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Frauen sind edle, schwache Wesen, die beschützt werden müssen: Davon ist Major Harry Brockley fest überzeugt. Weshalb er einer jungen Dame einen Antrag macht, um ihren Ruf zu wahren - und nicht etwa, weil er sie liebt! Denn nur einer Frau gehört Brocks Herz: Samantha Scatterby, die jedoch früher nicht frei für ihn war. Doch ausgerechnet jetzt spielt ihm das Schicksal einen grausamen Streich: Die geliebte Samantha, inzwischen verwitwet, kehrt in sein Leben zurück! Diesmal ist er vergeben, und erneut scheint ihre Liebe hoffnungslos …
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Seitenzahl: 362
IMPRESSUM
HISTORICAL MYLADY erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2015 by Anne Herries Originaltitel: „Reunited with the Major“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL MYLADYBand 592 - 2019 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Bärbel Hurst
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 02/2019 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733736811
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Als sie die ernsten Gesichter der jungen Offiziere gesehen hatte, die ihren verwundeten Ehemann zu ihr nach Hause brachten, hatte Samantha gespürt, wie ihr die Tränen in den Augen brannten. Jeder Einzelne von ihnen hatte verzweifelt gewirkt, von ehrlicher Trauer erschüttert beim Anblick ihres Colonels, der so schwer verwundet auf der improvisierten Trage lag.
„Es tut uns so leid, Mrs. Scatterby“, hatten die jungen Männer nacheinander gesagt, ehe sie fortgingen. „Es war einfach Pech. Er stand zur falschen Zeit am falschen Ort – als die Explosion ihn traf.“
Sie hatte den Kopf gehoben und sie alle würdevoll angesehen, durch einen Schleier unvergossener Tränen. Sie war eine schöne junge Frau, ihr Haar war wie helle Seide, und ihre Augen leuchteten so blau, dass es sich kaum beschreiben ließ. Viel jünger als ihr verwundeter Ehemann, wirkte sie verletzlich und so, als brauchte sie eine Schulter zum Anlehnen – und kein Mann hätte ihr das verweigert, wenn sie darum gebeten hätte. Aber dazu war sie zu stolz.
„Ich werde nicht aufgeben“, sagte sie. „Er ist noch immer am Leben. Ich werde mit ihm nach Hause fahren, nach England, und ihn wieder gesund pflegen.“
Sie sah das Mitleid in den Augen der jungen Offiziere, aber sie wollte ihrem Kummer erst freien Lauf lassen, wenn sie alle fort waren. Ihr geliebter Percy klammerte sich an sein Leben, trotz der Wunden, die er in der Hitze der Schlacht erlitten hatte. Der Arzt kam zu Besuch, untersuchte den Patienten gründlich, ehe er sich kopfschüttelnd an Samantha wandte.
„Ich kann seine Wunden verbinden, aber er hat innere Verletzungen davongetragen, und die kann ich nicht heilen. Selbst wenn er noch ein paar Wochen überlebt, bezweifle ich, dass er je wieder genesen wird. Das Beste, was Sie für ihn tun können, ist, ihn in ein englisches Landhaus mit Garten zu bringen und ihn bis zum Ende zu pflegen. Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass das eine schwierige Aufgabe ist, denn er wird ein Invalide sein und Schmerzen leiden.“
„Als ich nichts hatte, hat er mich aufgenommen“, sagte Samantha hoch erhobenen Hauptes zu dem Arzt. „Ich werde für ihn sorgen bis zu meinem letzten Atemzug.“
„Er hat Sie sehr geliebt. Wir alle haben ihn für einen glücklichen Mann gehalten, Mrs. Scatterby. Wenn irgendjemand ihn durchbringen kann, dann sind Sie das, daran zweifle ich nicht.“
Samantha bedankte sich bei ihm.
Einige Wochen lang war Percy zu krank, um bewegt zu werden, aber dann, als die Wunden an seinem Bein und seiner Schulter geheilt waren, schien es ihm besser zu gehen, obwohl er oft von Hustenanfällen geschüttelt wurde, die ihm das Atmen erschwerten.
Seine hingebungsvolle Ehefrau wich ihm kaum von der Seite. Während der Seereise von Spanien nach England verbrachte sie den größten Teil der Überfahrt in der Kabine und kümmerte sich liebevoll um seine Bedürfnisse. Freundliche und umsichtige junge Offiziere, die zu ihrer Begleitung abgestellt worden waren, brachten sie zu einem schönen Landhaus. Das Haus hatte einer von ihnen zur Verfügung gestellt, und es wurde Samantha versichert, dass sie und der Colonel so lange dort bleiben durften, wie sie wollten.
Als sie und Percy sich eingerichtet hatten, verabschiedeten sich die jungen Männer von ihr, um zum Kriegsschauplatz zurückzukehren. Samantha dankte ihnen allen für ihre Freundlichkeit.
„Sollten Sie jemals etwas brauchen …“, sagte einer der Offiziere. Er war der Stillste von ihnen, stark, mit dunklem Haar, mit einem Gesicht, das durch das energische Kinn eher anziehend als wirklich schön war. „… dann schreiben Sie mir einfach, Samantha. Ich werde so schnell kommen, wie ich kann, und was immer Sie brauchen, ich werde mein Bestes geben.“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Brock“, sagte sie und lächelte. Es freute sie, dass er ihren Vornamen benutzt hatte. Sie alle hatten sie während ihres Aufenthalts in Spanien so genannt, aber seit Percys Verwundung waren sie alle so höflich und distanziert geworden. „Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Sie nicht alle so freundlich gewesen wären.“
„Er war unser Colonel“, sagte einer der Männer. „Wir alle haben ihn sehr geschätzt, Mrs. Scatterby – und falls Sie jemals etwas brauchen sollten, dann müssen Sie nur fragen. Wir alle stehen Ihnen zur Verfügung.“
Samantha dankte ihnen, und nacheinander verabschiedeten sich alle. Alle bis auf einen, der noch blieb, um ihr zu sagen, dass sie in dem Haus bleiben konnte, so lange sie wollte.
„Meine Eltern leben nur zwanzig Meilen weit weg. Falls Sie etwas brauchen – irgendetwas …“
„Danke“, flüsterte sie, und Tränen erstickten ihre Stimme, denn er würde niemals auch nur ahnen können, was seine Freundlichkeit für sie bedeutete. „Ich weiß nicht, was ich ohne Ihre Hilfe getan hätte.“
Ganz plötzlich konnte Samantha ihren Kummer nicht länger ertragen, vielleicht, weil der junge Offizier sie verließ, und sie wusste nicht, wie sie die vergangenen Wochen ohne seine tröstliche Gegenwart ertragen hätte. Lautlos liefen ihr die Tränen über die Wangen, und in ihrem Blick lag etwas, das dem gut aussehenden Mann eine Reaktion entlockte.
„Sam, meine Liebste“, sagte er mit belegter Stimme, äußerte die Worte nur widerstrebend, denn sie beide dachten an den Mann, den sie beide liebten und der oben auf dem Krankenbett lag. Und doch wussten beide, dass dies jetzt unvermeidlich war. Brock streckte die Arme nach ihr aus, zog sie an sich, berührte ihre Lippen in einem zärtlichen und doch leidenschaftlichen Kuss, bis sie sich verzweifelt an ihn klammerte. „Ich bete dich an, ich begehre dich so sehr. Das weißt du, hast es immer gewusst, oder?“
Für einen Moment war die nackte Wahrheit in ihrem Blick zu lesen, die Sehnsucht und das Verlangen, dass sie während all der Monate unterdrückt hatte, seit sie gemerkt hatte, dass sie sich in einen der Männer ihres Ehemannes verliebt hatte. Sie spürte, dass er sie begehrte, ihre Liebe erwiderte, und doch stand eine Barriere zwischen ihnen. Samantha war nicht sicher, was sie daran gehindert hatte, vor diesen Ereignissen über ihre Liebe zu sprechen, vielleicht war es von ihrer Seite her Pflichtgefühl gewesen – und außerdem echte Zuneigung zu Percy, denn sie liebte ihren Ehemann, aber es war eine sanfte, dankbare Liebe und nicht die wilde Leidenschaft, die jetzt durch ihren Körper toste und ihr Verlangen und ihr Begehren auflodern ließ.
Sie sehnte sich danach, ihre Liebe zu bekennen, über eine Zukunft zu sprechen, in der sie zusammen sein konnten, aber das wäre nicht loyal dem Mann gegenüber gewesen, der ihnen beiden vertraute. Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie kurz davor gewesen war, sich dem Mann hinzugeben, den sie mehr liebte, als sie es sich jemals erträumt hatte, und ihr lieber Percy lag oben mit ständigen Schmerzen, brauchte sie, vertraute ihr. Auf einmal durchzuckte sie Abscheu über ihr eigenes Verhalten. Wie konnte sie einen Mann, der so viel für sie getan hatte, so abscheulich behandeln?
„Ich weiß, wir müssen warten, aber eines Tages …“, begann Brock, doch sie stieß ihn von sich, schüttelte den Kopf, und Entsetzen über das, was sie da tat, erfüllte sie.
„Nein, wir dürfen so etwas nicht einmal denken. Wir müssen an Percy denken. Er vertraut uns, Brock. Das hier ist falsch. Schlecht.“
Brock trat zurück, sah sie an, bemerkte das Entsetzen in ihren Augen, und ließ sie los. Dabei trat ein so schmerzvoller Ausdruck in sein Gesicht, dass Samantha ihre Worte am liebsten zurückgenommen hätte, aber sie konnte sich nur abwenden, so durcheinander fühlte sie sich.
„Ich werde nicht mehr zu Besuch kommen, bis ich zum Regiment zurückkehre“, sagte er. „Aber wenn Sie irgendetwas brauchen, gehen Sie zu meinem Vater. Er wird Ihnen helfen.“
Samantha blieb allein zurück, und sie glaubte, das Herz würde ihr brechen, aber da wusste sie noch nicht, dass noch Schlimmeres sie erwartete. Der Schmerz, den sie jetzt empfand, würde noch um ein Zehnfaches anwachsen und für immer bei ihr bleiben.
Major Harry Brockley, von seinen Freunden Brock genannt, stand vor dem Kloster und starrte auf die abweisenden grauen Mauern. Er hatte diesen Ort zum letzten Mal besucht, und das Gefühl der Leere, das er empfand, schien ihn vollkommen auszufüllen.
„Schwester Violet ist in der vergangenen Nacht friedlich verstorben, Major“, hatte die Äbtissin ihm mit sanfter Stimme gesagt. „Ihr Fieber kam schnell und streckte sie nieder, ehe wir auch nur die Zeit fanden zu verstehen, wie krank sie tatsächlich war. Es tut mir wirklich leid, Ihnen diese Neuigkeiten übermitteln zu müssen, denn ich weiß, dass Sie sie mochten – ich kann Sie nur damit trösten, Ihnen zu sagen, dass sie in den Armen ihres Schöpfers endlich Frieden gefunden hat.“
„Ja, vielleicht“, antwortete Brock. „Endlich Frieden, aber um welchen Preis?“
„Sie sind noch immer so verbittert und zornig“, sagte die sanftmütige Nonne. „Schwester Violet war nicht verbittert. Sie hat dem Mann vergeben, der ihr Leben zerstört hat – und ich weiß, sie würde wollen, dass Sie dasselbe tun.“
„Dieser Mann ist jetzt tot“, entgegnete Brock kühl. „Wäre er noch am Leben, dann hätte ich ihn mit bloßen Händen ermordet. Er nahm ein süßes, perfektes Mädchen und verletzte sie so sehr, dass sie nicht länger in dieser Welt leben konnte, sondern hierher kam, um an diesem Ort zu sterben. Das ist der Mann, von dem Sie wollen, dass ich ihm vergebe?“
„Ich fürchte, dass Sie keinen Frieden finden werden, bis Sie ihm verzeihen können, und auch sich selbst, Major Brockley. Verzeihen Sie mir, aber es schmerzt mich, eine Seele in solchen Qualen zu sehen, wenn das nicht nötig ist. Das Mädchen, das Sie liebten, war schon vor Jahren verschwunden. Die Frau, die hier bei uns lebte, hatte schon seit Langem ihren Frieden gefunden. Ihr einziger Wunsch war, dass Sie mit der Zeit lernen würden, ihr zu verzeihen, dass sie Ihnen solchen Schmerz bereitet hat.“
„Ihr Name war Mary, und es gibt nichts, das ich ihr hätte verzeihen müssen“, rief Brock. „Ich war derjenige, der sie im Stich gelassen hat. Ich bin derjenige, der auf Vergebung hofft.“
„Dann lassen Sie mich Ihnen sagen, dass sie Ihnen nie einen Vorwurf gemacht hat, keinen Augenblick lang.“
Brock hatte laut geflucht, wohl wissend, dass das unhöflich war, und die gute Frau verlassen, ohne sich auch nur für ihre Freundlichkeit zu bedanken. Er war wütend auf sie, weil sie Dinge gesagt hatte, die nichts bedeuteten. Wer war Schwester Violet? Das Mädchen, das er wie eine Schwester geliebt hatte, war Mary gewesen, die Freundin aus Kindertagen. Wie sollte die Äbtissin jemals verstehen, dass Brock sich selbst die Schuld gab für das, was dem unschuldigen jungen Mädchen zugestoßen war, das der Marquess of Shearne geschlagen, vergewaltigt, für tot gehalten und liegen gelassen hatte?
„Mögest du in der Hölle verfaulen, Shearne!“, rief Brock laut aus. „Der Tod war noch zu gut für dich.“
Der Marquess hätte beinahe auch Brock getötet. Hätte Amanda, Phipps’ Frau, nicht so schnell reagiert, wäre er vielleicht an dem Blutverlust gestorben oder an einem Fieber, aber sie und Phipps hatten ihn durchgebracht, und der Gedanke an seine Freunde entspannten seine Züge. Zunächst war diese Heirat unwahrscheinlich erschienen, denn Phipps war ein großer, sehniger Soldat und Amanda ein niedliches Pummelchen, wenn auch recht hübsch. Natürlich hatte sie vor ihrer Heirat einiges von diesem Babyspeck verloren, aber Brock wusste, dass seinem Freund das nicht einmal aufgefallen war. Phipps liebte Amanda für das, was sie war – eine attraktive, großzügige, liebende Frau – und eine Ehefrau, um die Brock ihn beneidete.
Jahrelang hatte das, was dem Mädchen, das er so gern gehabt hatte, zugestoßen war, wie ein Schatten auf Brocks Gemüt gelegen, hatte ihn verfolgt, hatte ihn dazu gebracht, sich gegen eine Heirat zu entscheiden. Er war für keine Frau der passende Ehemann. Er hatte das Mädchen im Stich gelassen, das ihm vertraute, aber sie hatte ihm deswegen nie einen Vorwurf gemacht.
Natürlich hatte sie das nicht. Sie war zu gut, zu süß und zu sanftmütig, um einen Groll zu hegen – nicht einmal gegen den Mann, der sie ruiniert hatte.
Wenn Schwester Violet den Kummer jenes schrecklichen Tages hat loslassen können, dann ist es vielleicht für mich auch an der Zeit, das zu tun, dachte Brock, als er auf die wartende Kutsche zuging. Vielleicht war es tatsächlich so weit, das zu tun, worum sein Vater ihn ständig bat – zu heiraten, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und eine Familie zu gründen.
Viele Male schon hatte Brock seine überstürzte Entscheidung, um Miss Cynthia Langton anzuhalten, bedauert. Sie war die einzige Tochter und Erbin von Lord Langton. Brock hatte sie gerettet, nachdem sie von Shearne geflohen war, der sie entführt hatte, um an ihr Vermögen zu gelangen, aber Cynthia war es gelungen, ihm zu entkommen, und Brock hatte sie gefunden, als sie die Landstraße entlanggelaufen war. Sie hatte kein Geld gehabt, war krank und geschwächt gewesen, nachdem der Schurke sie betäubt hatte. Sie hatten eine Geschichte erfunden, nach der sie in einen Graben gestürzt war, die Nacht dort hatte verbringen müssen, ehe er sie gefunden hatte. Das stimmte zwar nicht, aber die Geschichte hatte ihren Ruf gerettet, denn wäre bekannt geworden, dass sie die ganze Zeit über in Shearnes Gesellschaft gewesen war, wäre sie ruiniert gewesen. Da er das Mädchen, das er so sehr mochte, im Stich gelassen hatte, hatte Brock aus reiner Höflichkeit um Cynthias Hand angehalten. Es war eine spontane Reaktion gewesen, von seiner Seite ebenso wie von ihrer, und er glaubte, dass sie es ebenso bereute, seinen Antrag angenommen zu haben. Zu jenem Zeitpunkt schien das keine Rolle zu spielen, aber seither verfluchte er sich, weil er so ein Narr gewesen war.
Brock stieg wieder in seinen Wagen und wies seinen Kutscher an, ihn nach London zurückzufahren. Er sah die Überraschung auf dem Gesicht des Mannes, denn gewöhnlich lenkte er den Wagen selbst, aber an diesem besonderen Nachmittag war er dazu nicht in der Stimmung.
Tief in Gedanken, die Augen geschlossen, verbrachte Brock die Zeit mit Grübeln, während sie Meile um Meile zurücklegten. Seine Überlegungen kreisten um sein Problem, aber er fand schließlich eine Lösung. Wenn die Heirat abgesagt wurde, dann musste Cynthia diese Entscheidung treffen. Er konnte – und er würde – sie nicht sitzen lassen. Seit jenem Tag war sie sehr bedrückt, so ganz anders als das strahlende Mädchen, dem in ihrer ersten Saison halb London zu Füßen gelegen hatte. Brock konnte sich nur vorstellen, dass sie unglücklich war, ihre Entscheidung bedauerte, so wie er seine – aber er wusste nicht, wie er eine Auflösung ihrer Verlobung zur Sprache bringen sollte.
Vielleicht sollte er sie einfach bitten, einen Termin für die Hochzeit festzusetzen. Cynthia hatte angedeutet, dass sie gern bis zum Sommer warten würde, aber jetzt war Frühling, und sie sollten daran denken, die Vorbereitungen zu treffen. Wenn die Hochzeit stattfinden sollte, dann sollten sie das nicht länger aufschieben. Neun Monate sollten selbst für ihre Mutter genügen. Länger zu warten, wäre lächerlich, doch etwas in ihm weigerte sich, eine Ehe ohne Liebe einzugehen.
Brock runzelte die Stirn, denn seine zukünftige Braut war eine Schönheit, und wenn sie wollte, konnte sie außerordentlich charmant sein. Er liebte sie nicht, und er war ziemlich sicher, dass Cynthia nicht mehr als Dankbarkeit und Freundschaft für ihn empfand, aber vielleicht war das genug?
Brock wusste, dass viele Freunde seiner Familie arrangierte Ehen geschlossen hatten, basierend auf Besitz, Rang oder Notwendigkeit, aber oft genug waren solche Ehen ebenso glücklich wie andere. Er wusste auch, dass die Ehe eines Freundes, die eigentlich eine Liebesheirat gewesen war, zwei Jahre nach der Hochzeit gescheitert war, einfach, weil die junge Frau sich nur noch um ihr Kind gekümmert und ihr Ehemann sich vernachlässigt gefühlt hatte. Er war ihr untreu geworden, und sie hatte eine Szene gemacht, als sie es herausfand, hatte ihr Kind genommen und war zu ihrem Vater gezogen. Sie hatte sich geweigert, zu ihm zurückzukommen, selbst als ihr Ehemann sie angefleht hatte.
Brock war ziemlich sicher, dass Cynthia nicht von ihm verlangen würde, an ihrem Rockzipfel zu hängen, wenn sie verheiratet waren. Sie würde einen eigenen Freundeskreis haben, Gäste empfangen und ausgehen, wie es ihr beliebte, und er würde dasselbe tun – würde bei ihr sein, wann immer sie ihn darum bat. Da sie beide eine Familie wünschten, würde es eine richtige Ehe sein, und das sollte nicht schwerfallen. Sie war eine schöne Frau, und es war nicht so, dass er sie unsympathisch fand.
Tatsächlich gab es sogar Zeiten, in denen er das Gefühl hatte, er könnte sie durchaus gern haben – wenn sie sich ein bisschen mehr gehen lassen, ein bisschen häufiger lächeln würde. Sie war höflich, sanft in ihrer Sprechweise und dankbar – und aus irgendeinem Grund störte ihn das. Cynthia beklagte sich nie, wenn er nicht aufs Land hinaus fuhr und sie wochenlang nicht sah. Manchmal hatte er das Gefühl, sie würde lieber in Ruhe gelassen werden, aber ihre Mutter und auch ihr Vater drängten sie zu dieser Hochzeit.
Brocks Überlegungen wurden unterbrochen, als er ganz plötzlich nach vorn geschleudert wurde und die Kutsche abrupt zum Stehen kam.
„Was zum Teufel … was um alles in der Welt tun Sie da, Harris?“
„Auf der Straße, Sir“, sagte der Kutsche, als er die erschrockenen Pferde zurückhielt und sie beruhigte. „Ich habe sie erst gesehen, als wir schon fast bei ihr waren – ich glaube, es ist eine Frau, Sir.“
Brock blickte nach unten und sah, was seinen Kutscher dazu veranlasst hatte, die Pferde so plötzlich anzuhalten. Was auf den ersten Blick nur wie ein Bündel alter Kleidungsstücke aussah, entpuppte sich bei näherer Betrachtung als eine Frau, deren bloße Füße unter den langen Röcken hervorsahen.
„Gütiger Himmel.“ Er sprang hinunter, um nachzusehen. Er kniete sich hin, drehte das Kleiderbündel herum und sah das Gesicht einer jungen und recht hübschen jungen Frau. Sie war sehr bleich, als wäre sie eine Weile krank gewesen, ihr dunkles Haar war fettig und zerzaust, und ihre Füße hatten geblutet – er entdeckte verschorfte Stellen zwischen ihren Zehen. Allerdings handelte es sich bei ihrer Kleidung keineswegs um Lumpen, wie er es zunächst gedacht hatte, sondern um die Geraderobe einer Lady. Er beugte sich über sie, tastete nach ihrem Puls und war erleichtert, als er feststellte, dass sie lebte. „Sie atmet noch, Harris. Wir sollten sie am besten in das nächste anständige Gasthaus bringen. Sie braucht ein Bett, Wärme, etwas zu essen und einen Arzt, der nach ihr sieht.“
Er hob die bewusstlose Frau hoch und trug sie in seinen Wagen. Ihre Augenlider zuckten, aber sie öffnete sie nicht, obwohl sie die Lippen bewegte, als wollte sie ängstlich protestieren.
„Kein Grund zur Besorgnis“, wurde sie von Brock sanft beschwichtigt. „Es geht Ihnen nicht gut, aber wir werden uns um Sie kümmern. Wir werden Ihnen einen Arzt holen und sie in ein Bett bringen, und im Nu wird es Ihnen besser gehen.“
Wieder zuckten ihre Lider, und er hörte einen leisen Protest. Brock verstand das Wort „Nein“, aber der Rest ihrer Widerrede war undeutlich, und er wusste nicht, was sie sagen wollte. Ihr Unbehagen war unübersehbar, obwohl sie zu erschöpft war, um ihn wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
„Was, glauben Sie, ist ihr zugestoßen?“, fragte der Kutscher.
„Sie hat irgendein Leid erlitten“, sagte Brock. „Je eher wir sie irgendwo unterbringen und einen Arzt dazuholen können, desto rascher werden wir wissen, was dazu geführt hat, dass sie auf der Straße lag. Gut, dass Sie rechtzeitig angehalten haben. Hätten Sie sie überfahren, wäre sie zweifellos gestorben.“
„Bei diesen Lichtverhältnissen habe ich sie gerade noch rechtzeitig gesehen“, meinte der Kutscher. „Sie werden es heute nicht mehr bis London schaffen, Sir.“
„Nein, vermutlich nicht“, stimmte Brock zu. „Zuerst muss ich mich um ihre Bedürfnisse kümmern. Es ist nicht so wichtig, wann ich in die Stadt komme. Ich war heute Abend zum Kartenspielen verabredet, aber meine Freunde werden es verstehen. Fahren Sie weiter und halten Sie im Swan, bitte. Es können nicht mehr als fünf Meilen sein. Wir müssen nur hoffen, dass sie dort genügend Räume haben, um uns unterzubringen.“
„Die junge Dame ist jetzt wach, Major Brockley.“ Die Frau des Gastwirts nickte ihm zu und lächelte. „Das Schlafmittel, das der Arzt ihr gegeben hat, hat gewirkt, Sir. Sie fühlt sich heute Morgen viel besser und hat mich gefragt, wie sie hierher gekommen ist. Natürlich habe ich ihr gesagt, dass sie das Ihnen zu verdanken hat und sie hat gefragt, ob Sie wohl hinaufgehen und nach ihr sehen würden.“
„Ja, natürlich. Vielleicht wäre es am besten, wenn Sie mich begleiten, Madam?“
„Oh nein, Major. Meine Tochter Polly ist da und wird die ganze Zeit über bei ihr bleiben. Sie werden es mir hoffentlich verzeihen, aber ich habe viel zu tun.“
„Natürlich. Ich dachte nur an den guten Namen der Patientin und an ihre Gefühle. Sie könnte sich fürchten vor einem Mann, den sie nicht kennt.“
„Der Himmel segne Sie, Sir. Ich habe ihr gesagt, dass noch nie ein besserer Mann auf Erden gewandelt ist. Von einem Gentleman wie Ihnen hat sie nichts zu befürchten, Major – und ihr Name ist Rosemarie, so sagt sie, auch wenn das vielleicht nicht die Wahrheit ist. Mir kommt es so vor, als hätte diese junge Dame etwas zu verbergen, aber sie ist eine Lady, Sir. Da bin ich ganz sicher.“
„Ich bin davon überzeugt, dass Sie recht haben“, stimmte Brock zu und verbarg sein Lächeln. „Also gut, ich werde zu ihr hinaufgehen. Wenn Dr. Reed zurückkommt, bitten Sie ihn doch, gleich nach oben zu gehen. Er sagte, er würde heute Morgen vorbeikommen, um noch einmal nach ihr zu sehen.“
„Ja, Major. Selbstverständlich.“
Brock nickte ihr zu und ging dann die breite Treppe hinauf. The Swan war eine Kutschenstation, nicht mehr als dreißig Meilen von London entfernt und eine der besten für einen längeren Aufenthalt. In der Vergangenheit hatte er hier häufiger übernachtet, und das hatte ihm zum Vorteil gereicht, als er am vorherigen Abend hier erschienen war mit einer bewusstlosen Dame auf den Armen. Seine Erklärung wurde sofort angenommen, ein Arzt gerufen, und ohne ein Wort der Widerrede bekam er die besten Schlafzimmer, die verfügbar waren.
Er ging oben den Treppenabsatz entlang bis zu der Tür, die zum Zimmer der geheimnisvollen Rosemarie führte. Dort blieb er stehen und klopfte an. Nachdem er hereingebeten worden war, betrat er vorsichtig das Zimmer und sah, dass die Patientin gegen einige Federkissen gelehnt aufrecht im Bett saß. Ihr langes dunkles Haar lag ihr offen um die Schultern, und ihr zierlicher Körper war in ein dickes Nachthemd aus gelbweißer Baumwolle gehüllt, das ihr dreifach zu groß war. Um die Schultern trug sie noch eine weiße Bettjacke, die nur die Spitzen ihrer Finger frei ließ. Sie wirkte vollkommen ehrbar, und zum ersten Mal bemerkte er, dass sie recht hübsch war.
Polly, die Tochter des Wirts, knickste vor ihm und zog sich dann an den Waschtisch zurück, wo sie sich mit Schüsseln und kleinen Schalen beschäftigte. Ganz offenbar hatte sie die Anweisung erhalten, das Zimmer nicht zu verlassen, solange er sich darin aufhielt. Brock lächelte innerlich und trat ans Bett. Seine Miene war ernst, als er Rosemarie ansah.
„Ich freue mich, dass Sie sehr viel besser aussehen, Miss“, begann er. „Man sagte mir, dass Sie Rosemarie heißen. Möchten Sie mir erzählen, warum Sie gestern mitten in der Nacht auf der Straße lagen?“
Er sah, wie ihre Augenlider zuckten, und er wusste, dass sie sich bereit machte, ihn anzulügen, dann lächelte sie, und ihm stockte der Atem, denn dabei begann ihr ganzes Gesicht zu strahlen, und er erkannte, dass sie unter anderen Umständen eine Schönheit sein würde.
„Man sagte mir, dass Sie Major Brockley sind, und dass Sie mich hierherbrachten, Sir, und mir auf diese Weise das Leben retteten. Die Frau des Gastwirts erzählte mir, dass ich von Ihnen nichts zu fürchten habe. Sie hält Sie für den ehrenwertesten Mann, dem sie je begegnet ist – und ich muss Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken.“
„Mrs. Simpson erweist mir zu viel der Ehre, aber ich verspreche Ihnen, dass sie in der Hinsicht recht hat, dass Sie von mir nichts zu befürchten haben. Was die Freundlichkeit angeht – nun, das war das Mindeste, das ich tun konnte. Nur ein herzloser Schuft hätte sie auf der Straße liegen lassen. Wenn Sie Schwierigkeiten haben, dann müssen Sie mir das nur sagen, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen.“
„Wie nett von Ihnen – aber ich fürchte, es gibt nicht viel, das jetzt jemand tun könnte.“
„Verzeihen Sie mir. Ich glaube, Sie geben zu schnell auf. Man kann immer etwas tun. Glauben Sie das nicht?“
„Nun, das tat ich“, entgegnete sie ihm in einer so offenen Art, dass es ihn überraschte. „Ich dachte, ich könnte nach London davonlaufen und Arbeit als Näherin finden – aber ich wurde ausgeraubt, eingesperrt und …“ Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen. „Beinahe auch missbraucht. Ich bin geflohen, um zu verhindern, dass ich in eine verhasste Beziehung gezwungen werde, und beinahe hätte ich in einer noch viel schlimmeren geendet. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen und mich ihnen zu fügen.“
„Wie es scheint, haben Sie Pech gehabt“, sagte Brock und runzelte die Stirn. „Nennen Sie mir die Namen derer, die Ihnen etwas angetan haben, und ich werde dafür sorgen, dass es wiedergutgemacht wird.“
„Wenn Sie das tun, werden sie mich zurückholen und mich zwingen, ihn zu heiraten“, sagte sie, und eine Träne lief ihr aus dem rechten Augenwinkel. Sie wischte sie ab. „Alle glauben ihnen und nicht mir. Sie glauben, er wäre ein freundlicher Mann, der für mich sorgen würde – aber ich weiß, dass er Papas Vermögen will, und sie wollen das Haus. Ich habe gehört, wie sie diese schlimme Vereinbarung getroffen haben. Er sagte, sie könnten das Haus und das Land behalten, und er würde die Mühlen nehmen. Papa hatte fünf, wissen Sie, und sie sind viel Geld wert – und dann gibt es da noch den Schmuck meiner Mutter. Er allein ist schon ein königliches Vermögen wert, wage ich zu behaupten, aber sie haben ihn im Zimmer meiner Tante eingeschlossen. Ich weiß, dass er dort ist, denn sie trägt den Schmuck, wenn sie ausgehen, und als ich sie darauf angesprochen habe, sagte sie, dass ich ihn erst haben darf, wenn ich heirate – wie auch mein Vermögen.“
„Ich verstehe.“ Brocks Miene wurde noch finsterer. „Und Sie glauben, dieser Mann wird Ihnen alles wegnehmen, was Ihnen gehört, und Sie schlecht behandeln?“
„Er sagt, er betet mich an“, meinte sie und seufzte tief. „Ich weiß, dass er mich begehrt, denn er berührt mich immer wieder, aber er verursacht mir eine Gänsehaut, und ich habe mich geweigert, ihn zu heiraten. Mein Onkel sagt, ich hätte keine andere Wahl. Er ist mein Vormund, und dieser Mann ist sein Freund, aber nur, weil er das Haus und das Land meines Vaters haben will, und meine Tante will den Schmuck. Sie halten mich nur für ein Pfand, das sie benutzen können, wie sie es wollen, und das ist nicht fair. Papa hätte das nie zugelassen.“
„Ja, ich verstehe“, murmelte Brock und sah sie prüfend an. „Haben Sie irgendwelche Freunde, die Sie unterstützen könnten? Niemanden, der Sie aufnehmen und der sich für Ihre Rechte einsetzen würde?“
„Da ist mein altes Kindermädchen“, entgegnete Rosemarie, und jetzt lächelte sie. „Sie wurde nach Papas Tod fortgeschickt, weil sie loyal zu mir war. Sie hat mir gesagt, sie würde mir schreiben, aber es kamen keine Briefe. Ich befürchte, dass meine Tante sie verbrannt hat.“
„Sie waren das Opfer eines üblen Plans“, sagte Brock, der nicht sicher war, ob er all das glauben sollte, was sie erzählte. „Würde Ihr altes Kindermädchen Sie aufnehmen, wenn Sie sie kontaktieren?“
„Ja, natürlich. Sarah war immer meine Freundin. Papa hat gesagt, sie habe mich geliebt wie eine Mutter – Sie müssen wissen, dass meine Mutter gestorben ist, als ich noch sehr klein war. Ich bin Papas einziges Kind.“
„Dann könnten Sie bei Sarah bleiben, bis jemand Ihnen hilft, Ordnung in all das zu bringen. Wir müssen nur in Erfahrung bringen, wo sie wohnt.“
„Bei Sarah wäre ich in Sicherheit, aber nur, wenn meine Tante und mein Onkel mich nicht finden. Sarah hat keine Autorität, und mein Onkel ist mein Vormund. Er würde mich zwingen, zu ihnen zurückzukehren – und dann wäre ich gezwungen, Sir Montague zu heiraten.“
„Wie alt sind Sie?“
„Neunzehn, aber ich weiß, dass ich jünger aussehe. Mein Onkel ist noch zwei Jahre lang mein Vormund. Wenn ich nichts unterschreibe, dann können sie Papas Vermögen nicht anrühren, und auch nicht seine Mühlen verkaufen – aber natürlich hat meine Tante den Schmuck. Nicht, dass er mir wichtig wäre, denn ich habe Mamas Perlen und einige kleine Stücke, die ihr gehört haben und die Papa mir gegeben hat, als ich sechzehn war. Es ist mir gelungen, ein paar von ihnen in meinem Kleid hinauszuschmuggeln, als ich fortlief, und es war gut, dass ich eine Tasche an die Innenseite meines Kleides genäht habe, denn alles andere wurde mir gestohlen, als ich in einem Gasthaus übernachtete.“
„Sie wurden betrogen“, stellte Brock fest, der entschieden hatte, dass er zumindest einen Teil ihrer Geschichte glauben konnte, obwohl er davon überzeugt war, dass sie ihm etwas verheimlichte. „Würden Sie mir so weit vertrauen, dass ich ihnen helfen darf?“
Sie sah ihn prüfend an. „Das kommt darauf an, was Sie vorschlagen, Sir.“
„Ich habe einige Freunde, von denen ich überzeugt bin, sie würden sich freuen, Sie zu einem Aufenthalt einzuladen. Bei Amanda und Phipps wären Sie in Sicherheit – und wenn sie bereit sind, mir die Namen Ihres Onkels und ihrer Tante zu nennen, dann könnte ich vielleicht herausfinden, was sie bislang wegen Ihres Verschwindens unternommen haben.“
„Sie würden ihnen nicht verraten, wo man mich finden kann?“
„Nein, Sie haben mein Wort als Gentleman darauf, dass ich Ihr Geheimnis bewahren werde, Miss …“
„Ross“, sagte sie. „Ich bin Miss Rose Mary Ross von Ross House in Falmouth, aber ich habe beschlossen, mich zukünftig Rosemarie nennen zu lassen – und meine Tante und mein Onkel sind Lord und Lady Roxbourgh. Mein Onkel ist kein reicher Mann, denn sein Besitz ist klein. Papa hat sein Anwesen von seinem Vater geerbt, und dann hat er sein Vermögen vermehrt. Mein Onkel ist mit Papa verwandt durch die Heirat ihrer Mutter, die zuerst meinen Großvater geheiratet hat und dann, nach dessen Tod, Lord Roxbourghs Vater. Es ist ein wenig kompliziert.“
„Ja, das sehe ich, aber das erklärt, warum dieser Gentleman bereit ist, böse Taten zu begehen, um ein Vermögen zu gewinnen, das er begehrt, auf das er aber kein Recht hat.“
„Papa hat alles mir hinterlassen, denn sein Anwesen ist nicht an den Titel gebunden – aber er hat seinem Halbbruder vertraut …“
„Und deswegen hat er ihn zu Ihrem Vormund ernannt. Das ist unglücklich, aber nicht unüberwindbar. Es ist möglich, jemanden als Vormund abzusetzen, wissen Sie – wenn wir beweisen können, dass er nicht der Richtige ist, um sich vernünftig zu kümmern, und wenn er seine Stellung missbraucht hat.“
„Ja, aber wie sollten wir das bewerkstelligen, wenn jeder es für eine gute Idee hält? Sir Montague ist nicht sehr alt, und er ist auch nicht hässlich, und alle unsere Freunde glauben, er wäre eine perfekte Verbindung für mich, denn er ist nicht einmal ein Spieler und auch nicht hoch verschuldet.“
„Ja, ich verstehe, wie es ihnen gelungen ist, alle zu täuschen“, sagte Brock. „Aber mit Neunzehn sind Sie alt genug, um eine eigene Meinung zu haben, und es ist falsch, Sie zu zwingen – oder Ihnen den Rest des Schmucks Ihrer Mutter vorzuenthalten.“
„Ich habe meinem Anwalt geschrieben. Er sagte, es tue ihm leid, dass ich unglücklich bin, aber er könne nichts machen, bis ich volljährig bin – außer ich heirate, und er selbst mag Sir Montague ebenfalls. Ich weiß, dass er dachte, ich wäre nur ein dummes Mädchen.“
„Nun, ich glaube Ihnen“, sagte Brock. „Ich bin nicht sicher, ob Sie mir alles gesagt haben, Miss Ross – aber ich bin absolut bereit, Ihnen auf der Basis dessen, was Sie mir erzählt haben, zu helfen.“
Rosemarie mied seinen Blick und bestätigte damit seine Vermutung, dass sie ihm nicht die ganze Geschichte erzählt hatte. „Wenn Sie mir vielleicht helfen könnten, nach London zu gelangen?“
„Um Näherin zu werden?“ Brock schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Ihnen das sehr gefallen würde, Miss Ross. Es wäre weit besser, bei meinen Freunden zu bleiben und mir das Privileg zu gewähren, dieses Chaos für Sie zu ordnen.“
„Warum sollten Sie so viel für mich tun? Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Nein, aber ich habe Ihnen das Leben gerettet – und ein altes Sprichwort sagt, dass man für ein Leben, das man einmal gerettet hat, die Verantwortung trägt.“
Rosemarie lachte und schüttelte den Kopf. „Das ist dumm, Major. Ich bin sicher, Sie können unmöglich wollen, sich mit meiner Tante und meinem Onkel abzugeben und meine Probleme zu lösen.“
„Nein, da schätzen Sie mich falsch ein, Miss Ross. Ich verspreche nie etwas, das ich nicht auch zu halten gedenke – und ich verspreche, dass ich alles tun werde, was ich kann, um das hier zu klären.“
„Nun, sind Sie ganz sicher, dass ich Ihren Freunden nicht zur Last fallen werde?“
„Wenn Sie Amanda erst kennengelernt haben, werden Sie feststellen, dass Sie ihr nie zur Last fallen würden. Ich wage sogar zu behaupten, dass es ihr schwerfallen wird, Sie gehen zu lassen, wenn es so weit ist.“
„Aber was soll ich tun?“, fragte Rosemarie zweifelnd. „Wenn ich eine andere Tante hätte, bei der ich wohnen könnte, dann wäre ein Ende für all dies hier absehbar. Aber ich kann nicht ewig bei Ihren Freunden bleiben. Selbst wenn Sie mir einen Teil meines Vermögens zurückholen können.“
„Ich werde auch versuchen, Ihr altes Kindermädchen zu finden, und wenn Sie genügend Geld haben, könnten Sie eine angesehene Dame als Anstandsdame einstellen. Außerdem wollen Sie vielleicht mit Ihrem Kindermädchen nach Hause zurückkehren, wenn Ihre Tante und Ihr Onkel fortgeschickt wurden …“
„Aber jetzt wäre der richtige Zeitpunkt“, meinte Rosemarie. „Ich habe meine Tante gebeten, mich nach London zu bringen oder auch nach Bath, aber sie sagte, Sir Montague wolle mich heiraten, und alles andere sei sinnlos, denn einen passenderen Ehemann gebe es nicht für mich.“
„Ich weiß nicht, warum sie so etwas sagt“, meinte Brock. Ich bin sicher, dass es da draußen Verehrer in beliebiger Zahl für Sie gibt, mit der Zeit.“
„Vielleicht nicht“, sagte Rosemarie und senkte den Kopf. „Vielleicht sollte ich Ihnen besser alles erzählen. Mama war keine ehrbare Frau.“
„Was meinen Sie damit?“ Brock sah sie erstaunt an.
„Papa hatte eine Ehefrau – sie lebte in einer Anstalt. Er hat Mama ins Haus geholt, um mit ihr zusammen zu sein, bis sie bei meiner Geburt starb – aber sie war nie mit ihm verheiratet.“ Rosemarie biss sich auf die Unterlippe. „Wissen Sie, deswegen meinen alle, ich müsse mich glücklich schätzen, dass Sir Montague bereit ist, einen Bastard zu heiraten. Ich mag reich sein, aber ich bin immer noch illegitim.“
Brock war so verblüfft, dass er einen Moment lang schwieg. Ihre Enthüllung veränderte die Umstände ein wenig. Sie mochte reich sein, wenn man ihr Vermögen vor den gierigen Verwandten schützen konnte, aber manche Leute würden der Meinung sein, dass sie niemals in die Gesellschaft aufsteigen könnte, weil ihr Vater ihre Mutter nicht geheiratet hatte.
„Warum haben sie nicht geheiratet?“
„Papa war katholisch, und seine Frau auch. Er sagte, er könne sich nicht scheiden lassen und weiterhin seiner Kirche angehören. Und Mama sagte, dass sie ihn nicht unglücklich machen wolle, und war daher einverstanden, mit ihm zu leben. Er sagte immer, sie war in jeder Hinsicht seine Frau, nur, dass sie nicht seinen Namen trug, und er hat mir versichert, dass sie glücklich waren, bis sie starb.“
„Ah, das erklärt es.“ Brock schüttelte den Kopf. „Sie sind also Katholikin?“
„Nein. Papa sagte, das sei ein Fluch, und er hat meiner Tante erlaubt, mich in einem nachgiebigeren Glauben zu erziehen, und ich war ihr dankbar. Wir haben uns eigentlich recht gut verstanden, bis Sir Montague um meine Hand anhielt und sie eine Möglichkeit sahen, das Haus an sich zu bringen. In jedem Fall bin ich weiterhin dankbar, dass ich als Protestantin erzogen wurde, denn ich würde nie einer Kirche angehören wollen, die ein Kind dafür bestraft, illegitim zu sein, weil die Eltern nicht heiraten durften. Hätte Papa sich von seiner Frau scheiden lassen, für die das keine Rolle gespielt hätte, wäre Mama eine ehrbare Frau gewesen, und ich wäre nicht in dieser Notlage.“
„Ja, ich verstehe. Wie traurig für Ihre Eltern“, sagte Brock. „Ich verstehe, dass der Glaube einem Mann wichtig ist, aber …“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht meine Angelegenheit. Vielen Dank dafür, dass Sie mir die ganze Geschichte erzählt haben. Geheimnisse sind nicht hilfreich, wenn man es mit Menschen wie Ihrer Tante und Ihrem Onkel zu tun hat – und mit diesem Sir Montague.“
„Nein, es war nur, weil …“ Sie sah ihn unsicher an. „Glauben Sie immer noch, Ihre Freunde würden mich gern kennenlernen?“
„Ich bin ziemlich sicher, dass sie Ihre Herkunft nicht gegen Sie verwenden werden, Miss Ross“, erwiderte er. „Jetzt kann ich, glaube ich, den Arzt auf der Treppe hören. Ich werde nun gehen, damit Sie allein mit ihm reden können.“
„Sie werden mir immer noch helfen?“
„Natürlich. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf. Ich werde nicht wieder darauf zurückkommen.“ Brock lächelte sie an. „Versuchen Sie, nicht über das Unrecht zu grübeln, das man Ihnen angetan hat. Alle Betroffenen haben Sie sehr schlecht behandelt. Aber ich werde einen Weg finden, wie Sie aus dieser Misere herauskommen. Glauben Sie nur daran, dass nicht alle Menschen so schlecht sind wie jene, vor denen Sie geflohen sind.“
Gerade als der ältliche Arzt eintrat, ging Brock hinaus und dachte über das Problem nach, das er sich aufgeladen hatte. Er bezweifelte nicht, dass Sir Roxburgh und seine Frau große Hoffnung hegten, sowohl das Herrenhaus als auch den Schmuck behalten zu können, während Sir Montague darauf hoffte, Eigentümer mehrerer Mühlen werden zu können. Er aber hatte einen Anwalt in London, der Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um seinen liebsten Klienten zufriedenzustellen, und Brock war sich ziemlich sicher, dass die Betrüger überführt werden würden. Ob das möglich sein würde, ohne dass der Schatten eines Skandals auf Miss Ross fiel, das war eine andere Sache. Als uneheliches Kind würde sie von den meisten Gastgeberinnen der guten Gesellschaft gemieden werden – und auch wenn ihr das nichts ausmachte, so tat es Brock doch um ihretwillen leid.
Die gesetzlichen Einzelheiten würde er mit seinem Anwalt besprechen – aber alles andere? Es würde einige Planung notwendig machen, wenn sie ohne einen Skandal aus dieser Angelegenheit herauskommen wollte.
Bisher hatte er sich noch nicht gefragt, warum er entschieden hatte sich für Rose Mary einzusetzen – nein, dachte er und lächelte über ihre Namensänderung – Rosemarie. Es mochte etwas zu tun haben mit dem Unbehagen und dem Schuldgefühl, das ihn überkommen hatte, als er von Schwester Violets Tod erfahren hatte, aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Brock wusste nur, dass hier eine junge Frau in großen Schwierigkeiten steckte, und dieses Mal wollte er alles tun, was in seiner Macht stand, damit sie keinen Schaden erlitt.
Brock war noch immer unsicher, ob sie ihm alles gestanden hatte, aber ihre Enthüllungen über ihre Mutter waren besorgniserregend, und sie machten ihre Lage nur noch unglücklicher. Tatsächlich würden einige der Damen, die sie ansonsten unter ihre Fittiche genommen hätten, sich daran stören, einen Bastard bei sich aufzunehmen, wie reizend Rosemarie auch immer sein mochte.
Brock saß am Schreibtisch des Salons, den er im Gasthaus gemietet hatte. Er hatte beschlossen, zwei weitere Tage hierzubleiben, bis Miss Ross sich weit genug erholt hatte, um zu reisen. Er musste den Freunden, die er im Stich gelassen hatte, schreiben und erklären, dass er aufgehalten worden war – und er musste auch an Amanda und Phipps schreiben und sie fragen, ob sie die junge Dame, die er gerettet hatte, aufnehmen würden, bis er eine andere Unterbringungsmöglichkeit für sie gefunden hatte. Er glaubte nicht, dass Amanda über Rosemaries Herkunft entsetzt sein würde, aber er musste es ihr gegenüber erwähnen.
Rosemarie brauchte etwas für ein paar Monate, wenigstens, bis ihre Probleme gelöst waren, und niemand konnte sagen, wie lange das dauern würde. Brock konnte von seinen Freunden nicht erwarten, dass sie sie länger als eine oder zwei Wochen aufnahmen. Wäre er verheiratet gewesen, hätte er seine Frau bitten können, eine Weile auf sie aufzupassen, während er die Angelegenheit aufgeklärt hätte. Natürlich musste er auch an Cynthia schreiben.
Er seufzte tief und fühlte sich bei dem Gedanken an die Zukunft unbehaglich und voller Zweifel. Cynthia Langton war eine charmante junge Frau und sehr schön, aber je besser Brock sie kannte, desto mehr Bedenken hatte er, ob sie zueinander passen würden, waren sie erst verheiratet – doch nur ein Schuft würde sich jetzt zurückziehen.
Er hatte vorgehabt, sie an diesem Wochenende zu besuchen, aber jetzt würde er vielleicht noch wochenlang mit dieser Geschichte beschäftigt sein. Das war ärgerlich, und es würde ihn nicht überraschen, wenn Cynthia verstimmt reagierte. Brock hatte seine Verlobte schändlich vernachlässigt, und er wusste, dass er sich dafür entschuldigen musste. Vielleicht würde er Miss Ross allein lassen und am Wochenende zu Cynthia reisen und ihr persönlich alles erklären, anstatt ihr zu schreiben. Briefe konnten nur die halbe Geschichte erzählen.
Cynthia wäre sicher mehr geneigt, sein Verlangen, der jungen Frau zu helfen, zu verstehen, wäre bereits ein Datum für die Hochzeit festgesetzt. Ja, dachte er und zog das Blatt Papier zu sich heran, ehe er die Feder in die Tinte tauchte, vermutlich ist es am besten, nur ein oder zwei Zeilen zu schreiben und ihr zu sagen, dass ich zu ihr komme, anstatt einen langen und komplizierten Brief zu verfassen.
Nachdem er die kurze Nachricht an Cynthia geschrieben und adressiert hatte, schrieb er an Amanda und Phipps und teilte ihnen mit, dass er in zwei Tagen nach London käme und sie um einen Gefallen bitten würde. Dann nahm er ein weiteres Blatt Papier und begann, eine Liste der Dinge zu verfassen, die er erledigen musste, um Miss Ross’ Angelegenheiten zu ordnen. Ein Besuch bei seinem Anwalt und dann bei ihrem, und je nachdem, was er dort erfuhr, vielleicht auch ein Besuch in Miss Ross’ Zuhause.
Er seufzte noch einmal tief, denn es sah so aus, als läge eine schwierige Zeit vor ihm, und er fragte sich, warum er einem Mädchen, das er überhaupt nicht kannte, seine Hilfe versprochen hatte. Miss Ross sah sicher reizend aus, aber Cynthia war eine Schönheit – ungefähr die schönste Frau, der er je begegnet war – und sie hatte seinen Heiratsantrag angenommen. Er war der größte Schurke der Welt, weil er sie seit Wochen auf dem Land allein ließ.