Drei Viertel tot - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik - Max Gladstone - E-Book

Drei Viertel tot - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik E-Book

Max Gladstone

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Beschreibung

Die Götterkriege sind vorüber - und das ist, was uns bleibt. Ein Gott ist gestorben, und nun muss ihn Tara, frischgebackene Mitarbeiterin der Kunstwirkerfirma Kelethres, Albrecht und Ao, wieder zum Leben erwecken, bevor seine Stadt untergeht. Ihr Klient ist kein geringerer als Kos persönlich, der kürzlich verstorbene Feuergott der Stadt Alt Coulumb. Ohne ihn würden die Dampfgeneratoren der Metropole ausfallen, die Züge nicht mehr fahren und die vier Millionen Bürger beginnen zu randalieren. Taras muss Kos wieder auferstehen lassen, bevor das Chaos ausbricht. Ihre einzige Hilfe ist Abelard, ein kettenrauchender Priester des toten Gottes, der verständlicherweise gerade mitten in einer Glaubenskrise steckt. Als Tara und Abelard entdecken, dass Kos ermordet wurde, begeben sie sich auf eine brandgefährliche Suche nach der Wahrheit, die alles und jeden in tödliche Gefahr bringt. Cyberpunk-Fantasy im allerbesten Sinne!

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Seitenzahl: 566

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2021 by Max Gladstone. All rights reserved.

Titel der Englischen Originalausgabe: »Three Parts Dead« by Max Gladstone, published 2012 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA

Deutsche Ausgabe 2021 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Helga Parmiter

Lektorat: Katharina Altreuther

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover-Illustration: Chris McGrath

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDMAXG001E

ISBN 978-3-7367-9852-6

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, November2021,

ISBN 978-3-8332-4100-0

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Prolog

Gott antwortete an diesem Abend nicht.

»Ehre sei deiner Flamme, du nie verlöschende, stets in Wandlung begriffene Majestät«, skandierte Abelard, der vor dem glitzernden Altar aus Messing und Chrom kniete.

Er hasste diesen Teil nach dem Ruf, wenn er auf die Antwort wartete – wenn er wartete und versuchte, sich einzureden, dass alles in Ordnung sei. Gäbe es ein echtes Problem, würden Warnflaggen von der Decke herabfallen, Alarm ertönen und die hohen Tiere des Purpurordens aufgebracht und beflissentlich durch die Seitentüren hereinstürmen.

Wenn es ein echtes Problem gäbe, wäre der einfache Technikernovize Abelard, der so jung war, dass er die Innenseite seiner Tonsur noch rasieren musste, damit nicht allein.

Doch dies war Abelards fünfte Wiederholung des Gebets innerhalb der letzten Stunde. Fünf Mal hatte er sein Haupt vor dem prächtigen Herzfeuer des Herrn gebeugt, das ewig in seinem Metallkäfig knisterte. Fünf Mal hatte er die Worte gesagt und vor Hingabe strotzend seine Seele geöffnet. Er fühlte die flackernde Wärme in seinem Herzen, fühlte die göttliche Wärme, die von dem Altar ausging und die die gewaltige, schreckliche Stadt Alt Coulumb über die Mauern des Heiligtums hinaus mit Energie versorgte. Aber die numinose Gegenwart des Herrn der Flamme …

Nun, sie war nicht vorhanden.

Es war schmerzhafte halb drei Uhr morgens, weshalb Abelard der Diensthabende war und nicht irgendein Bischof oder älterer Priester. Lord Kos der Ewigbrennende musste natürlich jeden Augenblick eines jeden Tags gepriesen werden, aber einige Zeiträume der schwärmerischen Anbetung waren anderen vorbehalten. Abelard war müde, und obwohl er es nicht zugeben wollte, begann er, sich Sorgen zu machen.

Er erhob sich, wandte sich vom Altar ab und holte eine Zigarette aus einer Innentasche seines Gewands.

Er genoss die erste beißende Inhalation des Rauchs und ging zum Fenster an der Rückwand des Allerheiligsten, das sechs Meter hoch und zwölf Meter breit war. Jenseits der Scheibe breitete sich Alt Coulumb in Spinnweben aus gesponnenen Stahl- und Granitblöcken aus. Eine Hochbahn wand sich zwischen den spitzen Metalltürmen des Geschäftsviertels im Norden hindurch und zog ihren Abdampf vor dem schieferschwarzen Himmel hinter sich her. Im Osten, unsichtbar jenseits der Kuppeln und Paläste des Vergnügungsviertels, wogte der Ozean gegen die Frachtdocks und markierte mit seinem unaufhörlichen Wellenschlag den Stadtrand. Die Stadt einer Nation – die Stadt, die eine Nation war.

Gewöhnliche Allerheiligste hatten keine Fenster, jedoch war Kos der Ewigbrennende keine gewöhnliche Gottheit. Die meisten Götter zogen es vor, der Erde ihre Privatsphäre zu lassen und ihr Volk aus der fernen Gelassenheit des Himmels zu beobachten. Kos hatte die Götterkriege zum Teil deswegen überlebt, weil es ihm nicht lag, sich von der Welt abzuschotten. Von hier unten, so behauptete er, habe man einen besseren Blick auf die Menschheit als von hoch oben.

Was Götter für Nähe hielten, war für den Menschen jedoch oftmals fern, und auch wenn Lord Kos an der Nähe seines Allerheiligsten zu seinem Volk Gefallen fand, war dessen Abgelegenheit für Abelard tröstlich. Von diesem Fenster aus konnte er die Schönheit der Architektur von Alt Coulumb betrachten, während die unendliche Zahl der kleinen Abscheulichkeiten seiner Bewohner, ihre Morde und Treuebrüche, ihre Laster und Süchte so winzig waren, dass sie beinahe unsichtbar wurden.

Er stieß eine Rauchfahne aus und sagte zu der Stadt: »Na schön. Jetzt wollen wir mal sehen, ob wir dich nicht anheizen können.«

Er drehte sich um.

Im Nachhinein schien ihm alles ein wenig aus dem Ruder gelaufen zu sein.

Zuerst wurden mehrere Türen gleichzeitig aufgestoßen und eine Reihe bärtiger Männer in purpurroten Gewändern stürmten herein. Ihre zerzausten Haare und trüben Augen deuteten darauf hin, dass sie vor Kurzem aus dem Schlaf gerissen worden waren. Alle schrien und eine beunruhigende Mehrzahl von ihnen starrte Abelard verärgert an.

Dann ging der Alarm los. Und zwar überall.

Für Menschen, die noch nie ein Allerheiligstes gehütet haben, ist es schwierig zu verstehen, wie viele Dinge innerhalb eines einzigen Heiligtums schiefgehen können: Gottschaffende Vereinigungen könnten sich voneinander trennen oder sich falsch ausrichten, Gnadenaustauscher überhitzen, Gebetsmühlen sich von ihren Gebetsachsen freidrehen. Jedes potenzielle Problem erforderte einen einzigartigen Alarm, um den Technikern zu helfen, das zu finden und zu beheben, was auch immer gefunden und schnellstmöglich behoben werden muss. Jahrzehnte zuvor war irgendein geistreicher Priester auf die Idee gekommen, jedem Alarm die Stimme eines anderen Loblieds zu verleihen: die scharfzüngige »Litanei der verbrannten Toten« für einen Dampfdurchbruch, das »Lied der glorreichen Bewegung« für zusätzliche Reibung an der Hydraulik und so weiter.

Die Musik von hundert Chören brach aus allen Ecken des Heiligtums hervor und wuchs in einer einzigen Kakofonie zusammen.

Einer der älteren Purpurpriester näherte sich dem armen Abelard, dessen Zigarettenkippe noch immer zwischen seinen Lippen schwelte.

Dann sah Abelard das, was ihm als Erstes hätte auffallen müssen.

Das Feuer. Die ewige Flamme auf dem Altar des Trutzigen, gefangen in seinem Thron.

Sie war weg.

1

Als die Verborgenen Schulen Tara Abernathy hinauswarfen, fiel sie tausend Meter tief durch Wolkenfetzen und erwachte gebrochen und blutend, aber lebendig neben der Weltspalte.

Durch die Gnade des Schicksals (oder etwas anderem) landete sie nur fünf Kilometer von dem entfernt, was als Oase im Ödland galt, ein Fleck mit sprödem Gras und Brombeersträuchern, die eine brackige Quelle umstanden. Laufen konnte sie nicht, aber als die Sonne aufging, schaffte sie es zu kriechen. Mit Schmutz und getrocknetem Blut bedeckt, schleppte sie sich über Sand und Dornen zum Schlammtümpel im Herzen der Oase. Sie trank verzweifelt von dem Wasser, und um dem Tod zu entkommen, trank sie auch das Leben dieses trostlosen Orts. Gras verdorrte in der Umklammerung ihrer Finger. Gestrüpp schrumpfte zu ausgetrockneten Spelzen zusammen. Die Oase starb um sie herum und krümmte sich gepeinigt von Wunden und tiefsitzender Krankheit auf dem trockenen Erdreich.

Traumvisionen, die durch ihre Nähe zur Spalte an Macht und Gestalt gewannen, zerfetzten sich gegenseitig in ihrem Fieber. Sie sah andere Welten, in denen die Götterkriege nie stattgefunden hatten, mit eisernen Herrschern, und in denen Menschen ganz ohne Magie fliegen konnten.

Als Tara das Bewusstsein wiedererlangte, war die Oase tot, ihre Quelle trocken, Gras und Brombeersträucher zu Staub zerfallen. Aber sie lebte. Sie erinnerte sich an ihren Namen. Sie erinnerte sich an ihre Kunst. Ihre letzten zwei Monate in den Verborgenen Schulen wirkten wie eine verdrehte Halluzination, aber sie waren real. Die Glyphen, die auf ihre Arme und zwischen ihre Brüste tätowiert waren, bewiesen, dass sie dort über den Wolken gelernt hatte. Die Glyphe unter ihrem Schlüsselbein bedeutete, dass sie wirklich ihren Abschluss gemacht hatte, bevor man sie hinausgeworfen hatte.

Sie hatte natürlich gegen sie gekämpft, war mit Schatten und Blitzen in die Schlacht gezogen und hatte verloren. Während ihre Professoren sie über dem leeren Raum zappeln ließen, erinnerte sie sich an eine sanfte, unerwartete Berührung – eine Frauenhand, die in ihre Tasche glitt, und das Flüstern einer tiefen Frauenstimme, bevor die Schwerkraft einsetzte. »Wenn du das überlebst, werde ich dich finden.« Dann folgte der Sturz.

Tara blinzelte in die Sonne und zog eine eierschalenfarbene Visitenkarte aus der Tasche ihrer zerrissenen Hose. Auf ihr war der Name »Elayne Kevarian« über dem dreieckigen Logo von Kelethras, Albrecht und Ao, einer der renommiertesten Kunstwirkerfirmen der Welt, zu lesen. Professoren und Studenten an den Verborgenen Schulen flüsterten den Namen der Frau – und den der Firma – voller Angst und Ehrfurcht.

Ein Stellenangebot? In Anbetracht der Umstände unwahrscheinlich, und selbst wenn das der Fall wäre, war Tara nicht geneigt, es anzunehmen. Die Welt der Kunst war in letzter Zeit nicht nett zu ihr gewesen.

Ungeachtet dessen waren ihre Prioritäten klar. Zuerst Essen. Unterkunft. Wieder zu Kräften kommen. Dann vielleicht an die Zukunft denken.

Guter Plan.

Sie brach zusammen.

Stille senkte sich über das Ödland.

Ein Bussard stieß vom trockenen blauen Himmel in enger werdenden Kreisen herab wie ein Holzspan in einem Abflussbecken. Er landete neben ihrem Körper, hüpfte vorwärts. Kein Herzschlag hörbar; das Fleisch kühlte ab. Er war überzeugt, beugte den Kopf vor und öffnete den Schnabel.

Taras Hand zuckte schnell wie eine Kobra hoch und drehte dem Vogel den Hals um, bevor er fliehen konnte. Die anderen Bussarde, die sich gerade zusammenscharten, verstanden den Wink und brachten sich in Sicherheit. Aber ein Vogel, der laienhaft über einem Feuer aus trockenem Gras und Zweigen gebraten wurde, war mehr als genug, um einem halb verhungerten Mädchen wieder auf die Beine zu helfen.

Vier Wochen später traf sie ausgemergelt und sonnenverbrannt am Stadtrand von Edgemont ein und sah Dinge, die streng genommen nicht existierten. Ihre Mutter fand sie zusammengebrochen in der Nähe ihres Viehzauns. Viele Tränen folgten auf ihre Entdeckung und viel Geschrei und noch mehr Tränen nach dem Geschrei und dann viel Suppe. Die Mütter aus Edgemont waren für ihre praktische Veranlagung bekannt und insbesondere Ma Abernathy setzte eisernes Vertrauen in die regenerierende Kraft von Hühnerbrühe.

Taras Vater zeigte sich angesichts der Umstände verständnisvoll.

»Tja, du bist wieder da«, sagte er mit besorgtem Ausdruck auf seinem breiten Gesicht. Er fragte nicht, wo sie die letzten acht Jahre gewesen war oder was dort passiert war oder wie sie sich ihre Narben eingehandelt hatte. Tara hätte ihm dafür gedankt, wenn sie gewusst hätte, wie. Es gab zu viele Möglichkeiten, wie er hätte sagen können: »Ich habe es dir ja gesagt.«

An diesem Abend saß die Familie Abernathy an ihrem Küchentisch und legte die Geschichte fest, die sie den anderen Bewohnern von Edgemont erzählen würde: Als Tara mit sechzehn Jahren von zu Hause wegging, heuerte sie bei einem reisenden Händler an, von dem sie die Grundlagen der Kunst erlernte. Die Verborgenen Schulen blieben ihr verschlossen, und schließlich kehrte sie, müde vom Staub und dem langen Umherziehen, nach Hause zurück. Die Lüge war gut genug, und sie erklärte Taras unbestreitbares Geschick mit Verträgen und guten Geschäften, ohne die verbreitete Furcht vor echten Frauen der Kunst zu schüren.

Tara verbannte die Visitenkarte aus ihren Gedanken. Die Menschen in Edgemont brauchten sie, obwohl sie sie aus der Stadt jagen würden, wenn sie wüssten, wo sie gelernt hatte, ihre Talente einzusetzen. Ned Thorpe verlor jedes Jahr die Hälfte des Gewinns seiner Zitronenernte, was auf eine schlechte Schiedsklausel im Vertrag seines Wiederverkäufers zurückzuführen war. Geister stahlen die Vermächtnisse toter Männer durch Schlupflöcher in schlecht geschriebenen Testamenten. Tara bot ihre Dienste zunächst zögerlich an, doch schon bald musste sie sogar Arbeit ablehnen. Sie war eine produktive Bürgerin. Ladenbesitzer kamen zu ihr, um ihre Verträge aufzusetzen, Bauern baten sie um Hilfe bei der Investition der wenigen Fetzen Seelenstoff, die sie mühsam dem trockenen Boden entreißen konnten.

Nach und nach sammelte sie die Scherben ihrer Kindheit auf: heißer Kakao und Hufeisenwerfen auf dem Rasen im Vorgarten. Es war leichter als erwartet, sich wieder an ein Landleben ohne viel Kunst zu gewöhnen. Fließendes Wasser in Innenräumen war wieder ein Luxus. Als der Sommer kam, saßen sie und ihre Eltern draußen in der Brise oder drinnen mit geschlossenen Fenstern und Jalousien, um die Hitze abzuwehren. Wenn kalter Wind wehte, zündeten sie ein Feuer mit Holz und Feuerstein an. Es wurden keine Luftelementare gerufen, um die Stirn zu fächeln, und die kalten Räume wurden nicht durch feurige Tänzer erwärmt. In der Schule hatte sie ein solches Leben als einfach, provinziell und langweilig verdammt, aber Worte wie »einfach«, »provinziell« und »langweilig« erschienen ihr jetzt nicht mehr so abwertend.

Einmal hätte sie sich nach einem Tanz zur Sonnenwende auf dem Dorfplatz fast einen Liebhaber genommen. Sie taumelte beschwipst und Arm in Arm mit einem Jungen zurück, an den sie sich kaum noch aus ihrer Zeit in Edgemonts Schule mit den zwei Klassenzimmern erinnerte, und der zu einem jungen Mann herangewachsen war, der sich um die Schafe seiner Familie kümmerte. Dann machte sie in der flüchtigen Sommernacht halt, um sich auf einer Düne auszuruhen und die Sterne zu beobachten. Der junge Mann saß neben ihr und beobachtete mit ihr, aber als er ihr Gesicht und den unteren Bereich ihres Rückens berührte, zog sie sich zurück, entschuldigte sich und ging.

Die Tage waren lang und sicher, aber sie spürte, wie etwas in ihr verdorrte, während sie dort verweilte. Die Welt jenseits von Edgemont, die Welt der Kunst, die tiefgründiger war als die Frühjahrsanpflanzung eines Bauern und das Heilen kleiner Schnitte und Prellungen, verblasste und begann unwirklich zu erscheinen. Ihre Erinnerungen an die Verborgenen Schulen nahmen den baumwollartigen Schleier eines Traums an, und sie erwachte ein- oder zweimal aus Albträumen, in denen sie ihr Zuhause nie verlassen hatte.

*

Die Plünderer schlugen drei Monate nach der Sonnenwende in der Nacht zu. Sie waren schnell und brutal und nahmen nur wenig mit. Doch im Morgengrauen lagen drei der Wächter von Edgemont auf dem Schlachtfeld, im Tode durch einen anhaftenden Fluch geschrumpft, der alles, was sich näherte, zerfressen hatte. Die Dorfbewohner hoben die Leichen mit langen Speeren aus kaltem Eisen an und begruben sie in einem gesegneten Grab. Der Kaplan sagte ein paar Worte, und während Edgemont sein kollektives Haupt beugte, beobachtete Tara, wie er den Glauben der Stadt zu einem Netz verwob und von jedem Mann oder jeder Frau den wenigen Seelenstoff nahm, den er oder sie sich leisten konnte, und ihn eng um die lockere Erde band. Er war kein Kunstwirker, aber seine angewandte Theologie war solide.

Tara verließ das Grab als Letzte.

»Ich weiß nicht, wie wir zurechtkommen sollen.« Zwischen Beerdigung und Totenwache stand Vater allein an ihrem Kamin. Der Whiskey in seinem Glas hatte die gleiche Farbe wie ihr kleines frühherbstliches Feuer. »Es waren gute Jungs und hervorragend ausgebildet. Sie hielten die Plünderer jahrelang fern. Wir müssen andere anheuern, aber den Preis dafür können wir nicht aufbringen.«

»Ich kann helfen.«

Er warf ihr einen Blick zu und sie sah einen Hauch von Angst in seinen Augen. »Du bist keine Kämpferin, Tara.«

»Nein«, gab sie zu. »Aber ich kann mehr tun, als nur kämpfen.«

»Wir schaffen das schon.« Sein Ton duldete keinen Widerspruch. »Wir haben es sonst auch geschafft.«

Sie ließ sich nicht auf einen Streit mit ihm ein, aber sie dachte: Die Fähigkeiten des Kaplans sind veraltet. Er hat Schwierigkeiten, die Sicherheit des Dorfs zu gewährleisten. Was nützt all das, was ich gelernt habe, wenn ich die Menschen, die mir wichtig sind, nicht beschützen kann?

Ihr Vater wandte sich vom Kamin ab und fixierte sie mit seinem ruhigen Blick. »Tara, versprich mir, dass du nicht … eingreifst.«

In den letzten Monaten hatte Tara gelernt, dass die besten Lügen die waren, die man nicht aussprach. »Papa, hältst du mich für dumm?«

Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter. Das war Tara ganz recht, denn sie hatte nichts versprochen. Ihr Vater war zwar kein Kunstwirker, aber alle Versprechen waren gefährlich.

In dieser Nacht sprang sie aus ihrem Zimmer im zweiten Stock und bediente sich ein wenig der Kunst, um ihren Sturz abzufedern. Schatten drängten sich auf ihrem Weg zu dem frischen Grab um sie. Die Stimme ihres Vaters hallte in ihren Ohren wider, als sie die Schaufel von ihrem Rücken nahm. Sie ignorierte sie. Diese dunkle Arbeit würde Edgemont und ihrer Familie helfen.

Außerdem würde es Spaß machen.

Sie benutzte die Kunst nicht, um das Grab zu öffnen. Das war eine der wenigen Regeln, die eine Kunstwirkerin immer befolgte, selbst auf den höchsten Studienstufen. Je frischer die Leichen, desto besser, denn die Kunst entzog ihnen die Frische. Stattdessen verließ Tara sich auf die Kraft ihrer Arme und ihres Rückens.

Nachdem sie den ersten Meter gegraben hatte, zerrte sie sich einen Muskel und begab sich in sichere Entfernung, um sich auszuruhen, bevor sie wieder auf das Erdreich losging. Die Schaufel war nicht für diese Arbeit gemacht, und ihre Hände waren seit Monaten aus der Übung; ihre alten Grabschwielen waren weich geworden. Sie hatte die Arbeitshandschuhe ihres Vaters gestohlen, aber die waren ihr viel zu groß, was schon komisch wirkte. Sie rieben an ihrer Haut und verursachten Blasen, die fast so schlimm waren wie die, die sie damit hatte verhindern wollen.

Es dauerte eine Stunde, um sich zu den Leichen vorzuarbeiten.

Sie waren ohne Särge begraben worden, damit der Boden ihre Leichen schneller beanspruchen und ihnen den Giftzauber entziehen konnte. Tara hatte nicht einmal ein Brecheisen mitbringen müssen. Das Herausziehen der Leichen aus dem Loch war jedoch schwieriger, als sie erwartet hatte. In der Schule gab es Golems für diese Art von Arbeit – oder Mietlinge.

Als sie die erste Leiche an den Handgelenken packte, sprang der Fluch der Plünderer über und verbrauchte sich an den Schutzzaubern der Glyphen in ihrer Haut. Obwohl der Fluch harmlos für sie war, brannte er dennoch so schlimm wie damals, als sie ihren Hund als kleines Mädchen durch Brennnesseln jagte. Sie fluchte.

Die Leichen aus dem Grab zu holen, machte mehr Lärm, als Tara lieb war, aber sie konnte nicht in der Grube arbeiten. Der Rand des Grabs grenzte den Nachthimmel ein und sie wollte so viel Sternenfeuer wie möglich für die bevorstehende Arbeit. Es war zu lange her, dass sie das letzte Mal ihre Flügel ausgestreckt hatte.

Im Nachhinein betrachtet war das Ganze eine wirklich außerordentlich wunderbar schlechte Idee. Hatte sie Dankbarkeit der Bewohner von Edgemont erwartet, wenn ihre toten Kameraden am nächsten Abend aus zungenlosen Mündern stöhnend auf ihre Posten stolperten? Gleichzeitig war es aber auch eine so geniale Idee – einfach und logisch. In einer Schlacht Gefallene würden dem Erdreich nicht viel zurückgeben, aber ihre Leichen besaßen noch genug Kraft, um für Edgemont zu kämpfen. Diese Wiedergänger sprachen vielleicht nicht und begriffen langsamer als lebende Wächter, aber keine Wunde konnte sie abschrecken und die bösartigste Kunst würde ohne merkliche Wirkung durch ihre wankenden Leichen gleiten.

Von nichts kam natürlich nichts. Das Geschäft der Exhumierung folgte strikten Regeln. Eine Leiche enthielt ein gewisses Maß an Ordnung. Die Fortbewegung beanspruchte das meiste davon, die einfache Sinneswahrnehmung einen Großteil des Rests, also blieb nicht viel für die Wahrnehmung übrig. Laien verstanden das nur selten. Es war nicht so, dass eine Kunstwirkerin einen Menschen nicht unverändert wieder zum Leben erwecken konnte, aber sie beschloss, es nicht zu tun.

Sie zog den gebogenen scharfen Mondstrahl, der ihr als Arbeitsmesser diente, aus seinem Versteck in der Glyphe über ihrem Herzen und hielt ihn hoch, um ihn mit Sternenlicht zu tränken. Dann machte sie sich an die Arbeit, an die Verflechtung von Geist und Materie, die die meisten Leute auch noch einige Zeit nach dem Tod als Mensch bezeichneten.

Ein Wiedergänger brauchte keinen eigenen Willen oder zumindest keinen so robusten, wie die meisten Menschen ihnen zuschrieben. Zerschneiden! Und auch keine komplexen Emotionen, obwohl diese für das menschliche Tier grundlegender und daher schwieriger loszulösen waren. Sie ließ die Schneide ihres Messers erst gezackt werden, um sie auszusägen, dann fein und scharf wie ein Skalpell, um die lästigen Teile herauszuschneiden. Lass ein Fragment der Selbsterhaltung zurück und die brodelnde Wut, die von den letzten Lebensmomenten des Subjekts übrig geblieben ist. Es gibt fast immer Wut, hatte Professor Denovo immer wieder geduldig erklärt. Manchmal muss man nach ihr graben, aber sie ist trotzdem da. Und verschüttet unter den Trümmern der jahrtausendealten Zivilisation fand sich die grundlegendste menschliche Identifizierungskraft: das ist mein Volk. Die anderen, nun ja, die sind Nahrung.

Wie im Lehrbuch.

Tara kostete die Arbeit voll aus. Während ihr Messer durch totes Fleisch drang, spürte sie, wie jahrelange Qualen und der Wachtraum von Edgemont verblassten. Dies war echt, der säuerlich-beißende Geruch verschweißter Nerven, der Seelenstoff, der durch ihre Hände floss, die Zuckungen der Leichen, während sie ihre Kunst an ihnen ausübte. Als sie dies vergaß, hatte sie ein Stück von sich selbst vergessen. Jetzt war sie wieder vollständig.

Was sie dem fackeltragenden Mob eher nicht erklären konnte. Ihr Schrei, als sie der Fluch der Plünderer traf, musste es ihnen verraten haben, oder aber die Dunkelheit, die sich im Dorf ausbreitete, als sie Sternenfeuer und Mondlicht durch ihren Geist miteinander verwob, um den Toten einen Anflug von Leben zu verleihen. Vielleicht war es der Donner der Wiederbelebung gewesen wie von einem Grabstein, der aus grauenhafter Höhe herunterfiel.

Außerdem hatte sie schrill gelacht, als die Leichen unter ihr erwachten: ein Lachen aus vollem Halse, das die Erde zum Beben brachte. Es gehörte zum guten Ton, auf Kosten des Todes schallend zu lachen, obwohl Professor Denovo seinen Studenten immer empfohlen hatte, Diskretion zu üben, vielleicht für Fälle wie diesen.

»Plünderer!«, rief der vorderste Edgemonter, ein Weizenbauer mittleren Alters mit einem runden Bierbauch und dem abwegig heroischen Namen Roland DuChamp. Tara hatte einen Monat zuvor das Testament seines Großvaters für ihn geregelt. Jetzt war er erfüllt von der Wut eines Manns, der es mit etwas aufnahm, das er nicht verstehen konnte. »Sie wollen noch mehr Blut!«

Es war wenig hilfreich, dass die Schatten immer noch an Tara hafteten und sie vor ihren Blicken abschirmten. Was die Edgemonter auf der anderen Seite des Friedhofs sahen, war mehr Monster als Frau, eingehüllt in Sternenfeuer und von der Nacht erschaffenes Fleisch, bis auf die Stellen, an denen ihre Schulglyphen in reinstem Silber aufglühten.

Die Stadtbewohner hoben ihre Waffen und rückten unsicher vor.

Tara legte ihr Messer weg und streckte ihre Hände aus, um freundlich oder zumindest weniger bedrohlich zu wirken. Die Schatten verbannte sie allerdings nicht. Ihre Rückkehr war für Mutter und Vater schon unangenehm genug gewesen, auch ohne dass sie einen fackelschwingenden Mob dazu brachte, über sie herzufallen. »Ich bin nicht hier, um jemandem wehzutun.«

Die Leichen wählten natürlich genau diesen Moment, um sich aufzusetzen, mit schauerlichen Stimmen zu knurren und ungeschickt Waffen in ihren Skeletthänden zu schwingen.

Der Mob schrie. Die Leichen stöhnten. Durch die Dunkelheit schossen die fünf verbliebenen Wächter von Edgemont heran, die die Macht ihres Amts um sich zusammengezogen hatten. Weißer Lichtschein umgab die Wächter, der ihnen eine spektrale Rüstung und die Kraft von zehn Männern verlieh. Tara wich weiter zurück und sah sich nach einem Fluchtweg um.

Der älteste Wächter, Thom Baker, hob seinen Speer und rief: »Stehen bleiben, Plünderer!«

Drei seiner Kameraden fielen über ihre Wiedergänger her und rangen sie nieder. Tara hatte ihre Arbeit gut gemacht: Da sie ihre Freunde erkannten, leisteten die Leichen nur wenig Widerstand.

Die Chancen standen zwei zu eins gegen sie, und wie ihr Vater wusste, war sie keine Kriegerin. In diesem Stadium wäre es wahrscheinlich wenig hilfreich gewesen, ihren Mantel der Dunkelheit fallen zu lassen und sich an Erklärungen zu versuchen. Sie hatten sie dabei erwischt, wie sie die Toten erweckte. Vielleicht war sie doch nicht Tara Abernathy, sondern etwas, das Taras Haut trug. Sie würden ihr den Kopf abschneiden und zu ihrer Familie weiterziehen, um alle auf einen Schlag zu erledigen. Man würde im Namen der Götter kurzen Prozess machen, auch wenn die meisten davon gefallen waren.

Tara steckte in Schwierigkeiten. Die Mitglieder dieses Mobs waren nicht in der Stimmung, über den wertvollen Beitrag zu diskutieren, den ihre Kunst für ihre Leben leisten konnte. In ihrem Gemurmel von Wut und Angst hörte sie ihr Verderben.

Ein Wind wehte aus dem Norden heran und verhieß Kälte und Tod.

Blitze spalteten den klaren Nachthimmel. Sturmwolken kochten aus dem Nichts auf und Fackelfeuer flackerten und verzagten. Der Rüstungsschein der Wächter verblasste und Tara sah darunter ihre wahre Gestalt: Thom Bakers Doppelkinn und Zweitagebart, Ned Thorpes Sommersprossen.

Es donnerte, und eine Frau erschien, die einen Meter über dem Boden schwebte. Ein langer weißer Schal flatterte in der steifen Brise. Sie trug einen dunklen, strengen Anzug mit dünnen weißen Längsstreifen, die wie von einem feinen Pinsel gezeichnet wirkten. Ihre Haut war blass, ihr Haar eisgrau, ihre Augen wie schwarze Löcher.

Ihr Lächeln hingegen war einladend. Geradezu freundlich.

»Sie sind gerade im Begriff, meine Assistentin anzugreifen«, sagte sie mit sanfter, aber gut hörbarer Stimme, »die Ihrer Gemeinde hilft und dafür als einzige Bezahlung die Befriedigung erhält, für das öffentliche Wohl zu arbeiten.«

Thom Baker versuchte, etwas zu sagen, aber sie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Wir werden anderswo gebraucht. Behalten Sie die Zombies. Vielleicht brauchen Sie sie.«

Diesmal gelang es Thom, Wörter zu bilden: »Wer sind Sie?«

»Ah«, sagte die schwebende Frau. Sie streckte eine Hand aus. Zwischen ihren ersten beiden Fingern hielt sie ein kleines weißes Rechteck aus Papier, eine Visitenkarte, die identisch mit der in Taras Tasche war. Thom nahm die Karte behutsam entgegen, als wäre sie mit Gift überzogen, und untersuchte sie verwirrt. Er hatte noch nie Papier gesehen, das sich nicht in einem Schul- oder Hauptbuch befand.

»Mein Name«, fuhr die Frau fort, »ist Elayne Kevarian. Ich bin Partnerin in der Firma Kelethras, Albrecht und Ao.« Tara hörte die scharrenden Füße der Edgemonter in der anschließenden Stille. Die Leichen stöhnten erneut. »Bitte zögern Sie nicht, sich mit mir in Verbindung zu setzen, wenn Sie Probleme mit Ihren neuen Verbündeten haben.«

»Verbündete?« Thom blickte auf die Wiedergänger hinunter. »Was sollen wir mit ihnen machen?«

»Halten Sie sie vom Wasser fern«, erwiderte sie. »Sie lösen sich sonst auf.«

Es gab einen weiteren Windstoß, und Tara spürte, wie sie von Flügeln der Nacht aufwärts und davongetragen wurde.

Sie befanden sich fünfzehn Kilometer außerhalb von Edgemont, als Miss Kevarian sich an diesem Abend zum ersten Mal an Tara wandte. »Das war ein übles bisschen Inkompetenz, Miss Abernathy. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, vertraue ich darauf, dass Sie in Zukunft umsichtiger sein werden.«

»Sie bieten mir einen Job an?«

»Natürlich«, sagte Miss Kevarian mit einem irritierten Lächeln. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Sie zu Ihren Mitmenschen zurückbringe?«

Tara blickte zurück auf die schwindenden Lichter des Dorfs und schüttelte den Kopf. »Was immer Sie von mir verlangen, es kann nur besser sein als das.«

»Sie werden vielleicht überrascht sein.« Sie stiegen in Wolken und Donner weiter auf. »Durch unsere Arbeit sind wir dem Mob immer einen Schritt voraus. Das ist alles. Wenn Sie Ihr Ego Ihre Vernunft regieren lassen, werden Sie die Dorfbewohner mit Mistgabeln wartend vorfinden, egal wie weit Sie gereist sind, egal was Sie in ihrem Namen getan haben.«

Trotz der Zurechtweisung breitete sich ein entschlossenes Lächeln auf Taras Gesicht aus. Sollte Edgemont doch seine Fackeln schütteln, sollten die Verborgenen Schulen schimpfen und Professor Denovo schäumen vor Wut. Tara Abernathy würde trotzdem leben und die Kunst ausüben. »Ja, Ma’am.«

*

Es ist schwer, einen Kodex in einem Sturm in dreitausend Metern Höhe zu lesen. Der Regen war kein Problem; Tara schützte sich und ihre Bücher unter einem großen Regenschirm. Aber der Schirm hielt den Wind nicht ab, und wenn man auf einer Plattform aus massivem Nichts am Himmel fliegt, gibt es ziemlich viel Wind.

»Bei deothaumaturgischen Interessenskonflikten verhält sich die Gerechtigkeit nach einem Paradigma, das ursprünglich im siebzehnten Jahrhundert festgeschrieben wurde, und zwar von …«

Gerade als der Satz anfing, Sinn zu ergeben, riss ihr eine besonders bösartige Böe die Seite aus den Fingern und blätterte sie um. Darunter kam eine Reihe schwarzer, spindeldürrer Buchstaben zum Vorschein. Dort stand: »Kapitel 7: Persönlicher Standard.«

Sie schloss das Buch mit einem Seufzer und legte es oben auf den Stapel. Ganz unten im Stapel lagen Basistexte, kurz und bündig betitelte Abhandlungen, deren Inhalt sie schon vor Jahren verinnerlicht hatte: Verträge, Rechtsmittel, Leichname. Auf ihnen wippten umfangreichere Werke, die Miss Kevarian während ihres mitternächtlichen Zwischenstopps in Chikal aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Tara hatte vorgehabt, diese während des Flugs zu überfliegen, aber sie waren zu kompliziert, da sie sich auf obskure Tricks und arkane Wendungen der Theorie stützten, die sie in der Schule nur mühsam verstanden, aber seither nicht mehr wiederholt hatte.

Sie sah hoch zu Elayne Kevarian – ihrer Chefin, rief sie sich ins Gedächtnis – und verwarf den Gedanken, sie um Hilfe zu bitten. Miss Kevarian hatte zu tun. Sie schwebte fünf Meter vor Tara, den Kopf nach hinten geneigt, die Arme ausgestreckt, und griff nach Blitzen, als wären sie die Zügel der Wolken. Sturmwinde bliesen ihr Haar wie wabernden Rauch umher, und Regentropfen zerplatzten zu Dampf, bevor sie die Wolle ihres grauen Nadelstreifenanzugs benetzen konnten.

Unter ihnen fiel der Regen und darunter erstreckte sich kilometerweit Ackerland. In den vier Jahrzehnten, die seit dem Ende der Götterkriege vergangen waren, hatten sich die Bauernhöfe und Dörfer, die unter ihnen verstreut lagen, erholt, waren gediehen und blieben unter sich. Dort unten lebten Menschen, die nie in ihrem Leben geflogen waren, nie ihre Heimatstadt verlassen hatten, nie eine andere Nation gesehen hatten, geschweige denn einen anderen Kontinent. Tara war einmal eine von ihnen gewesen. Jetzt nicht mehr.

Daraufhin fühlte sie sich schuldig und nahm aus ihrer Umhängetasche ein Stück Pergament, ein kleines Schreibbrett und einen Federkiel.

Sie begann den Brief:

Liebe Mutter und lieber Vater,

ich habe gestern Abend ein dringendes Jobangebot erhalten. Ich freue mich über diese Gelegenheit, obwohl es mir leidtut, so schnell von zu Hause wegzugehen. Ich hatte die Absicht, länger zu bleiben.

Es war wunderbar, euch beide zu sehen. Der Garten macht sich gut, und das neue Schulhaus sieht aus, als ob es noch größer und besser als das letzte sein wird.

Sagt Edgemont auf Wiedersehen und grüßt es von mir, und wenn es euch nichts ausmacht, backt bitte ein paar Kekse für den Kaplan und sagt ihm, sie seien von mir …

*

Der Morgen war zu schön, als dass Al Cabot sterben könnte. Der Sturm war in der Nacht vorübergezogen und hatte Wolkenfetzen hinterlassen, die sich rot färbten, als die Sonne sich am Horizont wölbte. Mit dem Westwind näherte sich eine weitere Gewitterfront, aber für den Moment war der Himmel klar. Al ging mit einer Teetasse in der Hand auf seinen Dachgarten hinaus und nahm sich einen Moment Zeit zum Durchatmen. Seinem Arzt zufolge musste er das öfter tun, sonst würde er nicht mehr lange atmen können.

Al war ein Mann, der während einer Karriere, in der er hinter einem Schreibtisch saß und von einem schlecht beleuchteten Raum in den nächsten schlurfte, nervös und fett geworden war. Er hatte nie die Zeit gehabt, zu schwitzen und sich die harten Muskeln eines gewöhnlichen Straßenarbeiters anzueignen. Er erzählte seinen wenigen Freunden, dass es ihn besonders hart getroffen hätte, aber die Straßenarbeiter fragte nie jemand.

Er genoss das Morgenlicht bei einem Schluck Nachtschattentee, der für normale Menschen giftig war, aber er war wohl kaum noch normal zu nennen. Al war kein Kunstwirker, aber sein Beruf hatte Spuren hinterlassen, so wie die Staublunge eines Bergarbeiters oder der gekrümmte Rücken eines Bauern. Ein halbes Jahrhundert lang hatte er sich zu nahe an der Dunkelheit befunden und ein Teil von ihr war in seine Knochen gekrochen.

Aber es war fast vorbei. Seine Schulden waren beinahe beglichen. Heute fühlte er sich wieder wie vierzig, jung und unbelastet. Seine Sorgen waren mit dem Sturm vorübergezogen, und sobald dieses letzte Stück Arbeit abgeschlossen war, konnte er in den Morgen seines bevorstehenden Ruhestands schreiten.

Sein Butler hatte die relevante Morgenpost auf den Tisch bei den Azaleen gelegt. Beim Durchsehen des flachen Stapels fand Al ein paar berufliche Notizen und einen Brief seines Sohns David, der vor Jahren weggegangen war, um die Welt wiederaufzubauen. Ganze Kontinente seien in den Götterkriegen in Trümmer gelegt worden, hatte David verkündet, als er sich auf sein Abenteuer begab. So viele Nationen und Städte hätten weniger Glück gehabt als wir von Alt Coulumb und wir schuldeten ihnen Hilfe.

Al hatte dem nicht zugestimmt. Es wurden Worte gesagt, die nicht so leicht wieder zurückgenommen werden konnten, nachdem der eigene Sohn in die Alte Welt verschifft worden war. Al hatte versucht, ihn aufzuspüren. Er hatte Kos lange und aufwendige Opfer dargebracht und Gefälligkeiten von Priestern und sogar von den Todlosen Königen eingefordert, die sein Amtszimmer aufsuchten. Doch all seine Bemühungen schlugen fehl. Vor sechs Monaten jedoch war David von sich aus zurückgekehrt, um ein kompliziertes Geschäft vorzuschlagen, lukrativ und gut gemeint, aber von fragwürdiger Rechtmäßigkeit. Er war immer noch ein idealistischer Narr und Al ein Fahnenträger der alten Garde. Aber die Jahre der Trennung hatten sie gelehrt, die meisten ihrer üblichen Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie waren Vater und Sohn, und sie sprachen jetzt miteinander. Das reichte ihnen.

Al tippte auf den Umschlag, überlegte, ihn zu öffnen, und legte ihn wieder hin. Warte. Beginne den Tag richtig. Er nahm einen tiefen Schluck Tee, bitter und rauchig und merkwürdig süß.

Der Azaleenstrauch hinter ihm raschelte.

Als der Butler fünfundvierzig Minuten später seine Leiche fand, war der starke rötliche Tee aus seiner zerbrochenen Tasse ausgelaufen und hatte sich mit seinem Blut vermischt. Al Cabots Leiche hatte in der Tat sehr viel Blut enthalten. Das meiste davon war nun in einer bereits trocknenden, zähflüssigen Pfütze um die zerfetzten Reste seines Fleischs verteilt. Der verschüttete Tee verdünnte es kaum.

2

Schiefer erlangte bald nach Sonnenaufgang seine Sinne wieder und entdeckte zu seiner Bestürzung, dass er blutüberströmt durch eine Hintergasse flüchtete. Die klebrige rote Flüssigkeit war überall – sie durchtränkte seine Kleidung und trocknete in seinem Haar. Sie tropfte von seiner Stirn und rollte seine Wange hinunter in seinen Mund. Am schlimmsten war, dass sie gut schmeckte.

Das Blut war nicht sein unmittelbarstes Problem. Als er einen Blick über seine Schulter warf, sah er, dass er von vier schwarzen Schatten verfolgt wurde, deren menschliche Gestalt die groben Umrisse einer Höhlenmalerei besaßen.

Schwarzanzüge. Agenten der Justiz. Die perfekte Polizei: Bürger wie du und ich geben ihre Autonomie für eine Schicht pro Tag gegen ein Gehalt auf. Man zieht einen Anzug an, und schon ist der Geist in das komplexe Netz der Justiz eingeschweißt, die überall nach Kriminellen und Feinden der Stadt sucht. Die Justiz patrouilliert auf den Straßen und bewacht die Bevölkerung. Die Justiz ist blind, aber sie sieht alles.

Die Justiz verfolgte ihn, unerbittlich und unermüdlich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ins Straucheln geriet.

Göttin im Himmel, er war blutüberströmt. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, wie er an der Fassade eines hohen Gebäudes an unbeweglichen geprägten Bildern von Gargoyles vorbei in Richtung eines Dachgartens kletterte, um sich mit Richter Cabot, dem großen dicken Mann, zu treffen.

Eine weitere Erinnerung dämmerte in dem durch Wut getönten Nebel: Cabots Gesicht, vor Schmerz verzerrt, schreiend. Blutend. Feuer rollte heran und verschlang Schiefer, das Bewusstsein verließ ihn – und hier hatte er seine Augen geöffnet.

Wenn die Schwarzanzüge hinter ihm her waren – die allwissende Justiz fragte sich zweifellos, wie dieser scheinbar normale Mensch ihren Agenten entrinnen konnte, indem er sich in vollem Lauf in Seitengassen duckte und sich zwischen Hindernissen hindurchschlängelte, dort über einen Mülleimer sprang und hier einen Maschendrahtzaun mit zwei gewaltigen Klimmzügen überwand –, wenn die Schwarzanzüge hinter ihm her waren … War es möglich, dass er den Verstand verloren hatte? Sicher. Möglich. Falls man ihn hintergangen hatte.

Hatte er Cabot getötet?

Sein Verstand schreckte vor dieser Aussicht zurück, aber er konnte nicht leugnen, dass ein winziger Teil von ihm beim Gedanken an seinen Tod in Aufregung geriet. Ein winziger, verzweifelter, hungriger Teil.

Scheiße!

Seine Leute, sein Schwarm, wüsste, was zu tun wäre, aber sie waren versteckt, und wenn er sie suchte, würden die Schwarzanzüge ihm folgen.

Er brauchte einen Zufluchtsort, den letzten Ort, an dem sie suchen würden.

Zunächst musste er sich der Verfolgung entziehen. Da die Sterne untergingen und der Mond in der Hölle verborgen war, war eine Verwandlung schwer, aber er hatte keine andere Möglichkeit. Sein Herz schlug schneller, seine Nasenlöcher weiteten sich. Er taumelte vorwärts, stolperte, stürzte fast mit dem Gesicht auf das Kopfsteinpflaster. Gerüche und Geräusche strömten auf ihn ein und überwältigten ihn: Jauche und Gassenschmutz und der würzige Geruch von frisch gebackenem Teig von einem Frühstücksstand am Straßenrand, das Klappern der Kutschenräder und das Klirren des Geschirrs und das Stampfen der Füße der Schwarzanzüge. Süße, übersinnliche Kraft zerdrückte seinen Geist und ließ seine Muskeln zu Brei werden.

Und verwandelte diesen Brei in lebendigen Felsen.

Die Knochen seiner Schultern brachen, verzogen sich und wurden wieder ganz. Flügel aus Stein brachen aus seinem glatten Granitrücken hervor und fächerten auf, um die Luft zu schmecken. Sein Kieferknochen schwoll an, um scharfe, gebogene Zähne zu verankern. Zerbrechliche, fleischige menschliche Hände und Füße spalteten und öffneten sich wie Baumknospen im Frühling und seine großen Krallen blühten von innen hervor.

Die Welt verlangsamte sich.

Er bewegte sich mit großen Sätzen schneller vorwärts, als die Schwarzanzüge folgen konnten – mal auf zwei Beinen, mal auf vier, und sprang von Wand zu Wand, wobei die Krallen tiefe Rillen im Stein hinterließen. Er hatte nicht mehr viel Kraft, aber süße Mutter, er konnte rennen. Er konnte fliegen.

Er war erneut unterwegs zum Penthouse von Al Cabot.

Hinter ihm blieben die vier Schwarzanzüge stehen, ihre unheimlich fließenden Bewegungen verwandelten sich im Nu in die tote Reglosigkeit von Statuen. Sie wandten sich mit glatten, augenlosen Gesichtern einander zu, und wenn sie sich auf eine Weise verständigten, die Menschen nicht hören konnten, war das von außen nicht zu erkennen.

*

»Chefin«, fragte Tara, als sie aufwachte und unter sich ein wogendes Gebiet aus Blau und Grün sah, »warum sind wir über dem Meer?«

Miss Kevarian saß im Schneidersitz mitten in der Luft, ihre Handrücken ruhten auf den Oberschenkeln wie ein meditierender Mönch im Nadelstreifenanzug. Eine Korona aus Sternenfeuer haftete ihrer Haut an und wurde von ihrem Willen in die Plattform gewoben, die sie beide in der Höhe hielt. Die Blitze und stürmischen Winde, mit deren Hilfe sie sie über einen Kontinent hinweg geweht hatte, waren verschwunden. Die Luft war klar und frisch, der Himmel im hellen Violett der nahenden Morgendämmerung gefärbt. Wolken zogen am Horizont auf.

»Was meinen Sie, was der Grund dafür ist?«, antwortete Miss Kevarian.

Tara öffnete ihren Mund, um zu antworten, schloss ihn wieder und sagte dann: »Das ist ein Test.«

»Natürlich ist es ein Test. Vernünftige Leute beantworten Fragen nicht mit weiteren Fragen. Ich weiß anhand Ihrer Leistungen in den Verborgenen Schulen, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten möchte, aber ich habe Ihre logischen Fähigkeiten nicht aus erster Hand gesehen. Ich weiß nicht, ob ich Sie als Assistentin oder als Geschäftspartnerin behandeln soll. Zeigen Sie es mir.«

Eine Möwe flog unter ihnen hindurch, während Tara nachdachte. Der Vogel sah hoch, krächzte erstaunt und ging in einen Sturzflug in Richtung Wasser über.

»Es gibt nur eine Antwort, die einen Sinn ergibt«, sagte Tara schließlich, »aber eine Tatsache passt nicht dazu.«

Miss Kevarian nickte. »Fahren Sie fort.«

»Wir fliegen nicht zu einem anderen Kontinent. Oder auf eine Insel. Den Büchern nach zu urteilen, die ich mir von Ihnen ausleihen durfte, wurden wir für einen umfangreicheren Fall herangezogen, als Sie ihn in irgendeinem Zufluchtsort der Götter im Skeld-Archipel erhalten würden. Definitiv auf unserer Seite des Ozeans – die Neue Welt, befreites Territorium. Erst reisten wir nach Osten, und jetzt fliegen wir nach Westen, das heißt, wir konnten nicht einfach an unserem Ziel landen. Wir mussten vorbeifliegen und dann wenden. Wir müssen an einen Ort unterwegs sein, an dem das Fliegen eingeschränkt ist. Mit anderen Worten, eine Stadt, die immer noch von Göttern regiert wird. Aber …«

»Ja?«

»Wenn wir nach Alt Coulumb fliegen, warum kann ich es nicht von hier aus spüren?«

Miss Kevarian wartete und beobachtete den westlichen Horizont ungerührt mit schwarzen Augen. Unten, inmitten der Dünung und Brandung, sah Tara riesige Schiffe, die aus dieser Höhe wie winziges Spielzeug wirkten. Bei einigen blähten sich die Segel im Wind, andere spuckten dicke Rauchschwaden aus. Rot-schwarze Rümpfe aus Eisenholz schimmerten von den Schutzzaubern, die fleißige Kunstwirkende angefertigt hatten. Dies waren keine verwahrlosten Handelsschiffe, die mit Billigware beladen waren. An dieser Küste der Neuen Welt konnte nur Alt Coulumb eine solche Flotte anlocken. Zwei Drittel aller Frachten, die aus der Alten Welt über den Östlichen Ozean verschifft wurden, liefen durch den mächtigen Hafen dieser Stadt, von Iskar und Camlaan und dem Glutofen Gleb, aus dem reglementierten Reich von König Uhrwerk und der eisigen Einöde, die sich vor Koschei dem Grauenvollen verneigte. Tausende von Karawanen und Händlern kauften der Reihe nach die Schiffswaren en gros und trugen sie nach Westen, flussaufwärts und über die Straße bis in die freien Städte von Nordkath.

»Alles andere leuchtet ein.« Tara betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den Streifen Land, der jenseits des Ozeans unter den hohen, bedrohlichen Wolken sichtbar war, konnte aber aus dieser Entfernung keine Details erkennen. Nur ein paar scharfe Spitzen, die zu Wolkenkratzern gehören mochten, das war alles. »Die Verteidigungsanlagen im Westen, Süden und Norden von Alt Coulumb sind stark genug, um uns fernzuhalten. Sie sind jedoch eine Handels- und Schifffahrtsmacht, deshalb müssen ihre Häfen offen sein. Aber wenn das die Heimat von Kos dem Ewigbrennenden ist, die letzte göttliche Stadt in der Neuen Welt, sollte ich etwas spüren können, aber ich ziehe eine Niete. Kein Seelenstoff, kein Sternenglanz, kein Glaube, keine Aura. Als ob der ganze Ort tot wäre.«

Miss Kevarian nickte. Tara hielt den Atem an. War das Nicken ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? »Vielleicht brauchen Sie einen anderen Fokus, Miss Abernathy. Schließen Sie Ihre Augen und warten Sie.«

Das tat sie. Die Welt war schwarz und ihre unendliche Weite wurde nur durch Elayne Kevarians Silhouette unterbrochen, die ein funkelndes Muster aus Blitzen war, dessen Facetten alle ihr Ganzes widerspiegelten. So etwas hatte Tara erwartet. Mit geschlossenen Augen konnte eine Kunstwirkerin hinter und unter die Welt der groben Materie sehen. Miss Kevarians Muster war jedoch verwischt, als ob Leere über seine Ränder hereinbrach.

Dann bewegte sich die Leere, und Tara erkannte, dass sie überhaupt nicht leer war, sondern gefüllt mit gedämpftem und um sich greifendem Licht: ein Energienetz, komplizierter als jedes Werk menschlicher Kunst, das Tara je gesehen hatte. Unzählige, untereinander verwobene Schichten, die bis in den Himmel reichten, in die Erde eintauchten, sich über das Meer wölbten. In diesem Netz spürte sie die nachhallende, wabernde Hitze eines fernen Feuers.

»Mein Gott.« Taras Kiefer klappte herunter. Als sie die Augen öffnete, blieb Miss Kevarian ungerührt.

»Durchaus«, sagte sie. »Sie hatten noch nie mit Göttern zu tun, oder?«

»Nicht direkt.« Sie zählte ihre Atemzüge und beruhigte ihr rasendes Herz. »Ein- oder zweimal in der Schule, in einer kontrollierten Umgebung. Ich kenne die Theorie natürlich, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.« Tara schloss wieder die Augen und staunte über die vor ihr liegende Komplexität.

Göttliche Kunst war weniger offensichtlich als die sterbliche Variante, zumal die Mechanismen eines Lebewesens für das menschliche Auge weniger deutlich waren als die von Sprungfedern und Stahlzahnrädern. Nur wenige Kunstwirkende konnten das Werk eines Gottes auf den ersten Blick erkennen. Dennoch hatte Tara nicht damit gerechnet, dass die Schutzzauber, mit denen Kos seine Stadt verbarg, so subtil und so groß waren, dass sie deren Grenze nicht finden konnte.

Die Kunst war schwierig zu beherrschen, halb Kunst, halb Wissenschaft und eine Extrahälfte dickköpfige Entschlossenheit. Die meisten Menschen konnten mit ihrem eigenen Seelenstoff kaum eine Kerze anzünden, geschweige denn die in der Welt um sie herum entstehende Kraft binden und lenken. Um einer einzelnen Leiche auch nur ansatzweise Leben einzuhauchen, waren jahrelange Ausbildung und strenge Studien erforderlich. Dieses gewaltige Konstrukt mit seinen Verteidigungswällen, Ausfallsicherungen und seinen subtilen Abhängigkeiten hätte ein Team menschlicher Kunstwirker fünfzig Jahre beschäftigt, um es zu planen und zu gestalten. Es war gewaltig, organisch, allumfassend. Göttlich.

Beim Blick auf Alt Coulumb erlebte Tara zum ersten Mal die gleichen Emotionen, die anderthalb Jahrhunderte zuvor eine Handvoll Theologen und Gelehrte dazu getrieben hatte, die Kunst für sich zu entdecken und die ersten Todlosen Könige zu werden: die Ehrfurcht davor, wie gut göttliche Hände eine Sache gemacht hatten, und das unersättliche Bedürfnis, diesen Entwurf zu vervollkommnen. Dem Sicherungsfilter zum Beispiel, der den Hafen von Alt Coulumb vor Meerestieren schützte, könnte etwas Aufbereitung nicht schaden. Und da war noch etwas anderes, ein schwach ausgeprägtes, allgegenwärtiges Problem, das sie nicht ganz in Worte fassen konnte.

»Tja«, sagte Miss Kevarian, »Sie werden bald Erfahrungen aus erster Hand mit einer Gottheit machen, die den Titel verdient hat.«

»Aber warum«, fragte Tara, »sieht es so kalt aus?«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Schutzzauber sind alle da, sicher. Aber wo ist der Gott darin? Er sollte durch das ganze System hindurchscheinen, aber die Schutzzauber sind dunkel wie Asche. Ist das normal?«

Miss Kevarian öffnete ihren Mund zu einer Antwort.

Doch bevor sie sprechen konnte, machte die feste Luft, auf der sie saßen, einen Satz, bebte und wurde erschreckend durchlässig. Sonnenlicht durchbrach den Morgennebel hinter ihnen und fing den Augenblick in flüssigem Bernstein ein, Himmel und Meer und die ferne, wolkenbedeckte Stadt, blaue Wellen und Schiffe unter ihnen.

Sie fielen.

*

Fliegen ist nicht leicht, und Fallen ist schwerer, als die meisten Menschen denken. Glücklicherweise hatte Tara Übung in beidem. Das letzte Mal, als sie anlässlich ihres sogenannten Abschlusses an den Verborgenen Schulen fiel, hatte sie Zeit, sich darauf vorzubereiten; drei Tage qualvolle Gefangenschaft gingen ihrem ziemlich buchstäblichen Absturz voraus. Andererseits hatte ihre Gefängniszelle sie geschwächt, ebenso wie ihr Kampf gegen ihre ehemaligen Professoren. Vielleicht machten diese Auswirkungen die Vorteile des Vorwissens zunichte.

Blindes, unvernünftiges Entsetzen ist das erste Hindernis, das man überwinden muss, wenn man einen Sturz aus großer Höhe überleben will, aber es ist keineswegs das gefährlichste. Furcht kann den Verstand trüben, aber wenn man mit der Angst im Reinen ist, wie es Tara war, kann sie auch die Konzentration fördern.

Der Wind peitschte an ihrem Gesicht vorbei und der Ozean kam rasend schnell auf sie zu. Tara sah aus den Augenwinkeln ein Funkeln aus Sternenglanz aufleuchten – zweifellos rettete Miss Kevarian sich selbst. War dies ein weiterer Test? Wenn ja, war es ein möglicherweise tödlicher, aber Miss Kevarian schien keine liebevolle oder nachsichtige Person zu sein.

Misstrauen später. Fallen jetzt.

Das zweite und weitaus heimtückischere Hindernis, einen solchen Sturz zu überleben, ist die angenehme Unvermeidbarkeit des Tods. Das Gehirn schaltet sich ab, und die Seele sieht aus der Ferne zu, wie der Körper mit immer größerer Geschwindigkeit dem Untergang entgegenstürzt. Das liegt daran, dass der Instinkt bei vielen Dingen zwar gut, beim Tod aber dumm ist. Der Körper weiß, dass jeder Affe, der mehrere tausend Meter in ein fernes Meer stürzt, in kurzer Zeit tot sein wird, also beginnt er, sich zu entspannen. Männer und Frauen verbringen Jahre in Klöstern und versuchen, die Erleuchtung zu erlangen, die in diesen Momenten des Herabstürzens erreicht wird.

Aber Tara war kein Affe. Genau genommen war sie nicht einmal mehr ein Mensch. Doch was auch immer die Meinung ihres Körpers zu dieser Angelegenheit sein mochte, sie würde nicht aufgeben.

Zweihundertfünfzig Meter. Der Sturz wurde schneller.

Miss Kevarian kannte zweifellos eine elegante Lösung für dieses Problem, etwas Großes und Kompliziertes, das gefährliche Pakte mit dämonischen Wesenheiten beinhaltete. Tara hatte keine derartigen Ressourcen zur Verfügung. Bis auf die stärksten Sterne waren alle vor der aufgehenden Sonne geflohen, und das wenige Licht, das von ihnen übrig blieb, war schwach. Sie konnte sich nur auf ihren eigenen Verstand verlassen. Sie hoffte, das würde ausreichen.

Tara ignorierte die chemische Akzeptanz, die ihr Gehirn überschwemmt hatte, dehnte ihr Bewusstsein über die Grenzen ihrer Haut hinaus aus und machte ihre Seele flach und weit wie eine geometrische Ebene mit unendlicher Reichweite. Sie nahm den fallenden Körper Miss Kevarians wahr, eine Schar Möwen einen Kilometer weiter südlich, huschende Wolken- und Dunstfetzen.

Als ihre Sinne weit wie die Oberfläche eines großen Sees waren, schottete sie sie ab und machte sie undurchdringlich und solide wie altes Holz.

Einige Leute dachten, Materie und Geist seien verschiedene Substanzen, die in einem zarten Tanz miteinander verbunden sind. Das erste Prinzip der Kunst, für dessen Verstehen Tausende von Gelehrten eine peinlich lange Zeit gebraucht hatten, bestand darin, dass Materie und Geist in Wahrheit verschiedene Aspekte derselben Substanz waren, und es gab Tricks, damit das eine sich wie das andere verhielt. Wenn ein breites Stück Stoff, vom Wind gespannt, ihren Fall verlangsamen konnte, so konnte es auch der Geist.

Natürlich ist der Geist unter normalen Bedingungen durchlässiger als Materie. Wäre man töricht genug, seine Seele vollständig in Materie umzuwandeln, würde man zu einem schlaffen Fleischsack, einem sabbernden Idioten, der in dem Moment, in dem er das Atmen vergisst, kaum noch als lebendig gelten könnte. Es galt, einen schmalen Grat zu beschreiten: Konzentriere dein Bewusstsein, aber zerstöre es nicht. Breite deine Seele weiter aus als jeden Fallschirm und lass deine Gedanken und Gefühle langsam, langsam, langsam (aber vielleicht etwas schneller, denn jetzt bist du nur noch einhundertfünfzig Meter über dem Boden) erstarren, bis sie auf physische Materie einwirken können und nach einigen Quadratkilometern leerer Luft anfangen, Widerstand gegen den Durchlass deines Körpers und deiner Seele zu entwickeln.

Nur wenige Menschen haben gespürt, wie ihre Seele sich wie ein Fallschirm hinter ihnen aufbauscht. Während Taras vorherigem Sturz war sie von der Schlacht und der Gefangenschaft betäubt gewesen und hatte nicht wahrgenommen, wie schmerzhaft er war.

Sie schrie. Kein normaler Schmerzensschrei, sondern ein tiefer und blinder Schrei, als die Vernunft sie verließ. Von allen Schreien, die in der enzyklopädischen Audiobibliothek der Verborgenen Schulen katalogisiert sind, ähnelte Taras Schrei am meisten dem Schrei eines Manns, dessen Unterleib von einem Insekt mit gezackten Krallen und dem Gesicht eines Kinds verschlungen wurde.

Nach dem Schrei kam das Vergessen. Sie war gleichzeitig die winzige Feder eines Körpers, die zu einem wogenden Ozean hinabschwebte, und eine diffuse Seelenwolke, eins mit dem Himmel, eins mit dem Wind. Tausend kribbelnde zärtliche Berührungen trafen sie unvorbereitet, als ob sie in einem Regensturm gefangen wäre und die Regentropfen Liebe wären.

Das ist neu, dachte sie, bevor sie auf dem Wasser aufschlug.

*

Abelard saß im Beichtstuhl und rauchte. Er hatte seit zwei Tagen nicht mehr aufhören können. Wenn er zwischen den Inhalationen auch nur eine kurze Pause machte, begann das Zittern. Er konnte kaum eine halbe Stunde durchgehend schlafen, bevor er zitternd aufwachte und verzweifelt nach einem Zug von der Zigarette suchte, die irgendwie immer noch schwelend an seinem Bett lag.

Er hätte müde sein müssen. Vielleicht war er es auch, aber das Zittern war schlimmer als die Erschöpfung. Es zeigte sich zuerst in seinen Fingerspitzen und Zehen, kroch dann die Gliedmaßen hinauf und setzte sich in seinen Unterarmen und Waden fest, bevor es sich an Leiste und Brust festklammerte. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn er zuließ, dass es sein Herz erreichte. Er wollte es nicht herausfinden.

»Das ist normal«, hatte ihm der Arzt des Kardinals gesagt, als er am Vorabend sein Zittern meldete. »Es ist stärker als erwartet, aber normal. Als Initiand der Disziplin der ewigen Flamme rauchst du täglich zwischen drei und fünf Schachteln Zigaretten. Gottes Gnade hat dich vor den schädlichen Auswirkungen der Tabaksucht geschützt, aber unter den gegenwärtigen Umständen wurde dir seine Gnade entzogen.«

Durch den Rat des Arztes fühlte Abelard sich nicht besser. Übelkeit hielt seinen Magen in ihren Klauen, während er zuhörte, und hatte ihn seitdem nicht mehr verlassen. Selbst hier, in Gotts eigenem Beichtstuhl, fühlte er sich leer, verlassen. Der Arzt warnte ihn, er solle aufhören oder das Rauchen wenigstens einschränken, aber Abelard wollte nicht auf ihn hören. Er war seinem Herrn verpflichtet, egal was geschah.

Der Beichtstuhl war eng und karg, zu seiner Rechten durch ein feines Gitter abgegrenzt. Seine Seite war gut beleuchtet und die Seite des Beichtvaters dunkel. Er wusste jedoch, wer sein Beichtvater war. Das war eigentlich nicht erlaubt, aber dies war eine beispiellose Situation.

»Sag mir, mein Sohn«, sagte der Leitende Technikerkardinal Gustave, »hast du etwas Seltsames bemerkt, bevor der Alarm ertönte?« Seine tiefe Stimme hallte in der Enge ihres Beichtstuhls wider. Als jahrzehntelanges Kirchenoberhaupt und Oberhaupt des Kardinalsrates war Gustave daran gewöhnt, vor großen Hallen zu sprechen und gegen Ungerechtigkeit zu wettern. Jahre der Führung und der Kirchenpolitik hatten ihn etwas ungeschickter darin gemacht, eine einzige unruhige Seele zu unterstützen. Er versuchte es, aber er war müde.

Abelards Bizeps und seine Oberschenkel zitterten.Halt, verdammt, sagte er sich. Der Kardinal schaut zu. Der Beichtende sitzt ohne Gottes Gnade da, sucht Wiederherstellung und verdient den Geschmack der Flamme nicht. Du hast vorher schon durchgehalten, bis die Krämpfe deine Schultern und die Gabelung deiner Beine erreichten. Du schaffst das auch noch mal. »Es gab nichts Ungewöhnliches, Vater.« Seine Lippen waren noch trocken. Er leckte sie noch einmal. Der Kardinal bleibt unerschütterlich. Warum kannst du das nicht? »Nichts Ungewöhnliches, was die technische Seite betrifft. Alle Anzeigen nominal. Dampfdruck niedrig, aber innerhalb der Toleranz.«

»Du hast berichtet, dass der Allerheiligste unwillig war, dein Gebet zu beantworten?«

Das schwere Kratzen von Kardinal Gustaves Stift klang wie reißender Stein. Die Wände des Beichtstuhls ragten an allen Seiten auf. »Sie wissen, wie es läuft, Vater.« Abelard gestikulierte schwach mit seiner Zigarette. Die Glut an ihrer Spitze tanzte eine Spur durch die Luft.

»Ich weiß viele Dinge, mein Sohn«, sagte Gustave, »aber es nähern sich Außenstehende, um uns zu helfen, und sie werden mit den Einzelheiten des Diensts an unserem Gott nicht vertraut sein.«

»Ja, Vater.« Wenn er sich doch nur für einen Moment abwenden oder blinzeln würde. »Ich … äh … ähm.« Gustaves Gesicht war in der Dunkelheit des Beichtabteils kaum erkennbar. Hohle Wangen, hohe Stirn, buschige Augenbrauen. Der vor anderthalb Jahrzehnten gewachsene Schnurrbart, der nie aus der Mode kam, weil er nie in Mode war. Er ist hier, um zu helfen, nicht um zu urteilen, sagte Abelard sich. Tröste dich mit seiner Anwesenheit, denn es bleibt nichts anderes übrig, um dich zu trösten. »Es dauert manchmal eine Weile, bis ich meinen Geist richtig auf die Vereinigung mit dem Ewigbrennenden Herrn vorbereitet habe. Gott ist groß und ich bin jung und schwach. Manchmal trete ich mit unversöhnter Seele vor ihn. Manchmal, sosehr ich es auch versuche, kann ich meine Opfergabe nicht mit reinem Herzen darbringen.« Er verfluchte sich selbst innerlich. Er klang wie ein Perverser oder ein Abtrünniger. Schnell fuhr er fort. »Manchmal ist das verzehrende Feuer Seiner Gnade einfach … woanders. Götter sind immer anwesend, aber sie schenken uns nicht immer Beachtung. Wie in Lehmans Parabel über den Mönch, der die Speisekammer bewacht. Er kann immer nur einen Satz Schränke auf einmal bewachen und die Ratten kommen herein.«

»Danke«, sagte Kardinal Gustave, als Abelard eine Pause machte, um Luft zu holen. »Das ist völlig ausreichend.«

Das Reden hatte ihn für einen wunderbaren Moment abgelenkt. Seine Brust begann zu zucken. Ihm war so kalt.

»Sag mir, mein Sohn, welche Methoden hast du angewandt, um die Aufmerksamkeit des Allergrimmigsten zu erregen?«

Zumindest für diesen Teil schämte er sich nicht. »Ich stimmte die Gebete für die Ankunft der Flamme an, polierte die Leitungen auf dem Thron und rezitierte die ersten zehn Strophen der Litanei der Verbrannten Toten.«

Gustave nickte und machte sich weitere Notizen. Während die Aufmerksamkeit des Kardinals auf das Papier gerichtet war, wölbte Abelard eine Hand vor Mund und Zigarette und sog tabakhaltige Luft ein. Die Zigarettenflamme flackerte in der Dunkelheit des Beichtstuhls auf und seine Muskeln zitterten langsamer. Er sah wieder hoch und bemerkte, dass Gustave wartete. Der Gesichtsausdruck des anderen Mannes war durch das Gitter nicht zu deuten. Er hätte eine exquisit gearbeitete Puppe mit menschlichen Zügen sein können.

Dazu sind wir geworden, dachte Abelard. Scheinbar seelenlos, durch unsere Angst voneinander abgeschnitten.

»Es tut mir leid, Vater, es tut mir so leid, aber die Erfahrung, der Moment, Lord Kos …« Er deutete mit einer vagen Geste auf die Zigarette.

Gustave senkte den Kopf. »Ich verstehe, mein Sohn.«

»Sind wir in Schwierigkeiten, Vater?«

»Das glaube ich nicht.«

»Sie sagten, es kämen Außenstehende.«

»Diese Probleme treten außerhalb unserer Mauern häufiger auf als innerhalb unserer gesegneten Stadt. Es gibt Firmen, die solche Probleme schnell, effizient und diskret lösen.«

»Sie werden uns helfen?«

»Sie sind die Besten, die wir finden konnten.« Gustaves Augen waren grau, grimmig und zuversichtlich. Mit der Kraft seines Blicks hätten eiserne Türme des Glaubens errichtet werden können. »Fachleute. In ihren Händen sind wir sicher.«

Abelards Finger- und Zehenspitzen begannen erneut zu zucken.

*

Tara schwebte in einem kalten Schoß, eingehüllt in Sonnenlicht. Traumfragmente packten sie und ließen sie wieder in die Bewusstlosigkeit zurückfallen. Sie war sechs Jahre alt und lief auf den brachliegenden Feldern der Farm ihres Vaters unter dem zornigen schwarzen Bauch eines Gewitters. Ein Blitz entsprang in den Wolken, leuchtete auf und knisterte, schlug eine Brücke zwischen Erde und Himmel. Sie hob die Hände, bildete mit zerbrechlichen Fingern eine Schale und fing ihn auf.

Etwas Langes, Schmales und Schweres traf ihre Rippen, und sie erinnerte sich, dass sie atmen musste. Sie war ein Spielball der Wellen mit Gliedern aus Zweigen und Papier und spuckte eine Lungenfüllung Salzwasser aus. Sie hörte eine Stimme.

»Fang den Tampen auf, Mädchen!«

Tampen nannten Matrosen ein Seil, erinnerte sich ihr verwässertes Gehirn. Das war es, was ihr wie ein Bleigewicht in die Seite geschlagen hatte: ein nasser, geflochtener Hanfstrick, eine Rettungsleine. Ihre Hände suchten blindlings danach und umklammerten ihn, bevor sie wieder versank. Das Seil spannte sich und zog sie mit einer Wucht halb aus dem Wasser, die ihre Arme fast aus den Gelenken riss. Ihr Körper schlug gegen eine glatte, rutschige Oberfläche.

Ihr warmer rosa Stumpfsinn spaltete sich wie ein Ei von innen heraus und öffnete sich einem strahlenden Tag. Die rechte Seite der Welt bestand aus Himmel und Ozean, die linke aus einer Wand aus dunklem, nassem Holz: ein Kiel. Tara folgte mit ihren Blicken dem Seil an der Seite des Schiffs nach oben und sah einen Mann, der sich über die Reling des Decks beugte und auf sie hinuntersah. Er war als Silhouette vor den Wolken erkennbar.

Jemand zog erneut heftig am anderen Ende des Seils. Eine weitere Schmerzwelle riss Taras Beine aus dem Wasser. Tropfend baumelte sie am Kiel. Schwarzer Staub und Reste von verkohltem Holz verfärbten ihre Kleidung und fielen auf ihr Gesicht.

»Wir haben eine junge Dame gefangen, Jungs«, rief die Silhouette über die Schulter hinweg. »Oder jedenfalls eine junge Frau.«

Sie schnappte nach Luft, fand ihre Stimme wieder und rief: »Schluss mit der Folter! Haltet das Seil fest und ich klettere allein hinauf.«

»Mit diesen dünnen Armen und so durchnässt, dass du das Eineinhalbfache deines normalen Gewichts hast? Das glaube ich nicht.«

»Nach euren letzten paar Zügen würde ich sagen, dass ich entweder mit diesen dünnen Armen oder ganz ohne Arme oben ankomme.«

»Das hast du schön gesagt! Haltet das Seil ruhig«, riet die Silhouette ihren unsichtbaren Assistenten.

Sie hing tropfend da, bis sie sicher war, dass die anderen Matrosen auf ihren Gesprächspartner hörten. Zufrieden stemmte sie ihre Füße gegen den Kiel und begann quälend langsam an der Seite des Schiffs hochzuwandern.

»Wenn du weiter so langsam kletterst, sind wir im Hafen, bevor du das Deck erreichst.«

»Ich bewege mich gern …« Ziehen, Schritt. Atmen. Ziehen, Schritt. »… gemessenen Schritts!«

»Woran misst du ihn?«

Ziehen. Schritt. »Sicher nicht an deiner Zunge.« Zu ihrer Linken sah sie ein schweres und massives Schiff und ein drittes hinter diesem. In der Ferne erkannte sie das grünschwarze Band des Horizonts, gespickt mit Zinnen, Türmen und Minaretten. Die große Stadt kam näher. Wolken brüteten darüber und ergossen sich über das Wasser.

»Wie heißt du, Matrose?«

»Raz«, rief der Schatten herunter. »Raz Pelham, von der Kell’s Bounty, unterwegs nach Alt Coulumb. Und du, Hübsche?«

Sie lachte rau. Wie auch immer sie aussah, durchnässt und halb ertrunken, sie bezweifelte, dass sie hübsch war. Wenigstens lenkte die Neckerei mit diesem Matrosen sie von der Anstrengung ab, sein Schiff zu erklimmen. »Tara Abernathy, von nirgends im Besonderen.« Sie spuckte einen Splitter verkohltes Holz aus. Da sie sich jetzt außerhalb des Wassers befand, sah sie, dass der Rumpf der Kell’s Bounty bis auf einige unbeschädigte Stellen, wo neue Planken die Stellen überstürzter Reparaturen markierten, mit streifenförmigen Brandnarben übersät war. »Wisst ihr, dass euer Schiff auseinanderfällt?«

»Wir sind uns dessen nur allzu bewusst«, antwortete er. »Vor ein paar Tagen haben wir uns bei Krabens Säulen westlich von Iskar etwas Ärger eingehandelt, aber wir hatten nur wenig Zeit für Reparaturen, bevor uns ein Kunde für einen schnellen Passagiertransport nach Alt Coulumb engagierte. Mit etwas Glück gehen wir hier ins Trockendock.«

»Ich hätte gedacht, dass ein schnelles Schiff wie dieses allen Schwierigkeiten davonsegeln könnte.«

»Ah, da liegt dein Fehler. Du denkst, dass wir vor Ärger weglaufen und nicht darauf zusegeln.«

Sie hielt inne, um durchzuatmen und ihre schmerzenden Arme auszuruhen. »Warum habt ihr den Passagier nicht abgewiesen? Es scheint gefährlich zu sein, mit Schäden zu segeln.«

»Sieht die Kell’s Bounty