Fall der Engel - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik - Max Gladstone - E-Book

Fall der Engel - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik E-Book

Max Gladstone

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Beschreibung

Die Götterkriege haben die Stadt Alikand in Trümmer gelegt. Heute, anderthalb Jahrhunderte und viele Bauaufträge später, erhebt sich an ihrer Stelle Agdel Lex. Tote Gottheiten übersäen die umliegende Wüste, Gassen verschieben sich, wenn die Menschen gerade mal nicht hinsehen, ein krakenähnlicher Turm dominiert die Skyline, und die mysteriöse Iskari-Gleichrichtungsbehörde sorgt für strenge Ordnung in der einst unabhängigen Stadt – während sich in den ständig wechselnden Gassen Schatzsucher, Kriminelle, Kampfbibliothekare, Albtraumkünstler, Engel, Dämonen, enteignete Ritter, Studenten und andere Verrückte auf der Suche nach dem nächsten großen Coup tummeln. Priesterin und Investmentbankerin Kai Pohala (zuletzt gesichtet in Fünf Faden Tief) kommt in die Stadt, um sich den Löwenanteil an der aufkeimenden Albtraum-Startup-Szene von Agdel Lex zu sichern und ihre Schwester Ley zu besuchen. Dabei erfährt sie, dass Ley in einen dubiosen und brandgefährlichen Deal verwickelt ist und sie alles daran setzen muss, ihre Schwester zu finden, bevor es die Behörden tun. Doch Ley hat ihre eigenen Pläne, die ihre Ex-Freundin, einen waghalsigen Raubüberfall in der von herumspukenden Göttern befallenen Wüste und vielleicht die Freiheit einer besetzten Stadt einschließen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass Alikand doch nicht völlig tot ist – und es gibt Kräfte, die genau das um jeden Preis erreichen wollen …

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Seitenzahl: 773

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AUSSERDEMBEIPANINIERHÄLTLICH:

MAX GLADSTONE: DIE KUNSTWIRKER-CHRONIK

Band 1: DREI VIERTEL TOTISBN 978-3-8332-4100-0

Band 2: ZWEI SCHLANGEN LAUERNISBN 978-3-8332-4178-9

Band 3: FÜNF FADEN TIEFISBN 978-3-8332-4275-5

Band 4: DER LETZTE ERSTE SCHNEEISBN 978-3-8332-4331-8

Band 5: VIER WEGE KREUZENISBN 978-3-8332-4399-8

Band 6: FALL DER ENGELISBN 978-3-8332-4480-3

Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter: www.panini.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2024 by Max Gladstone. All rights reserved.

Titel der Englischen Originalausgabe:»The Ruin of Angels: A Novel of the Craft Sequence« by Max Gladstone, published 2017 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA

Deutsche Ausgabe 2024: Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Helga Parmiter

Lektorat: Katharina Altreuther

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover-Illustration: Goni Montes

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDMAXG006E

ISBN 978-3-7569-9964-4

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Juli 2024, ISBN 978-3-8332-4480-3

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Steph, für alles.Und für Hal, mit Liebe und mit einer Entschuldigung, besonders für das eine Mal in Shanghai.

1

Ley baute ihr Sandschloss unterhalb der Gezeitenlinie.

Natürlich hatte Kai sie gewarnt. Denn wozu war eine ältere Schwester sonst da? Als Ley ihren Platz wählte und ihre Fahne aufstellte, sagte Kai: »Sie wird absaufen.« Das letzte Wort zerrte an ihr, als hätte es einen Haken in ihrer Lippe hinterlassen. Fast hätte sie sich entschuldigt, aber sie hielt sich zurück. »Absaufen« war das richtige Wort. Man konnte Worten nicht ausweichen, nur weil sie wehtaten.

Als Ley die Zinnen ihrer Burg gestaltete, die wie die Burgen aus den Schwarzwald-Märchenbüchern aussah, in denen Kinder gefressen werden, sagte Kai: »Siehst du, das ist die Gezeitenlinie. Da vorne, wo der Seetang trocknet.« Als Ley mit einer leuchtend blauen Kelle eine Ringmauer modellierte und dabei nassen Sand zwischen ihren Handflächen zusammenpresste, sagte Kai: »Deine Mauer ist zu dünn, um das Wasser draußen zu halten.«

»Sie soll nicht das Wasser draußen halten«, sagte Ley. »Sie soll unsere Feinde fernhalten.«

»Du hast keine Feinde.«

Ley zuckte mit den Schultern und grub ihren Burggraben.

Mama war nicht da, um zu helfen. Heute war ein Trauertag; sie war mit ihren Schwestern zum Grab von Kais Vater gegangen, um sich das Gesicht mit Asche zu bemalen und nackt dazusitzen, allein, bis die Tränen kamen. Sie hatte an dem Tag, als die Träger ihren Mann nach Hause brachten, mit ihren Kindern getrauert, edel und elegant in Trauerweiß – sie stand mit vorgerecktem Kinn und hoher Stirn da, die Augen leuchtend und schwarz, äußerlich teilnahmslos wie eine Büßende. Jeder Körper birgt Scharen, hieß es in alten Liedern. Als Mutter half sie ihren Kindern, ihren Vater, der Schiffbruch erlitten hatte, zu betrauern. Als Ehefrau, als Frau, als jemand, der einen Freund verloren hatte, brauchte sie Zeit für sich, um sich zu erholen.

Sie überließ Kai das Sagen, weil Kai älter war und nicht alles in Brand steckte, nur um zu sehen, in welcher Farbe es brannte. Aber Ley hatte nur eine vage Vorstellung von der Bedeutung der Redewendung »das Sagen haben«, und Kai wollte ihre jüngere Schwester diesbezüglich lieber nicht auf die Probe stellen. Sie hatte immer noch blaue Flecken vom letzten Mal, als sie es versucht hatte.

Also überließ Kai Ley ihrem Werk und ging höher hinauf, an einen anderen Strandabschnitt, um ihre eigene Burg außerhalb der Reichweite der kommenden Wellen zu bauen. Da der Sand hier trockener war und sich nicht so gut verdichten ließ, ging sie mit einer halben Kokosnussschale zur Brandung, füllte sie mit Wasser und trug sie den Strand hinauf, um den Sand anzufeuchten. Sie baute eine ausladende Küstenstadt wie Kavekana, mit einem Berg dahinter wie Kavekana’ai, und schmückte die Küste mit Kieselsteinstatuen – Büßende, die aufs Meer hinausblickten und auf die Rückkehr längst vergangener Götter warteten. Helden. Väter.

Jedes Mal, wenn sie zum Meer zurückkehrte, war die Stadt ihrer Schwester gewachsen. Ley hob mit ihren Fingerspitzen Gassen aus und schnitt mit einem Bambussplitter Verzierungen auf die Dächer. Von oben betrachtet sah ihre Stadt so kompliziert aus wie ein Kunstwirkerdiagramm oder ein Werk der Hohen Theologie. Ley kniete in ihrem Badeanzug und mit zusammengezogenen Augenbrauen, als wolle sie die Hälfte der Welt ausblenden, die sie nicht interessierte: den Strand, den Vulkan im Landesinneren, ihre Schwester. Sie biss sich auf die Unterlippe, während sie arbeitete.

»Du musst etwas tun«, sagte Kai. Sie wählte ihre Worte sorgfältig, denn das war das Schöne an ihnen: Man konnte sie kontrollieren, wenn alles andere versagte. »Sonst wird das ganze Ding einstürzen.«

Oben am Strand schrien und kreischten größere Kinder. Ein bleiches iskarisches Touristenmädchen machte einen Hechtsprung, um einen Aufschlag beim Volleyball zurückzuspielen, und Sand spritzte dort auf, wo sie landete. Das Meer lag ruhig bis zum Horizont, aber niemand schwamm. Heute wehte die rote Flagge, und unter dem Wasser wimmelte es von Galgenbrillen mit ihren langen, brennenden und Schmerz verursachenden Tentakeln, obwohl sie vom Ufer aus nicht zu sehen waren. Weiße Segel blähten sich in der Bucht auf. Kutter, Jollen und Barken kreuzten trotz der riesigen Containerschiffe, die in der Nähe von Westklaue im Tiefwasserhafen festgemacht hatten, vor dem Wind.

»Du hörst nicht zu.«

Ley sah nicht hoch.

Na schön. Sollte Ley doch ihre dem Untergang geweihte Stadt bauen. Kai marschierte zurück. Sie fügte ihrer Insel Häuser hinzu und grub eine tiefe Bucht, damit die einlaufende Flut sie füllen konnte. Sie stand davor und befand sie für gut. Dann drehte sie sich um.

Leys Metropole breitete sich am Strand aus. Sie hatte sich vom zentralen Bergfried spiralförmig nach außen gearbeitet, Stadthäuser und Fabriken verteilt und ihre Gassen erweitert, als sie sich ihnen erneut gewidmet hatte. Kai kannte die Welt, die sie selbst aus Sand gebaut hatte – aber sie kannte auch Leys Welt, obwohl sie sie noch nie gesehen hatte. Diese breiten Durchgangswege mit voneinander abgetrennten Straßen und Bürgersteigen waren Handelsstraßen – nein, Prozessionsstraßen, an deren Anfang und Ende Triumphbögen standen, und auf denen einst die alten Kaiser siegreich marschiert waren. Hier gab es Paläste, dort hohe Tempel, da eine Fabrik; im Norden wurden die Gassen so eng, dass Leys Finger sie nicht hätten anlegen können. Dafür musste sie wohl ihren Bambusstreifen benutzt haben. Sie hatte in beiden eine Traumstadt gefunden und sie real gemacht.

Dann rollte die Flut heran.

Leys Hände hielten nie still. Der Rest von ihr kniete starr neben den Bezirken, die sie gebaut hatte, während ihre dünnen Finger den Sand formten, bildeten und glattstrichen.

Kai schnappte sich ihre Kokosnussschale, lief vor Leys Stadt und begann, eine Mauer zu bauen.

Sie baute ohne jede Kunst, denn um Kunst ging es nicht. Sie wusste nicht, warum Ley sie ignorierte, warum sie diese seltsam vertraute Stadt baute. Sie wusste nicht, warum Ley glitzernde Spuren ihrer Seele in den Wällen unter ihren Fingern hinterließ. Aber sie hatte eine Vermutung. Sie hätte Ley fragen können, sie an den Schultern packen und schütteln und schreien können, bis sie aufhörte und versuchte, es zu erklären. Aber Leys Gesicht erinnerte Kai an das von Mama in Trauerweiß. Und die Worte, die sie womöglich sagen würde, wenn Kai sie zum Sprechen zwang, waren Worte, von denen Kai wusste, dass sie es nicht ertragen konnte, sie zu hören.

Also baute sie die Mauer. Sie errichtete sie mit ihren Händen, mit ihren eigenen angespannten Schultern und Beinen, mit Mamas dicken Fingern und Papas grimmiger Schärfe. Sie höhlte den Sand mit ihrer Kokosnussschale aus und die Sonne brannte ihr in den Augen, wärmte ihre Haut und bedeckte sie mit Schweiß.

»Junge!«, rief ihr eine Stimme auf Iskari vom Strand aus zu: das Volleyballmädchen, betrunken, in einem weißen Badeanzug. »Junge, du kannst die Flut nicht aufhalten.«

Kai ignorierte das Mädchen, dessen Freunde sie zum Schweigen brachten und versuchten, es ihr zu erklären. Kais Mauer war eigentlich eher ein Hügel, mit einem Graben dahinter, der so tief war wie Kai selbst. Sie schätzte die Höhe der Mauer anhand der Gezeitenlinie ab und begann, eine Wölbung bergauf anzulegen, um die äußeren Grenzen von Leys Stadt zu schützen. Sie schwitzte und zitterte.

Es war keine Zeit mehr. Sie konnte die östliche Mauer nicht schließen, bevor die Flut hereinkam. Sie wusste das, blendete es aber aus, denn sonst hätte sie aufgehört, es zu versuchen. Oben am Strand versammelte sich ein Publikum, Touristen und andere Ungeheuer, angezogen von den beiden Mädchen, die sich im Sand abmühten. Ein Skelett in einem Hemd mit Blumenmuster sah ihnen zu und rollte eine Zeitung zwischen seinen Fingerknochen zu einem immer enger werdenden Zylinder zusammen. Kai ignorierte es und kämpfte weiter.

Das Wasser stieg, während sie die Ostmauer aufbaute. Jede Brandungswelle trug mehr Sand von der Mauer zurück in die Tiefe. Kai klopfte ihren Sand nicht mehr fest, sondern schaufelte ihn nur noch, warf ihn hoch und hoffte. Hinter ihr plätscherte eine Welle in den Graben und nasser Sand klebte an Kais Füßen. Sie sank ein. Die Mauer bekam einen Riss. Salzflüsse strömten herein und durchnässten Kai bis zur Hüfte. Die Nordmauer wurde vom Wasser weggewaschen. Kai versuchte, sie zu stützen, aber die nächste Welle riss ihr die Füße weg. Sie ging in einem Gewirr aus Gliedmaßen und Schaum unter.

Wellen und Strömungen warfen sie herum, sie überschlug sich und wurde auf den Strand gespült. Sie spuckte Salzwasser und Sand aus, und als sie sich erholt hatte, blickte sie in der Erwartung einer Katastrophe zurück.

Aber Leys Stadt stand.

Die Wellen bedeckten sie und flossen durch die ausgehöhlten Gassen ab, die wie Kais Mauer hätten einstürzen müssen. Ley starrte durch das Wasser und die Gischt nach unten. Ihre Stadt starb nicht.

Leys Seele schimmerte im Sand. Sie hatte sich selbst in diese Stadt eingebaut, indem sie Seelenstoff mit Wasser unter den Sand mischte, und nun stand sie über dieser Welt, die sie geschaffen hatte, und wollte, dass sie echt war und den Wellen standhielt. Der Sand behielt seine Form. Die Stadt sank, aber sie blieb. Sie würde nicht zerbrechen, solange sie Atem hatte.

Ley erhob sich wie eine Göttin über ihrer Schöpfung, während die Flut hereinbrach. Sie streckte ihre Hände aus, als wolle sie die Wellen glätten, und einen Moment lang glaubte Kai, sie würden gehorchen.

Dann fiel Ley schreiend in das schmutzige Wasser. Sie schnappte nach Luft, würgte, röchelte – und verschwand in der Gischt und dem Schaum.

Kai rannte ins Wasser, packte ihre um sich schlagende Schwester an den Schultern und zerrte sie auf den trockenen Sand. Ley hustete Flüssigkeit aus und schrie wieder, obwohl sie keine Luft mehr bekam. Ein weißer, phosphoreszierender Faden schlängelte sich um ihr Bein, bedrohlich und winzig: der Tentakel einer Galgenbrille, der abgerissen war und mit der Flut auf der Suche nach einem Opfer dahintrieb. Wahrscheinlich nicht tödlich. Kai bedeckte ihre Hände mit einem Klumpen Seetang und schälte den Tentakel ab. Rotz lief aus Leys Nase, und ihre Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße durch die Schlitze der zusammengekniffenen Lider zu sehen war. Sie atmete tief und schnell. Gift sickerte durch Kais provisorischen Handschuh und verbrannte ihre Handfläche.

Als die Ranke weg war, hörte Ley auf zu schreien, öffnete aber nicht ihre Augen. Kai legte sich den Arm ihrer Schwester um ihre Schultern und stemmte sich mit den Beinen hoch. Sie machte drei Schritte und stolperte ins Wasser. Der Bau der Mauer hatte sie erschöpft, weshalb sie Leys Gewicht nicht mehr tragen konnte. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich aufzurichten.

Sie stand zu schnell auf und jemand anders stützte Leys zweite Seite. Das Iskari-Mädchen mit dem weißen Badeanzug, das ihr vorhin etwas zugerufen hatte – »Junge«, sagte es wieder auf Iskarisch. »Was hat sie gemacht?«

Kai hatte diese Frage nicht erwartet. Sie glaubte auch nicht, dass die Iskari sie erwartet hatte – sie hatte Angst vor Schreien, das war alles. Sie wusste nicht, warum Ley gestürzt war. Es war leicht zu erkennen, dass sie noch nie von einer Galgenbrille verbrannt worden war – eine Galgenbrille hätte eine leuchtend rote Narbe auf dieser blassen Haut hinterlassen. Das Mädchen war verlegen, wie es Touristen manchmal erging, wenn sie Einheimischen halfen oder sie auch nur bemerkten, und sie redete, um ihre Nerven zu beruhigen.

»Gespielt«, antwortete Kai in der Sprache des Mädchens und ließ die Anrede so stehen. Das Mädchen half ihr, Ley strandaufwärts zu tragen. Als sie sich näherten, wich die Menge zurück und machte Platz auf der Promenade. Sie legten Ley vorsichtig neben einem weggeworfenen Ferienortprospekt ab. Das Skelett beobachtete die beiden durch eine Rubinbrille, die Zeitung immer noch in der Hand. Ein Kunstwirker wie er, dem alle Macht der Welt zu Gebote stand, hätte etwas tun können, dachte Kai. Lichter tanzten, wenn er den Finger krümmte und er hätte den Schmerz sofort stoppen können.

Stattdessen rückte er seine Brille zurecht.

Ein Rettungsschwimmer drängte sich durch die Menge.

Das Mädchen fragte: »Warum ist sie geblieben, als die Flut kam?«

Kai antwortete nicht. Der Rettungsschwimmer beugte sich hinunter, nahm ein Amulett von seinem Hals und legte es auf den Stich. Blut sickerte durch die aufgerissene Haut, aber durch die Berührung des Amuletts beruhigte sich das Fleisch und die Blutung kam zum Stehen. Ley hörte auf zu zittern und holte zum ersten Mal gleichmäßig Luft.

»Sie wollte es retten«, sagte Kai. Ihre Stimme stockte vor »retten« – die Iskari-Sprache zwang sie, das Pronomen zu gendern, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich richtig entschieden hatte. Sie erinnerte sich an Leys Gesichtsausdruck, der dem ihrer Mutter so ähnlich war, unerschütterlich und grimmig, als sich die Sargträger ihrem Tor näherten. Sie hätte sagen können, ihn retten.

Hinter ihr ging die Sonne unter und die Flut rollte heran. Das Meer war so gelassen, als hätte es nie einen Menschen getötet. Die Brüstungen und Zinnen von Leys Stadt schmolzen und ihre Bögen versickerten in der Tiefe. Salzwasser füllte Kais Modellbucht, und ihre winzigen Büßenden starrten auf das flache Giftmeer hinaus.

»Was retten?«, wollte das Mädchen wissen.

Aber Kai war sich nicht sicher, und wenn sie es wüsste, würde sie es nicht sagen.

2

Wer bricht in eine Bank ein, um etwas zu hinterlassen?

Diese Praxis ist verbreiteter, als man denken könnte, obwohl die Motive der Ausführenden in der Regel darin bestehen, am Ende mehr zu entfernen, als sie ursprünglich hinterlassen haben. Man könnte sich den Wachen der Bank entziehen, den Konstrukten, Wiedergängern, Dämonen und manchmal sogar lebendigen menschlichen Wachen ausweichen, die Entdeckungsmagie umgehen, über den Druckplattenboden tanzen, alle drei Rätsel beantworten und eine Leuchtglyphe hinterlassen, die Tunnelbohrern den Weg weist, oder einen Mechanismus, der die Sicherheitsvorkehrungen bei einem späteren, gewaltsameren Überfall außer Kraft setzen würde. Ein einfaches Abhörgerät an der richtigen Stelle könnte die nötigen Informationen liefern, um einen Markt zu überfallen oder zu zerstören, oder um einen kleinen, aber bedeutsamen Mord zu begehen – im wörtlichen oder übertragenen Sinne. Aber nur wenige Menschen würden in eine Bank einbrechen, nur um etwas zu hinterlassen, und noch weniger, um einen Brief zu hinterlassen.

Als die Poststelle der Ersten Kaiserlichen Iskaribank in Agdel Lex bemerkte, dass der Pergamentumschlag, der an einem Werktagmorgen in ihrem Briefkasten lag und mit blutrotem Wachs und dem Abdruck einer Eisenhutblüte versiegelt war, nicht die üblichen Absenderangaben aufwies, glaubte die diensthabende Dämonin, dass es sich lediglich um ein Versehen des Verwaltungsassistenten handelte.

Sterbliche. Also wirklich.

Hätte der Brief ins Strahlende Imperium oder nach Westen über das Meer nach Alt Coulumb oder sogar nach Norden nach Telomere geschickt werden müssen, hätte die Dämonin wertvolle Minuten damit verschwendet, die zuständige Verwaltung ausfindig zu machen, um das Porto ordnungsgemäß in Rechnung zu stellen – aber ein Umschlag für den internen Versand brauchte kein Porto. Trotzdem zischte die Dämonin und überlegte, blutige und unmissverständliche Maßnahmen zu ergreifen. Sie hatte die Verwaltung davor gewarnt, Prioritätskennzeichnungen für interne Post zu verwenden – die Gebäudepost ging stündlich herum, und während einige Marktentwicklungen eine sofortige Reaktion erforderten, wurden selbst belanglose Nachfragen auf mysteriöse Weise mit dem Vermerk ÄUSSERST DRINGEND versehen, sobald man die Leute interne Post kennzeichnen ließ. Meist regelte ein wenig Blutvergießen die Situation.

Die Postdämonin sah im Gebäudeverzeichnis nach und stellte fest, dass der Empfänger nicht eingetragen war. War der Brief vielleicht doch für die Zustellung nach draußen bestimmt? Ohne Adresse, ohne Porto. Sie schloss ihre vielen Augen und spielte im Geiste, wie ihr Therapeut vorgeschlagen hatte, eine beruhigende Abfolge menschlicher Schreie ab, beginnend mit einer Zehn auf der Schmerzskala, abwärts zählend. Das entspannte sie genug für die Arbeit. Dann überprüfte sie die Gästeliste und bemerkte ihren Fehler.

Kai Pohala, wer auch immer sie war, war nur für einen Tag im Büro; der Absender dieser Nachricht konnte sie nicht persönlich treffen und wollte sichergehen, dass der Brief ankam, bevor sie abreiste. Vernünftig. Hatte sogar Porto gespart. Heute musste niemand sterben.

Obwohl man nie weiß, wann es mit einem trüben Morgen im Büro aufwärts geht.

* * *

Agdel Lex besaß, aus der Luft betrachtet, eine zerbrochene Schönheit, aber Kai war zu sehr damit beschäftigt, sich nicht zu übergeben, um darauf zu achten. Die Turbulenzen machten ihr zu schaffen – obwohl die Flugbegleiter behaupteten, der Drache habe gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen. Zu dieser Jahreszeit war dies auf der Agdel-Lex-Route durchaus üblich und lag im Rahmen der Stresstoleranz ihrer Gondel. Zweifellos würden sie dieses »kein Grund zur Sorge« so lange wiederholen, bis sie alle in Flammen aufgingen und abstürzten. Kein Grund, in Panik zu verfallen. Blut und Höllen und alle Götter, sie hasste das Fliegen.

Ganz zu schweigen davon, dass ihre gottverdammte Silberschüssel auf dem gottverdammten Rücksitz-Tablett nicht ruhig stehenbleiben wollte. Es gab zwar eine Vertiefung, eine kleine Aussparung in der Teakholzeinlage, die für die winzigen Tassen mit dem schrecklichen Kaffee gedacht war, den das charmante Flugpersonal servierte, aber sie war zu weit vorne rechts und viel zu klein, um ihr brandneues »Passt überall hinein!«-Faltopfergefäß aufzunehmen. Wenn sie die Schale in der Mitte des Tabletttisches abstellte, drückte sie gegen die Rückenlehne des Sitzes vor ihr, dessen Insasse sich natürlich zurückgelehnt hatte. Und wenn sie die Schale zu sich zog, grub sich der Rand in ihre Brust. So oder so würde bei Kais Glück ein scharfer Ruck alles mit Blut bespritzen. Sie zögerte, runzelte die Stirn und tippte dann der vierarmigen Skulptur aus Messern und Glas, die vor ihr in 14F saß, auf eine ihrer Schultern, nachdem sie eine Stelle gefunden hatte, bei der sie einigermaßen sicher war, dass sie sich nicht aufschlitzen würde, wenn sie sie berührte. »Entschuldigen Sie.« Sir oder Ma’am? Verdammte Festlandssprachen und ihre verdammten geschlechtsabhängigen Formen der respektvollen Anrede. Vergiss es. Konzentriere dich. Die Skulptur drehte ihren Kopf unabhängig vom Rest ihres Körpers und starrte sie mit rubinroten Augen an. »Könnten Sie Ihre Lehne hochstellen?«

Es antwortete in einer Sprache, die sie nicht verstand und die sich wie der Tod von etwas Schönem anhörte. Dann drehte es sich genauso geschmeidig zurück, wie es sich ihr zugewandt hatte, ohne die Lehne zu verstellen.

Na schön. Sie klemmte die Schüssel auf das wackelige Tablett. Die Kabine schwankte und schwankte und schwankte, und für einen kurzen Moment, in dem sich ihr der Magen umdrehte, sah sie nur Meer und Flügel vor ihrem Fenster, keinen Himmel, bevor sich der Drache aufbäumte und sich wieder ausrichtete, und Kais Innereien noch einmal durcheinanderwürfelte. Es bringt nichts, sich zu übergeben. Bringen wir es hinter uns. Sie nahm eine Opferpipette aus ihrer Jackeninnentasche, öffnete das Papier, um das Glas freizulegen, und stach sich in einer ruckelfreien Pause in den Zeigefinger. Das Blut füllte das dünne Glasröhrchen durch die Magie der Kapillarwirkung. Die Kabine wurde erneut durchgeschüttelt – man sollte meinen, sie würden ein paar halbwegs fähige alterslose Echsen für diese Flugrouten finden –, und die Pipette wackelte im Fleisch ihres Fingers. Sie zupfte sie heraus, als der Blutfluss nachließ; die Pipette war klein, und ihre professionellen Schutzzauber schlossen die Wunde sofort. Trotzdem brannte es.

Kai beugte sich über die Schale, spitzte die Lippen um die Pipette und pustete. Das Blut spritzte und rann an der Antihaftbeschichtung des Silbers herunter, wobei es verschlungenen krakeligen Spuren folgte, die sie im Hinterkopf mithilfe eines Dutzends auguraler Disziplinen aus sechs Kontinenten interpretierte. Ein Blutleser der Sanguinischen Heerschar würde vor einem unruhigen Morgen warnen – keine Überraschung. Aizu-Humoristen würden sagen, hm, Familienprobleme? Unwahrscheinlich. Vielleicht verstand sie es falsch. Sie war schon eine Weile nicht mehr gebeten worden, ein Aizu-Idol zu bauen. Sie merkte sich diese spezielle Theologie zur Überprüfung vor.

Kai steckte die Pipette zurück in ihre Verpackung. Der Mann auf dem Sitz neben ihr hustete in die Faust, verlagerte sein Gewicht und sagte auf eine sehr vielsagende Art und Weise nichts.

Sie steckte die Pipette zurück in ihre Jackentasche. »Irgendwann muss jeder beten.«

Er versuchte, so zu tun, als hätte er nichts gehört.

»Hey«, sagte sie, »gehe ich zu Ihrem Altar und schlage Ihnen das Messer aus der Hand?«

Er blätterte in seinem Exemplar von Der Thaumaturgist und sagte auf eine Art nichts, die »Camlaander« schrie. Kai mochte das an Camlaandern: Wenn man so tat, als würde man das von ihnen ausgestrahlte Unbehagen nicht bemerken, klärten sie einen nie auf, hielten einfach die Klappe und warteten auf eine spätere Gelegenheit, Freunden, die ihnen zustimmen würden, dein abscheuliches Verhalten zu beschreiben.

Kais Blut sammelte sich in der Schüssel. Sie betrachtete ihr Spiegelbild, doch dann fielen sie in ein weiteres Luftloch, und das Spiegelbild wurde zerstört. Besser konnte man es unter diesen Umständen nicht erwarten.

Sie atmete über dem Wasser aus.

Lady. Ich bin ganz Ohr.

Dort, am Himmel, unter dem Bauch einer uralten Bestie im Anflug auf eine fremde Stadt, von den Winden hin und her geworfen, in der Touristenklasse festsitzend, weil die Priesterschaft die Business Class für diesen Abstecher nicht für angemessen hielt, spürte sie die Berührung einer kühlen blauen Hand auf ihrer Stirn.

Die Berührung schmolz und floss über ihre Haut wie Honigtränen, heiß und süß und tief, perlte und zitterte auf ihren Lippen und glitt dann in sie hinein. Sie schmeckte Salz und Sand und Vulkangestein. Wurzelmoschus rollte über ihre Zunge in ihre Kehle. Sie brannte am ganzen Körper und atmete die Schönheit aus, die sich durch ihre Adern schlängelte.

Auf der anderen Seite des Ozeans, auf einer weit entfernten Insel, blickte ein Mädchen – eine junge Frau jetzt, Götter, Izza war sechzehn – von ihrer Arbeit auf, ihr Blick verlor sich in der Ferne, und sie sagte leise durch die Göttin, die sie beide verband: Landest du nicht in einer Stunde?

Es hat eine Planänderung gegeben, betete Kai. Ich muss noch ein paar Tage im Ausland bleiben. Alles zu Hause kann warten.

Im Guten wie im Bösen.

Probleme?

Nicht mehr als sonst. Büßende zu reparieren ist eine langsame, heikle Arbeit. Wenn wir nur die Einstellungen ändern, helfen wir ihren Opfern nicht. Sie haben die Menschen gezwungen, nach einem bestimmten Maßstab gut zu sein – wenn wir sie zwingen, nach einem anderen Maßstab gut zu sein, sind wir nicht besser. Das Problem ist der Zwang, nicht das Gute.

Die Veränderung einer Kultur braucht Zeit.

Ihr habt die Büßenden erst seit sechzig Jahren. Ihr habt dreitausend Jahre lang ohne sie gelebt.

Die Zeit ist wie ein Ozean, betete sie zurück. Die Menschen schwimmen nur im oberen Teil.

Du sagtest, es gab eine Planänderung. Was hat sich geändert?

Kai wünschte, sie hätte die Sache sofort angesprochen. Jetzt hatte sie das Gefühl, etwas verheimlicht zu haben. Die Geschäftsleitung hat das Wagnisangebot genehmigt, betete sie. Wir haben Treffen vereinbart, während ich die letzten Dinge in Telomere erledigte. Ich bleibe über Nacht in Agdel Lex.

Über den Verzückungskanal kam keine Antwort.

Es ist nur ein kurzer Zwischenstopp, erklärte sie. Die Stadt hat eine gute Start-up-Gemeinschaft – hauptsächlich Albtraum-Telegrafie, Traumgestaltung und Angstwirkerei, energiegeladene Kunstwirkerei. Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Albtraum nannte sie »aufstrebend«. Diese Art von Investition ist riskant, aber das bedeutet mehr Chancen – ein oder zwei große Wetten werden uns Luft verschaffen, um uns von den Grimwald-Beteiligungen im südlichen Gleb zu trennen und ganz aus den nekromantischen Erden auszusteigen.

Immer noch Stille.

Sie fuhr fort: Ich habe um das Budget gekämpft, ich habe alle ausstehenden Gefallen eingefordert, und ich habe vor ein paar Monaten die Erlaubnis erhalten, die Fühler auszustrecken – aber ohne Erfolg. Absolutes Schweigen. Aber als ich wegen der Martello-Sache in Telomere war, bekam ich einen Brief von Twilling aus dem Vertrieb, du erinnerst dich? Es stellte sich heraus, dass die Erste Kaiserliche Iskaribank zwei Modi hat: langsam und schnell. Sie wollen ein Geschäft abschließen, haben Treffen anberaumt und brauchen mich heute. Ich habe keine Erlaubnis vom Vorstand, aber ich habe mir selbst ein spekulatives Budget von ein paar Millionen Thauma gegeben; ich mache die nötigen Abschlüsse, gehe nach Hause und lege die Verträge mit bereits getrockneten Unterschriften vor. Sie werden zustimmen. Alles wird gut gehen.

Weitere Stille, skeptischer.

Sie wusste, dass sie zu schnell betete, aber sie konnte nicht anders: Die Stadt ist in diesen Tagen friedlich. Die Kämpfe finden weiter südlich statt, hinter der Halde. Ich treffe mich nur mit ein paar Künstlern, die wahrscheinlich froh sein werden …

Das Luftschiff wurde durchgeschüttelt. Nein, nicht das Luftschiff. Ihre Schulter. Sie riss ihre Augen auf. Ihre Adern pochten bei der Abschwächung des Vergnügens, und sie hatte Mühe, sich auf die weiche, schwache Realität zu konzentrieren. Der Camlaander, der neben ihr saß, las geflissentlich in seiner Zeitschrift. Wer …

Eine Flugbegleiterin stand im Gang und runzelte die Stirn. »Wir werden bald landen. Bitte klappen Sie Ihr Tablett hoch und sehen Sie von übermäßigem Beten ab.«

In Ordnung, sagte Kai, dann fiel ihr ein, dass sie ihren Mund benutzen musste. »In Ordnung.« Und sie schloss wieder ihre Augen.

Hör zu, ich muss los. Vertrau mir. Wenn wir Kavekana verändern wollen, um die Büßenden und alles andere ohne bewaffneten Aufstand in Ordnung zu bringen, braucht die Priesterschaft einen Überschuss – etwas, damit wir uns von Investitionen in Knochenöl und nekromantischen Erden abwenden können. Das wird der Blauen Lady und Kavekana helfen, und es wird mir einen netten Bonusscheck einbringen, damit wir mehr Kinder von Schulden freikaufen können. Wieder bebte ihre Schulter. Sie ignorierte die Flugbegleiterin und betete schneller: Es ist alles in Ordnung. Meine Schwester hat mir in den letzten fünf Jahren Postkarten von hier geschickt. Sie hat eine ekelhaft unkonventionelle Zeit.

Es ist dir nicht in den Sinn gekommen, mich zu fragen?

Weil ich wusste, was du sagen würdest.

Und deine Schwester? Hast du sie gefragt?

Ley? Nein.

Sie spürte die Scham über diese Antwort wie ein unterirdisches Beben, unsichtbar und für jeden außer ihr selbst leicht zu leugnen. Risiko-Thaumaturgie war nicht Leys Fachgebiet. Und überhaupt – wenn Kai zu Ley Kontakt aufgenommen hätte, hätte sie sie besuchen müssen, während sie in der Stadt war, aber auf einer kurzen Geschäftsreise war nicht genug Zeit, um alles durchzukauen, was sich zwischen ihnen aufgestaut hatte. All das war einleuchtend, aber Izzas Frage erinnerte Kai dennoch daran, dass sich Chaos und Zeit angehäuft hatten, und an die glanzlosen und oberflächlichen Postkarten, die sie selten beantwortete, jede mit einer charmanten Anekdote über Dichterlesungen oder Verwirrung um Obst auf Straßenmärkten, besten Wünschen für Mama – blutleer. Seltsam, wie viel man schreiben konnte, ohne etwas zu sagen. Und diese Distanz war irgendwie Kais Schuld – zumindest dachte Ley wahrscheinlich, dass es so war.

»Ma’am«, wiederholte die Flugbegleiterin, diesmal etwas schärfer. »Wir beginnen mit dem letzten Sinkflug. Bitte.«

»Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen«, sagte Kai, »wie übertrieben das klingt? Letzter Sinkflug. Dichter steigen ein letztes Mal in die Höllen hinab. Kaiser haben einen letzten Abstieg vom Thron, bevor ihnen jemand den Kopf abschlägt. Wir sind im Begriff zu landen, was wir vermutlich überleben werden.«

»Gebete stören die Navigation.«

»Wie viele Navigationsinstrumente braucht Ihre riesige, im Grunde unsterbliche Echse, um zu wissen, wo es langgeht?«

»Der Luftraum von Agdel Lex bietet navigatorische Herausforderungen …«

»Bei allen Ihren verfluchten Göttern«, sagte der Camlaander, und Kai bemerkte zum ersten Mal den verkrampften Griff, mit dem er sein Magazin hielt, die Schweißperlen auf seiner Stirn, den säuerlichen Geruch seiner Angst, »könnten Sie bitte mit Ihrem Anruf warten, bis wir sicher auf dem Boden sind?«

Sie betete wieder. Ich muss gehen. Ich weiß nicht, warum du dich so darauf versteifst.

Vor fünf Jahren, antwortete Izza, sah ich in Agdel Lex, wie die Gleichrichtungsbehörde die Hungerstreikenden am Gavreaux-Knotenpunkt verbrannte. Sechshundert Menschen. Die Anführer wurden eingesperrt, und wenn sie jemals wieder herauskamen, habe ich nichts davon gehört.

Das ist ja grauenhaft. Aber ich komme nicht, um die koloniale Autorität zu stärken, sondern …

Die Verbindung brach ab. Der honigfarbene Finger der Blauen Lady glitt zwischen ihren Lippen hervor, und die Ranken der Freude wickelten sich Dorn für Dorn von ihr ab. Kai öffnete die Augen, rot, wütend. Die Flugbegleiterin hatte ihre Schale geschlossen; die letzten Reste von Blut rauchten darin, zu Flocken getrocknet, und Kai roch Säure und Kupfer und verbranntes Eisen. Sie stieß die Hand der Flugbegleiterin weg und klappte den Rest der Schale selbst zu. »Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich war schon fast fertig.«

»Wir sind über das Limit hinaus, Ma’am.«

Mögen die Götter uns vor kleinlichen Tyrannen bewahren. »Unten ist unten. Hat Ihr Drache keine Augen?«

»Wir landen in Agdel Lex, Ma’am. Der Boden ist nicht immer dort, wo man ihn verlassen hat, und man kann seinen Augen nicht immer trauen.«

3

Nach all diesem geheimnisvollen Unsinn sah der Flughafen wie jeder andere Flughafen aus, mit der gleichen Landebahn, den gleichen überteuerten Imbissbuden und Cafés, sogar den gleichen Menschen: Kunstwirkende in Anzügen und Krawatten, Golems mit Visionsjuwelen, dämonische Konstruktionswagen mit Gepäck. Eine ältere Frau rollte in einem Rollstuhl vorüber, während sich ein Gepäckträger unter dem Gewicht ihrer Koffer abmühte, Schritt zu halten. Die Leute hier schienen überwiegend aus dem Gleb zu stammen – ihre Haut war dunkler als die von Kai, aber heller als die von Izza und sie hatten lockige Haare. Aber sonst hätte sie überall in der Alten Welt sein können – obwohl sie weniger Einheimische sah, als sie erwartet hatte. Während des Fluges hatte sie nicht darüber nachgedacht, denn in gewisser Weise fühlten sich alle Luftschiffe gleich an, aber in ihrer Gondel waren hauptsächlich Telomeri und Iskari gewesen; es gab vielleicht zehn Gleblander, einschließlich der jungen Frau auf der anderen Seite des Ganges: einem großen, schlanken Mädchen in einem leuchtend gelben Pullover, das ein Lehrbuch las und das Kai für eine Studentin gehalten hatte.

Aber Zeit für Spekulationen war später. Kai ließ ihre Schultern kreisen, ignorierte ihr Knacken und Knirschen, nahm ihren Koffer und machte sich auf den direkten Weg zum Bodentransport.

Sie eilte an den üblichen tränenreichen Begrüßungen an der Seilabsperrung vorbei. Die Studentin warf sich in die ausgebreiteten Arme einer ebenso großen, schlanken Frau, die – ihr Götter – weinte; ein kleineres Mädchen, das die Schwester der Studentin zu sein schien, schloss sich ihrer Umarmung an, und sie lachten unter Tränen. Kai wandte sich ab.

Sie suchte die Menge mit Blicken ab, bis sie eine rundliche, junge Frau mit breiten Schultern und Hüften in einem cremefarbenen Anzug sah, die ein Schild mit Kais Namen in der Hand hielt. »Miss Pohala! Gavvi Fontaine, von der EKI. Ich bin Ihre Kundenbetreuerin« – sprich: Verkäuferin – »und Ihre Führerin für den heutigen Tag und werde sicherstellen, dass Sie alles haben, was Sie brauchen.« Gutes Lächeln, fester Händedruck, schwacher Iskari-Akzent. Fontaine hielt die Hand einen Hauch zu lang fest; ein kleiner, flacher Tentakel schlüpfte unter ihrer Manschette hervor und zog sich dann zurück. Es war keine Überraschung, dass eine EKI-Bankerin dem iskarischen Glauben angehörte, aber der Symbiont hatte Kai immer verunsichert. Fontaines Lächeln war sehr breit. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ich bin so froh, dass Sie es einrichten konnten.« Mit übertriebener Betonung.

»Danke, dass Sie persönlich gekommen sind«, sagte Kai. »Ich bin sicher, Sie verstehen mein Bedürfnis nach Diskretion.« Den Leuten, die zu den Idolen von Kavekana beteten, war Geheimhaltung wichtig. Als Kai die Menge mit Blicken absuchte, sah sie niemanden, der wie ein Spion oder – noch schlimmer – ein Journalist aussah, aber man konnte ja nie wissen.

»Es ist mir eine Ehre, mit …« Fontaine bremste sich, bevor Kai sich entscheiden musste, ob es mehr Aufmerksamkeit erregen würde, die Frau scharf zurechtzuweisen oder sie »kavekanische Priesterschaft« laut aussprechen zu lassen. »Nun ja. Wir sind gespannt. Ich habe ein paar Treffen anberaumt, um einen Eindruck von der Vielfalt der Möglichkeiten zu vermitteln, die die lokale Gemeinschaft bietet. Ich kann alle Fragen beantworten, aber wir sollten wirklich gleich loslegen.« Sie griff nach Kais Koffer und Kai umklammerte ihn noch fester. »Ist das Ihr einziges Gepäck?«

»Ich habe nur genug für zwei Tage mitgenommen. Den Rest meiner Sachen habe ich mit dem langsamen Boot nach Hause geschickt.«

»Fantastisch.« Sie grinste. »Folgen Sie mir.«

Fontaine hatte einen gleichmäßigen, eleganten Gang – Kai hätte die Hälfte der Schriften, die sie besaß, auf dem Kopf der Frau balancieren können. Schöner, maßgeschneiderter Anzug, glänzende Schuhe – sie wollte mit ihrer Kleidung beeindrucken –, und sie hatte Kais Namen richtig ausgesprochen, was den meisten Festlandbewohnern nicht auf Anhieb gelang. Sie war jung, ehrgeizig und lernte schnell. Fontaine drehte sich zu Kai um, als sie sich den Türen näherten; der hypothetische Schriftstapel auf ihrem Kopf hätte nicht einmal gewackelt. Rückwärts und auf Absätzen. Kai war beeindruckt, versuchte es aber nicht zu zeigen. »Willkommen«, sagte Fontaine, als sich die Glastüren hinter ihr öffneten und Kai nach Agdel Lex hinaustrat.

Und stehenblieb.

Die Stadt drehte sich vor ihr.

Auf den ersten Blick sah Agdel Lex ziemlich normal aus. Klobige Putzhäuser säumten die Bergkämme, die die Stadt im Osten und Westen umgaben. Als sie nach Süden blickte, sah sie den schwarzen Wall, der sich von der Götterhalde abhob, während im Norden Türme aus Kristall, Stahl und Glas in den Himmel ragten, als hätte eine Kunstwirkerin die Gischt während eines Sturms an den steilen Klippen eingefroren. Im Herzen dieser Eruption stand ein Turm aus – nein, er konnte nicht aus Fleisch sein, er musste aus Stein oder Beton sein, der so geglättet worden war, dass er organisch wirkte; ein riesiger Tintenfischmantel, der häuserblockgroße Tentakel in den Boden bohrte. Dahinter fielen die Hänge zum Schildmeer hin ab.

Das war es, was Kai anfangs sah.

Und doch.

Die engen Gassen zwischen den verputzten Häusern wanden sich. Zuerst hielt sie die Bewegung für eine Fata Morgana, wie in dem felsigen Land an der Nordküste zu Hause an einem heißen Sommertag – aber nein, die Bewegung war echt. Gerade Linien wurden zerklüftet. Boulevards schrumpften, verdrehten sich, verschwanden. In der Stadt taten sich Lücken auf, Straßen verwandelten sich in Märkte. Kristall- und Betontürme wurden durchsichtig, schrumpften, unsicher, Schatten einer anderen Zeit. Sogar der Wind veränderte sich. Zuerst hatte sie einen heißen, peinigenden Wüstenwind gespürt, der mit dem Geruch von Motoröl und verbrauchten Blitzen geschwängert war, so trocken, dass er ihr den Atem raubte. Doch jetzt dämpfte er, beruhigte sie, begann nach Rosenwasser und Anis zu duften.

Zwei Städte also? Irgendwie übereinandergestapelt? Nun gut. Kai war eine Priesterin vieler Götter; sie war an Realitäten gewöhnt, die sich überschnitten. Damals in der Ausbildung hatten ihr die älteren Priester ein Glas Wasser gegeben und sie gebeten, zu glauben, es sei halb voll und halb leer zugleich. Das war eine lustige Woche.

Aber selbst als sie versuchte, beide Städte gleichzeitig zu sehen, weigerten sie sich immer noch, zur Ruhe zu kommen. Hinter diesem Paar verbargen sich weitere Wahrheiten. Sie versuchte, alles auf einmal zu erfassen, zu sehen und zu wissen.

Die Skyline verschob sich erneut. Der Tintenfischturm verschwand gänzlich, und der Himmel, vor dem er einst gestanden hatte, blutete nun krankes Licht aus einer fraktalen Wunde. Trümmer breiteten sich aus, tiefe Abgründe, zerbrochene Paläste, spitze Türme, zerstörte Stadtblöcke, bevölkert mit Statuen aus Asche.

Die Stadt wurde zu einer Gruft. Kalter Wind schnürte Kai die Kehle mit einer Faust aus Messern zu, die immer fester zudrückte. Frost breitete sich auf ihrer Haut aus, knisterte in ihrem Mund, und sie konnte nicht atmen. Der Boden drehte sich. Der Himmel war Himmel und über ihrem Kopf, und sie war …

Sie fiel nicht mehr. Arme hielten sie. Große dunkle Augen. Hübsch. Wärme kehrte zurück, Leben, die Geschäftigkeit des Flughafens. »Da.« Fontaine. Kai folgte ihrer Stimme. Etwas bewegte sich in der Nähe von Kais Brust – eine Hand tastete in ihrer Jacke. Sie versuchte, die Hand abzustreifen, aber ihre Muskeln waren zu sehr damit beschäftigt zu frieren. Kai spürte, wie sie auf dem Bürgersteig abgestellt wurde. Die Leute starrten. Der Himmel war voller Klingen. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Geister flüsterten in ihr Ohr. Fontaine steckte ihre Zungenspitze zwischen die Zähne, wenn sie in Eile war. Dumme Angewohnheit. Sie würde sie noch abbeißen. Ihr Götter. Atme. Ertrinke nicht darin. Lass sie nicht sehen, dass du schwach bist. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Die Klingen am Himmel drehten sich, rollten sich wieder zusammen, veränderten ihre Form. Blut tropfte und gefror.

Was war das hier für ein Ort?

Fontaine hielt Kai ihren Reisepass vor die Augen. Die rote Tinte des Einreisestempels wirkte jetzt schärfer, das Motiv des Tintenfischs in einem Kreis perfekt. Tintenfischarme bildeten den Rand des Kreises und umarmten Kais Namen.

Tiefer, noch tiefer, zog es sie an.

Sie keuchte, und dieses Mal füllten sich ihre Lungen mit sengender Wüstenluft. Sie blinzelte, und Eiskristalle sublimierten von ihren Wimpern. Fontaines Arm hielt sie fest, stark und sicher. Zitternd spürte Kai den Tentakel unter dem Jackenärmel der Frau.

Aber warum zitterte Kai eigentlich? Der Tag war heiß und hell, der blaue Himmel frei von Wolken. Das Pflaster, auf dem sie ausgestreckt lag, strahlte Wärme aus. Ein paar besorgte Schaulustige verweilten (eine Frau mit einem Vogelkopf, die vierarmige Statue von ihrem Flug), aber die meisten gingen weiter. Ein junger Gleblander in einem dreiteiligen Anzug ging vorbei und warf Kai einen Blick zu, den sie wiedererkannte – den gleichen Blick, den sie Festlandbewohnern zuwarf, die sich von ihrem ersten Palmschnaps-Kater in einer Hotelgosse zu Hause auf Kavekana erholten.

Tourist.

Ihr »Es geht mir gut« kam gepresst und gemurmelt heraus. Fontaine hielt ihr eine Hand hin, die Kai höflich ablehnte. Dann stand sie mit Mühe allein aufrecht. Eine erste Überprüfung ergab keine bleibenden Schäden: Schuhe okay, Strümpfe, mehr oder weniger.

»Meine Güte, es tut mir so leid.« Fontaine klopfte Kai den Staub von der Jacke und dem Rock, ohne sich auch nur einen Deut um persönliche Distanzzonen zu scheren. »Ich habe noch nie jemanden so schnell hindurchfallen sehen. Twilling hat mir gesagt, dass es ein Risiko ist, aber ich hatte ja keine Ahnung. Sie müssen sehr gut in Ihrem Job sein.«

»Was war das?«

»Die Götterkriege«, sagte sie. »Kommen Sie. Lassen Sie uns ein Taxi suchen.«

»Ich habe gehört, dass es Schäden gibt, aber …« Die Wärme kehrte in ihren Körper zurück. Sie atmete ein und zitterte – sogar ihre Lungen waren kalt.

Fontaine erklärte es ihr, während sie sich durch die Menge schob; Kai strich sich durch die Haare, schnappte sich ihren Koffer und folgte ihr. »Die alte Stadt, die vor Agdel Lex hier stand, fiel früh in den Kriegen. Gerhardt und seine Schüler haben sich hier zum ersten Mal den Göttern entgegengestellt und beinahe die Welt zerrissen. Die Zeit selbst zerbrach. Es heißt, er lebt in der Wunde am Himmel und kämpft immer noch. Die Iskari retteten, was sie konnten, riegelten das Kriegsgebiet ab und bauten die Stadt, in der wir leben. Aber manchmal fallen Menschen durch. Die Gleichrichtungsbehörde hält die Dinge stabil, aber es gibt Löcher.«

»Was passiert, wenn ich … noch einmal … hindurchfalle?«

»Nehmen Sie Ihren Pass, schauen Sie ihn an und erinnern Sie sich: Sie sind in Agdel Lex. Die Stadt der Iskari.« Sie spreizte die Hände und betrachtete die Skyline, die Sonne, die ausgesprochen lebendige Metropole und die Reihe der Taxis, auf deren Kutschböcken jeweils ein Fahrer saß. »Sie sollten sich keine großen Sorgen machen müssen. Die Welt ist im Herzen der Stadt sehr dicht. Also, los gehts. Wir sind schon spät dran.«

Kai starrte die Taxis misstrauisch an. »Keine fahrerlosen Kutschen?«

»Zu riskant. Ohne jemanden, der Ihnen den Weg weist, könnten Sie hindurchfallen. Hey!« Fontaines Stimme wurde tiefer, als sie dem Fahrer etwas zurief, und sie wechselte in einen Talbeg-Dialekt, dem Kai nicht folgen konnte, scharf und nachdrücklich, wahrscheinlich voller Schimpfwörter. Wenn sie Iskari sprach, wirkte Fontaines Körpersprache gutmütig und einladend; wenn sie Talbeg sprach, wurde sie zu einer Faust. Der Fahrer legte seinen Roman weg und griff nach den Zügeln. Sein metallenes Pferd scharrte auf dem Kopfsteinpflaster und schlug Funken. Fontaine reichte Kai zum Einsteigen in die Kutsche die Hand, und diesmal ließ Kai sich von ihr helfen. Sie fühlte sich immer noch unsicher, und das Rütteln, als die Kutsche in den Verkehr einbog, verschlimmerte das Unwohlsein. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Fontaine. »Ich werde Sie morgen vom EKI-Privatdienst zum Flughafen zurückfahren lassen.«

Richtig. Sie war aus einem bestimmten Grund hierhergekommen. Fontaine schien darauf erpicht zu sein, zu einem anderen Thema überzugehen – jedem anderen Thema, außer vielleicht dem, das Kai im Sinn hatte. »Aber Sie wollten den Dienst heute nicht in Anspruch nehmen, weil Sie keine Aufmerksamkeit erregen wollten.«

»Ich, ah.« Fontaine berührte ihre Schläfe und runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen noch folge.«

»Ihr Brief enthält einen schnellen Zeitplan, der auf Dringlichkeit schließen lässt, aber Sie sind selbst gekommen, um mich zu treffen, anstatt einen Verwalter zu schicken, und wir benutzen ein öffentliches Taxi. Frau Fontaine, wissen Ihre Chefs von unserem Treffen?«

Es war Fontaine hoch anzurechnen, dass sie ehrlich blieb. »Das Management«, räumte sie ein, »hat wenig Einblick in dieses Geschäft. Sie hatten bisher nicht viel Erfolg bei der EKI, denn in Ihrem Fall befinden wir uns in einer ausweglosen Situation: Ohne eine Zusage von Mitteln kann die EKI nur wenig offenlegen. Aber ohne Informationen können Sie nicht investieren. Wo andere ein Hindernis sehen, sehe ich eine Chance.«

»Sie wollen ein Geschäft abschließen, etwas Glitzer darüberstreuen und mich mit einer hübschen Schleife Ihren Vorgesetzten präsentieren: eine schöne, reichhaltige Gelegenheit unter blauem Himmel. Wenn Sie es richtig anstellen, bekommen Sie einen großen Bonus und ein neues Büro. Ein paar eigene Untergebene. Nicht schlecht für eine einheimische Frau in einer Iskaribank.«

Fontaines Lächeln bekam einen nervösen Zug. »Ich muss sagen, ich finde Ihre Offenheit erfrischend.«

»Ich werde morgen abreisen. Ich habe keine Zeit für Quatsch. Habe ich recht?«

»Wäre es ein Problem, wenn es so wäre?«

»Keineswegs. Ich will nur wissen, wo wir stehen.« Kurz gesagt: in einer Zwickmühle, wenn auch nicht unbedingt auf eine schlechte Art und Weise. Fontaine wollte, dass eine fremde Prinzessin auf einem magischen Pferd herbeiritt und Reichtümer mitbrachte, die jenseits der Träume von Habgier lagen. Kai brauchte die Stabilität und den Ruf der EKI, um sich bei den Hohepriestern zu Hause zu profilieren. Seht nur, sogar die EKI hält diese Traumwirker für eine gute Investition! Ausweglos. Zur Hölle. Aber sie könnte es immer noch schaffen. Sie würde es schaffen. »Ich habe zwei Fragen. Ich hätte gerne direkte Antworten auf beide.«

Fontaine nahm ein flaches, silbernes Kästchen aus ihrer Jackeninnentasche, öffnete es und betrachtete eine Auswahl von Pillen darin. »Nur zu.«

»Glauben Sie, dass wir hier ein gutes Geschäft machen können?«

Fontaine wählte eine durchscheinende grüne Pille und hielt sie gegen das Licht. »Wir können ein Vermögen machen.« Sie kostete dieses Wort wie teuren Schnaps. Dann schluckte sie die Pille trocken hinunter.

»Zweite Frage. Sind Sie gerade high?«

»Miss Pohala, ich bin Traumwirker-Bankerin. Ich bin ständig high.« Sie hielt ihr das Pillendöschen hin. »Möchten Sie auch?« Bevor Kai ablehnen konnte, plapperte sie weiter. »Oh! Da fällt mir ein. Heute Morgen ist ein Brief für Sie gekommen. Interne Post, ziemlich dringend. Haben Sie noch jemandem von Ihrer Reise erzählt?«

»Nein. Aber die Drogen …«

»Hier, bitte sehr.«

»Ich sagte, ich will nicht …« Aber Fontaine hielt ihr nicht die Pillen hin. Sie streckte ihr einen Umschlag entgegen, auf dem Kais Name in einer Handschrift stand, die sie wiedererkannte, und der auf der Rückseite mit dem Eisenhutring ihrer Schwester versiegelt war.

Verdammt noch mal. Ley.

»Ich frage nur, weil, wenn Sie jemandem bei der EKI von Ihrer Reise erzählt haben, könnte dies zu einem territorialen Streit über Ihr Geschäft führen, was mir« – Fontaine schauderte vor, wie Kai glaubte, hauptsächlich chemischer Verzückung – »nicht gefallen würde.«

»Nein. Nichts dergleichen.«

»Fantastisch. Ausgezeichnet. Wunderbar. Also, Kai, darf ich Sie Kai nennen? Sind Sie sich sicher, was die Drogen angeht? Wenn Sie in Traumwirkerei investieren wollen, sollten Sie sich mit der Plattform vertraut machen.«

4

Meine teuerste Schwester …

Kai verbrachte den Rest des Tages damit, den Brief aus ihren Gedanken zu verbannen. Es stand nicht viel darin, aber das Wenige blieb hängen. Während der Verkaufsgespräche spielte sie mit dem Umschlag und fuhr mit dem Finger über das dicke, cremefarbene Papier. Zwischen den Besprechungen entschuldigte sie sich, las die Worte ihrer Schwester in einer Toilettenkabine und ließ die Wut wieder durch sich hindurchströmen. Kaffee rüttelte das System wach, aber nichts konzentrierte so sehr wie Wut.

Und sie brauchte Konzentration. Fontaine hatte Wort gehalten und den Tag mit Besprechungen verplant; jeweils zwei Vertreter von jedem Konzern, meist dünne Jugendliche in Flanellhemden, die nicht weniger professionell hätten aussehen können, selbst wenn sie es versucht hätten. Vielleicht hatten sie es versucht: Sie folgten einem modischen Gleichschritt, der so streng war wie jeder Uniformcode. Eine junge Frau zupfte ständig an ihrem Hosenbein, und Kai fragte sich, ob sie jemals Hosen trug, wenn sie nicht versuchte, auszusehen wie … was auch immer diese Leute darstellen wollten.

Aber sie hatten ihre Verkaufsargumente geübt. Oh ja.

»Es geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Globale Investitionen werden für Einzelpersonen und Konzerne, die auf einem wettbewerbsintensiven Markt eine maximale Rendite erzielen wollen, immer wichtiger. Aber die Instrumente für diese Investitionen sind komplizierter als je zuvor. Ohne fachkundige Unterstützung wissen die Menschen einfach nicht, was es da draußen gibt – und die meisten können sich keinen echten Experten leisten.« Kais Kunden konnten es, aber sie unterbrach diesen jungen Mann nicht, obwohl er eigentlich dringend einen Termin mit einem Rasierapparat brauchte, und Kai überlegte, ihm den anzubieten, den sie für ihre Beine benutzte. Außerdem hatte er nicht unrecht. Allerdings sah er Dinge: Geister neben ihrem Kopf, wenn man nach seinen zuckenden Augen urteilte. Er tippte auf den Schreibtisch, und die Glühwürmchen an der Wand hinter ihm zappelten und setzten sich zu einem quirligen Logo zusammen. Sein Partner übernahm das Wort: »Theolog fasst unsere Träumer in Konzernen mit geringer Beteiligung zusammen und verbindet diese Konzerne mit qualifizierten Investmentmanagern. Wir führen die Träumer durch Szenarien, die darauf ausgelegt sind, ihre Risikotoleranz, ihre moralische Einstellung und ihren Zeithorizont auf einer vorbewussten Ebene zu beurteilen. Wir wissen mehr über unsere Teilnehmer, als sie selbst über sich wissen.«

Ich habe gehört, dass du möglicherweise in der Stadt bist. Tut mir leid, dass ich mich auf diesem Weg melde. Es ist eine Weile her, dass wir gequatscht haben.

Woher zum Teufel hatte sie das gewusst? Und »gequatscht«; Ley war seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen, nicht einmal in ihren Träumen. Es gab nur gelegentlich Postkarten, von denen die letzte kurz nach Kais Entlassung aus dem Krankenhaus im letzten Jahr aufgetaucht war, und in der ihre Verletzungen überhaupt nicht erwähnt wurden. ›Tut mir leid, dass ich mich auf diesem Weg melde‹, nicht einmal eine ernst gemeinte, sondern nur eine halbherzige Quasi-Entschuldigung. Ihr Götter.

»Zwei Dinge«, sagte eine Frau mit dicken Zöpfen und einem schleppenden Gleblander-Akzent, die ihre Flanellhose im selben Laden wie der Kerl von Theolog einkaufte, »passieren gerade gleichzeitig. Wir leben in einem Zeitalter der globalen Diaspora. Während der Götterkriege wurde die internationale Migration weitgehend von Angst und pro- oder antireligiösen Gefühlen bestimmt: Die Menschen zogen an Orte, die sie für sicher hielten. Jetzt haben sich die Dinge stabilisiert …« Kai versuchte, sich ihre Ungläubigkeit nicht anmerken zu lassen, stabilisiert, echt jetzt, in den letzten sechs Jahren, Schlangen über Dresediel Lex und ein Ausbruch in Alt Coulumb, Anleihekrisen, stabil? Zur Hölle, nur hundert Meilen südlich hinter der Halde war das nördliche Gleb ein Treibhaus sich bekriegender Götter und Kunstwirker, die sich gegenseitig als Marionetten benutzten: stabil war ein schlechter Witz. In den fünf Jahrzehnten unmittelbar nach den Kriegen waren vielleicht drei Generationen zu tot, zu müde oder zu verängstigt gewesen, um für Unruhe zu sorgen. Aber jetzt, nein, vergiss es, hör auf die nette Frau, die will, dass du sie reich machst. »… Die Abwanderung wurde durch die Beschäftigungsmöglichkeiten und den Verlust von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft aufgrund der Automatisierung vorangetrieben. Gleichzeitig bezeichnen sich sogar in Camlaan und der Iskari-Domäne immer mehr Menschen als allerhöchstens mäßig religiös als zu jedem anderen Zeitpunkt, für den uns Daten vorliegen.« Das war die letzten anderthalb Jahrhunderte, kaum ein verlässlicher Indikator für allgemeine historische Trends, wenn man bedenkt, was in diesen hundertfünfzig Jahren geschehen war. »Da die Menschen immer mehr umherziehen, sind sie weniger denn je durch Götter gebunden, und da die göttlichen Staaten immer territorialer werden, ist es weniger wahrscheinlich, dass Reisende des gleichen Glaubens Priester finden, die Botschaften überbringen. Der Albtraumtelegraf ist für die meisten zu mühsam, um ihn ohne Hilfe zu benutzen, und die derzeitige Verteilung von Telegrafenämtern grenzt an Unmenschlichkeit: Wie wird diese mobile Bevölkerung in Kontakt bleiben?« Sie tippte auf den Tisch, die Glühwürmchen sammelten sich zu einem weiteren lebhaften Logo, und ihre Partnerin, eine Iskari-Frau, die für die grauen Strähnen in ihrem Haar zu jung aussah, trat vor. »Da kommt Auditor ins Spiel.«

Du bist anscheinend nur für einen Tag hier, liebe Schwester. Und ich muss dich sehen.

Woher kannte sie Kais Terminplan? Wie hatte sie den Brief in die interne Post des EKI geschmuggelt? Fontaine hatte Kai in das Rauchglasherz des seltsam korkenzieherartigen Bankenturms geführt und dabei die meisten Sicherheitsvorkehrungen umgangen, aber trotzdem musste sie – Fontaine – sich bei drei verschiedenen Wachen für Kai verbürgen, sie durch drei Sicherheitskreise schleusen; Kai hatte Blut gespendet und ihren Namen in einen Glaskasten gesprochen, war zwischen zwei knisternden Ebenholzstangen hindurchgegangen, die die Iskari-Sicherheitsleute mit den ausdruckslosen Gesichtern »Scanner« nannten, und hatte zuletzt einen Spiegel aus kaskadenförmigem Wasser durchquert, der, wie Fontaine behauptete, nur die Wahrheit zeigte. (Kai war angespannt, als sie sich dem Spiegel näherten, weil sie sich fragte, welche Wahrheit und wie übereifrige Iskari-Sicherheitsleute aus dem Märchen auf sie reagieren würden. Aber der Spiegel spiegelte sie genau wider – eine Frau aus Kavekana, überkoffeiniert, des Stocherns und Bohrens überdrüssig).

Und dieses »Ich muss dich sehen«, oberflächlich, das Diktat einer Königin, als hätte Kai während ihrer Übernachtungsgeschäftsreise keine anderen dringenden Bedürfnisse. Nein, das war nicht richtig. Ley war nicht gedankenlos – alles andere als das. Sie fand nur, dass andere Menschen dieselben Prioritäten haben sollten wie sie.

Ein Mann mit einer Zwickelbrille, der es hätte besser wissen müssen, als diesen Hut mit Krempe zu diesem kurzärmeligen Hemd zu tragen, das er nicht zuknöpfte: »Es geschehen zwei Dinge gleichzeitig.« Ihr Götter, hatten sie alle dasselbe Buch gelesen? »Überall auf der Welt haben fabrikgefertigte Waren das Kunsthandwerk verdrängt, oder sind dabei, es zu tun. Die Leute machen Witze darüber, dass dies ein Problem einer fortschrittlichen Gesellschaft sei, aber in Wirklichkeit sehen wir es überall, da die Hersteller um die Eroberung der Märkte ringen.« Er setzte darauf, dass die Teile der Welt, die noch immer von den Götterkriegen oder den von den Kriegen verursachten Ressourcenkonflikten, Stellvertreterkriegen und Zombieplagen erschüttert wurden, sich erholen würden, wenn der globale thaumaturgische Rahmen stabil bliebe, um sich Dresediel Lex, Agdel, Alt Coulumb, Iskar, dem Strahlenden Imperium und Camlaan im Licht der Moderne anzuschließen. Er wettete, das System könne eine Welt unterstützen, in der alle an der Spitze standen. Eine Wette, die nicht annähernd so wahnsinnig optimistisch war, wie es vielleicht den Anschein hatte, obwohl die Chancen immer noch groß waren. Wenn die Entwicklung, was auch immer das heißen mochte, tatsächlich für immer in eine unmögliche, strahlende Zukunft voranschritt, würde sich die Wette auszahlen. Und wenn nicht, wenn die Welt in einem Feuer zusammenbrach und Dämonen uns die Eingeweide aus dem Leib rissen, wen kümmerte es dann, ob der Aktienkurs in diesem Quartal sank? »Gleichzeitig gewöhnen sich überall auf der Welt die Todlosen Könige, die Hohepriester – nennen wir sie die thaumaturgische Klasse – an die Macht und die damit verbundenen Ressourcen. Sie bilden eine ausgeprägte, große Gruppe anspruchsvoller Verbraucher von langlebigen, maßgeschneiderten Luxusgütern. Eine Person, die faktisch unsterblich ist, erwartet, dass ihr Geschirr so lange hält wie sie selbst. Hochqualifizierte Kunsthandwerker mit enormer Erfahrung – buchstäblich die Besten der Welt in dem, was sie tun – haben Mühe, sich selbst zu ernähren, obwohl Menschen auf der ganzen Welt bereitwillig ihre ganze Seele für ihre Produkte ausgeben würden.« Sein Partner, groß, schlank, hager, tippte auf die Glyphe auf der Tischplatte, und die Glühwürmchen führten ihren Tanz auf. »Der Gebrauch bestimmt, was Menschen, die Seelenstoff im Überfluss haben, tief in ihrem Herzen wollen; es gibt diese Inspiration an eine wachsende Gemeinschaft von Kunsthandwerkern weiter, die die Fähigkeiten haben, denen aber der Zugang zum Markt fehlt.«

Wir treffen uns im Sauga, heute Abend um 20:30 Uhr. Der Laden wird dir gefallen. Der Tintenfisch, mit dem du zusammenarbeitest, kann dir sagen, wie du hinkommst. Komm allein.

Keine Ahnung, was für ein »Laden« das Sauga sein könnte. Eine Spelunke? Ein Sexclub? Als Kai Ley das letzte Mal besucht hatte, damals, als ihre Schwester in Süd-Iskar studierte, hatte sie sie direkt vom Flughafen zu einem Fischmarkt mitgenommen und gesagt, es sei ein netter Ort zum Plaudern.

Kai fand Fontaine zwischen zwei Sitzungen in der Halle, wo sie sich auf Talbeg mit jemandem stritt, der, soweit Kai sehen konnte, nicht vor Ort war. »Sind diese Leute alle auf Drogen?«

»Okay«, sagte Fontaine in die Luft. »Gut. Wir werden das nach dem CoB weiter besprechen. Ich danke Ihnen.« Sie blinzelte, und die Farbe kehrte in das Weiß ihrer Augen zurück. »Kommen Sie, ich habe Hunger.« Bei einem Teller Pommes frites in der palastartigen Cafeteria, ganz aus Buchenholz und mit Perlmuttintarsien, erklärte Fontaine: »Kunst funktioniert durch Träume und Sehnsüchte. Die meisten Menschen geben sich dem hin, machen ein Nickerchen, haben einen oder drei Albträume und wachen auf. Die Drogen sind nur für Menschen wichtig, die einen ständigen Kontakt brauchen. Das hat natürlich auch seine Schattenseiten.«

Kai klaute eine Pommes.

»Die Drogen durchdringen deine normalen Träume. Du schläfst nicht gut. Es ist, sagen wir mal, schädlich für die Art von hoher Konzentration, die man für Kunstwirkerei braucht. Oder für Kunst, leider. Aber der Wert ist da.« Sie griff nach mehr Pommes; auf halbem Weg zum Teller hielt ihre Hand inne, und ihr Gesicht lief grünlich an. »Ihr Götter. Ah. Entschuldigen Sie mich bitte.« Als sie zehn Minuten später zurückkam, hatte Kai den größten Teil der Pommes aufgegessen. Sie hatten die Mittagspause durchgearbeitet. »Tut mir leid.«

»Übelkeit?«

»Halluzinationen.« Fontaine zog ihre Jacke gerade. »Kontrollierter Rausch lässt die Grenze zwischen Schlafen und Wachen verschwimmen.« Sie kippte die Pommes in den Müll, bevor Kai noch mehr essen konnte. »Es ist die Kompromisse wert.«

»Und Ihr …« Sie deutete auf Fontaines Arm. »Macht es Ihrem Partner nichts aus?«

»Die Guten Lords verstehen das Gleichgewicht von Nüchternheit und Möglichkeiten«, sagte sie. »Allerdings drehen sie ein bisschen durch, wenn sie exponiert werden. Um das zu kompensieren, beichte ich regelmäßig. Inzwischen liegt mir die ganze Welt zu Füßen.«

»Eine Welt, in der zwei Dinge gleichzeitig geschehen. Meine Priesterschaft investiert in Träger, Miss Fontaine. Dies fühlt sich alles filigran an. Es ist alles so klein.«

»Die meisten Dinge, die die Menschen brauchen, sind das tatsächlich. Die Leute wollen nicht alles behalten oder zerstören. Sie wollen mit ihren Familien in Kontakt bleiben. Sie wollen Dinge verkaufen, die sie mit ihren Händen geschaffen haben, oder Dinge kaufen, die jemand anders mit seinen Händen geschaffen hat. Sie wollen Arbeit. Sie wollen zurechtkommen. Sie wollen kleine Annehmlichkeiten oder allem ein paar Minuten entfliehen. Die Menschen werden durch diese Wünsche reich. Wo ist das Problem?«

Und überhaupt, fragte sich Kai, war klein nicht der Sinn der Sache? Weg von den großen Ressourcenwetten, von nekromantischen Erden, von »Erkundungsmissionen«, die nur einen Schritt von der Massenabschlachtung entfernt waren, von Wiedergänger-Arbeitsfirmen, die immer, immer mit einwandfreiem Papierkram beweisen konnten, dass ihre Schuldzombies aus ethischen Quellen stammten, mit Rückzahlungsplänen, die den Kunstwirkerstandards entsprachen. Lasst all das hinter euch, setzt auf kleine Beträge und findet etwas, das die Welt ein wenig verändert – vielleicht zum Besseren.

»Um das zu verwirklichen«, sagte der unrasierte Mann im Flanellhemd, »bitten wir um zwei Millionen Thauma.«

»Um das zu verwirklichen«, sagte die Frau mit den Zöpfen, »bitten wir um 2,7 Millionen Thauma.«‹

»Um das zu verwirklichen«, sagte der Mann mit dem unseligen Hut, »bitten wir um 3,1 Millionen Thauma.«

Die Fenster des Konferenzraums waren nach innen gerichtet: Spiegel auf dem Dach reflektierten das Sonnenlicht in den hohlen Kern des Wolkenkratzers, und Kristallprismen brachen dieses Sonnenlicht, um die EKI-Büros von innen zu beleuchten. Kai konnte den Sonnenuntergang nicht sehen, aber der Konferenzraum wurde in rosafarbenes Licht getaucht. Glühwürmchen leuchteten an der Wand. Fontaine wiegte sich summend in ihrem Stuhl, während Kai sich Notizen machte, in denen sie Ziele, Wachstumspotenzial, Engagement und schlechte Modeentscheidungen zusammenfasste. Ihre Uhr auf dem Tisch zeigte sieben.

Ich brauche dich.

-Ley

Es geschehen zwei Dinge gleichzeitig.

»Fontaine. Fontaine. Fontaine.« Der Name brachte beim dritten Versuch den gewünschten Erfolg.

»Hmmm?« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. »Tut mir leid. Ich halte mich nur über meine Prophezeiungen auf dem Laufenden.«

»Ich muss nach der Arbeit zu einer Besprechung. Später Termin, persönliche Sache. Der Ort heißt Sauga. Meinen Sie, ich komme da hin, ohne in eine Art Apokalypse abzurutschen?«

Fontaine versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, aber es gelang ihr nicht.

5

Zeddig fiel in die tote Stadt.

Sie landete in gebückter Haltung in der zerstörten Bibliothek. Ihre rubinroten Brillengläser waren vereist. Sie legte einen Schalter an ihrer Brille um, der Frost wich zurück und sie konnte wieder sehen. Unter und vor ihr, hinter dem riesigen, gezackten Spalt in der Wand, breiteten sich Straßen aus, die mit Eiskristallblut bespritzt waren. Metallspinnen von der Größe von Häusern waren dort erstarrt, während sie mit geflügelten Statuen aus glorreichen Flammen kämpften. Riesige Kristallwürmer stachen durch den Himmel, verknoteten sich dort und rissen sich gegenseitig mit ihren Zähnen Stücke heraus. Bücher in Talbeg und in schroffer Frakturschrift lagen aufgeschlagen auf dem Schachbrettboden. Schneidender Wind blätterte die Seiten um. Asche trieb an ihr vorbei, nach Norden zur Wunde.

Sie sah auf ihre Uhr. Ein Kunstwirkerkreis brannte um den äußeren Rand der Uhr, versiegelt mit denselben Schutzzaubern wie ihr Anzug. Blau, jetzt. Das Licht würde verblassen, dann rot werden; wenn es ganz erloschen war, hatte sie noch zehn Sekunden, bevor die Schutzzauber ihres Anzugs versagten und bevor der Tod, der ihre Stadt befallen hatte, auch sie befallen würde.

Eine Stimme, die nicht hierhergehörte, flüsterte in ihr Ohr. »Miss Hala, wir haben Besuch.«

Sie fluchte. »Ausmerzer?«

»Basismenschen, dem Herzschlag und den Schritten nach zu urteilen. Örtlicher Sicherheitsdienst, würde ich meinen. Schlecht bewaffnet.« Gals eleganter Akzent verbarg die Verachtung gut.

»Raymet sagte, wir hätten eine halbe Stunde nach Schichtwechsel.«

»Vielleicht hat sie sich geirrt. Womöglich ist dies eine außerplanmäßige Patrouille.« Gals Stimme wurde nachdenklich. »Es sind nur drei. Wenn Sie möchten …«

»Nein«, unterbrach sie sie. Das Letzte, was sie brauchten, war, dass Gal eine Spur von Leichen hinterließ. Wahrscheinlich waren es nur Wachen, die einen Platz zum Rauchen suchten. »Wie lange habe ich noch?«

»Sie steigen die Treppe hinauf.«

»Schließ die Tür ab. Mach Lärm.«

»Das scheint unserem Plan zu widersprechen.«

Götter. »Wirf ein paar Möbel herum. Beweg rhythmisch einen Schreibtisch. Stöhne ab und zu. Hinhalten. Ich habe heute Abend einen Tisch im Sauga – wenn ich meine Reservierung platzen lasse, weil ich im Gefängnis sitze, werden sie mir das nie verzeihen.« Ganz zu schweigen davon, dass sie im Turm der Gleichrichtungsbehörde an eine Wand gekettet sein würde, mit offenen Fenstern, damit die Vögel sich an ihr vergreifen konnten, wenn die Ausmerzer fertig waren.

Ihr Uhrenkreis hatte sich von Mitternachtsblau zur Farbe des Mittagshimmels verfärbt. Höchstens noch ein paar Minuten. So nah war sie noch nie an die Wunde herangekommen; sie war in den Vorbereitungen ertrunken. Sie stand im dritten Stock der Kreisbibliothek der Universität der Barmherzigkeit und des Lichts, Strandweg Zwei Sieben, Alikand, und durch diese Tür, vorbei an den eisüberzogenen Skeletten zweier Männer (dachte sie), die ihre letzten lebenden Momente mit Liebe verbracht hatten, lag der Schatz, den sie retten wollte.

Die Tür zersplitterte unter ihrem Stiefel.