin der Mörder und Attentäter. Wenn Vira, die Herrin der Krankheiten, erscheint, folgt meistens der Schatten ihrer Spur. Der Schatten – das ist der Tod, der keinen Namen hat – jedenfalls darf sein Name nicht ausgesprochen werden. Einsam und wenig geachtet lebt Stulta, die Göttin des Unverstandes und der Dummheit, in der Höhlenwelt des Orthos. Sie hat durch ihr törichtes Handeln schon so manche Pläne der dunklen Götter durchkreuzt.
Niemand kann mit Recht sagen, dass die Götter des Olympos nur Gutes, die Orthosgötter hingegen nur Schlechtes vollbringen. So wärmt Fulcors Feuer auch die Häuser der Menschen. Zardoz’ Winde treiben die Schiffe über Oceanas Meere. Und die Arbeiter bitten Cromos um Kraft und Ausdauer, bevor sie ihr Tagewerk beginnen. Dagegen können die Tiere, die Schützlinge Animas, den Menschen gefährlich werden, und wenn Fruga zürnt, dröhnt und bebt die Erde. Watran lässt im Zorn Flüsse über die Ufer treten, und die ehrlichen Kaufleute fürchten mit Recht die Räuber und Diebe, über die Mano seine schützende Hand hält.
Drei andere Götter gibt es, die sich aus dem Kampf zwischen Olympos und Orthos zurückzogen und die auf einer Insel in der Mitte der Welt zu Hause sind. Im Zentrum der Khysalischen See haben die Menschen ihnen Tempel errichtet, dort verkünden sie ihre rätselhaften Orakelweisheiten.
Solmani heißt der hochverehrte Gott des Lichts und der Dunkelheit. Er als Herr der Zeit gebietet über den Lauf der Sonne und des Mondes. Zirkania, berufen zur Herrin aller Künste, schenkt ihre Gunst Malern, Dichtern und Musikern, wenn sie voller Demut und Hingabe zu ihr flehen. Der dritte Tempel ist Lhamondo geweiht. Er wird auch der Gott der Speise und des Tranks genannt, und kein rechtschaffener Hausherr darf es versäumen, vor einem Mahl Lhamondo zu Ehren ein Gebet zu sprechen.
Die drei Götter halten sich aus dem Streit zwischen Olympos und Orthos heraus. Sie erscheinen in den Götterversammlungen nur, wenn eine besonders wichtige Entscheidung getroffen wird.
Damit sei genug von den Göttern gesagt – nun will ich Kunde geben von den Menschen, denn sie sind die Werkzeuge der Götter.
Für die Menschen in der Straße der Götter ist die Welt eine Scheibe. Inmitten von Oceanas Wassern ruht ein gigantischer Kontinentalblock. Das Zentrum dieses Kontinents bildet die Khysalische See. Fünf Himmelsrichtungen kennt man in der Straße der Götter. Und das Schicksal der Menschen wird von drei Herrschern bestimmt.
Der Großkönig Willard gebietet über Grex, in dessen Gebirgen die dunkle Welt des Orthos verborgen liegt. Rhonacon, zu dessen unwegsamer Bergwelt der Olympos gehört, wird von Varus von Arysia, dem Gottkaiser, regiert. Grex und Rhonacon bekämpfen sich seit ewigen Zeiten. Zwischen ihnen erstreckt sich das Reich Khysal, dem der Großmogul Mainos mit Geschick und Klugheit vorsteht. Der Mogul versucht stets zwischen Grex und Rhonacon zu vermitteln, weil er weiß, dass sein Land im Kriegsfall zum Schlachtfeld wird.
Kummer hat der Großmogul Mainos auch mit seinem Sohn. Denn der Kronprinz Ferrol verschwand eines Tages aus dem Palast, um als Abenteurer durch die Welt zu streifen. Derzeit lebt er in Salassar, einer Stadt, die zwar dem Reich des Großmoguls angehört, sich aber als selbständige Kaufmannsrepublik versteht. Pholymates, der Oberherr von Salassar, plant seit langem, die Stadt an sich zu reißen. Befreundet ist der verwegene Ferrol mit Sina, der Katze. Sie gilt mit Recht als die Meisterdiebin von Salassar. Ihre Beute verteilt sie zumeist an die Armen der Stadt. Zu den Freunden Sinas und Ferrols gehört der merkwürdige Zauberer Churasis, den mit seinem Schrat Wulo eine Art Schicksalsgemeinschaft verbindet.
Doch nicht nur Menschen gibt es in der Straße der Götter. Elfen und Zwerge, Riesen und Trolle hausen dort, und du wirst Erstaunliches von ihnen hören. Folge mir nun, o Suchender der Wahrheit, hinauf in den Noord der Welt.
Hier liegt jener mächtige und uralte Wald, den man in der Sprache der Menschen den Wunderwald nennt.
Alle Fabelwesen und Phantasiegeschöpfe, die jemals der Geist des Menschen erfunden hat, sind hier zu Hause.
Zentauren galoppieren dort unter den Bäumen, Dryaden hausen in den Zweigen, Feen schweben über allem dahin. Einäugige Zyklopen gibt es dort, die niemand fürchten muss, und die grässlichen Empusen, Gorgonen, Harpyien und Chimären. Hier im Wunderwald gibt es jedoch weder Bosheit noch Feindschaft. Diese Wesen sind friedlich, wenn ihr Zorn nicht gereizt wird. Faune und Satyrn treiben ihre tollen Späße unter den uralten Gereonbäumen. Die Traumweberinnen verrichten stumm in ihrer Höhle ihr geheimnisvolles Werk. Nymphen und Nöcke spielen in schwarzgrünen Waldseen. Katzenmädchen flüchten kreischend vor den wilden, zotteligen Wolfsmännern und Bärenhäutern. Luftikusse, kleine Kobolde, schwirren überall umher. Hier im Wald leben nicht nur die schneeweißen Einhörner, sondern auch ihre schwarzen Vettern, die Siebenhörner, aus deren Stirn sieben kurze, goldfarbene Hörner wachsen. Im Wunderwald grast auch Pegasus, das Pferd mit den Flügeln, das vom Klirren der Waffen aus der Welt der Dichter vertrieben wurde. Und da ist Gilga, der Wabberflutscher, jenes letzte Wesen einer unglaublichen Rasse, die es weder gab noch gibt, noch jemals geben wird.
Folge mir nun, o Suchender der Wahrheit, hinab in die Straße der Götter und sieh dorthin, wo die reich geschnitzten mannshohen Pfähle die südliche Grenze des Wunderwaldes anzeigen. Denn dort beginnt meine Geschichte …
»Wenn wir den Wunderwald erreichen, haben wir eine Chance, zu entkommen!«, vernahm Silas die Stimme seines Bruders Pyctus durch den Wind, der ihnen um die Ohren pfiff. Die beiden Rennkaninchen, auf denen sie ritten, gaben alles, was sie hatten. Diese Tiere schienen zu wissen, dass es ihren Reitern übel erging, wenn die Verfolger sie erwischten.
Sie spürten die Erde leicht unter den Tritten der beiden Riesen zittern, die sich im Laufschritt mit weiten Sprüngen näherten. Auf die Dauer hatte ein Kaninchen da keine Chance – schon gar nicht, wenn noch ein Zwerg auf seinem Rücken saß.
Weißpfote und Graufell waren die besten Rennkaninchen, die man jemals in den Steppen von Grex aufgezogen hatte. Augerich, der König unter dem Berg, hatte goldene Ringe geben müssen, um diese beiden Kaninchen für Pyctus und Silas, seine beiden Paladine, zu kaufen. Denn diese beiden Brüder hatten, anders als die meisten Zwerge, das Handwerk des Kriegers gewählt. Normalerweise gingen Zwerge lieber im Berg dem Schürfen des Erzes nach oder vermochten Metalle kunstvoll zu schmieden.
Nun aber waren die beiden Ritter des Königs Augerich in höchster Bedrängnis. Am Wutgebrüll der beiden Riesen war zu erkennen, dass sie keinen Spaß mehr verstanden. Denn die beiden Zwerge hatten das größte Heiligtum der Riesen gestohlen, das sie nun im Wunderwald in Sicherheit bringen wollten.
Die Kristallrose! Eine Rose wie aus zerbrechlichem Glas, die Pyctus trotz des wilden Hoppeltempos seines Rennkaninchens wie ein rohes Ei balancierte. Entamos und Thumolas, die beiden Riesen, waren von König Ghoroc zu Wächtern der Kristallrose ernannt worden. Für sie war es die größte Schmach einzugestehen, dass es den Zwergen gelungen war, die Kristallrose zu stehlen.
»Vorwärts, Graufell!«, rief Silas. »Es ist in deinem eigenen Interesse, wenn du dich anstrengst. Was die beiden Riesen mit mir machen, wenn sie mich kriegen, weiß ich nicht. Aber ich habe gehört, dass alle Riesen mit Vorliebe Hasenbraten mögen!« Als hätte das Rennkaninchen seine Worte verstanden, streckte sich Graufell und wurde noch schneller. Eigentlich war er wesentlich behäbiger und bewegte sich nur, wenn es nicht anders ging.
Jetzt aber schien es die Worte seines Reiters sehr gut zu verstehen. Silas, der jüngere der beiden Zwergenbrüder, war für einen Zwerg sehr zartgliedrig gebaut, hatte ein hübsches Gesicht und verzichtete darauf, sich den für Zwerge typischen Bart stehen zu lassen. Wie sein Bruder Pyctus trug er derbe Kleidung aus Leder und dunkelgrünem Lodenstoff. Er hatte hohe Stiefel und einen breiten Gürtel, an dem verschiedene Taschen hingen. In einer Scheide steckte ein unterarmlanger Dolch. Als Waffe führte Silas einen Säbelspieß, den er vorzüglich zu gebrauchen wusste.
Pyctus dagegen hatte die stämmige, untersetzte Gestalt, wie sie den meisten Zwergen eigen ist. Sein schwarzer Bart war kurz geschoren, und das halblange Haar war unter einer einfachen Lederkappe verborgen. Wie der Bruder hatte Pyctus eisgraue Augen, in denen jedoch die Umsicht eines erfahrenen Kriegers steckte, während Silas immer ein Draufgänger war, der vor allem eine Schwäche für das weibliche Geschlecht jedweden Volkes der Straße der Götter, hatte. Pyctus hatte eine mächtige Axt mit doppeltem Blatt und langem Schaft, die ihm Werkzeug und Waffe zugleich war. Sein Rennkaninchen war pechschwarz mit einer weißen Pfote, der es seinen Namen verdankte. Im Gegensatz zu Graufell war Weißpfote ein richtiges Kampfkaninchen, das in Bedrängnis an der Seite seines Herrn genauso kämpfte wie die Pferde in der Kavallerie des Großkönigs von Grex, die ihre Reiter in der Schlacht durch Auskeilen mit den Hufen und durch Beißen unterstützten.
Vor zwei Tagen war es den beiden Zwergenbrüdern gelungen, sich in Othenios, der gigantischen Felsenburg der Riesen, einzuschleichen und dort die Kristallrose zu stehlen. Es hatte lange gedauert, bis die Wächter der Riesen ihre Spur aufgenommen hatten. Doch nun waren sie da.
Pyctus verwünschte insgeheim, dass sie für ihre Flucht die Kaninchen genommen hatten. Schwarzschwinge und Himmelsschatten, ihre beiden Krähen, hätten sie für Riesen unerreichbar durch die Lüfte nach Chrysalio, der Stadt unter dem Berge, getragen. Hier herrschte König Augerich, und wenn sie die Kristallrose hierher gebracht hatten, waren sie in Sicherheit.
So aber hatten sie nach den Regeln des »Rosenkrieges« nur die Chance, in den Wunderwald zu fliehen und die Quelle des Seins zu finden. Denn es heißt, dass die Kristallrose vom Wasser der Quelle benetzt werden muss, um für die Zeit eines Mondumlaufs den Zwergen zu gehören. Diesen Rosenkrieg zwischen Riesen und Zwergen gab es seit ewigen Zeiten. Wurden die Diebe gefasst, kostete es zwar nicht das Leben – aber das Gelächter der Jäger war eine schlimmere Kränkung als eine gehörige Tracht Prügel. Dazu kam, dass das Eigentum der Gefangenen den Jägern gehörte, und sie von Glück sprechen mussten, wenn man ihnen wenigstens das Notwendigste an Kleidung und Waffen ließ.
Pyctus und Silas wussten genau, dass es sie wenigstens die Rennkaninchen kostete, wenn Entamos und Thumolas erfolgreich waren. Denn das Fleisch von Kaninchen ist für Riesen eine Delikatesse.
Weit vorgebeugt, den Kaninchen die Last so weit wie möglich erleichternd, saßen die beiden Zwerge im Sattel. Wie der Wind fegten die Tiere über die Steppe, die sich noordwärts von Marnuk ausdehnt. Dünne Staubfahnen stoben hinter ihren wirbelnden Hinterläufen auf. Staubfahnen, die verräterisch waren, weil sie von den Riesen auf weite Entfernung gesehen wurden.
Immer näher kam der grüne Streif am fernen Horizont. Die uralten Bäume und das Dickicht des Wunderwaldes konnte ihre Rettung sein. Außerdem hofften die Zwerge, dass ihnen einige der Wesen dort im Wald helfen würden.
Andere dagegen waren aber ganz bestimmt auf der Seite der Riesen.
»Achte darauf, dass der Rose nichts geschieht!«, rief Silas dem Bruder zu. So unglaublich zerbrechlich die Kristallrose war – bis zu diesem Tag hatte sie bei den abenteuerlichsten Diebereien und den wildesten Verfolgungsjagden niemals Schaden erlitten. Und das war das oberste Gebot des »Rosenkrieges«.
Wenn die Kristallrose zerstört war, dann trauerten Riesen und Zwerge. Und dann bestand die Gefahr, dass sie sich danach wieder ernsthaft bekämpften.
Der Diebstahl und die Flucht mit der Kristallrose war also in jeder Hinsicht ein gefährliches Abenteuer. Und gleichzeitig für jeden Riesen oder Zwerg auch die größte Herausforderung. Gelang es den beiden Zwergen, die Kristallrose in den Palast des Königs Augerich zu bringen oder im Wunderwald mit dem Wasser aus der Quelle des Seins zu benetzen, dann gehörte sie für die Dauer eines Mondumlaufs den Zwergen. Sie wurde im Kristalldom aufgestellt, und die Zwerge erfreuten sich an ihr. Wenn aber der Mond gewechselt hatte, musste sie sorgsam bewacht werden. Denn dann hatten die Riesen das Recht, die Kristallrose wieder zu stehlen. Dabei durften sie jedoch nicht von ihren gewaltigen Körperkräften gegen die Zwerge Gebrauch machen, sondern mussten genau wie das kleine Volk mit List und Tücke vorgehen. Der Rosenkrieg war ein Wettstreit der Geschicklichkeit – nicht des blutigen Kampfes.
»Vorwärts, Graufell! Gleich haben wir es geschafft!«, hörte Pyctus den Bruder rufen. »Mach jetzt bloß nicht schlapp so kurz vor dem Ziel. Sieh mal, da vom sind schon die Pfähle mit den eingeschnitzten Dämonenfratzen. Das ist die Grenze des Wunderwaldes, wo wir in Sicherheit sind!«
Mit seinen feinen Ohren hörte Pyctus den keuchenden Atem des Kaninchens, das den Bruder trug. Sein Maul war weit geöffnet, und die rosafarbene Zunge hechelte nach Kühlung. Kein Zweifel. Graufell war erledigt.
»Reite, Bruder!«, vernahm Pyctus die Stimme des jüngeren Bruders. »Bring die Rose in Sicherheit. Das Kaninchen kann nicht mehr. Ich werde anhalten und mich den Riesen stellen, damit Graufell sich retten kann. Mögen mich die Riesen ruhig auslachen, wenn sie mich fassen, aber dem Kaninchen darf nichts geschehen!«
»Unsinn! Wir werden beide den Wunderwald erreichen!« Pyctus legte sich im Sattel zurück. Gehorsam bremste Weißpfote seinen Lauf.
Mit der Haselgerte dirigierte Pyctus sein Kaninchen zurück an die Seite des Bruders.
»Hier! Nimm die Rose und halt sie so, dass man sie von weitem nicht sehen kann!«, befahl er. »Ich lenke die Verfolger ab! Wir treffen uns im Wunderwald. Möglichst an der Quelle des Seins!«
»Und was willst du tun?«, fragte Silas. »So dumm sind Riesen nicht, dass sie sich so leicht ablenken lassen. Die haben gesehen, dass du die Rose hast!«
»Ich nehme das hier und halte es hoch!« Mit fliegenden Fingern zog Pyctus einen faustgroßen Juwel aus einer der Taschen an seinem Gürtel.