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IN DEN ARMEN DES ADLIGEN VERFÜHRERS "Bitte nicht, Mutter!" Aber Charlottes Flehen ist vergebens: Sie muss in dieser Saison unbedingt eine glänzende Partie machen. Nur so kann sie ihre Eltern vor dem Ruin bewahren, auch wenn das Charlottes romantische Träume von einer Liebesheirat für immer zerstört. Doch überraschend hält Captain Viscount Delsey um ihre Hand an. Direkt aus ihren Träumen könnte Jack stammen: hochgewachsen, schneidig, mit funkelnden Augen und einem Mund wie zum Küssen gemacht! Die verblüffte Charlotte ahnt nicht, was der wahre Beweggrund dieses adligen, reichen Verführers ist … ZWISCHEN EHRE UND BEGEHREN "Warum sollte der große, gut aussehende Phipps sich jemals mit einem hässlichen Entlein vermählen, wie sie es war?" Vom Mauerblümchen zur Ballkönigin? Von wegen! Miss Amanda Hamilton weiß genau, dass die Gentlemen sie nur umschwärmen, weil sie unverhofft ein Vermögen geerbt hat. Wenn sie schon dazu verdammt scheint, einen Mann zu heiraten, der sie nicht liebt, dann sollte es zumindest einer sein, den sie selbst begehrt - wie Lieutenant Peter Phipps! Tatsächlich macht der attraktive Adelige ihr aus heiterem Himmel einen Antrag. Natürlich weiß Amanda um seine prekäre finanzielle Situation … aber ist der schneidige Lieutenant wirklich nur an ihrem Reichtum interessiert? EIN GENTLEMAN ZWISCHEN LIEBE UND EHRE Frauen sind edle, schwache Wesen, die beschützt werden müssen: Davon ist Major Harry Brockley fest überzeugt. Weshalb er einer jungen Dame einen Antrag macht, um ihren Ruf zu wahren - und nicht etwa, weil er sie liebt! Denn nur einer Frau gehört Brocks Herz: Samantha Scatterby, die jedoch früher nicht frei für ihn war. Doch ausgerechnet jetzt spielt ihm das Schicksal einen grausamen Streich: Die geliebte Samantha, inzwischen verwitwet, kehrt in sein Leben zurück! Diesmal ist er vergeben, und erneut scheint ihre Liebe hoffnungslos …
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Seitenzahl: 1126
Anne Herries
Drei Gentlemen zum Verlieben (3-teilige Serie)
IMPRESSUM
HISTORICAL MYLADY erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2014 by Anne Herries Originaltitel: „Recued by the Viscount“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADYBand 582 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Bärbel Hurst
Abbildungen: Novel Expression, Iakov Filimonov / GettyImages, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 1/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733733667
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Nein, Mama!“, rief Charlotte Stevens. „Bitte, das kannst du nicht von mir verlangen – ohne Liebe zu heiraten, nur um eines Vermögens willen …“ Sie sah ihre Mutter an, während ihr Tränen in die Augen traten, aber sie war zu stolz, um zu weinen. Charlotte war ein hübsches Mädchen, zierlich, nicht größer als fünf Fuß und drei Zoll, aber ihre großen ausdrucksvollen Augen und ihr lebhaftes Wesen glichen den Mangel an Körperhöhe leicht wieder aus. „Wie kannst du das von mir erwarten?“
„Weil mir kaum eine andere Wahl bleibt“, erwiderte Lady Stevens. „Dein Vater ist beinahe ruiniert, und wenn du dich nicht unseren Wünschen fügst und eine sehr vorteilhafte Ehe eingehst, dann werden wir alles verlieren.“
„Ja, ich verstehe …“ Charlotte unterdrückte den Wunsch, zu schreien und zu weinen, denn sie liebte ihren Papa sehr und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er in solchen Schwierigkeiten steckte. „Wen hast du mir als Ehemann ausgesucht?“ Sie hob den Kopf, entschlossen, tapfer zu sein und ihrem Schicksal entgegenzutreten, wie schrecklich es auch sein mochte.
„So verzweifelt ist die Lage im Moment noch nicht“, sagte ihre Mutter und lächelte ermutigend. „Zum Glück habe ich etwas Geld beiseitegelegt, sodass du eine Saison in der Stadt haben kannst. Du bist ein reizendes Mädchen, Charlotte. Ich bin davon überzeugt, dass mehr als nur ein Gentleman um deine Hand anhalten wird – und du kannst selbst eine Wahl treffen, vorausgesetzt, dass deine Entscheidung dazu dient, deiner Familie zu helfen.“
„Ja, ich verstehe“, sagte Charlotte wieder, und ihre Stimmung besserte sich ein wenig. Wenigstens wurde ihr noch ein bisschen Freiheit gewährt, ehe sie den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurde! „Nun, Mama, ich erkenne, dass mir wohl nichts anderes übrig bleibt, und ich verspreche, dass ich mein Bestes geben werde, um das Richtige für die Familie zu tun.“
„Hätte doch deine Tante nur nicht ihre besten Schmuckstücke verkauft und durch Nachbildungen ersetzt“, sinnierte ihre Mutter bekümmert. „Dein Onkel war so freundlich, sie dir zu hinterlassen, aber ich bin sicher, er hatte keine Ahnung davon, dass die besten Diamanten und Rubine, ganz zu schweigen von den Smaragden und Saphiren, sämtlich Fälschungen sind und dass nur ein paar armselige Kleinigkeiten geblieben sind, kaum mehr als ein paar Pfund wert …“
„Ich würde sie mit Vergnügen verkaufen, wenn das Papa hilft.“
„Unglücklicherweise betragen seine Schulden mindestens zwanzigtausend Pfund“, sagte ihre Mutter, und es lag ein verzweifelter Unterton in ihrer Stimme. „Selbst wenn du alles verkaufst, würdest du nicht mehr als ungefähr tausend aufbringen. Ich sehe keinen anderen Ausweg, meine Liebe – du musst ein Vermögen heiraten.“
Charlotte wandte sich ab und blickte aus dem Salonfenster hinaus auf die Gärten, die sich hinter dem Haus ihres Vaters erstreckten. Ihre Mama liebte ihr Zuhause, und es würde ihr das Herz brechen, es verlassen zu müssen – und Matt würde kaum eine Chance haben, eine vorteilhafte Ehe einzugehen, wenn sie ruiniert waren. Ihre Liebe zu ihrem Vater, ihrem Bruder und ihrer Mutter war zu stark, als dass Charlotte an Auflehnung denken konnte. Sie wusste, sie musste ihre Pflicht erfüllen. Sie konnte nur darauf hoffen, einen reichen Mann zu finden, der weder zu fett noch zu alt war, den sie respektieren konnte, selbst wenn sie ihn nicht liebte.
Seufzend drehte sie sich wieder ihrer Mutter zu und lächelte. „Ich werde mein Bestes tun, um dir und Papa zu gehorchen, aber ich kann nicht garantieren, dass sich jemand heftig genug in mich verlieben wird, um um meine Hand anzuhalten.“
„Es gibt Gentlemen, die in einer Ehe nicht nach Liebe suchen“, entgegnete ihre Mutter. „Sie wollen eine angenehme Verbindung mit einem Mädchen aus guter Familie, das ihnen Kinder schenkt – und, sobald das Erbe gesichert ist, ihr Vergnügen anderswo suchen. Wenn du deinem Ehemann mindestens einen Sohn geschenkt hast, besser noch zwei – es ist immer vorteilhaft, noch einen Ersatz zu haben, weißt du –, dann wird er es dir zweifellos überlassen, das zu tun, was du willst.“
„Verhalten sich alle Männer so, Mama?“, fragte Charlotte unschuldig. „Sind sie niemals treu? Ich dachte, vielleicht, wenn eine Frau ihren Ehemann liebt …“
„Vielleicht gibt es einige, die treu bleiben“, räumte ihre Mutter ein. „Ich hoffe wirklich, dass du so einen Mann findest – aber du solltest nicht darauf zählen, Charlotte. Am ehesten kannst du ein bequemes Haus erwarten und ein Leben, das du damit verbringst, dich an deinen Kindern zu erfreuen und deine Freundinnen zu empfangen.“
Charlotte nickte beklommen, wandte sich wieder ab und blickte aus dem Fenster. Ihr kam es so vor, als wären all ihre Träume von Liebe und Romanzen nichts weiter als dumme Kindereien gewesen.
„Nun, ich gehe davon aus, dass du vernünftig bist“, sagte ihre Mutter. „Ich bin ehrlich zu dir gewesen, Charlotte. Papa hat ein Haus am Berkeley Square gemietet. Es ist teuer, selbst für nur ein paar Wochen, mein Liebes, also musst du aus deinen Möglichkeiten das Beste machen – denn wenn es dir nicht gelingt …“ Lady Stevens erschauerte ein wenig. „Nun, wir werden über diese Möglichkeit lieber nicht nachdenken. Ich habe dich immer für ein bemerkenswertes Mädchen gehalten, und ich bin überzeugt, dass du uns nicht im Stich lassen wirst.“
Charlotte kreuzte hinter ihrem Rücken die Finger. Sie konnte nur beten, dass das Vertrauen ihrer Mutter in sie gerechtfertigt war. Irgendwie musste sie ihre Träume von einem großen dunklen Fremden, der sie auf den ersten Blick faszinierte und sich bis über beide Ohren in sie verliebte, vergessen und sich dazu entschließen, sich für jemanden zu entscheiden, mit dem sie ein angenehmes Leben führen konnte.
Nun, Sir, was können Sie zu Ihrer Verteidigung vorbringen?“ Der Marquess of Ellington runzelte die Stirn, sodass sich seine dichten grauen Augenbrauen in der Mitte berührten, ein Blick, so finster, dass er den meisten Männern Angst und Schrecken eingejagt hätte, doch sein Enkel lächelte nur. „Verdammt, Jack, kannst du niemals ernst sein? Das hier ist wichtig. Du weißt, dass du eines Tages in meine Fußstapfen treten musst, Junge. Du solltest allmählich daran denken, eine Familie zu gründen.“
„Natürlich, Sir.“ Captain Viscount Delsey lächelte den Älteren strahlend an. Er war ein gut aussehender Mann, hochgewachsen, mit breiten Schultern und langen Beinen, dunklem Haar und dunkelgrauen Augen, und er war mehr oder weniger seinen eigenen Weg gegangen, seit sein Vater gestorben war. Damals war er erst siebzehn Jahre alt gewesen und in der Obhut seiner Mutter, Lady Daisy, und seines Großvaters geblieben. „Ich bin bereit, Ihre Wünsche zu berücksichtigen, aber Sie wissen, wie ich über eine Ehe denke.“
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass eine Ehe eine Pflicht ist, die deine Vergnügungen nicht beeinträchtigen wird? Ein wohlerzogenes Mädchen aus guter Familie wird dir die Erben schenken, die du benötigst, ohne viel Aufhebens und ohne dass du dir über Liebe oder Treue Gedanken machen musst. Sie wird verstehen, dass ein Mann sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, und sich ganz ihren Kindern und ihrem Heim widmen.“
„Wie schrecklich für die fragliche junge Dame“, murmelte Jack leise, aber das Gehör seines Großvaters war noch immer sehr gut.
„Eine Dame versteht solche Dinge“, meinte der Marquess. „Wenn du so genau weißt, wie es sein sollte, dann musst du eine junge Dame finden, die alle deine Bedürfnisse erfüllt.“
„Ja, aber wo soll ich so eine Frau finden?“, meinte Jack scherzhaft. „Wo ist die Schöne, die das Herz eines Mannes zähmen und für sich gewinnen kann? Ich werde dir etwas versprechen, Großvater. Wenn ich jemals solch einer jungen Dame über den Weg laufen sollte, dann werde ich sie heiraten, egal, woher sie kommt, und dann werde ich mich niederlassen und der Familienmensch werden, der ich deiner Meinung nach sein sollte.“
Der Marquess seufzte und schüttelte den Kopf. Ein Runzeln zierte seine edle Stirn. „Du wirst noch mein Tod sein. Ich verbiete es dir, eine Frau von schlechtem Ruf in diese Familie zu bringen.“
„Wie kommst du darauf, dass ich so etwas tun würde?“ Jack setzte eine übertrieben missbilligende Miene auf. „Glaubst du, ich verbringe meine gesamte Zeit mit solchen Lastern?“
„Nach dem, was die Klatschmäuler so erzählen, hast du im vergangenen Jahr eine ganze Reihe von Tänzerinnen der Oper und vergleichbare Damen gehabt. Es ist an der Zeit für dich, an deine Familie zu denken – und an mich. Ich habe alles für dich getan, nach bestem Wissen und Gewissen – könntest du dann nicht wenigstens darüber nachdenken, dir eine Frau zu suchen?“
„Sie sollten nicht auf Mama hören, Sir“, sagte Jack. „Sie ist zu oft mit Tante Seraphina zusammen, und die hat den Klatsch von meinem Cousin Reginald gehört. Und jetzt ehrlich – möchten Sie, dass ich so werde wir Ihr Neffe Reginald?“
„Nein, das möchte ich nicht. Der Mann ist ein Dummkopf.“ Jetzt platzte dem Marquess vor Wut der Kragen. „Jack, warum machst du dich über mich lustig? Du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte, mein Junge. Ich bin stolz auf dich – auf das, was du in der Armee erreicht hast, obwohl ich nicht wollte, dass du in den Krieg ziehst –, aber ich werde nicht ewig leben, und es würde mir viel bedeuten, deinen ersten Sohn zu sehen: meinen Erben. Möge der Himmel verhindern, dass Reginald einen Sohn bekommt, der das Anwesen erbt.“
„Ja, das wäre ganz furchtbar“, sagte Jack nachdenklich. „Die Vorstellung, Reginald könnte in deine Fußstapfen treten, gefällt mir nicht – obwohl ich sagen muss, dass ich nicht vorhabe, in den nächsten Jahren zu sterben.“
„Der Unfall deines Vaters kam plötzlich und unerwartet.“ In den Augen des alten Mannes erschien ein Ausdruck von tiefer, schmerzhafter Trauer.
Jack wurde sofort ernst. „Ja, Sir, verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie nicht aufregen.“
„Dann würdest du mir diese Freude bereiten?“
„Sie möchten, dass ich Mamas Cousin Lord Sopworth besuche und mir seine Tochter Celia ansehe?“ Jack furchte die Stirn, und in diesem Augenblick war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern unübersehbar. „Also gut, Sir. Ich werde Onkel Geralds Einladung annehmen, aber ich verspreche nichts. Ich wage zu behaupten, dass die junge Dame genauso ist, wie Sie es gesagt haben, aber eine Heirat ohne Liebe oder zumindest eine tiefe Zuneigung und Respekt führt nur ins Unglück. Sie müssen nur daran denken, wie es für meinen Vater und meine Mutter gewesen ist.“
„Das war Pech“, räumte sein Großvater ein. „Dein Vater war ein selbstsüchtiger Mann – diese Eigenschaft hat er von seiner Mutter geerbt – und ich fürchte, er hat deiner armen Mama Schmerz zugefügt. Ich schätze Lady Daisy sehr. Ich danke Gott dafür, dass du ihr liebenswürdiges Wesen geerbt hast, auch wenn du den Eigensinn von mir hast.“
„Ich werde meinem Onkel einen Besuch abstatten“, erklärte Jack. „Aber das heißt nicht, dass ich Celia einen Antrag machen werde, außer, ich entschließe mich dazu. Und jetzt, wenn es nichts sonst mehr gibt, werde ich nach Hause gehen und mich umziehen. Ich bin heute Abend mit ein paar Freunden verabredet.“
„Ich hatte gehofft, du würdest mit uns zu Abend essen.“
„Nicht heute, Sir. Vielleicht morgen, ehe Sie wieder aufs Land zurückkehren.“
„Also gut. Und wann wirst du nach Cambridgeshire aufbrechen?“
„Am Ende der Woche. Bis dahin habe ich noch Termine – und ich muss meinem Onkel etwas Zeit geben, sich vorzubereiten.“
„Dann sehen wir uns morgen, Jack.“
„Ich freue mich darauf.“
Nachdem er das Arbeitszimmer seines Großvaters verlassen hatte, ging Jack gemächlichen Schrittes durch das Haus, blieb in der weitläufigen Eingangshalle stehen, um zuerst ein paar Worte mit dem Kammerdiener des Marquess’ zu wechseln und dann mit Pearson, dem Butler, der in Ellington House gedient hatte, so lange Jack denken konnte. Die Dienstboten seines Großvaters hatten nicht gezögert, ihm zu erzählen, dass der Marquess kürzlich zweimal den Arzt hatte rufen lassen. Tatsächlich war das der Grund gewesen, warum der Großvater für ein paar Wochen hierher nach London gekommen war, obwohl er sein Haus tief im ländlichen Sussex dem lebhaften Treiben in der Stadt vorzog.
„Ich weiß, der Herr würde Ihnen niemals Kummer bereiten wollen“, sagte Pearson zu ihm. „Aber es geht ihm nicht so gut, wie es sollte, Captain Delsey, und das ist die Wahrheit.“
„Wissen Sie, welcher Art seine Probleme waren?“, fragte er den Kammerdiener.
„Es ist das Herz, Sir. Bisher noch nichts Ernstes, soweit ich es verstanden habe, aber ihm wurde gesagt, er sollte seinen Portwein und die Zigarren einschränken – und die Dinge etwas leichter nehmen.“
Jack dankte den beiden dafür, ihm das gesagt zu haben. Sein Großvater hatte nichts von einem Arztbesuch erwähnt, aber das erklärte, warum er, Jack, hierhergebeten worden war und sich einmal mehr einen Vortrag über die Ehe hatte anhören müssen. In jedem Fall hatten der Kammerdiener und der Butler ihn mit ihren Geschichten beunruhigt, denn Jack hatte seinen Großvater wirklich gern und wollte ihm ungern Sorgen bereiten.
Der Marquess hatte sich nie mehr als notwendig in Jacks Leben eingemischt. Als er das College verlassen hatte, hatte Ellington ihn in die Gesellschaft eingeführt, hatte ihn in seine Klubs mitgenommen und ihm den Namen seines Schneiders genannt. Danach hatte er ihn mehr oder weniger sich selbst überlassen und ihn nur dazu angehalten, gründlich darüber nachzudenken, als er es in Erwägung gezogen hatte, in die Armee einzutreten. Zu jener Zeit hatte ein Krieg gedroht, und Jack hatte ein paar Jahre im Ausland verbracht, wo er unter Wellingtons Befehl gekämpft hatte. Die Freunde, die er dort gefunden hatte, bildeten jetzt seinen engsten Kreis, dazu gehörten sechs Gentlemen, die ihm so nahestanden wie Brüder, obwohl er zahllose Bekannte hatte, denn er war sehr beliebt – sowohl bei den Herren als auch bei den Damen, wodurch das Gerede über seine Affären entstanden war.
Der Viscount war eine gute Partie, und mehr als eine hübsche junge Dame hatte versucht, ihn für sich zu gewinnen, doch obwohl er sich mit Vergnügen auf einen Tanz oder einen kleinen Flirt mit ihnen einzulassen bereit war, konnte niemand behaupten, dass er auch nur einer einzigen Anlass zur Hoffnung gegeben hatte. Er verbrachte mehr Zeit damit, mit den Matronen zu flirten als mit deren Töchtern, und mehr als eine von ihnen dachte an Jack Delsey, wenn sie neben ihrem schnarchenden Ehemann wachte, und wünschte, dass der junge Viscount neben ihr im Bett liegen würde anstelle ihres Ehemannes.
Seit mehr als einem Jahr war Jack nun aus dem Krieg zurück und vertrieb sich die Zeit genauso wie jeder andere reiche junge Mann, der auf sich hielt. Er besuchte seine Klubs, wettete bei Tattersalls oder Newmarket und war stolz auf seine Pferde. Seine Pistolen stammten von Manton’s, seine Röcke waren von Scott oder Weston geschneidert, und seine Stiefel glänzen wie Seide. Jacks Halstücher waren stets frisch gestärkt, aber er trug sie nur schlicht gebunden und nicht so kompliziert gefältelt und mit Rüschen besetzt wie ein Dandy. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er seine Pferde trainierte oder mit Freunden focht oder unter den Augen von Gentleman George ein paar Schläge austeilte, einem Boxer, dessen Trainingsraum er dann und wann aufsuchte, um in Form zu bleiben. Er war ein Vorbild für die meisten jungen Leute. Es wäre nicht fair gewesen, ihn einen Schürzenjäger zu nennen, obwohl er diesen Ruf bis zu einem gewissen Grad verdiente, wenn man bedachte, welches Herzklopfen ein einziger Blick aus diesen betörenden Augen bei so vielen weiblichen Wesen verursachte. Ohne dass er das beabsichtigte, hatte sein leichtlebiges Auftreten mehr als eine Dame einer Ohnmacht nahe gebracht, und er hatte mehr als ein verwundetes Herz hinterlassen, wenn seine beiläufigen Flirts zu weiter nichts führten.
Sein Großvater allerdings hatte die Anzahl der Geliebten übertrieben, die Jack während der vergangenen Jahre gehabt hatte. Während seiner Jahre bei der Armee hatte er Gefallen an einigen schönen Spanierinnen gefunden. Genau wie seine Freunde hatte er sich amüsiert, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, wohl wissend, dass jeder Tag der letzte sein konnte, aber die Damen waren Mädchen von schlechtem Ruf gewesen, und keine von ihnen hatte je sein Herz berührt.
Seither hatte er mit drei Frauen intime Beziehungen unterhalten. Eine von ihnen war verheiratet mit einem Mann, der dreißig Jahre älter war als sie und sich mehr für seinen Portwein als für seine Frau interessierte, die anderen beiden waren Tänzerinnen an der Oper gewesen. Jacks gegenwärtige Gespielin war sehr schön, aber auch sehr gierig und, wie er vermutete, ihm nicht treu. Er ging davon aus, dass sie andere Liebhaber hatte, trotz ihrer Vereinbarung, und er spielte mit dem Gedanken, Lucy zu sagen, dass es vorbei war, ehe er aufs Land fuhr.
Jack vermutete, dass er wohl ernsthaft über eine Heirat nachdenken musste. Er war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt und nun seit zehn Jahren sein eigener Herr, und auch wenn sein Vermögen vier Jahre lang von einem Treuhänder verwaltet worden war, waren seine Zuwendungen so großzügig bemessen gewesen, dass nie die Gefahr bestanden hatte, er könnte sich verschulden. Seitdem er Zugriff auf sein Vermögen hatte, hatte er verschiedene Verbesserungen auf seinem Anwesen durchgeführt und klug investiert. Sein Vermögen war groß genug, um damit eine Familie zu ernähren, ohne dass er seinen Lebensstil aufgeben müsste, außer im ganz persönlichen Ablauf des Alltags. Es gab sogar Neider, die darüber klagten, dass er über weitaus mehr Geld verfügte, als gut für ihn war.
Das Problem bestand darin, dass er sein Leben genoss und keinen Grund sah, etwas daran zu ändern. Als unverheirateter Mann musste er nicht viele Gedanken an die Gefühle anderer verschwenden. Der obligatorische Besuch bei seiner Mama und seinem Großvater auf dem Land alle paar Wochen bedeutete für ihn keinen großen Aufwand, und es stand ihm frei, einen Freund zu besuchen, nach Newmarket oder Bath zu reisen oder ganz spontan etwas völlig anderes zu tun. Manch einer würde sagen, dass eine Ehe nicht notwendigerweise sein ganzes Leben auf den Kopf stellen musste, aber Jack konnte sich noch daran erinnern, wie seine Mama in Tränen aufgelöst war, wenn sie mit ihrem kleinen Sohn allein auf dem Land zurückgelassen worden war, während ihr Ehemann sich in der Stadt amüsierte. Er vermutete, dass seine Abneigung gegen eine Heirat mit den Jahren in ihm gewachsen war, angestoßen von einem Vorfall, der sich ereignet hatte, als er siebzehn gewesen war, und bisher hatte er noch keine Frau getroffen, die schön oder großzügig genug gewesen wäre, um ihn diese Ablehnung überwinden zu lassen.
Sein Vater war tatsächlich sehr selbstsüchtig gewesen. Jack fragte sich, ob er diese Eigenschaft wohl geerbt hatte, denn er war geneigt, abzureisen, ohne seine Familie darüber zu informieren, dass er für ein paar Tage nicht in der Stadt und damit unerreichbar sein würde. Er wusste, dass seine Mama sich zuweilen um ihn sorgte, obwohl der Marquess ihr sagte, sie sei eine Glucke, und vielleicht war sie das auch. Es wäre leichter gewesen, wenn Jack nicht ihr einziges Kind gewesen wäre, aber aus irgendeinem Grund hatte es in dieser unglücklichen Ehe keine weiteren Kinder gegeben.
Jack seufzte und schob seine sorgenvollen Gedanken zur Seite. Er war für den Abend mit ein paar Freunden verabredet, und es hatte keinen Sinn, über ein Problem nachzudenken, von dem er nicht sicher war, ob er es lösen konnte.
Eine Ehe mit einer Frau, die er nicht mochte oder bewunderte, wäre für ihn schlimmer, als lebendig begraben zu sein. Vielleicht war es nicht unbedingt nötig, sich zu verlieben, aber er hatte bisher noch nie eine junge Dame getroffen, die in ihm den Wunsch geweckt hatte, sie jeden Tag zu treffen, geschweige denn, sie zu beschützen und sie für den Rest seines Lebens zu verwöhnen.
„Hast du die neue Erbin gesehen?“, fragte Lieutenant Peter Phipps Jack, als sie sich im Klub trafen, wo sie mit dreien ihrer Freunde zum Abendessen verabredet waren. „Cynthia Langton hat alles – Schönheit, Geist und Geld.“
„Wirklich? Eine wahrhaftige Göttin“, meinte Jack und zog spöttisch eine Braue hoch. „Willst du bei ihr dein Glück versuchen, Phipps, alter Junge? Bist du schon wieder am Ende?“
Phipps schüttelte den Kopf, und ein etwas schiefes Grinsen spielte um seine Mundwinkel. „Noch nicht, Jack. Ich hatte letzten Monat eine Glückssträhne, und es gelingt mir gerade noch, den Kopf über Wasser zu halten. Nicht dass sie mich auch nur eines Blickes würdigen würde, selbst wenn ich in dieser Richtung Ambitionen hätte. Sie mag schön und reich sein, aber sie ist wie ein Eisberg – so stolz und kühl. Ich denke, sie hat es mindestens auf einen Marquess oder Earl abgesehen …“
„Dann ist sie ein bisschen außerhalb deiner Reichweite – und meiner auch“, meinte Jack. „Keine Sorge, es gibt immer noch das hässliche Entlein. Wenn du wirklich in Schwierigkeiten gerätst, würde sie dich im Nu herausfischen.“
„Das ist grausam und passt nicht zu dir“, sagte Phipps. „Ich mag Miss Amanda ganz gern, sie hat ein gutes Herz, selbst wenn sie ein wenig unansehnlich ist.“
„Nun, dann ist dein Problem ja gelöst“, stellte Jack boshaft fest. „Du musst nur mit dem Finger schnipsen, dann sinkt sie dir in die Arme – wenn du stark genug bist, um sie aufzufangen.“
„Wirklich, Jack, das ist ein wenig hart“, meinte sein Freund und runzelte die Stirn. „Sie kann nichts dafür, dass sie klein ist, und sie mag Süßigkeiten – was ich auch tue, aber ich scheine dadurch nicht an Gewicht zuzulegen.“
„Du bist von Natur aus ein schlaksiger Typ. Du solltest sie heiraten, denn du bist nur Haut und Knochen, während sie ein köstlicher Armvoll weicher Rundungen ist – ach, ich mache nur Scherze“, fügte Jack hinzu, als er sah, dass Phipps sich zu ärgern begann. „Ich denke, Amanda Hamilton ist eine nette junge Frau und wird zweifellos eine liebende Ehefrau sein. Genau die Art von junger Dame, von der mein Großvater meint, sie würde zu mir passen, wenn ich seine Andeutungen heute Nachmittag richtig verstanden habe.“
„Deswegen bist du also heute Abend so schlechter Laune.“ Phipps lächelte und schlug ihm auf die Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst, alter Junge. Pater hat mir einen Vortrag gehalten, als ich kürzlich auf seinem Anwesen war – er hat mir gesagt, dass er mich das letzte Mal aus Schwierigkeiten herausgeholt hat und dass ich mich darum kümmern soll, eine Frau zu finden.“
„Die Pflicht ruft nach uns beiden, wie es scheint, aber davon lassen wir uns nicht den Abend verderben. Hier kommen die anderen.“
Jack drehte sich um und begrüßte die drei anderen jungen Männer mit einem Lächeln und einem Händedruck. Alle fünf hatten zusammen unter Wellington gedient, und obwohl zwei von ihnen sich kürzlich verlobt hatten, waren sie alle noch unverheiratet und konnten eine Nacht im Klub mit Trinken und Kartenspiel genießen.
„Wie geht es dir, Jack?“, fragte Malcolm Seers und schüttelte Jack mit festem Griff die Hand. „Dies ist mein letzter Abend in der Stadt, ehe ich aufs Land fahre. Bitte gratuliere mir, ich habe mich gerade mit Miss Willow verlobt.“
„Jane Willow?“, fragte Jack und grinste, diesmal nur mit einer Spur von Spott, denn Miss Willow war eine der wenigen Damen in der Gesellschaft, die er wirklich mochte. „Sie hat deinen Antrag also endlich angenommen? Ich dachte, es würde noch lange …“
„Sie konnte sich nicht entscheiden, aber am Ende habe ich sie überzeugt.“ Malcolm schien sehr mit sich zufrieden zu sein. „Ich bin der glücklichste Mann der Welt.“
„Dann gratuliere ich dir. Ich werde dich vermissen, wenn du hinter den Schleiern des Ehestandes verschwindest, aber ich freue mich für dich.“
„Oh, Jane möchte so viel Zeit wie möglich in der Stadt verbringen, und sie mag dich, Jack. Wir erwarten, dass du uns so oft wie möglich besuchst, wenn du auf dem Land bist.“
Jack murmelte etwas Höfliches, aber er wusste, es würde nicht dasselbe sein, wenn sein Freund erst verheiratet war. Malcolm war ein ernsthafter Mann, und er war ein getreuer Soldat gewesen – und er würde seiner Frau und seiner Familie gegenüber ebenso hingebungsvoll sein. Sie würden noch immer Freunde bleiben, aber alles wäre anders …
Jack fühlte sich gehetzt, als würde er in eine Richtung gedrängt, die er nicht einschlagen wollte. Sein Großvater nötigte ihn zu einer Ehe, und seine Freunde erlagen einer nach dem anderen dieser Verlockung – wie lange würde Jack sich da widersetzen können?
Es war kaum drei Uhr in der Frühe, als sich die Freunde im Klub voneinander trennten, drei von ihnen gingen nach Hause, sodass nur noch Jack und Phipps übrig blieben, die überlegten, was sie als Nächstes unternehmen sollten.
„Die Nacht ist noch jung“, meinte Jack. „Wir sollten einen Spielsaal finden und uns für eine Stunde oder so dort beschäftigen.“
„Nicht für mich, alter Junge.“ Phipps schüttelte den Kopf. „Ich habe dem Spiel für mindestens einen Monat abgeschworen, sonst bekomme ich Schwierigkeiten mit meinem Vater. Ich komme mit dir auf einen Drink nach Hause, wenn du das willst, ansonsten würde ich eine Droschke rufen und heimfahren.“
„Ich denke, ich werde Lucy einen Besuch abstatten“, beschloss Jack und lachte. „Werde ich dich morgen bei Markham’s treffen?“
„Ja, gewiss.“ Der Freund nickte. „Dort wirst du mit Sicherheit auch Miss Langton treffen.“
„Oh, die überlasse ich dir, mein Freund“, sagte Jack und versetzte ihm einen freundschaftlichen Boxhieb gegen den Arm.
Sie verabschiedeten sich in heiterer Eintracht voneinander, und Jack schlenderte die Straße hinunter, als gäbe es für ihn überhaupt keine Sorgen, während Phipps einen Wagen rief, der ihn nach Hause fahren sollte. Ein Lächeln umspielte Jacks Lippen, denn wenn er sich nicht irrte, hatte Phipps ein wenig zu viel getrunken, während er selbst gerade so viel getrunken hatte, um sich im Frieden mit der Welt zu fühlen. Ein Besuch bei seiner Geliebten würde den Abend nett abrunden und ihn daran hindern, in die melancholische Stimmung zu verfallen, die ein ernsthaftes Nachdenken über eine Heirat vermutlich mit sich gebracht hätte.
Er war vielleicht fünf Minuten lang gegangen, als er Schreie hörte. Jemand – ein Mädchen, wie er meinte – rief um Hilfe. Der Beschützer in Jack war sofort alarmiert, und er versuchte herauszufinden, woher die Schreie kamen. Der Ort schien der Park auf der anderen Straßenseite zu sein. Während er noch zögerte, sah er eine kleine Gestalt eilig aus der Richtung kommen, gefolgt von zwei augenscheinlich betrunkenen Männern, die mit etwas unsicheren Schritten der jungen Frau hinterherhasteten.
„Die Meute zu mir!“, rief einer von ihnen und stieß einen Laut aus, der ein Jagdschrei sein sollte. „Wir müssen die kleine Füchsin noch fangen!“
Der zweite Kerl rannte seinem Kameraden ein wenig unbeholfen nach, als die zierliche Gestalt über die Straße lief. Jack bewegte sich so schnell wie der Blitz, packte die zarte Person, wobei er bemerkte, dass er es offenbar mit einem jungen Mann mit feinen, beinahe femininen Zügen zu tun hatte, ehe er ihn hinter sich gegen die Wand stieß und sich den Gentlemen zuwandte, die ihn verfolgten.
„Das ist der richtige Geist, alter Junge!“, rief der eine aufgeräumt. „Gib uns das Mädchen, und wir bringen zu Ende, was wir mit ihr zu schaffen haben.“
„Und das wäre was?“, fragte Jack freundlich, aber kühl. „Ich glaube, Ihnen geht es nicht so gut, Sir. Ich würde Ihnen empfehlen, doch bitte das Bett aufzusuchen.“
„Verdammt, Sir! Was geht es Sie an, was ich tue? Gehen Sie bitte zur Seite und lassen Sie uns …“
„Ich habe Sie freundlich gebeten, sich von hier zu entfernen.“ Jacks Stimme enthielt nun einen eiskalten Unterton. „Jetzt verlange ich es. Gehen Sie dorthin, wo Sie herkommen, ehe ich Ihnen Manieren beibringe.“
„Sie wollen das Mädchen wohl für sich haben, was?“, meinte der andere. „Ihnen werde ich es zeigen!“ Er holte gegen Jack aus und stellte fest, dass er schon einen Schlag erhalten hatte. Er fiel zu Boden und stöhnte. „Sie ist eine Dirne und eine Diebin“, murmelte er.
„Komm schon, Patterson.“ Sein Freund, in kaum besserer Verfassung, bückte sich, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. „Du weißt nicht, ob sie eine Diebin ist, obwohl wir gesehen haben, wie sie aus dem Fenster stieg.“
Patterson murmelte etwas Unfreundliches, aber er nahm die Hilfe seines Freundes an. Jack bedachte ihn mit einem finsteren Blick, dann umklammerte Patterson den Arm seines Freundes und schwankte davon.
„Weg mit ihr!“, lallte er dann, lachte und zeigte mit dem Finger auf die kleine Gestalt. „Da läuft sie! Sie ist uns allen entkommen!“
Jack warf einen Blick über seine Schulter und sah die zierliche Person um eine Ecke verschwinden. Er bedauerte das sehr, denn er hätte gern gewusst, ob es sich bei dem jungen Menschen um einen Jungen handelte oder tatsächlich um ein verkleidetes Mädchen, wie es die betrunkenen Männer gesehen zu haben glaubten. Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt nachzusehen, ob sie – oder er – vielleicht verletzt war, aber wenigstens hatte er schlimmeren Schaden verhindert.
Er blieb stehen und sah zu, wie die beiden Männer davongingen, in die Richtung, die jener entgegengesetzt war, die der Flüchtige eingeschlagen hatte. Erst als Jack sicher war, dass der junge Mensch außer Sichtweite sein musste, setzte er seinen Weg fort. Vage stellte er fest, dass die Knöchel seiner rechten Hand schmerzten, aber er schob dieses Gefühl beiseite als eine Folge, die er in Kauf nehmen musste für sein Einmischen in eine Angelegenheit, die für den jungen Menschen möglicherweise ein böses Ende gezeitigt hätte.
Jacks Stimmung hatte sich verändert. Er war belustigt von dem, was er von dem Flüchtling gesehen hatte, als er im Schein der Straßenlaterne einen Blick auf das Elfengesicht erhascht hatte. Wenn er den beiden Betrunkenen glauben durfte, war der junge Mensch ein Mädchen, eine Diebin und eine Dirne – aber die Kleider, die der Flüchtling getragen hatte, waren von guter Qualität gewesen, der Besitz eines jungen Gentleman von vielleicht dreizehn Jahren. Dabei stellte Jack sich nicht gerade einen Dieb oder eine Dirne vor, sondern mehr einen unschuldigen Menschen wie einen sehr jungen Gentleman, der von zu Hause fortgelaufen war. Außer, es war tatsächlich ein Mädchen in geborgter Kleidung – ein Gedanke, der ihn faszinierte.
Jack stand nun vor dem kleinen, aber eleganten Haus, das er für seine Mätresse gekauft hatte. Die Fenster waren dunkel, wie er es hätte vermuten können, wenn er über die Uhrzeit nachgedacht hätte. Er erwog, vielleicht über das Tor zu steigen und um das Haus herum zum Hintereingang zu gehen. Von dort aus könnte er Steinchen gegen das Fenster werfen, sodass Lucy nach unten kommen und ihn einlassen konnte, ohne die Dienstboten zu wecken.
Ganz plötzlich bemerkte er, dass er gar nicht mehr den Wunsch verspürte, seine Geliebte zu sehen. Er lachte etwas freudlos und wandte sich ab, als in genau jenem Moment Licht im oberen Treppenhaus anging. Jack zögerte und überlegte noch immer, ob er Lucy nur für einen Drink oder ein wenig Geplauder aufsuchen sollte, als die Tür aufging und ein Gentleman herauskam.
Er erkannte in dem Mann Lord Harding – einen Menschen, den er besonders verabscheute, da er ein Spieler war und, wenn Jack sich nicht täuschte, überdies ein Falschspieler. Er gehörte zu der Sorte Mann, der sich an die Fersen von jungen Männern heftete, die neu in der Stadt waren, und sie in üble Spelunken brachte und zu allen anderen Arten sündhafter Aktivitäten verführte.
Es konnte nur einen Grund geben, aus dem Harding Lucys Haus um diese Nachtstunde verließ, und bei dieser Erkenntnis wurde Jack übel. Jedes Verlangen, seine Mätresse zu treffen, löste sich in Luft auf. Er würde diese Affäre am nächsten Tag beenden, indem er ihr ein Abschiedsgeschenk schickte und einen Brief, der ihr deutlich zeigte, wie verachtenswert er ihr Verhalten fand. Er verspürte keinerlei Wunsch, nach Harding in ihr Bett zu steigen!
Bei fast jedem anderen Gentleman hätte Jack diese Entdeckung mit einem Lachen abgetan, denn er hatte geahnt, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die treu war – aber Harding war jemand, den er wirklich nicht mochte.
Jack ging die ganze Straße entlang, ehe er eine Droschke herbeiwinkte, die ihn nach Hause bringen sollte. Er verspürte einen bitteren Nachgeschmack im Mund und war wütend, dass er sich so lange an der Nase hatte herumführen lassen. Nun, wenn er sich das nächste Mal eine Mätresse nahm, dann würde er darauf achten, dass sie wenigstens ehrlich genug war, um nur einen Liebhaber zurzeit zu haben. Warum schienen so viele Frauen zu glauben, sie müssten lügen, um ihren Willen zu bekommen? Wenn es eine Sorte Menschen gab, die Jack nicht leiden konnte, dann waren es Lügner oder Betrüger.
Als er den schönen Platz erreicht hatte, an dem er wohnte, und gerade den Droschkenkutscher bezahlte, blickte er über die Gärten zu seiner Linken hinweg und bemerkte eine zierliche Gestalt, die über ein schmiedeeisernes Geländer kletterte und dann über die Stufen, die in die Dienstbotenquartiere führten, nach unten verschwand.
Jack zögerte, denn obwohl er mit Lord Bathurst, dem das Haus gehörte, befreundet war, wusste er, dass dieser das Haus kürzlich an eine Familie vermietet hatte, mit der er, Jack, noch nicht bekannt war. Um diese Morgenstunde wollte er dort nicht an die Tür klopfen und ihnen sagen, dass sie womöglich einen Eindringling im Haus hatten – vor allem nicht, weil er nicht sicher sein konnte, dass es sich bei dem Jungen, den er vorher gesehen hatte, und der Gestalt, die jetzt über das Gitter geklettert war, um ein und dieselbe Person handelte.
Tatsächlich war er sich über gar nichts sicher. Doch er konnte nicht zulassen, dass ein Nachbar möglicherweise bestohlen wurde – falls das Mädchen eine Diebin war und falls es überhaupt ein Mädchen war …
Jack fluchte und eilte nun quer über den Platz, rüttelte am Gitter, das verschlossen war, was er hätte wissen können. Mühelos stieg er darüber, wobei er ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl sein Eindringen ganz unschuldig war. Er blickte die schmale Steintreppe hinunter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Schein einer Kerze durch den Türspalt fiel, als der Flüchtige das Gebäude betrat.
Die Tür wurde geschlossen, ehe er danach greifen konnte, aber er sah noch einen größeren jungen Mann, der herangekommen war und in alle Richtungen blickte, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie beobachtet hatte.
Jack blieb unsicher stehen. Der größere junge Mann war ebenfalls wie ein Gentleman gekleidet. Wer immer er sein mochte, Jack hatte nicht den Eindruck, dass er mit dem Flüchtling im Bunde war, um eine ahnungslose Familie zu berauben. Nein, sein erster Eindruck schien zu stimmen und der schmächtige Junge beging nur einen Streich, mit der Hilfe und unter dem Schutz, wie es aussah, eines älteren Bruders.
Jack lachte leise vor sich hin, als er wieder über das Gitter stieg und nun auf dem Bürgersteig stand, wo er sich umsah, ehe er den Platz überquerte und an seiner eigenen Vordertür klopfte. Sein Kammerdiener war beinahe sofort zur Stelle, und Jack nickte ihm zu, als er eingelassen wurde.
„Hatten Sie einen angenehmen Abend, Sir?“
„Ja, ich glaube schon“, erwiderte Jack. „Gehen Sie jetzt zu Bett, Cummings. Ich werde heute allein zurechtkommen.“
„Ich schließe nur noch ab, Mylord“, erwiderte sein Kammerdiener würdevoll. „Mr. Jenkins hat sich gerade erst zurückgezogen. Ich habe es heute übernommen, wach zu bleiben, und ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich Ihnen nicht zur Hand gehe, Sir.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Erde aufhören wird, sich zu drehen, wenn ich mir meine Stiefel ausnahmsweise allein ausziehe, Cummings.“
Jack schlenderte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, tief in Gedanken versunken, die ihm durchaus gefielen. Wer war nur der junge Mensch, der sich an diesem Abend so in Schwierigkeiten gebracht hatte?
Nun, er hatte die Gelegenheit versäumt, die Bekanntschaft seiner neuen Nachbarn zu machen, daher würde er sich das Vergnügen bereiten, dies später am Tag nachzuholen.
Charlie!“, rief Mr. Matthew Stevens, packte seine Schwester an der Schulter und schüttelte sie ganz leicht. „Gott sei es gedankt, du bist zurück. Du warst so lange fort, dass ich schon Angst hatte, du wärest erwischt worden.“
„Ach, hör auf, so ein Theater zu machen, Matt.“ Charlotte lächelte ihren Bruder übermütig an, und ihre Grübchen wurden sichtbar. „Ich habe dir gesagt, dass ich das kann. Es war einfach, an der Pergola bis zu seinem Schlafzimmer hinaufzuklettern. Er hat das Fenster offen gelassen, und wir wussten, dass er das immer so macht, und das dumme Ding lag auf seinem Frisiertisch. Ich habe es mir geschnappt und bin wieder nach unten geklettert, das hat nur ein paar Minuten gedauert. Er wird nie darauf kommen, dass ich das war – niemand kann das wissen. Ich muss nur darauf achten, das Halsband niemals in der Stadt zu tragen, denn wenn er es sieht, erkennt er es vielleicht.“
„Ich war die ganze Zeit über krank vor Sorge. Du warst so lange weg. Wenn es so einfach war, warum hat es dann so lange gedauert?“
„Das Halsband zu bekommen, war einfach“, sagte Charlotte und biss sich auf die Unterlippe. „Erst als ich aus dem Fenster stieg und dann über das Gitter auf die Straße, bekam ich ein paar Schwierigkeiten …“
„Was ist passiert? Verdammt, Charlie. Mutter wird mich umbringen, wenn ich deine Chancen verdorben habe. Ich hätte mich nie von dir dazu überreden lassen dürfen, so etwas Gefährliches zuzulassen.“
„Das hast du nicht, du hast nur dagestanden und mir einen Vortrag über meine Moral gehalten – was mehr als dreist war in Anbetracht der Tatsache, dass du derjenige warst, der das verdammte Ding gestohlen hat.“
„Ich wollte es dir nicht stehlen, Charlie“, sagte Matt, hin und her gerissen zwischen Reue und Zurechtweisung. „Er ist nur so ein brutaler Kerl – ehrlich gesagt, ich habe Angst vor ihm. Er hat gesagt, wenn ich die Spielschulden nicht zurückzahle, dann würde er es Vater sagen, und das musste ich verhindern.“
„Nein, das wäre schrecklich“, sagte seine liebevolle Schwester und lächelte als Zeichen dafür, dass sie ihm verzieh. „Das verdammte Halsband ist mir egal, aber wenn du mich gefragt hättest, hätte ich dir von meiner Mitgift gegeben, was davon übrig ist, und ich hätte dir sagen können, dass die Diamanten darin nicht echt sind.“
„Woher hätte ich das wissen sollen? Sie sehen ziemlich gut aus, Charlie. Ich dachte, sie wären echt.“
„Onkel Ben hat mir all den Schmuck seiner Frau im besten Glauben hinterlassen. Ich bin sicher, er wusste nicht, dass Tante Isobel das meiste durch Fälschungen ersetzt hat.“
„Warum glaubst du, dass sie das getan hat?“, fragte Matt verwirrt. „Ihre Apanage war doch sicher so groß, dass sie nicht darauf angewiesen war, die Familienerbstücke zu verscherbeln.“
„Ich denke, dass sie heimlich gespielt hat“, sagte Charlotte und runzelte die glatte Stirn. Sie seufzte und schüttelte ihr langes dunkles Haar aus, das sie unter eine der alten Schulmützen ihres Bruders gesteckt hatte, der sie zuvor die Nadel abgenommen hatte. Sie saßen in ihrem privaten Wohnzimmer, das zu ihrem Schlafzimmer führte, und sie war müde. Der Schreck darüber, dass sie um ein Haar grob misshandelt worden wäre, holte sie jetzt ein, da sie sicher zu Hause angekommen war. „Mama hat so etwas gesagt, als wir den Schmuck schätzen ließen und erfuhren, dass einiges davon gefälscht war.“
„Ich fühle mich jetzt schlecht, weil ich Onkel Bens Geld bekommen habe. Er hätte sicher einiges davon dir hinterlassen, hätte er das mit dem Schmuck gewusst.“
„Dieses Geld ist dafür bestimmt, dir einen Platz in der Armee zu erkaufen und es dir zu ermöglichen, das Leben eines Gentleman zu führen. Außerdem wirst du erst nächstes Jahr Zugriff darauf haben, und so viel ist es schließlich auch nicht.“
„Nein.“ Er machte eine bedauernde Miene. „Harding glaubte, ich sei der Erbe eines großen Vermögens, deswegen hatte er es auf mich abgesehen – aber zehntausend und ein kleiner Landsitz sind kaum ein großes Vermögen, Charlie, und ich kann noch für eine ganze Weile keinen Penny davon anrühren. Hätte ich eigenes Geld, hätte ich nicht dein Halsband genommen. Ich wollte es dir zurückzahlen, sobald ich es mir hätte leisten können, und ich wusste, dass es dir ohnehin nicht gefällt.“
„Es ist altmodisch“, gab Charlotte zurück. „Wäre es echt gewesen, hätte ich es wohl für mich umarbeiten lassen, aber Mama sagte, das ist es nicht wert. Sie sagte, ich kann ihre Diamanten tragen, wenn es einen Anlass dafür gibt.“
„Warum hast du dann all den Ärger auf dich genommen, um es zurückzubekommen?“
„Wenn Lord Harding bemerkt hätte, dass du ihm ein falsches Halsband gegeben hast, um deine Schulden bei ihm zu begleichen, dann hätte er dich einen Dieb und Betrüger genannt – kannst du dir vorstellen, was das für ein Gerede gegeben hätte? Ich hätte keine Chance mehr gehabt, eine vorteilhafte Ehe einzugehen, und du könntest zu keinem ordentlichen Regiment mehr gehen.“
„Ja …“ Matt sah bedrückt aus. „Ich bin so ein verdammter Narr gewesen, Charlie. Wärest du nicht gewesen …“
„Es ist vorbei und niemand muss je etwas davon erfahren“, erklärte Charlotte. Sie dachte an den Mann, der nach ihr gegriffen hatte, als sie durch den Park gelaufen war. Seine Hände hatten ihr Geheimnis sofort ertastet, und die Vorstellung, dass er ihre Brüste berührt hatte, verursachte ihr Übelkeit, aber es war dunkel gewesen im Park, und sie war recht sicher, dass er sie nicht erkennen würde, wenn sie einander in Gesellschaft begegneten. Er und sein Freund waren betrunken gewesen – aber mit dem Mann, der sie gerettet hatte, war es anders gewesen. Charlotte kannte ihn vom Sehen, denn sie hatte früher am Abend beobachtet, wie er das Haus auf der anderen Seite des Platzes verlassen hatte, und ein paarmal war er an ihr vorbeigefahren, wenn sie nach Hause gekommen war, aber sie waren einander nie förmlich vorgestellt worden. Sie wusste, dass er die Gelegenheit gehabt hatte, im Schein der Straßenlaterne ihr Gesicht zu sehen – aber hatte er genug gesehen, um sie erkennen zu können, wenn sie wie eine elegante junge Dame gekleidet war? Sie konnte nur hoffen, dass er nicht gut genug darauf geachtet hatte.
„Ich werde dafür beten, dass niemand je herausfinden wird, was geschehen ist, um unserer beider Willen“, sagte Matt. „Wenn Harding ahnt, dass es meine Schwester war, die das Halsband genommen hat – dann würde er mich vermutlich umbringen. Ja, du hattest recht, Charlie. Er kann es nicht wissen. Niemand kann es wissen, wenn wir schweigen.“
„Ich werde es niemandem erzählen.“ Sie sah ihn herausfordernd an, die Augen groß und unschuldig, aber voller Übermut. „Es ist jetzt vorbei, Matt. Geh zu Bett und lass auch mich etwas schlafen. Morgen findet dieser große Ball statt, und ich möchte so gut aussehen wie möglich. Wenn ich keinen Ehemann finde, wird der arme Papa alles verlieren.“
„Warum musste er sein Geld auch so ungeschickt investieren?“, klagte Matt. „Wir waren glücklich genug mit dem, was wir hatten – aber er glaubte, dieses Unternehmen im Osten würde ihm ein Vermögen mit Seide und Gewürzen bringen, nur dass das Schiff gesunken ist, und mit ihm all seine Fracht.“
„Und er hatte nicht daran gedacht, eine Versicherung abzuschließen“, fügte Charlotte hinzu. „Dankenswerterweise hatte Mama etwas Geld beiseitegelegt für mein Debüt. Und wenn ich einen reichen Ehemann finde, dann wird er Papas Schulden bezahlen, und alles wird gut.“
„Was ist mit dir?“, fragte ihr Bruder und sah sie aus dunklen braunen Augen an, die ihren sehr ähnlich waren, nur dass ihre goldene Pünktchen hatten und seine nur dunkel waren. „Wird es dich glücklich machen, einen Mann nur wegen seines Geldes zu heiraten? Er könnte viele Jahre älter sein als du und ganz und gar nicht gut aussehen.“
„Bettler haben nicht immer eine Wahl“, meinte Charlotte und seufzte unwillkürlich, denn sie hatte einmal von einem großen dunkelhaarigen Prinzen geträumt, in den sie sich Hals über Kopf verlieben und der sie in sein Schloss bringen und mit Liebe und Geschenken überhäufen würde. „Ich werde das Beste hoffen. Und nicht alle reichen Männer sind alt und fett.“
„Nein, vermutlich gibt es auch ein paar junge Männer, die infrage kommen, wenn du einen finden kannst. Ein Mann wäre ein Narr, dich nicht zu heiraten, wenn er reich und alleinstehend ist.“
„Du bist mein Bruder und daher voreingenommen, was mich betrifft.“ Sie lachte und beugte sich dann vor, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, ehe sie ihn zur Tür schob. „Geh, ehe wir noch jemanden aufwecken, der dann nachsehen kommt, was hier los ist. Ich möchte diese Sachen ausziehen, ehe irgendjemand außer dir mich darin sehen kann.“
Sie verschloss die Tür hinter ihm, dann ging Charlotte in ihr Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel. Ein breites Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie feststellte, dass sie einen hübschen Jungen abgab. Niemand konnte sehen, dass sie ein Mädchen war, wenn er sie nicht zufällig an der falschen Stelle berührte, was einer dieser schrecklichen Männer getan hatte. Es schien ihnen egal gewesen zu sein, ob sie ein Junge oder ein Mädchen war, sie hatten auf jeden Fall im Sinn gehabt, sie sich im Park vorzunehmen. Und das wäre auch passiert, hätte sie nicht dem einen das Knie zwischen die Beine gerammt, sodass der vor Zorn und Schmerz aufgeschrien hatte und sie bis zum Tor gelangen konnte. Doch sie hätten sie vermutlich wieder erwischt, hätte es den Viscount nicht gegeben – Captain Jack Delsey.
Charlotte hatte den Namen des Gentleman, der sie gerettet hatte, beinahe vom ersten Augenblick an gekannt, als sie in dieses Haus gezogen waren. Ihre Mama hatte ihr eine Liste mit den Anwohnern des Platzes gegeben, sodass sie ihre Karte hinterlassen konnte, aber das war erst dann möglich, wenn die anderen sie besucht hatten, denn sie war der Neuankömmling. Papa konnte einen alleinstehenden Gentleman besuchen, wenn er das wünschte, und von diesen gab es hier in der Nähe im Augenblick zwei. Einer war ein Witwer mit drei Kindern bei einem seiner seltenen Besuche in der Stadt, wobei er die Kinder bei ihrer Großmutter mütterlicherseits auf dem Land zurückgelassen hatte, und der andere war der Viscount. Papa hatte bisher bei keinem von beiden vorgesprochen, der Witwer allerdings hatte seine Karte hinterlassen, und deswegen beabsichtigte Mama, ihn zu einem kleinen Kartenspiel einzuladen, das sie mit ihren Bekannten in der Stadt arrangiert hatte. Der Viscount war der Enkel des Marquess of Ellington und eine der besten Partien auf dem Heiratsmarkt. Ihre Mama hatte sie aber davor gewarnt, ihre Hoffnungen allzu hoch zu halten.
„Captain Viscount Delsey steht ein wenig zu weit über uns, Liebes“, hatte sie zu Charlotte gesagt, als sie ihn in einer modischen Kutsche hatten vorbeifahren sehen. „Soweit ich hörte, ist er sehr charmant, aber zurückhaltend. Einige der schönsten Mädchen haben ihre Netze nach ihm ausgeworfen, aber er beachtet keine von ihnen. Er ist ein Schürzenjäger, mein Liebes, und flirtet mit allen hübschen Mädchen, aber er bindet sich nicht – oder nur vorübergehend. Er würde dir nur das Herz brechen. Etwas anderes ist es mit Mr. Harold Cavendish. Er ist Anfang vierzig, sieht noch immer gut aus und ist reich – und Mrs. Featherstone sagte mir, er sucht nach einer Frau, die sich um seine armen mutterlosen Kinder kümmert.“
„Ein Witwer mit drei Kindern, Mama?“ Charlotte zog eine Grimasse. „Ich glaube, ich würde jemanden bevorzugen, der nicht schon einmal verheiratet war – so verzweifelt sind wir doch noch nicht, oder?“
„Nein, Liebes, natürlich nicht. Ich möchte dich nicht zu etwas drängen, das dich unglücklich macht. Wirklich, ich wünschte, dies hier wäre überhaupt nicht nötig – aber dein armer Vater ist mit seinem Latein am Ende, und wenn du nicht heiratest, um uns zu helfen …“
„Aber das werde ich, Mama“, versicherte Charlotte ihr schnell. „Bitte mach dir keine Sorgen. Es wird jemanden geben, der reich ist und mir gefällt. Ich verspreche dir, dass es am Ende gut ausgehen wird.“
„Mein armes liebes Kind“, sagte ihre Mutter. „Hätte deine Tante nicht ihren Schmuck verkauft, hätten wir dies hier vielleicht vermeiden können. Du hättest ihn verkaufen können, um einen Teil der Schulden deines Vaters zu bezahlen.“
„Das hätte ich mit Vergnügen getan“, hatte Charlotte erklärt. „Aber die Juwelen sind nicht viel wert. Ich muss eine vorteilhafte Ehe eingehen. Ich habe mich entschieden, das zu tun, und ich werde dich nicht im Stich lassen.“
Während sich Charlotte auszog und die Jungenkleidung ganz unten in eine ihrer Schubladen legte, erinnerte sie sich an die Ereignisse des Abends. Wäre sie gefangen und missbraucht worden – sie wagte nicht, daran zu denken! Hätte man herausgefunden, wer sie war, und so ihren Plan aufgedeckt, wäre sie ruiniert gewesen, und ihre Familie mit ihr. Es war kein Wunder, dass Matt solche Angst gehabt hatte. Er hatte sie angefleht, diese wahnsinnige Idee nicht in die Tat umzusetzen, aber sie hatte ihn überredet, wie sie es in der Vergangenheit immer getan hatte. Ihr Bruder mochte drei Jahre älter sein, aber sie hatte den stärkeren Willen. Sie hätte ein Junge werden sollen, denn es gab kaum etwas, das ihr Angst machte. Selbst dieser knappe Ausgang bereitete ihr wenig Kummer – nur die Angst, was alles hätte geschehen können.
Aber es war nicht geschehen, und sie wollte sich nicht über etwas sorgen, das hätte sein können. Sie hatte das falsche Halsband zurückgeholt. Lord Harding konnte sich nur selbst die Schuld geben, weil er das Halsband auf seinem Frisiertisch hatte liegen lassen, ehe er am Abend ausgegangen war. Außerdem verdiente er kein Mitleid. Matt war sicher, dass er betrogen worden war, und er war fest entschlossen, nie wieder mit diesem Mann Karten zu spielen.
Charlotte würde das alles einfach vergessen.
Charlottes Mutter hatte beschlossen, bei all ihren Bekannten in der Stadt Karten abzugeben, und sie wollte, dass Charlotte sie begleitete.
„Wir werden uns nirgends aufhalten, nur die Karten abgeben“, hatte ihre Mutter gesagt. „Auf dem Heimweg werden wir den Schneider besuchen und einige reizende Schals abholen, die ich bei Madame Rousseau bestellt habe.“
Der Plan ihrer Mutter allerdings ging nicht ganz so auf, wie sie es vorgehabt hatte, denn in dem ersten Haus, das sie aufsuchten, trafen sie Lady Rushmore, die Dame des Hauses, die gerade gehen wollte und sie bat, hereinzukommen und eine Erfrischung mit ihr einzunehmen.
„Es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind, und ich wollte dich heute Nachmittag besuchen“, sagte Lady Rushmore und bestand darauf, Kaffee und kleine Mandelkekse in den Salon bringen zu lassen.
Gleich darauf kamen Sohn und Tochter des Hauses dazu, beide hatten nachsehen wollen, warum ihre Mutter nicht, wie sie es vorgehabt hatte, Besorgungen machte. Miss Amelia war ein hübsches blondes Mädchen, das etwas lispelte und einen Schmollmund hatte. Das Haar hing ihr in Locken um das herzförmiges Gesicht. Ihr Bruder Robert war groß, gut gebaut und nach der neuesten Mode gekleidet. Sein Hemdkragen war so spitz, dass er kaum den Kopf drehen konnte. Er schien die meiste Zeit vor einer der goldgerahmten Spiegel zu verbringen, und wenn er sprach, dann von Pferden und seinem neuesten Phaeton.
Miss Amelia lachte viel und sprach endlos über ihre neuen Kleider, die sie für ihre Aussteuer kaufte. Sie hatte sich kürzlich verlobt und interessierte sich für kaum mehr als ihre Hochzeit und Kleider. Charlotte, die es gewohnt war, mit ihrem Bruder über Dichtung und Musik zu sprechen und zuzuhören, wenn ihr Vater auf unterhaltsame Weise von den Gentlemen erzählte, mit denen er in den Klubs diniert hatte, ertappte sich dabei, dass sie sich nach einer halben Stunde danach sehnte, nach Hause zu gehen.
Doch gerade, als sie meinte, sie könnten jetzt aufbrechen, wurde ein weiterer Besucher angekündigt – Sir Percival Redding. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, war Lady Rushmores Bruder und hatte eine rötliche Gesichtsfarbe. Sein dunkles Haar war gelockt in einer Weise, die zufällig wirken sollte, und seine Kleidung war ebenso elegant wie die seines Neffen, wenn auch etwas bequemer zu tragen wirkend, denn sein Hemdkragen war nicht übermäßig hoch, und seine Röcke waren so geschnitten, dass er sich ungehindert bewegen konnte. Jedoch hatte er ein angenehmes Wesen und unterhielt die Damen mit Geschichten aus der Gesellschaft.
Irgendwie gelang es ihm, Amelia von ihrem Platz neben Charlotte wegzulocken und sich neben sie zu setzen, um ihr davon zu erzählen, wie er kürzlich mit dem Prinzregenten im Pavillon in Brighton diniert hatte.
„Mein Ehrenwort, Miss Stevens, es muss fast dreißig Grad heiß gewesen sein. Ich hatte das Gefühl, ich müsste zerschmelzen, und die arme Lady Melrose fiel zweimal in Ohnmacht.“
Charlotte hatte gehört, dass der Regent es in seinen Räumlichkeiten gern übertrieben warm hatte, aber vor allem interessierte sie sich für die Einzelheiten des Pavillons mit seiner chinesischen Dekoration und den Türmen, die dem Ganzen das Aussehen eines östlichen Palastes verliehen.
Als ihre Mutter mehr als zwanzig Minuten später aufstand, um sich die Handschuhe anzuziehen, offenbar in der Absicht zu gehen, erhob sich Sir Percival und verneigte sich vor Charlotte, als auch sie sich von dem kleinen Sofa erhoben hatte. Sein Hals war ein wenig gerötet, als er sich über ihre Hand beugte und sie fragte, ob sie am Abend den Ball bei den Markhams besuchen werde.
„Ja, wir wurden eingeladen. Es ist mein erster Ball in der Stadt, obwohl ich mehrmals Feste in Bath besucht habe.“
„Ich werde ebenfalls dort sein“, sagte er und lächelte sie an. „Darf ich hoffen, dass Sie mir zwei Tänze reservieren, Miss Stevens? Ich bevorzuge die Ländler, denn ich mag den Walzer nicht besonders – auch wenn ich gern zusehe, wenn andere ihn tanzen.“
„Vielen Dank, Sir“, gab Charlotte leichthin zurück. Sie mochte diesen Gentleman, denn er war freundlich und unterhaltsamer als seine Verwandten, und sie war froh zu wissen, dass sie zumindest zwei der Tänze am Abend nicht sitzend verbringen musste. „Ich werde Ihnen mit Vergnügen den ersten Tanz des Abends und den letzten Ländler vor dem Abendessen reservieren.“
„Ich werde mich jetzt auf den Abend freuen“, versprach er und sah ein wenig aus wie die Katze, die von der Milch geschleckt hatte. „Und wenn ich darf, dann würde ich Sie gern zum Abendessen geleiten.“
Charlotte neigte den Kopf und folgte ihrer Mutter hinaus. Erst als sie in der Kutsche saßen, wandte sich ihre Mama ihr zu und sah sie wohlwollend an.
„Ich bin stolz auf dich, Charlotte. Sir Percival war ganz bezaubert von dir. Das habe ich gleich gesehen. Ich will nicht sagen, dass das sofort zu einem Heiratsantrag führen wird, aber er wäre eine gute Wahl. Er war viele Jahre in der Armee, Liebes, und hat nie geheiratet, aber Lady Rushmore hat mir erzählt, sie glaubt, dass er endlich daran denkt, sich niederzulassen. Wäre es nicht schön, wenn du den Bruder einer meiner ältesten Freundinnen heiraten würdest? Er ist nett, weißt du. Vielleicht nicht so reich wie …“
Charlottes Gedanken schweiften ab, während sie aus dem Fenster sah und die eleganten Ladys und Gentlemen beobachtete, die durch die geschäftigen Straßen promenierten. Der Morgen war wie im Flug vergangen, und ihnen blieb nur gerade so viel Zeit, um ihre Schals abzuholen, ehe sie zu Mittag nach Hause zurückkehrten.
Ihre Mutter redete noch immer davon, welches Glück es war, dass sie ihre Freundin treffen würden, während sie in der Kutsche saßen, und Charlotte gelang es, ein Seufzen zu unterdrücken. Sie nahm an, dass ihre Mutter jeden Gentleman, dem sie begegneten, als möglichen Ehemann für ihre Tochter betrachten würde, aber sie wünschte, sie würde sich nicht so vehement auf die Idee einer Heirat stürzen. Es war nicht so, dass sie Sir Percival nicht mochte, sie würde ihn gegenüber dem Vater von drei mutterlosen Kindern vorziehen. Aber Charlotte hoffte noch immer auf mehr. Sicher gab es doch für sie die Möglichkeit zu einer kleinen Romanze, ehe sie sich auf eine Ehe einließ?
Als sie vor ihrem Haus an dem eleganten Platz abgesetzt wurden, strich Charlotte die Falten ihres Kleides glatt und ging ein Stück vor ihrer Mutter ins Haus. Abrupt blieb sie stehen, als sie ihren Vater sah. Er verabschiedete sich gerade von einem Gentleman, der offenbar zu Besuch gekommen war, während sie fort gewesen waren.
Charlottes Herz schlug schneller aus einer Mischung aus Entsetzen und Freude, denn es war der Viscount, und vermischt mit der Erleichterung, dass er sie endlich aufgesucht hatte, war die Furcht, dass er sie aus der vergangenen Nacht wiedererkennen könnte.
„Ah, Charlotte, meine Liebe.“ Sie hörte die warme Stimme ihres Vaters. „Du bist gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um Captain Viscount Delsey kennenzulernen – er wohnt in dem Haus gegenüber, gleich auf der anderen Seite des Platzes, und war so freundlich, mich heute Morgen aufzusuchen, um uns alle für einen Abend in der nächsten Woche zum Dinner und einer Partie Karten einzuladen. Sir, das ist meine Tochter Charlotte.“
Charlotte nahm ihre Haube ab und schüttelte die langen dunklen Locken aus, dann streckte sie dem Besucher die Hand hin und knickste höflich. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Sir, und ich bedaure, dass wir den ganzen Morgen unterwegs waren.“
„Keine Ursache“, murmelte er und hob ihre Hand, um ein winziges Stück über ihrem weichen Lederhandschuh einen Kuss in die Luft zu hauchen. „Ich hatte das Vergnügen, ihren Vater kennenzulernen – und Ihren reizenden Bruder. Matthew wird an einem anderen Abend mich bei einer Kartenpartie begleiten, aber ich glaube, heute Abend werden wir alle bei Lord Markham erwartet.“
„Ja, wir freuen uns schon sehr darauf“, sagte sie, und ihr Herz schlug viel zu schnell, als er sie aufmerksam musterte, ehe er ihre Hand losließ. Sie blickte zu Boden und verbarg ihre verwirrten Gefühle hinter ihren langen Wimpern. Konnte er sie möglicherweise nach dem kurzen Blick aus der vergangenen Nacht wiedererkannt haben? Oder war es nur ihr Schuldgefühl, das ihr einredete, er habe prüfend die Augen zusammengekniffen?
„Genau wie ich“, erwiderte er galant. „Würden Sie mir das Privileg eines Tanzes gewähren? Vorzugsweise eines Walzers? Ich nehme doch an, Sie beherrschen den Walzer, Miss Stevens?“
„Ja, Captain Delsey, das tue ich, und ich gewähre es Ihnen“, entgegnete sie bescheiden. „Ich habe in Bath ein paarmal den Walzer getanzt, und in der Stadt, mit der Zustimmung Lady Jerseys, die eine enge Freundin von Mama ist und mir Gutscheine für Almack’s gegeben hat. Wissen Sie, ich bin älter, als ich aussehe.“
Sie entdeckte einen heiteren Glanz in seinen Augen, als er die Brauen hob, um sie zu necken. „Ich würde Sie auf achtzehn schätzen.“
„Ich bin über neunzehn“, sagte sie leise. „Es liegt an meiner Größe, wissen Sie. Die Leute halten mich für jünger, weil ich so klein bin.“
„Ah, so alt schon“, meinte er. „Man würde sie für kaum älter als vierzehn halten, wenn man Sie nur kurz aus der Ferne sieht …“ Er sah ihr mit einem spöttischen Ausdruck in die Augen, sodass ihr Herz noch schneller als ohnehin schon schlug.
Wollte er damit andeuten, dass er den Jungen aus der vergangenen Nacht erkannt hatte? Sie wandte sich verlegen ab, denn sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
Zum Glück betrat in diesem Moment ihre Mutter das Haus. Nachdem sie ihre Tücher, die Haube und die Handschuhe abgelegt hatte, sah sie den Viscount erwartungsvoll an. Man wurde einander vorgestellt, und Charlotte konnte sich zur Treppe zurückziehen. Sie wollte gerade hinaufgehen, als sie hörte, wie ihr Name genannt wurde, und sie drehte sich um und stellte fest, dass der Viscount sie direkt angesprochen hatte.
„Ich habe mich gefragt, ob Sie und Lady Stevens vielleicht am Freitag mit mir nach Richmond fahren möchten, Miss Stevens? Meine Cousine, Lady Sally Harrison, hat ein Picknick vorbereitet, um dem Aufstieg eines Ballons beizuwohnen, und sie hat mich gebeten, einige Freunde mitzubringen. Ich habe zwei Gentlemen eingeladen, die zu Pferde kommen werden – aber in meinem Wagen ist für Sie beide Platz.“
„Wir würden uns sehr freuen“, antwortete ihre Mutter an Charlottes Stelle. „Das ist sehr freundlich von Ihnen, Sir – und von Ihrer Cousine. Wir sind mit Lady Harrison nicht bekannt.“