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Band 2 der Kunstwirker-Chronik. Schattendämonen verpesten das Wasserreservoir der Stadt, und Caleb Altemoc - Gelegenheitsspieler und professioneller Risikomanager – erhält den Auftrag, den Schaden zu beseitigen. Am Tatort trifft er dabei auf die so verführerische wie clevere Crazy Mal, die ihm behände den Rang abläuft. Doch Dämonen und hübsche Frauen sind nicht die einzigen Herausforderungen, denen sich Caleb stellen muss.
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Seitenzahl: 528
AUSSERDEMBEIPANINIERHÄLTLICH:
MAX GLADSTONE: DIE KUNSTWIRKER-CHRONIK
Band 1: DREI VIERTEL TOT
ISBN 978-3-8332-4100-0
Band 2: ZWEI SCHLANGEN LAUERN
ISBN 978-3-8332-4178-9
Band 3: FÜNF FADEN TIEF
ISBN 978-3-8332-4275-5
Nähere Infos und weitere fantastische Bände unter:
paninishop.de/phantastik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2022 by Max Gladstone. All rights reserved.
Titel der englischen Originalausgabe: »Two Serpents Rise« by Max Gladstone, published 2013 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA
Deutsche Ausgabe 2022: Panini Verlags GmbH, Schloßstraße. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Helga Parmiter
Lektorat: Katharina Altreuther
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Cover-Illustration: Chris McGrath
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDMAXG002E
ISBN 978-3-7367-9840-3
Gedruckter Ausgabe:
1. Auflage, Mai 2022, ISBN 978-3-8332-4178-9
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BUCH EINS
Klippenlauf
1
Die Göttin beugte sich über den Kartentisch und flüsterte: »Geh ›All-in‹.«
Sie schwebte vor Caleb – zuerst trüb und durchscheinend, dann kalt und klar wie Wüstensterne. Ihr Körper schwoll unter Nebelgewändern an: Sie war wie ein Meeresfelsen, an dem Schiffe zerschellten.
Caleb riss seinen Blick von ihr los, konnte aber weder ihren betörenden Duft noch das ebenso leise wie eindringliche ihres Atems ignorieren. Er tastete gedankenverloren nach seinem Whiskey, fand ihn schließlich und nahm einen ordentlichen Schluck.
Die Karten auf dem grünen Filztisch waren Damen der Nacht, verräterisch und süß. Zwei Königinnen lagen verdeckt neben seiner Hand, die Königin der Kelche (blond, üppig, Blut und Wasser aus einem Kelch gießend) und die Königin der Schwerter (eine abweisende Quechal-Frau mit breitem Gesicht und großen Augen, die einen abgeschlagenen Kopf an den Haaren hielt). Er musste nicht hinsehen, um sie zu erkennen. Sie waren seine alten Freunde und Feinde.
Seine Gegner sahen zu: ein rundlicher Quechal-Mann, dessen dicker Hals gegen sein Bolotie drückte, ein Handwerker mit fauliger Haut, eine ganz in Schwarz gekleidete Frau mit einem zerklüfteten Gesicht, ein hoch aufragendes vierarmiges Wesen aus silbernen Dornen. Wie lange hatten sie gewartet?
Ein paar Sekunden, dachte er, eine Handvoll Herzschläge. Lass dich nicht von ihnen hetzen. Aber trödle auch nicht.
Die Göttin streichelte die inneren Kammern seines Geistes. »All-in«, wiederholte sie lächelnd.
Tut mir leid, dachte er, und schob drei blaue Chips in die Mitte des Tisches.
Das Leben schwand aus ihm, die Freude, die Hoffnung. Ein Teil seiner Seele floss in das Spiel, in die Göttin. Er sah die Welt durch ihre Augen. Sah, wie Energie und Form aufblühten, nur um dann zu verwelken.
»Ich erhöhe«, sagte er.
Sie lächelte ihn spöttisch an und wandte sich dem nächsten Spieler zu.
Fünf Karten lagen aufgedeckt vor dem Geber. Eine weitere Königin der Stäbe grüßte die aufgehende Sonne als himmelwärts gereckte Silhouette – eine große Dame, die noch größer war, wenn sie sich zu seinem Paar gesellte. Rechts von ihr der König der Schwerter – ein grimmiges Gespenst mit einem Messer in der Hand neben einem zappelnden, weinenden Kind, das an einen Altar gefesselt war. Die anderen Karten stellten weniger dramatische Figuren dar: die Acht und die Drei der Stäbe, die Vier der Münzen.
Drei Damen waren ein starkes Blatt, aber zwei beliebige Stäbe konnten einen Flush bilden und ihn schlagen.
»Ich gehe mit«, sagte der Mann mit dem Bolotie.
»Ich gehe mit«, sagte der Handwerker mit der faulenden Haut.
»Ich gehe mit«, sagte die Frau, »und erhöhe um zweitausend.« Sie warf zwanzig blaue Chips in den Topf.
Die Göttin wirbelte herum, ein todbringender Tornado der Begierde.
»Passe«, sagte das Dornenwesen.
Die Göttin wandte sich wieder an Caleb.
Hatte die Frau in Schwarz einen Flush oder bluffte sie? Ein Bluff wäre dreist gegen drei andere Spieler mit einem möglichen Flush auf dem Spielfeld, aber Calebs Einsatz war der einzige in dieser Runde gewesen. Würde sie so viel riskieren, nur um drei Spieler zum Aussteigen zu bewegen?
Um es darauf ankommen zu lassen, müsste er seine ganzen Reserven aufbrauchen. Er würde sich dem Spiel hingeben müssen, nichts zurückhalten.
Die Göttin öffnete ihren Mund. Das schwarze Innere gähnte hungrig. Perfektion glitzerte auf den Spitzen ihrer Zähne.
Du kannst die Welt gewinnen, sagte sie, wenn du bereit bist, deine Seele zu verlieren.
Er sah ihr in die Augen und sagte: »Passe.«
Sie lachte und hörte erst auf, als die schwarz gekleidete Frau ihre Karten aufdeckte und ein König und eine Zwei einer anderen Farbe zum Vorschein kamen.
Caleb beglückwünschte sie und bat die anderen um Erlaubnis, sich verabschieden zu dürfen.
*
Caleb kaufte einen weiteren Drink und stieg die Marmortreppe zum Dach der Pyramide hinauf. Dandys, Dilettanten und Leichen der High Society tummelten sich am Rand und genossen das Panorama von Dresediel Lex bei Nacht: die glänzende, mit Pyramiden übersäte Stadt, die wie kristallene Krummsäbel über ihr schwebenden Himmelstürme, das unaufhörliche Rollen der Paxsee gegen das westliche Ufer. Eine tief hängende Wolkendecke reflektierte Licht auf die Metropole.
Caleb interessierte sich nicht für die Aussicht.
In der Mitte des Daches erhob sich ein Altar aus schwarzem Stein, groß genug, um einen liegenden Mann, eine Frau oder ein Kind aufzunehmen. Ein Eisenzaun umgab den Altar. Daran hing eine Bronzetafel mit einer Liste von Daten und Namen der Opfer.
Er las die Gedenktafel nicht. Er kannte bereits zu viel Geschichte. Er lehnte sich an das Geländer und betrachtete den antiquierten Altar. Tau lief an seinem Whiskeyglas herunter und benetzte seine Hand.
Teo fand ihn zwanzig Minuten später.
Er hörte, wie sie sich vom Treppenhaus her näherte. Er erkannte ihre Schritte.
»Es ist lange her«, sagte sie, »dass ich gesehen habe, wie du so schnell ein Spiel verlässt. Nicht mehr seit der Schule, glaube ich.«
»Mir war langweilig.«
Teo war mit ihren mäßig hohen Stöckelschuhen so groß wie Caleb, aber ihre kurvige Figur war breiter. Ihre Lippen waren voll, ihre Augen dunkel. Schwarze Locken umrahmten ihr rundes Gesicht. Sie trug eine weiße Hose mit grauen Nadelstreifen, eine weiße Weste, ein rubinrotes Hemd, eine graue Krawatte und einen besorgten Gesichtsausdruck. In ihrer Hand fehlte ein Getränk.
Sie trat zu ihm ans Geländer.
»Du hast dich nicht gelangweilt.« Sie wandte dem Altar den Rücken zu und blickte nach Osten über die Stadt, zu den glänzenden Villen oben auf dem Drachenkamm. »Ich weiß nicht, wie du so viel Zeit damit verbringen kannst, diesen alten Steinbrocken anzustarren.«
»Ich weiß nicht, wie du wegschauen kannst.«
»Er ist schlechte Kunst. Ein Imitat aus der Mitte der siebten Dynastie, knallig und überladen verziert. Aquel und Achal an der Seite sehen eher wie Raupen aus als wie Schlangen. Sie haben hier nicht einmal oft Menschen geopfert. Das meiste davon geschah drüben in unserem Büro.« Sie deutete auf die höchste Pyramide der Skyline, das riesige obsidianfarbene Bauwerk in 667 Sansilva. Calebs Vater hätte das Gebäude »Quechaltan« genannt, Herz von Quechal. Heutzutage hatte es keinen Namen mehr. »Hier verwendete man Kühe. Gelegentlich Ziegen. Menschen nur bei einer Sonnenfinsternis.«
Caleb warf einen Blick über seine Schulter. Unter ihm erstreckte sich Dresediel Lex: insgesamt fünfzehntausend Meilen Straßen, die von Geisterlichtern und Gaslampen erhellt wurden. Zwischen den Boulevards kauerten die Geschäfte und Wohnhäuser, Bars und Banken, Theater und Fabriken und Restaurants, wo siebzehn Millionen Menschen tranken und liebten und tanzten und arbeiteten und starben.
Er schaute weg. »Wir haben jedes Jahr mindestens eine partielle Sonnenfinsternis oder eine Mondfinsternis. Bei einer vollen Sonnenfinsternis wie in diesem Herbst würden die Priester alle Gefangenen abarbeiten, derer sie habhaft werden könnten, und zur Sicherheit noch ein paar Unschuldige dazugeben. Blut und Herzen für Aquel und Achal.«
»Und du fragst dich, warum ich nicht hinsehe? Das ist schlechte Kunst und noch schlechtere Geschichte. Ich weiß nicht, warum Andrej« – der Besitzer der Bar – »ihn aufbewahrt.«
»Vor siebzig Jahren hättest du nicht so gedacht.«
»Ich würde gern glauben, dass ich es getan hätte.«
»Ich auch. Aber deine Großeltern und mein Vater wurden nicht anders geboren als wir, und sie kämpften in den Kriegen immer noch mit Zähnen und Klauen, um ihre Götter zu verteidigen.«
»Ja, und sie haben verloren.«
»Sie haben verloren und unser Boss hat gewonnen, Priester und Götterwelt rausgeschmissen, und jetzt tun wir alle so, als habe es dreitausend Jahre Blutvergießen nicht gegeben. Wir ziehen einen Zaun um die Geschichte, hängen eine Gedenktafel auf und nehmen an, dass es vorbei ist. Versuchen zu vergessen.«
»Wo hast du deine gute Laune her?«
»Es war ein langer Tag. Eine lange Woche. Ein langes Jahr.«
»Warum hast du am Tisch aufgegeben?«
»Die Göttin macht mir die Hölle heiß und jetzt muss ich mich auch noch vor dir rechtfertigen?«
»Die Göttin kennt dich nicht so gut wie ich. Sie wird bei jedem Spiel neu geboren. Ich habe dich acht Jahre lang beim Spielen beobachtet und ich habe dich noch nie so einbrechen sehen.«
»Die Chancen standen gegen mich.«
»Pfeif auf die Chancen. Du hättest wissen müssen, dass die Dame in Schwarz kein gutes Blatt hatte.«
Er wandte sich vom Altar ab. Der Südwestwind trug den Meeresduft von Salz und Tod herbei. »Kannst du nicht irgendeinem Mädchen nachstellen, das gerade von der Universität kommt, und mich in Ruhe lassen?«
»Ich bin geläutert. Ich bin keine versaute alte Frau mehr.«
»Du hättest mich glatt getäuscht.«
»Im Ernst, Caleb. Was ist los?«
»Nichts«, sagte er und tastete in seinen Taschen nach einer Zigarette. Natürlich war da nichts. Er hatte vor Jahren aufgehört. Schlecht für seine Gesundheit, hatten die Ärzte gesagt. »Die Chancen standen gegen mich. Ich wollte mit einer intakten Seele herauskommen.«
»Das hättest du vor vier Jahren nicht getan.«
»In vier Jahren ändert sich viel.« Vor vier Jahren war er ein junger Risikomanager beim Rotkönig-Konsortium gewesen und hatte sich von einer Universitätskarriere mit Karten und höherer Mathematik erholt. Vor vier Jahren war er mit Leah zusammen gewesen. Vor vier Jahren hatte Teo noch geglaubt, sie interessiere sich für Jungs. Vor vier Jahren hatte er gedacht, die Stadt hätte eine Zukunft.
»Ja.« Eine winzige Kupfermünze lag zu Teos Füßen, die mit einem Stück der Seele eines Menschen aufgeladen war. Sie trat gegen die Münze, die über das Dach klirrte. »Die Frage ist, ob die Veränderung zum Besseren ist.«
»Ich bin müde, Teo.«
»Natürlich bist du müde. Es ist Mitternacht und wir sind nicht mehr zweiundzwanzig. Jetzt geh runter, entschuldige dich an diesem Tisch und stiehl ihre Seelen.«
Er lächelte, schüttelte den Kopf und brach schreiend zusammen.
Bilder bohrten sich in sein Gehirn: Blut auf Beton, eine verschlungene Straße, die tief in die Berge führt, der chemische Gestank eines vergifteten Sees. Zähne schimmerten im Mondlicht und schlugen sich in sein Fleisch.
Caleb wachte auf und lag flach auf dem Sandsteinboden. Teo beugte sich mit gerunzelter Stirn über ihn, ihre Hand lag kühl auf seiner Stirn. »Geht es dir gut?«
»Anruf aus dem Büro. Gib mir eine Sekunde.«
Sie erkannte die Symptome. Wenn Geisterbeschwörung eine Kunst und Alchemie eine Wissenschaft waren, dann war die direkte Gedächtnisübertragung eine Operation mit einem stumpfen Instrument: schmerzhaft und grob und ebenso gefährlich wie effektiv. »Was will die Chefin um Mitternacht von dir?«
»Ich muss gehen.«
»Zur Hölle mit ihr. Bis morgen um neun liegt die Welt in der Verantwortung von jemand anderem.«
Er nahm ihre Hand und richtete sich auf. »Es gibt ein Problem im Schimmerspiegel.«
»Was für ein Problem?«
»Die Art mit Zähnen.«
Teo klappte ihren Mund zu, trat zurück und wartete.
Als er sich wieder auf den Beinen halten konnte, taumelte er zur Treppe. Sie holte ihn im Treppenhaus ein.
»Ich komme mit dir.«
»Bleib hier. Hab Spaß. Einer von uns sollte das tun.«
»Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Und ich hatte sowieso keinen Spaß.«
Er war zu müde, um zu widersprechen, während sie ihm nach unten folgte.
2
Das Mondlicht wurde von der Blutspur auf dem Betonweg neben dem Schimmerspiegel-Stausee reflektiert.
Caleb beobachtete das Blut und wartete.
Die ersten Wächter vor Ort hatten den Tod des Wachmanns als Mord eingestuft. Sie durchkämmten den Tatort, suchten nach Fingerabdrücken, machten sich Notizen und fragten nach Motiven und Gelegenheiten, nach Waffen und Feinden – das waren die falschen Fragen.
Als sie auf die Monster stießen, begannen sie, die richtigen Fragen zu stellen. Dann riefen sie um Hilfe.
Hilfe bedeutete in diesem Fall das Rotkönig-Konsortium (RKK), insbesondere Caleb.
Dresediel Lex war zwischen Wüste und Meer von Siedlern erbaut worden, die sich weder ausgemalt noch erwartet hatten, dass ihr trockenes Land eines Tages siebzehn Millionen Menschen beherbergen würde. Im Laufe der Jahrhunderte, als die Stadt wuchs, schlossen die Götter die Lücken zwischen Wasserbedarf und -angebot durch gesegnete Regenfälle. Nachdem die Götterkriege gewonnen (oder verloren, je nachdem, wen man fragte) waren, trat das RKK an die Stelle des gefallenen Pantheons. Einige seiner Angestellten verlegten Rohre, andere bauten Dämme, wieder andere arbeiteten im Buchtwerk und hielten die qualvolle Kunst aufrecht, die dem Meerwasser das Salz entzog.
Einige, wie Caleb, lösten Probleme.
Caleb war bislang der ranghöchste Mitarbeiter vor Ort. Er hatte erwartet, dass die Geschäftsleitung in einem Fall wie diesem, bei dem es um Tod, Sachschäden und Sicherheit am Arbeitsplatz ging, die Leitung übernehmen würde, aber seine Vorgesetzten schienen entschlossen zu sein, Schimmerspiegel ihm zu überlassen. Bei der unvermeidlichen Untersuchung würde er derjenige sein, der vor den Todlosen Königen und ihren erbarmungslosen Ministern aussagen musste.
Die Oberen des RKK hatten ihm eine wunderbare Gelegenheit zum Scheitern verschafft.
Er wollte etwas trinken, hatte aber die Zeit nicht dafür.
Eine hektische halbe Stunde lang hatte er Junior-Analysten und Techniker durch die Routinen der Krisenbewältigung geleitet. Trennen Sie den Stausee vom städtischen Versorgungsnetz. Holen Sie ein paar Kunstwirkende aus dem Bett, um einen Schutzschild über dem Wasser zu errichten. Finden Sie ein paar Tonnen Ebereschenholz, sofort. Überprüfen Sie die Schutzvorrichtungen des Damms. Riegeln Sie die Zufahrtsstraße ab. Keiner kommt rein oder raus.
Nachdem er seine Befehle erteilt hatte, stand er schweigend neben dem Blut und dem Wasser.
Glyphen hüllten den Schimmerspiegel-Stausee in blaues Licht. Der aufgestaute Fluss erstreckte sich glänzend schwarz von Ufer zu Ufer. Caleb roch Zement, Raum, die weite Ebene des stillen Wassers und vor allem einen scharfen Ammoniakgestank.
Vor zwei Stunden war ein Wachmann namens Halhuatl am Stausee entlanggelaufen und hatte sich im Dunkeln mit einer Blendlaterne umgesehen. Er hörte ein Plätschern und trat einen Schritt vor. Er sah nichts – keinen Nachtvogel, keine Fledermaus, keinen schwimmenden Kojoten und auch keine badende Schlange. Er leuchtete das Wasser mit seiner Laterne ab. Wo das Licht hinfiel, hinterließ es eine kräuselnde Spur.
Das ist seltsam, muss Hal gedacht haben, bevor er starb.
Ein kühler Wind wehte über das Wasser, ohne Wellen zu schlagen. Caleb steckte die Hände tief in die Taschen seines Mantels. Schritte näherten sich.
»Das habe ich aus dem Kühlschrank im Wartungsschuppen geholt«, sagte Teo hinter ihm. »Der Vorarbeiter wird morgen auf sein Mittagessen verzichten müssen.«
Er wandte sich vom Wasser ab und griff nach dem Päckchen, das sie in der Hand hielt – weißes, mit einer Schnur zusammengebundenes Wachspapier. »Danke.«
Sie ließ nicht los. »Wozu brauchst du das?«
»Um dir zu zeigen, was auf dem Spiel steht.«
»Sehr witzig.« Sie ließ das Päckchen los. Er löste die Schnur mit seinen behandschuhten Händen und öffnete das Papier. Darin befand sich eine vereiste Scheibe Rindfleisch, deren Saft die gleiche Farbe hatte wie das Blut auf dem Beton.
Er schätzte die Entfernung zum Wasser ab, holte mit dem Rindfleisch aus und warf es.
Das Fleisch flog im hohen Bogen auf den Stausee zu. Darunter wölbte sich das Wasser und bäumte sich auf – eine sich windende, zähflüssige Säule, in der sich Sterne spiegelten.
Das Wasser öffnete sein Maul. Tausende von langen, gebogenen, rasiermesserscharfen Reißzähnen schnappten nach dem Rindfleisch, durchbohrten und zerschnitten es, und zermalmten es beim Kauen.
Die Wasserschlange zischte, peitschte die Nachtluft mit ihrer eisigen Zunge und zog sich in den Stausee zurück. Sie hinterließ keine Spuren, nur einen schärferen Geruch nach Ammoniak.
»Höllen«, sagte Teo. »Messer und Knochen und alle Höllen. Du hast nicht gescherzt, als du von Zähnen sprachst.«
»Nein.«
»Was ist das für ein Ding?«
»Tzimet.« Er sagte das Wort wie einen Fluch.
»Ich habe Dämonen schon gesehen. Das ist kein Dämon.«
»Es ist kein Dämon. Aber es ist wie ein Dämon.«
»Qets Körper und Ilanas Blut.« Teo war keine religiöse Frau – seit den Götterkriegen waren nur noch wenige Menschen religiös –, aber die alten Bräuche hatten die besten Flüche. »Dieses Ding lebt in unserem Wasser.«
Ihre Stimme enthielt zwei Ebenen der Abscheu. Jeder hätte die erste hören können, den allgemeinen Schrecken. Nur jemand, der wusste, wie ernst Teo ihre Arbeit beim Rotkönig-Konsortium nahm, konnte ihre Betonung auf dem Wort »unserem« erkennen.
»Nein.« Caleb kniete nieder und wischte den Fleischsaft von seinen behandschuhten Fingern auf dem Boden ab. »Es ist nicht in unserem Wasser. Es ist unser Wasser.« Sterne funkelten vom samtenen Himmel herab. »Wir haben Schimmerspiegel isoliert, aber wir müssen auch die anderen Reservoirs überprüfen. Tzimet wachsen langsam und sie sind schlau. Sie könnten sich verstecken, bis sie bereit sind, zuzuschlagen. Es war pures Glück, dass wir diesen einen erwischt haben.«
»Was meinst du damit, er ist das Wasser?«
»Die Kunst hält unsere Reservoirs sauber: Sie schützt sie vor Keimen, Fischen, Skorpionlarven, vor allem, was sie verschmutzen oder verderben könnte. Zauberformeln, um die Verdunstung einzudämmen. Der Stausee ist tief, mit dunklen Schatten am Grund. Wenn die Sonne und die Sterne scheinen, bildet sich eine Grenze zwischen Licht und Dunkelheit. Die Kunst übt Druck auf diese Grenze aus. Wenn dieser Druck groß genug ist, stößt sie ein winziges Loch in die Welt.« Er hielt Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter auseinander. »Nichts Physisches passt hindurch, nur Muster. Genau das sind diese Tzimet.« Er deutete auf den Stausee. »Wie Saatkristalle. Ein Teil der lebendigen Nacht sickert in das Wasser und das Wasser wird Teil der Nacht.«
»Ich habe noch nie einen Kristall mit Zähnen gesehen.« Sie hielt inne, korrigierte sich. »Außerhalb einer Galerie. Aber der hier hat sich nicht bewegt.« Sie deutete auf das Blut. »Wer war das?«
»Ein Wachmann. Laut Nachtdienstplan hieß der Kerl Halhuatl. Die Wächter dachten, es handele sich um einen Mord, bis der Stausee versuchte, sie zu fressen.«
Hinter ihm knirschte der Kies auf der Straße: Die Golem-Fuhrwerke waren endlich da. Caleb drehte sich um. Aus den Gelenken der Golembeine quoll Abgas. RKK-Mitarbeiter in grauen Uniformjacken gingen von Wagen zu Wagen und prüften die darin gestapelten Ebereschenstämme. Zwei Nachwuchsanalysten standen neben dem Vorarbeiter und machten sich Notizen. Das war gut. Die Arbeiter verstanden ihr Geschäft. Sie brauchten keine Einmischung seiner Leute.
»Eine schreckliche Art zu sterben«, sagte Teo.
»Schnell«, antwortete Caleb. »Aber, ja.«
»Der arme Kerl.«
»Ja.«
»Jetzt, wo wir wissen, dass Tzimet da drin sind, können wir sie daran hindern rauszukommen. Richtig?«
»Sie können nicht in das Wassersystem eindringen, aber um sie gefangen zu halten, brauchen wir bessere Kunstwirkende als die, die wir bisher hier draußen haben. Diese leuchtenden Glyphen verbergen das Reservoir vor Tieren, die etwas trinken wollen. Wir haben sie umgekehrt, um die Außenwelt vor den Tzimet zu verbergen. Sie können uns weder hören noch riechen, aber sie könnten uns problemlos töten, wenn sie wüssten, dass wir hier sind.«
»Du weißt, wie man eine Dame in Sicherheit wiegt.«
»Die Kunstabteilung hat Markoff, Billsman und Telec geweckt; sobald sie eintreffen, werden sie einen Schutzschild über dem Wasser errichten. Fühl dich ruhig sicher.«
»Telec ist um diese Zeit auf keinen Fall nüchtern genug für diese Arbeit. Und Markoff wird versuchen, die Mädchen an der Küste mit seiner ›Reich und anrüchig‹-Nummer zu beeindrucken.«
»Die Zentrale hat sie alle gefunden und behauptet, sie seien bereit. Wie auch immer, die Tzimet sind in der Zwischenzeit kein großes Problem, solange sie nicht in die Rohre gelangen.«
»Freut mich zu hören.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich denke, ich werde trotzdem kein Leitungswasser mehr trinken.«
»Lass dich nicht vom Chef erwischen.«
»Ich habe gesagt, ich werde aufhören, es zu trinken, nicht, es zu verkaufen. Kann eine solche Infektion jederzeit auftreten?«
»Theoretisch?« Er nickte. »Die Wahrscheinlichkeit eines Tzimet-Befalls in einem bestimmten Jahr steht eins zu hunderttausend oder so. Mit so etwas haben wir frühestens in einem Jahrhundert gerechnet. Gift, Bakterienblüten, Skorpionwesen, ja. Aber nicht das.«
»Du glaubst also nicht, dass es natürlich aufgetreten ist?«
»Es wäre möglich. Oder jemand hat der Natur auf die Sprünge geholfen. Die Chancen stehen gut für Letzteres.«
»Du lebst in einem düsteren Universum.«
»Das macht Risikomanagement aus einem. Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen – mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit unter bestimmten Annahmen. Wir sagen dir, wie du das Problem beheben kannst und was du hättest tun müssen, um es von vornherein zu verhindern. In solchen Momenten werde ich zum Experten für späte Einsichten.« Er deutete auf das Blut. »Als der Schimmerspiegel vor vierundvierzig Jahren gebaut wurde, haben wir die Risiken durchgerechnet und für akzeptabel gehalten. Ich frage mich, ob der Rotkönig Halhuatls Familie die Nachricht überbringen wird. Falls er eine Familie hatte.«
»Der Chef ist nicht gerade eine trostspendende Gestalt.«
»Das stimmt wohl.« Eine Reihe von Golem-Fuhrwerken rollte hinter ihnen vorbei.
»Kannst du dir das vorstellen? Ein Klopfen, du öffnest die Tür und siehst ein riesiges Skelett in rotem Gewand? Mit dieser fliegenden Eidechse, die sich auf deinem Rasen zusammenrollt und deinen Hund frisst?«
»Es würde Herzanfälle auslösen.« Caleb konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. »Leute, die bei halb geöffneter Tür sterben. Alle Kunstwirkenden in der Stadt, die für Personenschäden zuständig sind, würden sich auf uns stürzen wie Haie, wenn Blut im Wasser ist.«
Teo klopfte ihm auf die Schulter. »Sieh mal an, wer seinen Sinn für Humor wiedergefunden hat.«
»Was bleibt mir schon, außer zu lachen? Ich habe noch drei Stunden oder so vor mir.« Er winkte den Wagen mit ihrer Ladung über die Schulter hinweg zu. Eine müde Brigade von Wiedergängern in Wartungsoveralls torkelte vorbei und trug Ebereschen. Grabgestank umwehte sie. »Ich werde nicht vor drei, vielleicht vier Uhr gehen.«
»Muss ich mir Sorgen machen, dass es Dämonen braucht, um dich aus deinem Trübsinn zu reißen?«
»Jeder wird gern gebraucht«, sagte er. »Ich komme morgen vielleicht zu spät zur Arbeit.«
»Ich werde Tollan und den Jungs sagen, dass du unterwegs warst, um die Welt für die Tyrannei zu bewahren.« Sie fischte ihre Uhr aus der Tasche und furchte die Stirn.
»Bist du spät dran?«
»Ein wenig.« Sie schloss die Uhr mit einem Klicken. »Es ist nicht wichtig.«
»Mir geht’s gut. Wir sehen uns dann morgen.«
»Bist du sicher? Ich kann hierbleiben, wenn du mich brauchst.«
»Das Schicksal der Stadt steht hier auf dem Spiel. Ich habe alle Hände voll zu tun. Kein Platz für Selbstmitleid. Geh und triff dein Mädchen.«
»Woher wusstest du, dass es ein Mädchen gibt?«
»Wer würde sonst um zwei Uhr morgens auf dich warten? Geh. Nicht dass du meinetwegen Ärger bekommst.«
»Ich hoffe, du lügst nicht.«
»Du würdest es wissen, wenn es so wäre.«
Sie lachte und verschwand in der Nacht.
*
Die Wartungsmannschaft kippte zehn Tonnen Ebereschenstämme in das Reservoir. Die meiste Arbeit wurde von den Wiedergängern erledigt, da sie für die Tzimet weniger appetitlich rochen. Bald bedeckte eine glatte Holzschicht das Wasser. Caleb dankte dem Vorarbeiter, während sich seine Leute in ihre Betten verzogen.
Die Eberesche würde alles Licht von Sternen, Mond und Sonne blockieren. Die Reinheit des Holzes vergiftete Tzimet, und ohne das Licht, das ihre Schatten warf, würden die Geschöpfe verdorren und sterben.
Über ihnen kreisten die Wächter auf ihren Couatl-Reittieren. Schwere gefiederte Schwingen schlugen furchterregend am Himmel und Caleb spürte die Augen von Schlangen auf sich gerichtet.
Bei Sonnenaufgang würden alle Führungskräfte des Rotkönig-Konsortiums an Calebs Tür klopfen und wissen wollen, wie Schimmerspiegel verdorben worden war. Die Kunstwirkenden konnten Blitze nach ihrem Willen lenken, Ozeane ohne Hilfe überqueren und Götter im Einzelkampf besiegen, aber sie blieben menschlich genug, um in einer Krise Sündenböcke zu jagen. Sechzig Jahre, nachdem Dresediel Lex sich von den Göttern losgesagt hatte, verlangten seine Herren immer noch nach Blut.
Also suchte Caleb nach einer Ursache. Schimmerspiegel war bei seinem Bau mit einer Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet worden. Wenn ein Fehler gemacht worden war, dann welcher? Und wer hatte ihn gemacht? Oder war eine Kraft am Werk, die schlimmer war als der Zufall? Die Wahren Quechal oder eine andere Gruppe gottesfürchtiger Terroristen? Rivalisierende Konzerne, die hofften, das Rotkönig-Konsortium als Wasserquelle der Stadt zu verdrängen? Dämonen? (Unwahrscheinlich – die Dämonenfürsten zogen einen beträchtlichen Gewinn aus ihrem Handel mit Dresediel Lex und hatten keinen Grund, der Stadt zu schaden.)
Wer würde für den Tod von Halhuatl büßen?
Die Ebereschenbaumstämme dümpelten auf dem stillen Stausee. Calebs Schritte waren die einzigen Unterbrechungen in der stillen Hülle der Nacht. Die Lichter der Stadt leuchteten über den Damm, als würde die Welt dahinter brennen.
Er ging am Ufer entlang und suchte nach einem Opfer.
3
Als Caleb die andere Seite des Stausees erreichte, war er so erschöpft, dass er die Frau fast nicht gesehen hätte.
Er hatte die Ursache nicht gefunden. Alle Geräte und Schutzvorrichtungen schienen zu funktionieren. Der Stacheldraht war nicht durchtrennt und es waren auch keine Löcher in den Zaun geschnitten worden. Neben den verfallenden Chemikalienlagern standen keine leeren Giftfässer. An den Klippen über dem Wasser entdeckte er keine Eisenhaken oder eingemeißelte Haltegriffe.
Er schloss die Augen und untersuchte den Schimmerspiegel wie ein Kunstwirker. Er sah ein riesiges Netz, das von einer betrunkenen Spinne in drei Dimensionen gesponnen worden war. Er konnte sich keinen Reim auf dieses Netz machen, geschweige denn feststellen, ob es kaputt war.
Er öffnete die Augen wieder. Die Krone des Damms teilte die Welt in zwei Hälften, unten Wasser und Ebereschen, oben der Himmel. Rechts von ihm stand eine Schlafbaracke, die Fenster dunkel, die Bewohner in Schlaf und Dämonenträume versunken. Caleb war allein.
Er blinzelte.
Nicht allein.
Eine Frau lehnte an der Hütte, die Arme verschränkt, ein Knie angewinkelt, die Ferse an die Wand gestützt.
Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben. Er prägte sie sich ein: schlank und angespannt wie eine gebogene Klinge. Kurze schwarze Haarsträhnen standen von ihrem Kopf ab. Dünne Lippen mit scharfen Kanten. Sie trug eine wadenlange Hose in der Farbe von Sand und Fels, ein weißes, ärmelloses Hemd und dunkelgraue, eng anliegende Sandalen mit Lederriemen, die sich um ihre Knöchel und Waden schlossen. Sie sah aus, als habe sie in der Nähe des Schimmerspiegel-Stausees nichts zu suchen.
Sie fröstelte vor Kälte und rieb sich die nackten Arme.
Entweder hatte die Frau ihn nicht bemerkt, oder sie dachte, er könne sie nicht sehen. Wenn Ersteres der Fall war, würde sie ihn bald sehen; bei Letzterem hatte es keinen Sinn zu beweisen, dass sie sich irrte. Er musterte das Gelände, den Himmel, das Wasser und den Schuppen, als ob die Frau nicht existiere. Lässig und Schritt für Schritt näherte er sich. Sie warf ihm einen Blick zu und lächelte selbstzufrieden. Sie grüßte ihn nicht und sprach auch nicht, womit die Sache zu Calebs Zufriedenheit erledigt war. Sie dachte, sie sei unsichtbar. Na gut.
Als er in Reichweite war, sprang er.
Er drückte ihre Arme an die Wand. Sie fluchte nicht und wehrte sich nicht, sondern starrte ihn nur mit großen, erschrockenen Augen an, die schwärzer waren, als er es von Augen kannte.
Er hatte Glück und erkannte, dass sie nicht versuchte, sich gegen ihn zu wehren. Ihre Arme fühlten sich stark an und seine Leiste war gefährlich nah an ihrem Knie.
»Wer«, fragte sie, »bist du?«
»Das ist mein Text.«
»Du siehst nicht wie ein Wächter aus. Ist es dein Hobby, dich mitten in der Nacht auf unbewaffnete Frauen zu stürzen?«
»Was tust du hier?«
»Ich schnappe frische Luft«, sagte sie lächelnd. »Ich warte auf einen netten Mann, der mich anspricht. Der einzige Weg, in dieser Stadt ein Date zu bekommen.«
»Gib mir eine klare Antwort.«
»Ich bin vom Himmel gefallen.« Sie war schön, dachte er, so wie Waffen schön sind. Nein. Konzentration.
»Ich arbeite für das RKK. Dieser Stausee ist vergiftet worden. Das Wasser ist mit Tzimet verseucht. Einer unserer Arbeiter ist tot. Ich bin nicht zum Scherzen hier.«
Ihr Lächeln zerbrach. »Das tut mir leid.«
»Wer bist du?«
»Du zuerst.«
»Ich bin Caleb Altemoc«, sagte er, bevor ihm dämmerte, dass er nicht hätte antworten sollen.
»Du kannst mich Mal nennen«, sagte sie. »Ich bin eine Klippenläuferin.«
Caleb zog die Augenbrauen hoch. Die Regeln des Klippenlaufs waren so einfach wie die Regeln des Mordes: Die Läufer wählten ein Startdach und ein Ziel und trafen sich bei Mondaufgang zum Rennen. Dabei schlugen sie jeden beliebigen Weg ein, solange ihre Füße den Boden nicht berührten.
»Ich trainiere nachts in diesen Bergen. Seit ein paar Monaten bin ich jeden Abend hier, aber normalerweise ist niemand wach. Bei all den Wächtern, Zombies und Wagen musste ich anhalten und zusehen.«
»Monate. Warum haben wir dich nicht früher erwischt?«
Sie sah nach unten. An einer Schnur um ihren Hals hing ein Haifischzahn-Anhänger. Auf dem Zahn war die Quechal-Glyphe für »Auge« eingraviert, gekrönt von einem doppelten Bogen, der Verleugnung oder Falschheit bedeutete. Auge und Bogen leuchteten beide in einem sanften grünen Licht. Ein starker Schutz gegen Entdeckung. Teuer, aber Klippenlaufen war ein Sport für Idioten, Verrückte und Leute, die sich gute Ärzte leisten konnten.
»Warum sollte ich dir glauben?«
»Wenn ich dieses Wasser vergiftet hätte, würde ich dann warten, bis mich jemand entdeckt?«
»Das müssen die Wächter entscheiden.«
»Ich habe nichts Falsches getan.«
»Unerlaubtes Betreten ist falsch. Und sie werden mit dir reden wollen, auch wenn du unschuldig bist. Wenn du in den letzten Monaten jede Nacht hier warst, hast du vielleicht etwas gesehen, das uns helfen könnte.«
»Ich werde nicht mit den Wächtern gehen.« Sie übte Druck gegen seinen Griff aus, um ihn auf die Probe zu stellen. Er ließ sie nicht los, aber bewegte sich zur Seite, um seinen Unterleib außer Reichweite zu bringen. »Du weißt, was sie von Klippenläufern halten. Frag mich, was du willst, aber halte sie da raus.«
»Tut mir leid.«
»Mir tut es auch leid«, sagte sie und schlug ihm mit der Stirn ins Gesicht.
Caleb taumelte und prallte gegen einen Ziegelstein. Blind drehte er sich um und folgte ihren Schritten. Er gewann sein Sehvermögen zurück und sah, wie sie über den Stausee sprang. Er rief eine Warnung, die sie nicht zu hören schien.
Krallen aus schwarzem Wasser schossen empor, um sie zu durchbohren, zu fangen und zu zerreißen. Sie fiel zwischen ihnen allen hindurch, landete auf einem dicken Ebereschenstamm und sprang von diesem zum nächsten. Krallen zerschnitten hinter ihr die Luft. Mal floh in Richtung Damm und zog eine Spur aus hungrigen Mäulern hinter sich her.
Caleb hatte keine Zeit, nach ihr zu rufen. Vier dornige Säulen erhoben sich aus dem Wasser, wölbten sich über ihm und stießen herab. Er wich nach rechts aus, schlug hart auf dem Boden auf, taumelte auf die Füße und sprintete am Wasser entlang. Die Tzimet konnten ihn nicht sehen, aber sie kannten die Menschen: Wo einer war, waren auch andere.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mal rannte und sprang, mal in einem Bogen, mal auf gerader Linie.
Das beeindruckte ihn nicht, denn er hatte keine Zeit dazu. Er rannte mit voller Kraft, angespornt von Angst.
Eisentreppen führten hinunter zu Laufstegen, die die Staumauer kreuzten. Caleb erreichte die Treppe Sekunden vor den Tzimet, klapperte die ersten Stufen hinunter und kauerte sich auf den Treppenabsatz. Der Damm fiel dreihundert Fuß unter ihm in ein breites Tal mit Orangenhainen ab. Meilenweit entfernt brannte Dresediel Lex wie eine Opfergabe an zornige, abwesende Götter. Er verdrängte alle Gedanken an die Höhe und einen Sturz aus seinem Kopf. Der eiserne Absatz, der Damm, das war seine Welt.
Schutzzauber an der Dammkrone verhinderten Überschwemmungen während des Winterregens. Sie sollten die Tzimet zurückhalten.
Die Betonung lag auf »sollten«.
Er fluchte. Mal (wenn das ihr richtiger Name war) war seine beste Spur, und sie würde bald tot sein, wenn sie es nicht schon war. Ein falscher Schritt, ein falsch rollender Baumstamm, und sie würde in das Maul eines Dämonen stürzen.
Er wartete auf ihre Schreie.
Ein Schrei ertönte – es war ein frustrierter Schrei und kein Schmerzensschrei –, aber er stammte nicht aus einer menschlichen Kehle.
Mal sprang vom Damm ins Leere.
Einmal, zweimal überschlug sie sich und fiel zehn, fünfzehn Meter tief. Caleb rutschte das Herz in die Hose. Sie fiel – oder flog – ohne einen Laut.
In sieben Metern Tiefe hielt sie mitten in der Luft ruckartig an und baumelte mit der Nase nur wenige Zentimeter vor der Betonwand. Ein Gurt umspannte ihre Hüften und ein langes dünnes Seil führte von diesem Gurt zur Dammkrone.
Blaues Licht flammte auf, als Tzimet sich gegen die Schutzzauber stemmten. Eisen ächzte und zerriss. Eine Klaue harkte über den Rand des Damms. Blitze knisterten an ihrer Spitze.
Mal stieß sich vom Beton ab, begann wie ein Pendel zu schwingen und griff nach dem nächstgelegenen Laufsteg – eine Etage tiefer als Caleb. Er rannte zur Treppe. Eine weitere Kralle schob sich durch die Schutzzauber des Damms, schabend, suchend.
Auf dem Höhepunkt von Mals nächstem Schwung streckte er sich nach ihr aus. Sie legte eine schwielige Hand um sein Handgelenk, zog sich zu ihm hin, schlang ein Bein um das Geländer des Laufstegs und löste ihre Fesseln.
»Danke«, sagte sie. Funken sprühten auf die beiden hinunter. Feuer und Kunstlicht blitzten in ihren Augen.
»Du bist verrückt.«
»Das höre ich öfter«, sagte sie, lächelte und ließ seinen Arm los.
Er griff nach ihr. Nicht schnell genug. Sie fiel – drei Meter zurück und nach unten, rollte sich nach der Landung auf einem tiefer liegenden Laufsteg ab, stand auf, lief und sprang wieder. Sie beschleunigte und sprang von Vorsprung zu Vorsprung, bis sie die zweihundert Meter lange Leiter zur Talsohle erreichte.
Caleb kletterte über das Geländer, um ihr zu folgen, aber beim Anblick des Abgrunds drehte sich ihm der Magen um. Seine Beine zitterten. Er wich von der Kante zurück.
Oben schlugen Dämonen ihre Krallen in die Leere, die sie festhielt.
Die Wächter würden Mal im Tal erwischen, sagte er sich und wusste doch, dass es nicht so sein würde. Sie war bereits weg.
4
Anderthalb Stunden später setzte ein fahrerloser Wagen Caleb an der Ecke Sansilva Boulevard und Aderlassstraße neben einem Juweliergeschäft und einem geschlossenen Kaffeehaus ab. Er hatte Schmerzen. Die Flut des Adrenalins wich und machte Platz für Erschöpfung, Schmerz und Schock. Er hatte den Wächtern gesagt, es gehe ihm gut, er würde es allein nach Hause schaffen, und dankte für die Sorge, aber das waren Lügen. Er war ein guter Lügner.
Breite, verlassene Straßen erstreckten sich zu allen Seiten. Die Kutsche ratterte die leere Boulevard entlang davon. Der Nachtwind strich über sein Haar und versuchte vergebens, ihn in eine tröstliche Umarmung zu hüllen.
Er erinnerte sich an blitzende Augen und einen gebräunten stürzenden Körper.
Er hatte der Kutsche eine falsche Adresse gegeben und stolperte anderthalb Häuserblocks bis zu seinem Ziel, einer zehnstöckigen Metallpyramide, die von einem Architekten der Iskari nach Quechal-Vorbild gebaut worden war. Über der Tür prangte ein Schild mit dem Namen des Gebäudes in einer Art-déco-Perversion der hohen Quechal-Schrift: Haus der Sieben Sterne.
Er atmete aus. Entweder hierhin – oder nach Hause.
»Du bist in der Welt aufgestiegen«, sagte eine Stimme hinter ihm, tief wie das Fundament der Erde.
Caleb schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und zählte in seinem Kopf bis zehn und zurück. Er zählte in Nieder-Quechal, Hoch-Quechal und gewöhnlichem Kathisch. Als er fertig war (vier, drei, zwei, eins), war der aufflackernde Zorn zu einer vertrauten schwelenden Wut verblasst. Seine Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. Ein perfektes Ende für einen perfekten Tag.
»Hallo, Dad«, sagte er.
»Entweder das oder du hast das Rattenhaus im Tal verlassen, um bei deinen Freunden zu schmarotzen, bis sie dich rauswerfen.«
»Es ist ein langer Weg nach Hause. Ich habe gearbeitet.«
»Du solltest nicht so lange arbeiten.«
»Nein«, sagte Caleb. »Das sollte ich nicht. Das müsste ich auch nicht, wenn du aufhören würdest, Leute zu töten.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Caleb drehte sich um.
Temoc ragte in der Dunkelheit hinter den Straßenlaternen auf. Er war anders gebaut als andere Männer: ein Rumpf wie eine umgedrehte Pyramide, Arme, so dick wie seine Beine, ein Hals, der mit seinen Schultern verschmolz. Seine Haut war ein schwarzer Ausschnitt, der von silbern leuchtenden Narben erhellt wurde. Dieselben Schatten, die seinen Körper umhüllten, verdeckten auch seine Gesichtszüge, aber Caleb hätte ihn überall erkannt: Letzter der Adlerritter, Hohepriester der Sonne, Auserwählter der alten Götter. Geißel der Kunstwirkenden und des rechtschaffenen Volkes von Dresediel Lex. Flüchtling. Terrorist. Vater.
»Du willst mir also sagen, dass du nichts über Schimmerspiegel weißt?«
»Ich kenne den Ort«, sagte Temoc. »Was ist dort geschehen?«
»Stell dich nicht dumm, Dad.«
»Ich tue nichts dergleichen.«
»Tzimet sind in den Stausee gelangt. Wir haben Glück, dass sie einen Wachmann getötet haben, bevor das Wasser heute Morgen in die Leitungen floss. Sonst hätten wir schon Tausende, die in die Münder der Menschen kriechen und sie von innen aufspießen.«
Temoc runzelte die Stirn. »Traust du mir so etwas zu? Mit Dämonen zu verkehren und die Stadt zu gefährden?«
»Dir vielleicht nicht. Aber deinen Leuten womöglich.«
»Wir setzen uns für unsere religiösen Rechte ein. Wir widerstehen der Unterdrückung. Wir ermorden keine Unschuldigen.«
»Blödsinn.«
Temoc senkte den Kopf. »Dein Ton gefällt mir nicht.«
»Was war, als ihr vor fünf Monaten den Rotkönig überfallen habt?«
»Euer … Chef … hat den Qet Meereslord auf seinem eigenen Altar gebrochen. Er spießte Götter auf einem Baum aus Blitzen auf und lachte, als sie vor Schmerz zuckten. Er verdient siebzehnfache Rache. Ich bin der letzte Priester der alten Wege. Wenn ich keine Rache übe, wer dann?«
»Ihr habt ihn am helllichten Tag angegriffen, mit Donner und Schatten und Brandgranaten. Menschen starben. Er hat überlebt. Du wusstest, dass es so kommen würde. Niemand, der Götter töten kann, würde so leicht untergehen. Du hast nur Unschuldigen Schaden zugefügt.«
»Niemand, der für das Rotkönig-Konsortium arbeitet, ist völlig unschuldig.«
»Ich arbeite für das RKK.«
Ein Luftbus flog über ihre Köpfe hinweg. Das Licht aus seinen Fenstern tauchte den Bürgersteig in abwechselnde Streifen aus Glanz und Schatten. Das Licht enthüllte nach und nach Temocs Gesicht: ein vorspringender Kiefer, eine schwere Stirn, dunkle, tiefe Augen, Calebs eigene breite Nase. Ein Hauch von Weiß an den Schläfen und die festen Linien auf Wangen und Stirn waren die einzigen Anzeichen für sein Alter. Niemand in Dresediel Lex konnte sagen, wie alt Temoc war, nicht einmal sein Sohn. Temoc war ein kräftiger junger Ritter gewesen, als die Götter fielen, weshalb er mindestens achtzig sein musste. Er nährte die überlebenden Götter und sie hielten ihn jung und stark. Er war alles, was sie noch hatten, und zwanzig Jahre lang waren sie seine einzigen Gefährten gewesen.
Caleb wandte den Blick ab. Seine Augen brannten und sein Mund fühlte sich trocken an. Er massierte sich die Stirn. »Hör zu, es tut mir leid. Es war eine lange Nacht. Ich bin nicht in Bestform. Ich meine, keiner von uns ist in Bestform. Du sagst, du hast nichts mit der Schimmerspiegel-Sache zu tun?«
»Ja.«
»Wenn du lügst, werden wir es herausfinden.«
»Ich lüge nicht.«
Sag das Mom, hätte er sagen können, tat es aber nicht. »Warum bist du hier?«
Calebs Vater hätte eine Statue sein können, so wenig bewegte er sich – sogar ein Flachrelief in einem der Tempel, in denen er vor den Götterkriegen betete, sich in Arme und Beine schnitt und davon träumte, dass er eines Tages einem Mann das Herz aus der Brust reißen und an die Schlangen verfüttern würde. »Ich bin besorgt deinetwegen«, sagte er. »Du bist lange weggeblieben. Hast nicht genug geschlafen. Ein Glücksspiel.«
Caleb starrte Temoc an. Er wollte lachen oder weinen, aber keiner der beiden Impulse gewann die Oberhand, also tat er nichts.
»Du solltest besser auf dich aufpassen.«
»Danke, Dad«, sagte er.
»Ich mache mir Sorgen um dich.«
Ja, dachte Caleb. Du machst dir Sorgen um mich in diesen letzten nasskalten Stunden vor Einbruch der Dunkelheit, bevor du versuchst, alles niederzureißen, was wir, die wir in dieser Stadt arbeiten, tagsüber aufgebaut haben. Du machst dir Sorgen um mich, weil es kein Priestertum mehr gibt. Und was sollen Kinder heutzutage tun, wenn keine zuverlässigen Berufe mehr existieren, die mit Messern, Altären und blutenden Opfern zu tun haben? »Dann sind wir schon zwei«, sagte er. »Hör zu, ich muss gehen. Ich muss in vier Stunden arbeiten. Können wir das später besprechen?«
Keine Antwort.
Er drehte sich zu seinem Vater um, um sich zu entschuldigen oder zu fluchen, aber Temoc war bereits verschwunden. Der Wind wehte vom Meer her die Aderlassstraße hinunter und ließ Blätter weggeworfener Zeitungen in die Nacht flattern: graue Biester, die bereits alt waren, als sie gedruckt wurden.
»Ich hasse es, wenn er das tut«, sagte Caleb zu niemandem und humpelte über die Straße zum Haus der Sieben Sterne.
*
Teo hatte eine Wohnung im siebten Stock, ein Eckzimmer, das sie mit ihrem eigenen Seelenstoff gekauft hatte. An dem Tag, als sie den Vertrag unterzeichnete, hatte sie mit Caleb zur Feier des Tages zwei Liter Gin getrunken. »Meins. Nicht das meines Vaters, nicht das meiner Mutter, nicht das meiner Familie. Meine Seele, mein Zuhause.« Als er anmerkte, dass sie im Grunde Teil ihrer Familie war, hatte sie eine Serviette nach ihm geworfen und ihn einen Mistkerl genannt.
»Du weißt, was ich meine. Meine Cousins und Cousinen liegen alle der Familie auf der Tasche. Keiner von ihnen hat auch nur den Hauch einer Karriere. Sie leben in diesen verdammten Strandhäusern an der Küste oder umrunden den Globus auf Papas Kosten, schnupfen drei Wochen Koks vom nackten Rücken eines achtzehnjährigen Jungen in einem dieser namenlosen Häfen südlich des Strahlenden Reiches oder starren einen Monat lang in Koscheis Königreich auf empfindungsfähige Eisskulpturen. Ein Mittagessen in Iskar, ein Abendessen in Camlaan, ein Streifzug durch die Vergnügungsviertel von Alt Coulumb, und nichts davon haben sie sich verdient. Dieser Ort, der gehört mir.« Sie betonte das letzte Wort grimmig.
»Und was deins ist«, antwortete Caleb lallend, »ist meins.«
»Ich werde die absurdesten Bilder an die Wand hängen, ein Regal mit Single Malts aufstellen und die Tresen so polieren, dass sie sich hundert Millionen Mal spiegeln. Niemals wird ein einziges Buch nicht an seinem Platz sein oder ein einziges Bild schief hängen.«
Sie war ebenfalls betrunken.
»Kann ich dich besuchen?«
»Du kannst mich gelegentlich für eine Orgie und ein Gelage aufsuchen.« Sie blickte von oben auf ihn herab wie eine Kaiserin auf ihrem Thron. »Im Gegenzug musst du, wenn ich geschäftlich unterwegs bin, Compton füttern.« Damit meinte sie ihre hinterhältige Schildpattkatze.
»Sicher«, sagte er und nahm den Schlüssel, den sie ihm hinhielt.
Er lehnte sich an die Wand des Fahrstuhls und beobachtete, wie die Etagenzahlen bis zur Sieben hochtickten. Phantome füllten seinen Schädel: Temoc, Vater, Rebell, Mörder, Heiliger. Die Göttin flüsterte in sein Ohr. Blut. Sterne, die sich im dunklen Wasser spiegelten. Sie alle verblassten in der leeren, ausgedehnten Nacht, der Nacht nach dem Tod der Welt. Die Nacht leuchtete schwarz in seinem Kopf und Mal krümmte sich vor ihm wie eine Klinge.
Die Glocke des Fahrstuhls rief Caleb aus dem Ozean ihrer Augen zurück in einen Flur mit weißem Teppichboden und matten Ölgemälden. Vasen mit Seidenblumen standen auf Teakholztischen, die mit Bronzeornamenten beschwert waren. Erschöpft schlurfte Caleb den Flur entlang und suchte abwesend in seinen Jackentaschen nach Teos Schlüssel.
Als er den Schlüssel ins Schloss schob, waren seine Gedanken Chaos und Blut und Feuer. Chaos, Blut und Feuer; Überschwemmung, Gift, Aufruhr, Verderben. Mal schien nicht der Typ für Vergiftungen zu sein, aber wie sah der Typ für Vergiftungen schon aus? Warum sollte sie sich am Schimmerspiegel aufhalten, wenn sie nichts damit zu tun hatte? Sie hätte sich sofort davonschleichen sollen, als sie die Wächter sah. Vielleicht hatte sie darauf vertraut, dass ihr Haifischzahn sie beschützen würde. Eine fadenscheinige Verteidigung, da Caleb sie sehen konnte. Andererseits hatten die Wächter nicht Calebs Narben.
Er brauchte ein Bett oder eine bequeme Couch. Teo würde ihm am Morgen die Hölle heißmachen, weil er so unangemeldet hereingestolpert war, aber ihre Wohnung lag näher am Büro als seine, und er bewahrte Kleidung in ihrem Schrank auf – Klamotten für den Club, ja, aber er konnte ein Outfit für die Arbeit daraus zusammenstellen.
Er zog den Schlüssel heraus und drehte den Knauf.
Licht brannte in seinen Augen, und für einen verwirrten Moment dachte er: Gut,Teoistnochwach. Er betrat das Wohnzimmer.
Dreißig Sekunden und einen Schrei später taumelte er mit geschlossenen Augen auf den Flur hinaus. Die Tür schlug hinter ihm zu. Seine Wangen brannten. Von drinnen hörte er zwei Frauenstimmen, die sich stritten. Er wartete, die Augen immer noch geschlossen, bis Teos Worte endgültig klangen und die andere Frau sich fluchend in Richtung Schlafzimmer zurückzog.
Der Riegel wurde umgelegt und die Tür öffnete sich.
»Du kannst jetzt die Augen aufmachen«, sagte Teo.
Sie hatte sich in einen plüschigen weißen Bademantel gehüllt, die Haare hingen ihr wirr in die Stirn. Compton schlängelte sich zwischen ihren nackten Füßen hindurch und leckte ihr den Schweiß von den Knöcheln. Über Teos linke Schulter hinweg sah Caleb, wie eine Blondine, die nur einen weißen Baumwollslip und sonst nichts trug, in das einzige Schlafzimmer der Wohnung torkelte und die Tür zuschlug. »Sie scheint nett zu sein«, sagte er lahm. Teo antwortete nicht. Er versuchte es erneut: »Tut mir leid. Ich werde gehen.«
Sie musterte ihn mit einem Blick: unordentliche Kleidung, zerzaustes Haar, schiefe und lockere Krawatte. »Was ist passiert?«
»Die Sache beim Schimmerspiegel ging schief. Da war ein Mädchen und sie hat den Tzimet geweckt. Ich muss früh im Büro sein, aber ich brauche Schlaf. Ich hoffte, ich könnte deine Couch benutzen.« Ich wusste nicht, dass du sie benutzt, dachte er, sprach es aber nicht aus. »Tut mir leid. Blöde Idee.« Er wollte nicht nach Hause gehen. »Ich hoffe, ich habe dir nichts vermasselt.«
Sie seufzte. »Du hast nichts vermasselt. Ganz im Gegenteil.«
»Entschuldige.«
»Mach dir keinen Kopf. Sam ist emotional. Künstlerin. Morgen früh ist ihre Welt wieder in Ordnung. Die Couch gehört dir, wenn du sie willst.«
»Lieber nicht.«
»Ich kann nicht zulassen, dass du wie ein halb erwürgter Welpe zurück in die Nacht stolperst. Ich werde ihr sagen, dass du einer meiner idiotischen Cousins bist oder so. Lass es mich nicht bereuen.«
»Zu spät«, sagte er, aber sie hatte ihm bereits den Rücken zugewandt.
Bei ausgeschaltetem Licht lag er auf Teos Couch im Dunkeln und starrte auf die schrecklichen kubistischen Landschaften, die ihr Wohnzimmer schmückten. Über der Couch hing ein Panorama der Schlacht von Dresediel Lex, brennende Pyramiden und ein zerrissener Himmel, Speere aus Flammen und Eis, aufgespießte Leichen auf Mondsicheln, Götter, die Krieg gegeneinander führten, und Kunstwirkende – alles dargestellt in lebhaften Farbstrichen. Eine Ecke des Gemäldes zeigte Temoc, Mann gegen Mann mit dem Rotkönig, bevor er fiel.
Caleb fielen die Augen zu. Tzimet ragte über ihm auf und erstreckten sich bis zu den kalten Sternen. Compton grub ihre Krallen in sein Bein. Er rollte sich auf die Seite. Leder knarrte.
Er dämmerte hinüber in den Schlaf und ertrank in einem schwarzen Meer.
5
Träume von Messern und Blut auf Stein weckten Caleb an diesem harten, rauen Morgen. Vor Teos Fenstern war es hell und er hatte sich den Nacken verrenkt. Er wuchtete sich von der weißen Ledercouch hoch wie ein Mann, der sich aus der Hölle befreite, und taumelte zum Badezimmer, wobei er mit einer Hand über die Narben auf seinem Oberkörper rieb.
Nach einer langen Dusche tropfte er Teos Wohnzimmerteppich bis zum Kleiderschrank im Flur voll. Sein Nachtclub-Anzug würde ausreichen – ein gestärkter, gebügelter grauer Anzug mit einem weißen Hemd –, solange er die zinnoberrote Weste, die Gamaschen und die Krawatte zurückließ. Die Schuhe von gestern waren verschrammt, aber brauchbar. Er würde sie auf dem Weg polieren lassen und auch eine Zahnbürste finden.
Aus Teos spärlicher Speisekammer holte er eine Schüssel Polenta und zwei Eier, die er zu Rührei verarbeitete. Als er sich zum Essen hinsetzte, fand er auf dem Tisch einen Zettel, der in ihrer gestochen scharfen Handschrift geschrieben war.
Ich würde sagen, mach dir Frühstück, aber ich weiß, dass du das schon getan hast.
Wir sehen uns bei der Arbeit. Die Tür wird sich hinter dir verriegeln.
Sam ist übrigens stinksauer. Kein Wunder. Ich werde mich wieder bei ihr einschmeicheln, aber du schuldest mir zumindest einen Kaffee.
Die Unterschrift war ein großes T mit so tiefen Federstrichen, dass sie das dicke Pergament eindrückten.
Die Wanduhr zeigte 9.47 Uhr. Caleb frühstückte hastig unter den bösen Blicken blutrünstiger Gemälde, spülte seinen Teller und die Bratpfanne ab und verließ in aller Eile das Haus, wobei er erst da bemerkte, dass er seinen Hut auf dem Couchtisch vergessen hatte, als Teos Tür hinter ihm zufiel.
*
Dresediel Lex erdrückte ihn mit einer kakofonischen Umarmung. Karren, Kutschen und Wagen verstopften die Straße vor Teos Gebäude. Die Fahrer schrien Fußgänger, Pferde und andere Fahrer an, als könnten sie den Stau durch einfallsreiche Sprache und die Androhung von Gewalt auflösen. Couatl, schwirrende Optera, Luftbusse und einfache Luftballons zogen am blauen Himmel vorbei.
Hitze beherrschte die Stadt. Eine trockene, dominante Hitze wie der Blick eines Gottes oder der Atem eines Schmiedes. Alles beugte sich der Hitze; Gebäude warfen sich vor ihr nieder, und die Menschen krümmten sich fast nackt in der prallen Sonne. Zu dieser Stunde waren Kunstwirkende, Banker, Makler und alle anderen, die Arbeitskleidung trugen, sicher in ihren klimatisierten Büros untergebracht. Schauspieler, Studenten und Nachtschichtarbeiter liefen in kurzen Hosen, leichten Hemden, Miniröcken, Tuniken und ärmellosen Ponchos durch die Straßen. Caleb ertappte sich dabei, wie er mit Blicken den langen nackten Beinen dreier junger Frauen auf dem Gehweg folgte, und schloss die Augen. Ein scharfes Lächeln tauchte aus der Verwirrung seiner Erinnerung auf: die Frau, Mal.
Er kaufte an einem Eckstand eine Zeitung für zwei Thauma – billig zwar, aber ausreichend, um Kopfschmerzen zu verursachen, weil er ein bisschen Seelenstoff ausgegeben hatte. Ein Kater, das musste es sein. Er hatte in der Nacht zuvor ein gutes Stück Seele gewonnen, er sollte eine Woche lang nicht zur Bank gehen müssen oder so. Die Zeitung enthielt keine Nachrichten über den Schimmerspiegel-Stausee, ein gutes Zeichen. Der Rotkönig kontrollierte die Presse nicht direkt, aber Nachrichten über eine Krise wie die des Schimmerspiegel-Reservoirs mussten gesteuert werden.
Caleb ging zwei Blocks weiter zum Busbahnhof und nahm das nächste Luftschiff in die Innenstadt. Der Bus flog nach Westen und Norden, unter und zwischen den Himmelstürmen hindurch zum 700er-Block von Sansilva, wo sich achtzigstöckige Pyramiden erhoben, um die Sonne anzubeten.
Natürlich hatte dort seit der Befreiung kein echter Gottesdienst mehr stattgefunden. Dennoch beeindruckten die Pyramiden.
Die Luft verlor ihren Dunst und der Himmel zog sich von der Erde zurück. Die Kunstwirker und Kunstwirkerinnen bezogen ihre Kraft aus dem Sternen- und Mondlicht, obwohl sie auch aus der Sonne oder aus Kerzen, Feuern und Lebewesen schöpfen konnten. Rauch und Abgase der Wagen, Fabriken und Kochherde der Stadt störten die einfache, alltägliche Kunst nicht, aber die Konzerne des 700er-Blocks duldeten keinerlei Störung bei ihrer dunklen und delikaten Arbeit. Sie brannten ihren Himmel sauber.
Im tiefsten Winter, wenn der Regen den Schweiß von der Stirn wusch und reißende Flüsse durch die Gassen strömten, schien die Sonne immer noch auf den 700er-Block. Nachts bedeckten Zauberwolken die ärmeren Viertel, Huschbank und Steinwald, Monicola und Central und Fischertal, und reflektierten das Licht zurück zur Erde, sodass in der dunklen Sansilva selbst die schwächsten Sterne für hungrige Kunstwirkende sichtbar blieben.
Caleb verließ den Bus einen halben Block vom RKK-Hauptquartier entfernt, der Obsidianpyramide in 667 Sansilva. Demonstranten der Wahren Quechal standen draußen, skandierten und schwenkten Schilder mit Transparenten: KEINE DÄMONEN IN UNSEREM WASSER. DIE GÖTTER VERTEIDIGEN. KEIN WASSER OHNE BLUT. Die eine Hälfte trug moderne Kleidung – Hosen, Hemden und Röcke –, die andere Hälfte Gewänder, die selbst Calebs Vater als albern traditionell empfunden hätte: weiße, mit Silberkordel gesäumte Kleider für die Frauen und Baumwollkilts für die Männer, deren nackte und unversehrte Oberkörper mit roten Quechal-Glyphen bedeckt waren. Vier Wächter in schwarzen Uniformen beobachteten die Menge mit verschränkten Armen. Das Sonnenlicht glitzerte auf ihren Abzeichen und auf den silbernen Flächen ihrer Gesichter.
Als Caleb sich näherte, zeigte ein Seifenkistenprediger mit einem knorrigen Finger auf ihn und rief: »Fliehe von diesem Ort! Hier laufen Verräter herum, Verräter des Blutes, Verräter der Götter und ihrer eigenen Art!«
Caleb ignorierte den Mann und drängte sich durch die Menge. Es war sinnlos, sich zu fragen, wie die Wahren Quechal von Schimmerspiegel erfahren hatten. Wenn es darum ging, verdorbenes Fleisch zu wittern, waren ihre Nasen besser als die von Aasgeiern.
»Wenn du nicht fliehen willst«, rief der alte Mann, »dann schließ dich uns an. Es ist noch nicht zu spät. Steh auf gegen die Blutverräter, die schlimmer sind als der Tod! Setz dich für die Sache ein!«
»Verschwinde«, rief Caleb im Vorbeigehen in Hoch-Quechal.
Das Gesicht des alten Mannes verzog sich verwirrt. Wahrscheinlich verstand er Hoch-Quechal nicht, abgesehen von einer Handvoll halb erinnerter Worte aus einem Untergrundgottesdienst. Heutzutage sprachen nur noch wenige die Sprache der Priester. Caleb kannte sie nur, weil sein Vater sie ihm beigebracht hatte.
Er schritt durch den Protest. Hinter ihm schwollen die Sprechchöre und Parolen wieder zu einem Crescendo an.
*
Caleb verließ den Aufzug im dreiundzwanzigsten Stockwerk der Pyramide und tauchte in die Stille ein, die die arbeitenden Männer und Frauen umgab.
Er schlängelte sich durch die Kabinen in Richtung der Ecksuite der Direktorin. Tollan würde ihn sehen wollen, bevor er in der Papierflut ertrank, die zweifellos bereits seinen Schreibtisch bedeckte. Sosehr es Calebs Chefin auch schmerzen mochte, es zuzugeben, manche Wahrheiten ließen sich einfach nicht in den freien Feldern der offiziellen Formulare vermitteln.
Er sah ihre Bürotür und wurde langsamer.
Tollans Tür bestand aus einer Milchglasscheibe – ein Trost für die ganze Abteilung, denn man konnte ihre Stimmung daran ablesen, wo sie sich in ihrem Büro aufhielt. Saß sie an ihrem Schreibtisch, herrschte Frieden auf der Welt; ging sie auf und ab, war Krieg; pflegte sie ihre Friedenslilie, versteckte man sich am besten und wartete, bis die Axt fiel.
Caleb konnte weder Tollan noch ihren Schreibtisch, noch ihre Friedenslilie sehen. Eine schwarze Klinge hatte ihr Büro vom Universum abgeschnitten. Schreckliche Dinge bewegten sich in dieser Schwärze und nur wenige davon waren menschlich.
Die Tür öffnete sich langsam.
Caleb duckte sich in die nächstgelegene Kabine und schreckte einen vierschrötigen Mann mittleren Alters von seiner Arbeit auf.
»Tut mir leid, Mick.«
»Caleb? Wo hast du gesteckt? Der Boss sucht dich.«
»Ich werde mit Tollan reden, wenn sie fertig ist mit …«
»Nicht die Chefin«, flüsterte Mikatec. »Der Boss.«
Caleb kniete sich hinter die Kabinenwand. Mick hatte seinen Arbeitsplatz mit Bildern seines jüngeren, schlankeren Ichs tapeziert, wie es Ullamal spielte, Sporttrophäen in der Hand hielt und Triumphe hinausschrie. Caleb kauerte neben den Erinnerungen seines Kollegen und lauschte.
Federkiele kratzten über Papier. Stuhlrollen quietschten. Finger trommelten auf einem Schreibtisch. Ein Versicherungsstatistiker in der nächsten Reihe hustete.
Aus der Dunkelheit jenseits von Tollans Tür ertönte eine Stimme, die klang wie das Ende der Welt: »Ich hoffe, unser Vertrauen in Sie ist nicht deplatziert.«
Die Farbe verblasste in den Bildern von Micks Ruhm. Die Geisterlichter an der Decke flackerten und erloschen. Jemand – eine neue Mitarbeiterin – fluchte, und jemand anders brachte sie zum Schweigen. Das Geräusch von Stiften, Stühlen und trommelnden Fingern verstummte. In der Risikomanagementabteilung wurde es still.
Tollans Tür wurde zugeschlagen.
Dreimaliges deutliches, scharfes Klopfen durchbrach die Stille, dann noch einmal, dann der Aufprall eines bronzenen Stabes auf Stein. Die Geräusche wiederholten sich. Ein schweres Gewand fegte über den Steinboden.
Caleb hielt den Atem an.
Der Rotkönig ging zwischen den Kabinen hindurch, umhüllt von Macht. Die Klopfgeräusche waren seine Schritte: die Knochen seiner Ferse, die Ballen seines Fußes und die zweigförmigen Zehen, die nacheinander auftraten. »Weitermachen«, sagte er. Niemand rührte sich. Vor sechzig Jahren hatte der Rotkönig den Himmel über Dresediel Lex zerrissen und die Götter auf Dornen aus Sternenlicht aufgespießt. Die letzten Reste seines Fleisches waren vor Jahrzehnten dahingeschmolzen, zurückgeblieben waren glatte Knochen und ein ständiges Grinsen.
Er war ein guter Chef. Aber wer könnte vergessen, was er gewesen und was geblieben war?
Die Schritte entfernten sich und Licht drang wieder in die Welt. Eine Aufzugglocke läutete. Als sich die Türen schlossen, atmete Caleb aus und hörte, wie die anderen dasselbe taten. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner Stirn.
Er klopfte Mick auf die Schulter, lockerte seinen Kragen und ging zu Tollans Büro.
*
Tollan schritt hinter ihrem Schreibtisch mit einem Glas Mescal in der Hand auf und ab. Sie nahm einen Schluck und schüttelte sich. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem festen Zopf geflochten, der ihr Gesicht streng und schmal erscheinen ließ.
»Wo waren Sie?«, fragte sie, als er die Tür schloss.
»Schlafen.«
»Schlafen.« Sie lachte humorlos und sah an sich herunter, als sei sie überrascht, dass sie einen Drink in der Hand hielt. »Ab und zu rede ich mir ein, dass ich mich an ihn gewöhnt habe, dass ich mit ihm umgehen kann. Dann erlebe ich ihn wütend.« Sie drückte das Glas zusammen, als wolle sie es zerquetschen, überlegte es sich anders und stellte es auf den Schreibtisch.
Sie musste nicht aussprechen, wen sie meinte.
Caleb wartete. Schließlich sagte er: »Ich war bis halb fünf am Schimmerspiegel. Wäre ich früher gekommen, wäre ich zu müde gewesen, um Ihnen oder anderen zu helfen.«
Tollan ging weiter auf und ab. Er hatte erwartet, dass sie ihn anschreien würde. Ihr Schweigen war schlimmer.
»Schimmerspiegel ist unter Kontrolle«, fuhr er fort. »Niemand ist zu Schaden gekommen. Die Tzimet sind unter Kontrolle. Sie werden langsam sterben, aber sie werden sterben. Wir können das Wasser weiter fließen lassen. Er sollte Ihnen nicht die Schuld daran geben.«
»Das ist Ihre professionelle Meinung?« Ihre Schuhe knirschten auf dem Boden, als sie sich umdrehte.
»Ihre nicht?«
»Wir haben alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, sagte sie in einem Ton, der alle Vorsichtsmaßnahmen verachtete.
»Wir wenden in diesen Gewässern hochenergetische Kunst an. Früher oder später musste etwas durchschlüpfen.«
»Sie glauben das genauso wenig wie ich. Oder wie er.« Sie zeigte mit dem Daumen zur Decke in Richtung des Penthousebüros des Rotkönigs, das sechzig Stockwerke höher lag. »Jemand hat uns reingelegt.«
»Möglich.«
»Möglich.« Sie spie das Wort aus. »Das Schlimmste ist, dass der Boss nicht wütend darüber ist, was wir getan oder nicht getan haben. Er ist wütend, weil dadurch das Geschäft mit Herzstein gefährdet ist.«
Herzstein war eine Wünschelrutengänger-Firma zur Wassererschließung und für Energie. »Was hat das mit Schimmerspiegel zu tun? Wir kaufen Herzstein doch komplett auf.«
»Nur wenn Alaxic, ihr verrückter alter Chef, beschließt zu verkaufen. Schimmerspiegel macht ihm Sorgen. Der Rotkönig sagt, dass Alaxic den Handel nicht abschließen wird, wenn ihn nicht jemand davon überzeugt, dass es nicht unsere Schuld war. Von Angesicht zu Angesicht.«
Caleb zuckte mit den Schultern. »Also sollte das jemand tun.«
»Der Boss will Sie.«
»Mich? Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Schicken Sie Teo. Sie ist Miss Vertragsmanagement. Sie haben ihr einen Parkplatz und alles gegeben.«
»Der Boss will Sie nicht dorthin schicken, weil Sie ein guter Verhandlungspartner sind. Er will Sie wegen dem schicken, was Ihr Vater ist.«
Caleb sagte nichts. Ihm schossen viele Antworten durch den Kopf, keine davon war höflich.
»Der alte Alaxic war früher Priester. Nach den Götterkriegen studierte er die Kunst und gründete seinen eigenen Konzern, aber für ihn ist der Rotkönig immer noch der Typ, der seine Götter getötet hat.« Tollans Augen waren grimmig und so schmal wie ihr Mund. »Werden Sie es tun? Nach Herzstein gehen und erklären, was passiert ist?«
»Das werde ich«, sagte Caleb. »Aber mir wäre es lieber, wenn der Rotkönig mich einsetzte, weil er glaubte, dass ich gut in meinem Job wäre, und nicht, weil er weiß, wer mein Vater war. Ist.«
»Sagen Sie ihm das selbst, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen. Und wenn Sie danach noch leben, erzählen Sie mir, wie es lief.« Sie blätterte in ihrem Terminkalender. »Ich werde mit Herzstein einen Termin vereinbaren. Was werden Sie Alaxic sagen?«
»Dass wir das Problem eingedämmt haben. Entweder gab es eine verrückte Fehlfunktion oder das Reservoir wurde vergiftet. Wir werden das System überwachen, die Sicherheitsvorkehrungen erhöhen und ihn über alles, was wir herausfinden, auf dem Laufenden halten.«
Tollan runzelte die Stirn. »Das reicht nicht.«
»Es ist die Wahrheit.«
»Ich wünschte, wir hätten etwas Handfesteres. Die Wärter sagten, Sie hätten einen Eindringling gesehen, der weggelaufen ist. Können Sie dazu etwas sagen?«
Schwarze Augen und ein Lächeln wie ein blankes Messer. Lange, straffe Muskeln, düstere Haut. Lachend. Spöttisch. »Ich habe ein paar Spuren, denen ich nachgehen muss, das ist alles.«
»Nichts Konkretes? Nichts, was wir Alaxic oder dem Rotkönig geben können?«