Letzter Erster Schnee - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik - Max Gladstone - E-Book

Letzter Erster Schnee - Ein Roman der Kunstwirker-Chronik E-Book

Max Gladstone

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Beschreibung

Vierzig Jahre nach den Götterkriegen trägt die Stadt Dresediel Lex weiterhin die Narben der Befreiung - vor allem in einem Armenviertel, das noch immer unter den maroden Edikten der gefallenen Götter steht. Solange die göttlichen Schutzwälle bestehen, wird jede Entwicklung im Keim erstickt - sollten sie hingegen versagen, werden Dämonen auf die Stadt losgelassen.

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AUSSERDEM BEI PANINI ERHÄLTLICH

MAX GLADSTONE: DIE KUNSTWIRKER-CHRONIK

Band 1: DREI VIERTEL TOT ISBN 978-3-8332-4100-0

Band 2: ZWEI SCHLANGEN LAUERN ISBN 978-3-8332-4178-9

Band 3: FÜNF FADEN TIEF ISBN 978-3-8332-4275-5

Band 4: DER ERSTE LETZTE SCHNEE ISBN 978-3-8332-4331-8

Band 5: VIER WEGE KREUZEN ISBN 978-3-833-4399-8

Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter:paninishop.de/phantastik/

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2023 by Max Gladstone. All rights reserved.

Titel der Englischen Originalausgabe: »Last First Snow: A Novel of the Craft Sequence« by Max Gladstone, published 2015 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA

Deutsche Ausgabe 2023 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Helga Parmiter

Lektorat: Katharina Altreuther

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover-Illustration: Chris McGrath

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDMAXG004E

ISBN 978-3-7569-9997-2

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Mai2023, ISBN 978-3-8332-4331-8

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

1

Für falsche Götter warfen sie lange Schatten.

Elayne Kevarian, der Rotkönig und Tan Batac überragten Dresediel Lex. Die riesige, einst heilige Stadt breitete sich zu Elaynes Füßen aus, Kilometer aus Lehm und Stahl, Obsidian und Chrom, Beton und Asphalt, Holz und Glas und Fels. Ihre Arme umschlossen die Bucht im Süden bis Steinwald und im Norden bis Weltenrand. Straßen schlängelten sich die Hänge des Drachenkamms hinauf und wieder hinunter, ehe sie nach Osten ins Fischertal fielen. Containerschiffe von der Größe abgefallener Blätter legten an den spielzeuggroßen Anlegestellen und Kais von Langensande nahe Huschbank an.

Der Rotkönig, ein kilometerhohes Skelett in wallenden Gewändern, stand im Meer. Die Wellen brachen sich an seinen Knöcheln und der Spitze seines Stabes. Tan Batac hatte im Drachenkamm einen bequemen Sattelrücken gefunden, auf dem er sitzen und zusehen konnte. Aber sie waren nicht Elaynes Publikum.

Sie sah hoch.

Richterin Cafals Augen leuchteten am Himmel wie Zwillingssonnen, die Elayne beobachteten und auf ihren ersten Fehler lauerten.

»Wir haben zu lange gewartet«, sagte Elayne, während sie durch ein Labyrinth aus eng gewundenen Gassen schritt. Jedes Auftreten ihrer schwarzen Absätze hätte in der wachen Welt einen Häuserblock eingeebnet, aber als sie weiterging, blieben Gebäude und termitengroße Menschen unversehrt. »Vierzig Jahre seit der Befreiung. Vier Jahrzehnte, seit wir die Götterkriege in Dresediel Lex gewonnen haben, und noch immer verkümmert diese Stadt unter den Schutzzaubern und Edikten längst verstorbener Götter. Götter, die wir getötet haben.« Mit einer Handbewegung und einer Prise Kunstwirkerei lüftete sie die Haut der Stadt, um die Schutzzauber zu enthüllen, die sie meinte: Linien aus krankem grünem Licht unterhalb des Labyrinths. »Die alten Götter und Priester reservierten den Bezirk Huschbank für ihre Unterschicht. Sklaven lebten und starben auf diesen Straßen. Tempelwächter suchten hier nach Opfern. Huschbank hat sich seit der Befreiung zwar verändert, aber die alten Schutzzauber sind geblieben.«

Weder der Rotkönig noch Tan Batac unterbrachen sie. Sie hatten sie vor Monaten angeheuert, um bei ihren Verhandlungen über Huschbank zu vermitteln, und heute waren sie gekommen, das Skelett und der kleine runde Mann mit den scharfen Augen, um ihren Triumph zu sehen. Elayne vermutete – hoffte –, dass beide immer noch glaubten, das Beste aus dem Geschäft herauszuholen.

»Diese Schutzzauber kennzeichnen Huschbank als göttliches Protektorat. Infolgedessen kann dort kein Eigentum gekauft oder verkauft werden. Das macht es schwierig, dort etwas zu versichern oder zu renovieren, und es drückt die Mieten, was Kriminalität und Verfall begünstigt. Die alten Schutzzauber sollten dafür sorgen, dass Huschbank arm und seine Bewohner kontrollierbar bleiben. In einer freien Stadt haben sie keinen Platz. Und während Dresediel Lex wächst, werden sie zu einer Schwachstelle. Die moderne Kunstwirkerei zehrt an ihren Kräften. Kurzfristig bremsen sie nur das Wachstum, aber langfristig werden sie scheitern.«

Sie hob eine Hand wie ein Dirigent, der ein Crescendo ankündigt.

Der Himmel leuchtete schwarz. Flammen griffen nach dem Grün unter ihren Füßen. Die Schutzzauber bröckelten, wenn es keine Götter gab, die sie schützten, und die Stadt brannte. Rauchschwaden breiteten sich von Huschbank nach Norden in die reicheren Stadtteile aus. Panik schweißte eine Million kleiner Schreie zu einem einzigen ununterbrochenen Schrei zusammen.

Als die Stadt in Schutt und Asche lag, gab Elayne der Ruine ihr altes Leben zurück und zerstörte sie erneut. Diesmal war es die Pest, und das Virus breitete sich in einem purpurnen Schwall aus, der bald über die Wellen der Pax nach Westen zum Strahlenden Imperium sprang. Nach der Seuche kamen Hungersnot, Unruhen, Dürre, die zu Aufständen, Hungersnöten und erneut zur Seuche führten. Zombie-Revolution. Stromausfall. Terrorismus. Verbrechen. Dämonische Besessenheit. Jedes Fingerschnippen eine Apokalypse.

Jeder Bürger von Dresediel Lex starb schreiend hundert Tode.

»Huschbank ist verwundbar. Unverteidigt. Diese Verhängnisse werden eintreten, wenn die Schutzzauber unverändert bleiben.«

Die Richterin sah vom Himmel aus zu, teilnahmslos wie ein echtes Zwillingssternsystem. Glaubte sie es? Oder spielte sie nur mit und gab Elayne noch mehr Seil, um sich selbst zu erhängen?

Mach am besten weiter. »Lassen Sie mich Ihnen eine bessere Zukunft zeigen.«

Sie beschwor ihre Macht – Abmachungen und Verträge, die für diesen Moment geschaffen worden waren. Um sie herum, unter ihr, wuchs ein Kristallpalast. Die Slums hatten keinen Bestand neben den gläsernen Türmen, die Lagerhallen wurden zu Höfen, in denen Brunnen sprudelten (die Brunnen waren Tan Batacs Werk, unpraktisch im trockenen Dresediel Lex, aber gerade deshalb so klug: eine Zukunft in unvorstellbarem Luxus winkte, wenn die Richterin ihr Geschäft genehmigte). Die rissige Reptilienhaut von Dresediel Lex verwandelte sich in eine juwelenbesetzte Oase.

Natürlich bedeutungslos. Die wiedergeborene Stadt konnte aussehen, wie sie wollte: schwebende Türme, hoch aufragende Stufenpyramiden, und sogar noch andere Pyramiden. Der Anschein war nicht das Entscheidende. Unter dieser durchsichtigen Pracht ersetzte die Kunstwirkerei die grünen Schutzzauber, die von den alten toten Göttern angelegt worden waren. Maschinengefertigte Spinnennetzglyphen glitzerten, Kreise drehten sich in größeren Kreisen, in die vergessene und noch nicht erschaffene Sprachen eingeritzt waren. Linien strahlten nach außen und innen und kleideten Huschbank in Kunstwirkerei.

Elayne Kevarian gestattete sich den kleinsten Anflug von Stolz.

Fünf Monate hatte es bis zu diesem Moment gedauert. Fünf Monate geduldiger Vermittlung zwischen dem Rotkönig, dem schrecklichen Fürsten, der Dresediel Lex aus den Händen der Götter gerissen hatte, und Tan Batac, dem Großgrundbesitzer von Huschbank. Fünf Monate, um neue Schutzzauber mittels Kunstwirkerei zu erschaffen, die nach ihrer eigenen, ehrlichen Einschätzung allen anderen, die sie je gesehen hatte, gleichwertig waren.

Manche Kunstwirkenden geben sich damit zufrieden, die Welt widerzuspiegeln.

Elayne hatte eine ganz neue gebaut.

Sie unterzog ihre Schutzzauber denselben Tests wie die der Götter. Brände erstarben, Seuchen verflogen, Aufstände hielten sich in Grenzen, dämonische Horden zogen sich in die äußeren Höllen zurück. Und die Stadt – stand.

»Unser Vorschlag wird Huschbank von schlechter Theologie und noch schlechterer Stadtplanung befreien. Wir werden diese Stadt besser machen.«

Sie starrte hinauf in die Zwillingssonnen, die an einem Himmel hingen, der so tiefblau war wie Gemälde auf Porzellan. Sie wartete auf den Urteilsspruch.

Die Zeit verrann, verging langsam. Die kristallenen Türme ihres Triumphes leuchteten.

»Nein«, sagte die Richterin.

Die Welt brach auf, und sie fielen.

* * *

»Warum nicht?«, fragte Elayne später im Büro der Richterin und ging auf und ab.

Trotz seiner Größe, trotz seiner Messing- und Lederopulenz fühlte sich das Büro klein an. Wie alles, wenn man in der Projektion des Gerichtshofs mit gespreizten Beinen über der Stadt stand. Elaynes Geist hatte sich noch nicht wieder an ihre Haut gewöhnt. Der Geist brauchte immer eine Weile, um sich wieder an die fleischliche Enge zu gewöhnen. Die Farben in der Welt des Fleisches waren weniger lebhaft. Die Zeit tickte mit langsamer Starrheit dahin. Sogar die Sonne außerhalb der Schlitzfenster des Büros wirkte trübe.

Richterin Cafal saß still an ihrem Schreibtisch hinter einem Papierwall aus Akten und Anträgen, unbeweglich und gedrungen wie ein Idol des Strahlenden Imperiums. Ihre blauen Augen, die keine Sonnen mehr waren, schauten durch eine dickrandige Brille – ein unnatürlicher Blick hier in Dresediel Lex, wo die Augen schwarz und die Haare dunkel waren.

Elayne fuhr fort: »Sehen Sie ein Problem mit meiner Arbeit? Der Kompromiss ist gut.«

»Es mag vernünftig sein, aber es ist kein Kompromiss.« In Person klang Cafal beinahe menschlich. Ihre Stimme war alt, verwittert und kräftig, mit einer unangenehmen Schwingung im oberen Bereich, die auf eine kürzliche Kehlkopfoperation hindeutete. »Sie haben nicht alle Faktoren berücksichtigt.«

»Mit dem Rotkönig und dem Handelskollektiv von Tan Batac kontrollieren wir die Eigentumsrechte in Huschbank. Wen gibt es sonst noch?«

Ein dilettantischer Fehler, wie sie feststellte, schon während sie die Worte aussprach: Stelle niemals eine Frage, wenn du dir der Antwort nicht sicher bist.

Cafals kurze Finger krabbelten an der Kante eines Regals entlang und zogen eine dicke Mappe heraus. Die Dokumente darin flogen heraus und schwebten zwischen ihnen auf Elaynes Augenhöhe. »Hier ist eine Auswahl der Briefe – ich kann sie nicht als Schriftsätze bezeichnen –, die ich wegen der Schutzzauberrevisionen erhalten habe. Der Inhalt reicht von gut begründeten Argumenten gebildeter Laien bis hin zu blutrünstigen Tiraden, in denen gefordert wird, dass wir alle bei der nächsten Sonnenfinsternis den alten Göttern geopfert werden sollen. Hinzu kommen Berichte über Unruhen in Huschbank – Demonstranten und dergleichen. Das ergibt ein Bild.«

Berichte, von denen Elayne nichts wusste, aber das würde sie vor der Richterin niemals zugeben. Sie überflog die Papiere schweigend, und als sie sprach, hatte sie Mühe, ihre Stimme zu kontrollieren. »Wenn diese Leute einen Beitrag zum Prozess leisten wollten, hätten sie Vertreter entsenden sollen.«

»Wurden sie dazu eingeladen?« Die Mundwinkel von Cafals zu breitem Mund verzogen sich nach oben.

»Das ist Obstruktion, keine Politik.«

»Sie mögen recht haben«, sagte Cafal, »aber mir sind die Hände gebunden. Nach dem Ausbruch von Alt Selene hat die Justiz beschlossen, Beschwerden von Bürgern mit erhöhter Aufmerksamkeit zu behandeln. Wir decken nicht mehr nur ein paar isolierte freie Städte ab; unser Apparat muss den halben Globus schützen. Wir sind zu sehr eingespannt, um ständig öffentliche Opposition glattzubügeln.«

»Wir brauchen diese Veränderungen. Glauben Sie, eine Seuche bleibt auf Huschbank beschränkt, nur weil sie dort beginnt?«

»Ich weiß. Wenn ich Ihren Vorschlag unseriös fände, würden wir ein anderes Gespräch führen, glauben Sie mir. Und wenn wir diese Briefe ignorieren könnten, würde ich das mit Freude in meinem eisernen Herzen tun.« Elayne bezweifelte, dass sie mit dem Herzen scherzte. »Aber ich brauche etwas, das ich der Justiz vorlegen kann. Zeigen Sie mir eine Vereinbarung mit diesen Leuten oder beweisen Sie, dass sie unlogisch handeln, und ich kann helfen. Andernfalls steht mein Wille gegen den des Obersten Gerichtshofs, und Sie wissen, wie das ausgeht.«

»Danke, Euer Ehren.«

»Viel Glück, Elayne. Sie werden es brauchen.«

* * *

»Wann genau«, sagte Elayne, als sie mit dem Rotkönig und Tan Batac durch die Marmorsäle des Hofes marschierte, »hatten die Herren vor, mir von den Huschbank-Protesten zu erzählen?«

»Elayne«, sagte der Rotkönig. Er griff nach ihrem Arm, aber sie riss sich los und wirbelte zu ihm herum. Das Skelett kam auf dem Marmor zum Stehen, die Fußknochen und der mit Kupfer beschlagene Stab klapperten. So imposant Kopil in seiner derzeitigen Gestalt auch sein mochte, Elayne fand es leichter, jetzt mit ihm umzugehen als damals, als er noch Haut und Muskeln und die normale Bandbreite menschlicher Organe besessen hatte. Zum einen war der Skelettkönig kleiner: Die paar Zentimeter, die der Mann bei seiner Verwandlung von einer Kreatur aus Fleisch zu einer Kreatur der Kunstwirkerei verloren hatte, hatten ihn auf überschaubare einsachtzig reduziert, nur eineinhalb Zentimeter größer als Elayne selbst. Zuvor war er ein Riese gewesen.

Er war noch immer ein Riese. Es war nur einfacher, ihm in die Augen zu sehen – vorausgesetzt, man kannte den Trick, um mit einem Schädel Augenkontakt herzustellen. Elayne kannte ihn.

»Kopil.« Es fiel ihr leicht, mit kalter Stimme zu sprechen. »Wenn du Spielchen spielen willst, dann tu es nicht auf eine Art und Weise, die mich vor einer Richterin dumm aussehen lässt.«

Das Skelett schüttelte den Kopf. »Was war ihr Problem mit unserem Vorschlag?«

»Proteste? Briefschreibkampagnen? Kommt dir etwas davon bekannt vor?«

»Unerhört.«

Nicht die Stimme des Rotkönigs. Die von Batac. Elayne überlegte kurz, ob sie den Mann ausweiden sollte, entschied sich dann aber dagegen. Ihrer Erfahrung nach war es selten eine gute Idee, eine Gerichtshalle mit Blut und anderen Körpersäften zu bespritzen. Das eine Mal in Iskar war ein besonderer Fall gewesen. »Diese Briefe haben hier nichts zu suchen.« Batacs Gesicht und Stimme wurden zornig. Hätte Elayne es nicht besser gewusst, hätte sie geschworen, dass irgendein unbedeutender Gott den Mann für Ausschusssitzungen und Nachbarschaftspolitik geschaffen hatte. »Der Mob, der sie geschickt hat, hat keinen Standpunkt, kein Ziel, das darüber hinausgeht, Straßen zu verstopfen und anständige Leute von der Arbeit abzuhalten.«

»Ihr wusstet also beide davon.«

Kopil hob die Hände. »Es ist ein Protest, Elayne. Seit wann sind die ein Problem? In den Götterkriegen haben wir jeden Tag göttliche Schutzzauber herausgerissen. Diese Leute haben keine Kunstwirkenden. Das ist eine Aufgabe für Gesetzeshüter.«

»Will die Richterin, dass wir jedes Kind mit einem schlechten Haarschnitt aus den Straßen von Huschbank ins Gericht vorladen?«, wetterte Tan Batac. »Das ist ein Rachefeldzug. Sie will mich vor meinen Partnern demütigen.«

Batac wollte noch mehr sagen, aber Elayne wartete nicht, bis er fertig war.

»Folgt mir.« Der Kunstgerichtshof war zu öffentlich für dieses Gespräch. Ein paar Kunstwirker, die unter den Wandmalereien in der Eingangshalle saßen, schienen verdächtig in ihre Zeitungen vertieft zu sein. Ein Skelett im Bleistiftrock schien sich mit einer grünhäutigen Frau zu streiten – aber keine von beiden hatte in der letzten Minute gesprochen, und beide hatten ihre Position so angepasst, dass sie den Rotkönig sehen konnten. Überall Ohren. Selbst wenn die Ohren nur metaphorisch waren, wie im Fall der Skelette.

Sie führte Batac und Kopil durch die Drehtüren aus Rauchglas aus der elementaren Kälte des Gerichts in die Hitze von Dresediel Lex. Industrie und die Abgase von vierzehn Millionen Menschen vernebelten den trockenen blauen Himmel der Stadt. Pyramiden ragten aus der Erde, von Menschenhand geschaffene Berge, die die kristallenen Messer der kopfüber in der Luft schwebenden Himmelstürme und die modernen, landgebundenen Türme aus Glas und Stahl darunter gleichermaßen verhöhnten. Ein Luftbus flog über sie hinweg, und die gesichtslosen Wächter der Stadt flogen auf ihren Couatl-Reittieren vorbei. Weitere Wächter standen außerhalb des Gerichts Wache – Menschen, deren Köpfe und Gesichter mit silbernen Überzügen bedeckt waren. Sie trugen zeremonielle Spieße als Warnung für diejenigen, die nicht wussten, dass die Wächter selbst die Waffen waren.

Elayne winkte ein Taxi heran. Sie schenkte weder den Wächtern noch der Stadt einen Blick. Die Stadt kannte sie, und sie würde den Wächtern niemals erlauben, zu sehen, dass sie sie verunsicherten. Ihre Masken waren älter als ihre Arbeit in Alt Coulumb, älter als die Schwarzanzüge und Alexander Denovos fehlgeleitete Hobbys, aber dennoch zog sie es vor, die Gesichter zu sehen und die Namen potenzieller Hindernisse zu kennen.

Eine Kunstwirkerin konnte viel tun, wenn sie den Namen ihres Feindes kannte.

Batac und Kopil stiegen zu ihr in den grünen Samtbauch des Wagens. Sie wies das Pferd an, sie zu den Büros des RKK zu bringen, schloss Tür und Fenster und nickte zufrieden, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. Der Geschäftsmann und das Skelett, das einst sterblich gewesen war, saßen ihr gegenüber.

Sie schloss die Augen, fand ihre Mitte und öffnete die Augen wieder. »Cafal muss sich vor der Justiz rechtfertigen, und vor ein paar Monaten hat die Justiz beschlossen, vorsichtiger mit Bürgerprotesten umzugehen. Sie sind überlastet. Letzten Winter gab es einen Ausbruch in Alt Selene, und das wollen sie hier nicht auch riskieren.«

Das Skelett nickte. Die karmesinroten Funken in seinen Augen verblassten nachdenklich.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Batac. »Die Demonstranten haben keine Kunstwirkenden. Welche Bedrohung stellen sie denn dar?«

Der Rotkönig antwortete an ihrer Stelle: »Sie können die Welt zerstören.«

»Oh«, sagte Batac. »Wenn es nur das ist.«

Die Kutsche rumpelte über eine Unebenheit im Kopfsteinpflaster. Batac war ein Händler, kein Magier; Elayne überlegte eine Minute lang, wie sie das Problem in Laiensprache formulieren sollte. »Der Glaube formt die Welt. Träume haben Masse.«

»Natürlich.«

»Wir wollen Huschbank verändern – die Gesetze der Götter durch unsere eigenen ersetzen.«

»Das ist die Idee.«

»Aber diese Demonstranten widersetzen sich uns. Ihre Vision ringt mit unserer, und der Kampf verzerrt und schwächt die Realität. Dinge aus dem Jenseits dringen durch. Der Gerichtshof glaubt, dass diese Menschen entschlossen genug sind, dass der Versuch, ihre Einwände zu übergehen, ein Loch in den Raum reißen und Dämonen hereinlassen würde.«

»Fünf Monate Schlichtung. Davor ein Jahr Rekrutierung meiner Partner. Und jetzt gehen wir zurück an den Konferenztisch, bis wir eine Bande von Eiferern zufriedengestellt haben?«

»Nicht ganz«, sagte Elayne. »Wir brauchen sie nicht zufriedenzustellen, wenn es keine ›sie‹ zufriedenzustellen gibt. Wenn diese Leute widersprüchlich sind – wenn wir es nicht mit einer Bewegung, sondern mit tausend Ärgernissen zu tun haben –, dann kann die Macht des Gerichtshofs sie alle nach und nach überwältigen. Natürlich könnten wir in diesem Fall magische Konflikte gegen physische austauschen. Wie auch immer, ich muss mehr wissen. Ich hätte von Anfang an mehr wissen müssen. Ab jetzt keine Geheimnisse mehr.« Das letzte Wort richtete sie an den Rotkönig. »Einverstanden?«

Das Pferd wich einem Verkehrsunfall aus. Durch die grünen Samtvorhänge konnte Elayne nicht erkennen, wer verletzt war und wer die Schuld trug. Sie sah den schwarzen Schatten eines Wracks und hörte Schreie und weinende Männer.

Als sie an dem Wrack vorbeikamen, hob Batac den Vorhang mit einem Finger an und spähte hinaus. Er blinzelte – wegen des reinen Lichts oder dem, was er sah. Er ließ den Vorhang los, und der fallende Samt verdeckte Licht und Tragödie gleichermaßen.

»Einverstanden«, sagte Kopil.

Tan Batac nickte. »Gut.«

Das war zwar keine eindeutige Bestätigung, aber es würde reichen. »Schickt mir, was ihr über diese Leute wisst«, sagte Elayne. »Morgen gehe ich hin.«

2

Am nächsten Tag vor Sonnenaufgang nahm Elayne eine fahrerlose Kutsche und fuhr nach Süden zum Chakal-Platz in Huschbank.

Glastürme und klobige, umfunktionierte Pyramiden wichen gedrungenen Einkaufszentren, Palmen und winzigen Bungalows. Optera summten umher und Luftbusse schwebten am blauen Himmel. Straßenschilder warben für Sandwich-Läden, Kutschenmechaniker, Pfandleiher und Rasenpflege. Einige große Art-déco-Plakate des Rotkönigs, die in den Schaufenstern der Geschäfte hingen, mahnten die Bürger zur Vorsicht vor Bränden.

In der Nähe von Huschbank änderten sich die Gebäude erneut – Lehm und Putz wichen Reihenhäusern aus Schindeln, die in Pastellgrün und Rosa gestrichen waren. Die Straßen wurden schmaler und die Bürgersteige breiter; unebenes Kopfsteinpflaster ließ die Kutsche hin- und herschaukeln. Schließlich stieg sie aus, bezahlte das Fahrgeld von ihrem Spesenkonto und setzte ihren Weg zu Fuß fort.

Zwei Blocks weiter hörte sie den Protest. Keine Rufe, keine Sprechchöre, nicht so früh – nur Bewegung. Wie viele Körper? Hunderte, wenn nicht Tausende, die atmeten, sich im Schlaf wälzten oder sich murrend in einen neuen, unsicheren Wachzustand versetzten. Gemurmelte Gespräche verschmolzen zu einem Brandungsrauschen. Zusammengemischt klangen alle Sprachen gleich. Sie roch den Duft von gebratenem Brot und Eiern, vor allem aber roch sie Menschen.

Dann kreuzte die Aderlassstraße die Krähe, und der Chakal-Platz öffnete sich nach Süden und Osten.

Der Chakal-Platz war ein Rechteck, zweihundert Meter lang und einhundert breit, mit einem Brunnen in der Mitte, der Chakal selbst gewidmet war – einer Quechal-Gottheit, die früh in den Götterkriegen getötet worden war, ein Opfer der Scharmützel im Süden Oxulhats. Die Statue war verunstaltet, der Gott war tot, aber der Name war geblieben, und zwar auf einer steinernen Fläche zwischen hölzernen Gebäuden, auf der an den meisten Tagen ein Markt unter freiem Himmel stattfand, einem Ort für Feste und Konzerte. Das örtliche Büro des Rotkönig-Konsortiums brütete im Osten.

Die Menschen drängten sich auf dem Chakal-Platz. Der Rauch von Campingkochern waberte über kreisrunden Zelten. Die Menge in der Nähe des Brunnens, neben dem eine baufällige Bühne stand, hatte viele Fahnen und Protestschilder auf Kathisch und Nieder-Quechal bei sich. Noch hatte niemand die Bühne betreten. Die Reden würden später kommen.

Eine lockere Reihe von Männern saß oder stand am Rande der Menge, die Gesichter nach außen gewandt. Sie trugen keine Waffen, die Elayne sehen konnte, und viele dösten, aber sie hielten so etwas wie Wache.

Elayne sah in beide Richtungen die leere Krähe entlang und überquerte die Straße. Die Wache vor ihr schlief, aber eine Handvoll anderer schüttelte den Schlaf ab und rannte auf sie zu, um sie abzufangen, wobei sie sich in einem lockeren Bogen aufstellten. Ein dicker junger Mann mit einer gebrochenen, schief sitzenden Nase sprach als Erster. »Du gehörst nicht hierher.«

»Das ist richtig«, sagte sie. »Ich bin eine Botin.«

»Du siehst aus wie eine Kunstwirkerin.«

Sie erinnerte sich an diesen Tonfall; ein Echo aus der Zeit vor den Kriegen – vor ihren Kriegen jedenfalls –, als sie noch schwach gewesen war, als sie mit zwölf Jahren vor Männern mit Fackeln und Mistgabeln floh und sich in einem schlammigen Teich versteckte, durch ein Schilfrohr atmete, während Blutegel sich an ihrem Blut labten. Nur Erinnerungen, die Vergangenheit längst vergangen und doch gegenwärtig. Seit jener Nacht der Fackeln, Mistgabeln und Zähne hatte sie gelernt, mit Macht umzugehen. Sie hatte weder von diesem Kind mit der gebrochenen Nase noch von der Menge in seinem Rücken etwas zu befürchten. »Mein Name ist Elayne Kevarian. Der Rotkönig hat mich gesandt, um mit euren Anführern zu sprechen.«

»Um sie zu verhaften.«

»Zum Reden.«

»Kunstwirkergerede hat Ketten in sich.«

»Diesmal nicht. Ich bin gekommen, um ihre Forderungen zu hören.«

»Forderungen«, sagte Schiefnase, und seinem Tonfall entnahm Elayne, dass dies vielleicht doch ein kurzes Treffen werden würde. »Hier ist eine Forderung: Geh zurück und sag deinem Boss …«

»Tay!« Die Stimme einer Frau. Schiefnase drehte sich um. Diejenige, die gesprochen hatte, rannte von weiter hinten auf die Wache zu. Die Wachen veränderten ihre Haltung, als sie sich näherte. Vielleicht war es ihnen peinlich. »Was ist hier los?«

Schiefnase-Tay deutete auf Elayne. »Sie sagt, der Rotkönig hätte sie geschickt.«

Elayne musterte den Neuankömmling – kurzes Haar, lockerer Pullover, breite Statur. Vielversprechend. »Ich bin Elayne Kevarian.« Sie zückte eine Visitenkarte. »Von Kelethras, Albrecht und Ao. Ich wurde vom Rotkönig und Tan Batac in der Angelegenheit des Huschbank-Schutzzauber-Projekts beauftragt. Ich bin hier, um mich mit Ihren Anführern zu treffen.«

Die tiefbraunen Augen der Frau musterten sie abwägend. »Woher wissen wir, dass Sie keinen Ärger machen werden? In den letzten Tagen sind Leute ins Lager gekommen, nur um Streit anzufangen.«

»Ich habe kein Interesse daran, Streit anzufangen. Ich hoffe, dass ich ihn verhindern kann.«

»Wir werden uns nicht vor Ihnen verbeugen«, sagte Tay, aber die Frau streckte eine Hand mit der Handfläche nach unten aus. Er klappte den Mund zu, entspannte sich jedoch nicht. Seine Muskeln hielt er für einen Kampf oder einen Schlag angespannt. »Chel, wir müssen nicht zuhören …«

»Sieht sie aus wie eine der Axtträgerinnen von Batac?«

»Sie sieht gefährlich aus.«

»Sie ist gefährlich. Aber vielleicht auch aufrichtig.« Chel wandte sich wieder an Elayne. »Sind Sie das?«

Und das war die Kunst, die man nicht lernen konnte: klar und ehrlich zu antworten, den Anschein zu erwecken, als würde man die Wahrheit sagen, vor allem, wenn man es tat. »Ja.«

»Keine Waffen?«

Sie öffnete ihre Aktentasche und zeigte ihnen die darin befindlichen Dokumente und die wenigen Stifte, die in Lederschlaufen steckten. Amulette und Werkzeuge, Instrumente der hohen Kunstwirkerei, fehlten. Sie hatte sie heute Morgen für den Fall der Fälle herausgenommen. Es hatte keinen Sinn, die Einheimischen zu erschrecken.

»Wen wollen Sie sehen?«

»Jeden«, entgegnete Elayne, »der die Autorität und den Willen hat, zu reden.«

Chel sah von ihr zu Tay und zu den anderen Versammelten. Schließlich nickte sie. »Kommen Sie mit mir.«

»Danke«, sagte Elayne, als sie die Wachen hinter sich gelassen, aber noch nicht den Hauptteil des Lagers erreicht hatten.

»Wofür? Tay hätte gar nichts angefangen. Er tut nur so, wenn er aufgeregt ist.«

»Wenn er nichts angefangen hätte, warum sind Sie dann herübergelaufen, um ihn aufzuhalten?«

»Es waren ein paar lange Tage«, sagte Chel, und das war eine Antwort oder auch nicht.

»Sind Wachen nicht ein bisschen exklusiv für eine populistische Bewegung?«

»Wir hatten Probleme. Verbrannte Lebensmittelläden, Kämpfe. Die Leute, die die Kämpfe angefangen haben, kannte niemand – Batacs Schläger.«

»Eine schwere Anschuldigung.«

»Die Bosse haben das Gleiche während des Hafenarbeiterstreiks getan. Viele meiner Freunde wurden verhaftet. Diejenigen von uns, die das miterlebt haben, dachten, wir könnten die Dinge vielleicht beruhigen oder niederringen, wenn Niederringen nötig wäre.« Sie klang stolz. »Also halten wir Wache.«

»Sie sind Hafenarbeiterin?«

»Dort geboren und aufgewachsen. Etwa die Hälfte von Huschbank arbeitet im Hafen von Langensande oder hat dort Familie.«

»Und Ihre Arbeitgeber haben Ihnen erlaubt, zu protestieren?«

Auf ihre Frage folgte betretenes Schweigen, und das war die einzige Antwort, die Elayne brauchte. »Ich schätze, Sie sind nicht von hier«, sagte Chel.

»Ich habe vor einiger Zeit kurz in DL gelebt. Jetzt bin ich zu Gast.«

»Vielleicht haben Sie noch nichts von dem Streik gehört. Das war im letzten Winter. Wir hatten mit Lohnkürzungen, unsicheren Arbeitsbedingungen und langen Arbeitszeiten zu kämpfen. Menschen starben. Wir sind in den Streik getreten. Es hat sich herausgestellt, dass Streiks gegen Leute wie Sie nicht so gut funktionieren.«

Elayne erkannte diesen Tonfall – schwer und sachlich wie ein an den Knöchel gefesselter Stein. Sie hatte auch einmal so gesprochen, als sie jünger gewesen war als diese Frau. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie denselben Gang gehabt: die Hände in den Taschen, nach vorn gebeugt, als würde sie sich gegen den Wind stemmen.

»Wir haben uns nicht beurlauben lassen«, fuhr Chel fort. »Seit dem Streik ist die Lage schwierig. Wir lesen die Flugblätter, wie alle anderen auch. Wenn dieses Geschäft zustande kommt und unsere Miete steigt, können wir hier nicht mehr wohnen. Umzugskosten. Kosten für die Fahrt zur Arbeit. Schlimmer noch, wenn man eine Familie hat. Dies war die beste schlechte Wahl. Sie wissen ja, wie das läuft.«

»Ja«, sagte Elayne, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, etwas zu sagen. »Was meinen Sie mit den Flugblättern?«

Chel hob ein Stück Zeitungspapier vom Boden auf. Die Schlagzeile lautete: »Kabale plant den Tod des Distrikts«, darüber Karikaturen des Rotkönigs und Tan Batacs. Elayne las die ersten Zeilen des Artikels, faltete das Blatt zusammen und reichte es Chel wieder. Jetzt, da sie wusste, wonach sie suchen musste, sah sie weitere Kopien, die an die Seiten der Zelte geklebt waren. Sie konnte nirgends einen Schriftzug oder ein Druckersymbol erkennen.

Das Lager um sie herum erwachte. Augen tauchten aus den Schlafsäcken auf, spähten aus den Zelten, sahen von Schüsseln mit Frühstücksbrei auf. Einige dieser Blicke richteten sich auf Elayne, andere schätzten sie ein, wieder andere bemerkten nur, dass sie vorbeikam, und blendeten sie wieder aus. Sie hörte Geflüster, das meiste auf Nieder-Quechal, das sie nicht gut genug kannte, um es zu verstehen, aber einiges in gewöhnlichem Kathisch.

»Ausländerin«, sagten sie, was sie nicht störte, und »Iskari«, was falsch war.

»Kunstwirkerin«, hörte sie auch, immer wieder, von Frauen, die sich reckten, von Männern, die sich am Feuer wärmten, von Kindern (es gab Kinder hier, einige), die ihr Ullamal-Spiel unterbrachen, um ihr zu folgen. Auch andere folgten ihr. Sie versammelten sich in ihrem Kielwasser, ein träges V von rebellischen Gänsen: ein knorriger, narbenübersäter Mann, der selbst in den Kriegen gekämpft haben könnte, auf der falschen Seite. Eine schwangere Frau, von ihrem Mann an der Hand geführt. Ein Trio muskulöser Männer mit nacktem Oberkörper, vielleicht Drillinge; sie konnte sie nur an den verschiedenen blauen Flecken unterscheiden.

Als sie sich dem Brunnen näherten, spürte sie eine neue Kraft aufsteigen. Diese Menschen hatten sich zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die Luft färbte sich grün unter dem Gewicht ihrer Einheit.

Wütende Menschenmassen. Fackeln, Heugabeln und Blut.

Nein. Geh neu an die Situation heran, sagte sie sich – das sind nicht die Mobs deiner Kindheit, nur verängstigte Menschen, die sich zum Schutz versammelt haben. Und wenn das, was Chel über Kämpfe und Brandstiftung und Streikbrecher sagte, die Wahrheit war, hatten sie Grund zur Angst.

Chel führte Elayne an Zelten vorbei, in denen freiwillige Köche Essen an diejenigen verteilten, die darum baten, vorbei an Schildern, die mit kruden Karikaturen des Rotkönigs als Dieb und Monster bekritzelt waren, vorbei an der Bühne und um den Brunnen und seinen gesichtslosen Gott herum. Hinter dem Brunnen befand sich ein Platz, der mit getrockneten Grasmatten bedeckt war, auf denen Männer und Frauen andächtig im Schneidersitz saßen.

Elaynes Herz krampfte sich zusammen und ihr stockte der Atem.

Vor den Grasmatten erhob sich ein Altar, und auf diesem Altar lag ein gefesselter Mann. Ein Priester, von der Taille abwärts weiß gekleidet, von der Taille aufwärts nackt und massiv, stand mit dem Rücken zur Gemeinde. Mit Absicht zugefügte, komplizierte Narbenmuster überzogen den Oberkörper des Priesters. Vor langer Zeit hatte jemand ein Quechal-Glyphenwerk in seine Haut geritzt.

Der Priester hob ein Messer. Der Gefangene schrie nicht. Er starrte in den dämmernden Himmel.

Das Messer sauste nach unten.

Und hielt an.

Es hatte keine Zeit für Fragen oder Zusammenhänge gegeben. Elayne fing die Klinge mit Kunstwirkerei ab und hüllte den Priester in unsichtbare Fesseln. Glyphen leuchteten blau an ihren Fingern und Handgelenken, unter ihrem Kragen und neben ihren Schläfen.

Die Menge schnappte nach Luft.

Das Opfer heulte vor Angst und Frustration.

Der Priester drehte sich um.

Er hätte sich nicht bewegen und kaum atmen können sollen, aber er drehte sich trotzdem. Grünes Licht glühte aus seinen Narben und glitzerte auf der umgedrehten Klinge seines Messers, in seinem Blick.

Seine Augen weiteten sich vor Schreck, wenn auch nicht so stark wie ihre eigenen.

»Hallo, Elayne«, sagte Temoc.

3

In einem respektvollen Universum hätten die Menge, die Gemeindemitglieder, das Opfer und die Wachen alle stillgehalten, aber das taten sie natürlich nicht. Die Gläubigen schrien auf. Temoc schritt auf sie zu, aber er war eine geringere Sorge als Chel, die Elayne zu Boden riss.

Elayne schlug hart auf Schultern und Arm auf, aber sie hielt ihre Kunst um Temoc fest. Chel umklammerte ihre Arme und packte sie an der Kehle. Chels Zähne blitzten weiß auf, und in dem Zittern ihres ganzen Körpers las Elayne Schock, Scham und Wut. Vor allem Wut.

»Chel«, krächzte Elayne. »Aufhören.«

Ein Kreis von Gesichtern bildete sich über und um sie herum und starrte auf sie herab. Atmen war nur langsam und flach möglich.

»Lasst sie los«, sagte Temoc von irgendwo in der Ferne. Der Kreis zerfiel in ein U, obwohl Elayne den Mann selbst nicht sehen konnte.

Chel sah verwirrt hoch.

»Ich bin nicht in Gefahr. Elayne ist eine alte Freundin. Sie versteht unsere Arbeit nicht.«

Er trat in ihr Blickfeld. Die Morgendämmerung brach durch den Nebel und schälte seine Silhouette aus dem Himmel: eine chthonische Gestalt, eine Höhlenmalerei, die stark genug war, um aus der Wand zu brechen. Temoc Almotil, der letzte der Adlerritter und Priester der alten Götter, sah besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Das grüne Licht seiner Narben ließ die Gesichter der versammelten Gläubigen in einem seltsamen, blassen Jadeton erscheinen. Chel ließ Elayne los, stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab und stand auf. »Herr.« In diesem Wort steckten Hingabe, Ehrfurcht, Neugierde und auch ein wenig Vorwurf.

Elayne musterte Temocs Gesicht.

Er war aus Flächen und Winkeln zusammengesetzt, wie immer, und wie sie es von ihrem ersten Treffen unter der Flagge des Waffenstillstands in Erinnerung hatte, als sie siebzehn und er zwanzig gewesen waren – und nicht lange danach, als er in einer Seitenstraße von Sansilva fast verblutet wäre, durchbohrt von einem Eisspieß, während über ihm ein Krieg tobte. Augen von tiefstem, abgerundeten Schwarz und ein Mund, den ein Bildhauer des Schwarzmeers in Marmor verewigt haben könnte, als einziges ehrliches Detail in einem ansonsten schmeichelhaften Porträt: zu breit, zu scharf – wie der Rest von ihm. Muskulös traf es nicht annähernd. Ein Mann, der anders gebaut war als andere Männer.

Aufgebaut, dann vernarbt. Er bewegte sich langsam und kämpfte mühsam gegen ihre Fesseln. Er versuchte nicht, sie zu brechen; aber sie hatte auch nicht versucht, ihn zu brechen.

Er bot ihr die freie Hand an. In Anbetracht der Menschenmenge und ihres Auftrags ergriff sie sie und benutzte ihn, um sich aufzurichten. Sein Arm zuckte nicht, als er ihr Gewicht trug.

Das Opfer saß auf dem Altar, mit losen Seilen an den Handgelenken und verwirrt. Die meisten der Gläubigen blieben in ihren Reihen. Das zuschauende U zog sich von Temoc zurück, von ihnen beiden.

»Es ist lange her«, betonte er noch einmal.

Sie nickte in Richtung des Messers. »Ich dachte, du tötest heutzutage nicht mehr.«

»Du verstehst das nicht.«

»Du hast ein Messer, und auf dem Altar liegt ein Mann. Was verstehe ich nicht?«

»Wir haben das Sakrament geändert.« Er deutete mit seiner Klinge auf den Altar. »Die Zeremonie muss bei Sonnenaufgang vollzogen werden. Wirst du dich mir anschließen?«

»Ich werde nicht zulassen, dass du ihn tötest«, sagte sie.

»Ich verspreche, dass dieser Mann am Ende des Rituals lebendig sein wird, und du es erkennst. Meine Klinge wird sein Fleisch nicht durchbohren.«

»Deine Konkretheit ist nicht vertrauenerweckend.«

»Vertrau mir.« Sein Lächeln hatte sich nicht verändert. Und seine Zähne auch nicht. »Sieh, wie wir uns neu erschaffen.« Seine Stimme strotzte vor klerikaler Zuversicht, ein Priester, der für die Erdlinge sprach. Das unterschied sich nicht allzu sehr von der Stimme, die Elayne selbst bei Hofe annahm. Ein Priester war ein Mensch, der sein Gesicht zu einer Maske machte.

Ihre Anwesenheit an seiner Seite würde ihm Legitimität verleihen, was er genauso gut wusste wie sie. Aber sie war für ein Gespräch hergekommen – zumindest vorgeblich – und an seiner Seite wäre sie besser in der Lage, ihn zu stoppen, wenn das nötig wäre.

Sie zupfte ihre Manschetten zurecht und fegte mit einem schnellen Netz aus Kunst den Staub von ihrem Anzug. Ein kleiner Riss in ihrer Jacke flickte sich augenblicklich von selbst. Verschwenderische Taschenspielertricks – chemische Reinigungen und Schneider waren im Großen und Ganzen effizienter als Zauberei. Aber es hatte seinen Wert, die Einheimischen zu beeindrucken. »Ich bin froh«, sagte sie, »dass du rechtzeitig dazwischengegangen bist.«

»Chel hätte dir nicht wehgetan.« Temoc schritt zwischen seinen Getreuen unter dem Druck ihrer versammelten Blicke zum Altar. Seine Narben glühten, und Schatten glitten über seine Haut. Sein Volk sah diese Seite von ihm nicht oft, vermutete sie.

Sie hielt Schritt. »Ich war nicht um meine eigene Sicherheit besorgt.« Sie sprach laut genug, damit man es hören konnte.

Was Temoc als Nächstes sagte, sollte nicht gehört werden. »Würdest du mich bitte loslassen? Deine heidnische Magie brennt.«

»Aber du siehst so beeindruckend aus, wenn du wie ein Sonnenwendebaum leuchtest.« Sie lächelte und löste ihre Fesseln von ihm. Erst wurde das Licht gedämpft, dann die Schatten.

Das einstige Opfer lag wieder mit gespreizten Beinen auf dem Altar, der gar nicht aus Stein war, sondern ein gedrungener, stabiler Tisch, der von vier Steinplatten abgestützt wurde. Behelfsmäßig, nur zum Schein.

Temoc hob sein Messer. Die schwarze Glasklinge fing das Sonnenlicht auf. Die Zuschauer saßen auf einem Gewirr aus Grasmatten. Chel sah von jenseits der Matten zu, und andere beobachteten mit ihr. Ihre Zahl hatte wegen der ganzen Aufregung noch zugenommen.

Die Anbeter verstummten. Der gesammelte Glaube kristallisierte die Luft, hielt das Licht fest, verband diesen Moment mit einer Million anderer Momente, die sich durch die Ewigkeit erstreckten, die gar nicht eine Million getrennter Momente waren, sondern eine Million Spiegelungen desselben Moments in der Zeit, oder seiner Facetten, die sich drehten.

Sie war die Einzige hier, die die Kunstfertigkeit verstand, die der Szene zugrunde lag: Die Gläubigen gaben Teile ihrer Seele für die Aufführung, für den Priester, für das Opfer, das in der Ekstase seiner Rolle erstarrt war, mit offenen Augen, als es die Gesichter Gottes sah. Sie war die Einzige hier, die auf sechs Seiten, vielleicht mit drei Zahlen und ein paar mathematischen Randbemerkungen, die Mechanismen des Temoc-Kults beschreiben konnte.

Und sie war die Einzige, die nicht dazugehörte. Also beobachtete sie.

Die Sonne glitzerte auf der erhobenen Klinge. Elayne spannte sich an und fühlte sich an das Fackellicht erinnert, das sich in den Augen von Jägern spiegelte. Das Messer stieß herab.

Der Knauf schlug mit einem satten Echo auf die Brust des Opfers, wie der Schlag eines Fingerknöchels auf den Resonanzkörper einer Gitarre. Der Mann zuckte einmal zusammen. Ein kleiner Seufzer entfleuchte ihm.

Elayne schloss die Augen, um die Opferung als Kunstwirkerin zu beobachten. Kleine Verzerrungen durchzuckten die von Blitzen erhellte Spinnenwelt jenseits ihrer Augenlider wie schwimmende Fische im Seetang: winzige Götter. Mit offenen Augen sah sie, wie sich grüne Geister vom Altar erhoben, um an der Haut des Opfers zu lecken. Die Geister verweilten dort, wo die Wunde in der Brust des Mannes gewesen wäre, wenn es sich in Wahrheit und dem Namen nach um ein Opfer gehandelt hätte. Gespenstische Zungen verharrten an dem Loch, das Temoc aufgeschnitten hätte, um sein Herz zu entnehmen.

Als die Gottlinge sich satt getrunken hatten, pulsierte ihre Freude durch das Netz des Glaubens, das Temoc gewoben hatte, um die Herzen seiner Gemeinde zu beleben und sie mit der Ewigkeit zu berühren – ein Stück vergangener Tage und Herrlichkeiten, ein verweilender Nachgeschmack der alten blutigen Geschichte. Das Blutopfer gab es nicht mehr. Die alten Götter waren tot.

Alles wie es sein sollte.

Aber die Menge jubelte trotzdem.

Der Moment verging, und die Gottlinge verschwanden wieder im Äther. Temoc senkte sein Messer und sprach in Hoch-Quechal zu dem Opfer, das nickte, unfähig, durch seine Tränen zu antworten. Temoc wandte sich erst in Hoch-Quechal, dann in Nieder-Quechal an die Gläubigen. Schließlich sagte er auf Kathisch: »Das Wunder ist vollbracht«, und betonte es extra für Elayne.

Und die Hunderte vor Ort wiederholten es vor ihm. Die Worte wogten durch die versammelte Menge und die noch wachenden Menschen dahinter.

Temoc löste die Seile von den Hand- und Fußgelenken des Opfers. Der Mann stolperte in seine Umarmung und weinte.

Ich bin eine Außenstehende, wiederholte Elayne zu sich selbst.

Sie wusste nicht, warum sie dieses Bedürfnis verspürte.

Eine geflügelte Gestalt überquerte den Himmel, schwere Unterschall-Bässe ergänzten die Jubelrufe: ein Wächter, der auf dem Rücken eines Couatls saß, um die Gesetzlosen unten zu beobachten.

Um zu wachen wie sie, und sich zu wundern.

4

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Temoc nach der Zeremonie. Die Freunde des Opfers halfen diesem, schluchzend und taumelnd zum Frühstück zu gehen. Die Gemeinde löste sich in der Menge auf. Elayne lauschte ihrem Geplapper: Das Wort »Kunstwirkerin« fiel häufig.

»Kannst du dir das nicht denken?«, fragte Elayne.

»Du hast vielleicht schon von meiner Arbeit hier gehört. Du bist gekommen, um zu sehen, was ich aus meinem Leben gemacht habe, oder sogar, um dich uns anzuschließen. Wunschdenken, nehme ich an?«

»Ja«, sagte sie. Und weiter: »Wie hast du deine Götter überzeugt, ein Scheinopfer zu akzeptieren?«

»Mit Schwierigkeiten. Die meisten weigern sich. Die großen Herren und Damen sind tot, und die hungrigsten von denen, die überlebt haben, schlafen. Ein paar kleinere Korngötter und Hausgeister schließen sich uns an, obwohl sich der unblutige Ritus für sie anfühlt, als würde man aus einem schmutzigen Schwamm trinken. Aber für uns alle heißt es: dies oder nichts.«

»Das muss schwer sein.«

Er kniete sich hinter den Altar und holte ein Handtuch aus dem Hohlraum darunter, mit dem er sich abwischte, und ein weißes Hemd, das er sich vor seiner Brust zuknöpfte. »Unsere Bräuche werden nicht unverändert überleben. Das alte Opfer hat mein Volk zusammengeschweißt. Der Zelebrant, dessen Herz wir herausschnitten, gehörte zur Göttlichkeit. Hier wird der Zelebrant zum Opfer und tritt dadurch in die Gemeinschaft der Götter ein. Aber er kann nicht bleiben – er muss mit dem Wissen zurückkehren, was es heißt, zu sterben. Einmal vollbrachte Taten sind für immer vollbracht. Das habe ich den Menschen und Göttern zwanzig Jahre lang beigebracht. Eines Tages werden sie zuhören.« Die kleinen Knöpfe glitten unter seinen dicken Fingern durch, und seine Muskeln spannten sich gegen den Stoff. Seine Hände zitterten nicht. Das hatten sie noch nie getan, nicht in all den Jahren, seit sie ihn kannte. Sauberes Leben, hatte er Jahrzehnte zuvor gesagt, als sie nach seinem Geheimnis gefragt hatte. Damals waren sie beide jünger gewesen.

Er sah immer noch jung aus. Und töricht, in diesem weißen Hemd. Jemand hatte versucht, es ihm auf den Leib zu schneidern, aber es war nur gelungen, die Unmöglichkeit dieses Vorhabens zu demonstrieren.

Chel blieb und beobachtete sie über die Grasmatten hinweg. Temoc winkte, und sie kam näher. »Danke«, sagte Temoc, »dass du meine Freundin begleitet hast.«

»Sie hat dich angegriffen.«

»Sie dachte, ich würde diesen Mann töten. Hättest du an ihrer Stelle anders gehandelt?«

Chels Kiefer zeigte Anspannung, genau wie ihre Augen. Elayne fühlte mit ihr: Chel hatte einiges riskiert, um Elayne durch die Barrikade zu bringen, erkannt, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und nun wurde ihr gesagt, dass ihr Fehler gar kein Fehler war. Sie hatte das Gefühl, dass sie in allen Punkten versagt hatte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Sie sagt, sie kommt vom Rotkönig.«

»Und du hast sie zu mir gebracht.«

»Wäre es dir lieber, ich hätte sie zum Major gebracht?«

Temoc lachte, ein tiefer, widerhallender Ton. »Komm«, sagte er. »Die Zeremonie gibt mir etwas Energie, und ich muss sie nutzen. Begleite mich.«

* * *

»Und was führt dich zu dieser Meute?«, fragte Elayne, während sie gingen.

Sie bewegten sich zwischen Zelten und Scharen von Demonstranten, einige schliefen, einige frühstückten, einige sangen. Eine Gruppe von meist männlichen Demonstranten absolvierte eine Kampfübung. Väter wiegten ihre Kinder in den Armen. Der Ort hätte eigentlich stinken müssen, tat es aber nicht, dank neonfarbener, alchemistischer Toiletten und – wie Elayne schockiert feststellte – dank ihrer eigenen Nostalgie. Der Geruch von Holzkohle und Verzweiflung, Schweiß und Hoffnung, Schmutz und Leinen und Angst erinnerte sie an ihre Jugend und an die Kriege, und nicht alle diese Erinnerungen waren schlecht. Die Lager hatten größtenteils Spaß gemacht. Streiche, Drogen, Sex, Musik und schwarze Magie lockerten die Spannung auf dem Schlachtfeld auf.

»Sie sind keine Meute. Sie leben hier. Sie versuchen, ihre Häuser zu schützen.«

»Vor mir.«

»Ich hoffe nicht«, sagte er. »Du musst verstehen, dass Tan Batac und seine Partner im Norden der Stadt leben. Sie wollen nur etwas Abwechslung für sich. Die Menschen in diesem Lager kämpfen um ihr Leben.«

»Und für die Rückkehr der alten Ordnung, mit dir an der Spitze?«

»Ich bin ein Priester, kein König.«

»In dieser Stadt gab es noch nie einen großen Unterschied zwischen diesen beiden.«

»Aber die Kriege sind vorbei«, sagte er. »Besonders in Huschbank.«

»Du bist noch hier, und ich auch.«

»Deine Seite hat gewonnen, falls du es nicht bemerkt hast.« Eine Frau winkte ihm zu, und er winkte zurück. »Mein König ist gefallen, und meine Götter sind tot. Und wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich mit ihnen gestorben.«

»Es tut mir leid, dass ich deine … Darbietung unterbrochen habe«, sagte sie. Es gab andere Worte für das, was sie gesehen hatte, aber sie konnte sie nicht benutzen. Vor allem nicht jetzt, wo die Sonne aufgegangen war und ihr klares Morgenlicht die halb geformte Welt ersetzte, in der sie einen Mann gesehen hatte, der geopfert wurde und nicht starb.

»Kein Problem. Ist dir schon einmal aufgefallen, dass die Anhänger der Gleb-Mystiker selten über den normalen Alltag ihrer Lehrer schreiben? Sie ziehen es vor, von Unterbrechungen zu sprechen. Für jede überdauerte Predigt gibt es zehn Geschichten von Blinden, die sich in private Konferenzen drängen, von aussätzigen Müttern, die die Weisen auf der Straße angreifen, von Krüppeln, die von ihren Freunden durch die Oberlichter der Häuser, in denen die Meister schlafen, heruntergelassen werden. Man kann den Tod eines Glaubens an seiner abnehmenden Toleranz gegenüber solchen Unterbrechungen ablesen.«

»Du bist jetzt also ein Prophet?«

Er lachte. »Ich versuche, ein guter Mensch zu sein. Oder zumindest ein besserer, als ich es vorher war.«

Unterwegs hörte sie Fetzen eines heftigen Streits:

»… nicht als Individuen, sondern als Mitglieder einer Klasse …«

»… ein Samenkorn ist nicht unbedeutend …«

»Noch etwas Wein?«

»Systeme sind wie Zauberer. Wenn sie behaupten, ehrlich zu sein, muss man sie im Auge behalten …«

»Wie steht’s mit Lebensmittel & Co? Gibt’s was Neues über die Lagerbestände nach dem Brand? Ich muss wissen, ob ich loslaufen und mir was kaufen soll …«

»Woher hast du den Kaffee?«

»… Fingerfertigkeit, das ist alles, Fingerfertigkeit …«

»Eine Stadt kann mehr, als nur Leute anzulügen …«

Doch als sie sich näherten, sahen die Sprecher Temoc und verstummten. Das Beben der Schritte des Priesters ließ sie bildlich von einer Schallplattenrille zur nächsten hüpfen. Als Kunstwirkerin, als Partnerin in einer großen Firma, war Elayne es gewohnt, Angst zu verbreiten. Aber das hier war anders. Angst war nur ein Teil davon.

Wo immer er hinging, trug Temoc ein Stück seines Sonnenaufgangssakraments bei sich.

Ein junges Ehepaar in Begleitung seines fünfjährigen Sohnes näherte sich Temoc vorsichtig. Der Brustkorb des Jungen rasselte beim Atmen; als er Temoc sah, rollte er sich zu einem Ball zusammen und begann zu weinen und zu husten. Der Husten habe gestern Abend begonnen, sagte die Mutter.

Temoc berührte das Kind oberhalb des Herzens. Die Narben auf seinem Arm leuchteten grün. Ein Teil der Kraft, die er bei Sonnenaufgang gesammelt hatte, die Kraft, die die Gottlinge ihm gaben, floss in den Jungen und machte ihn gesund.

Ein einfacher Trick. Medizinische Kunstwirkerei könnte genauso viel mit genauso wenig Mühe erreichen. Aber es war kein Arzt hier, und Elayne bezweifelte, dass ein Arzt einen so tränenreichen Dank erhalten hätte.

»Chel erwähnte einen Major«, sagte sie, als sie das Paar und ihren lachenden Jungen hinter sich ließen. »Ein rivalisierender Anführer?«

»Ich bin kein Anführer, also habe ich auch keine Konkurrenten. Aber nicht alle in diesem Lager halten friedlichen Protest für den besten Weg. Einige meinen, diese Leute sollten den Kern einer neuen Armee bilden. Die meisten von ihnen haben noch nie in einem Krieg gekämpft, verstehst du?«

»Was ist mit dir? Willst du Frieden?«

»Ich möchte den Menschen helfen«, sagte er.

»Ich auch.«

Doch bevor er antworten konnte, hatte eine Gruppe von Männern und Frauen in Tarnkleidung eine Frage an ihn zur Verteilung der Vorräte. Danach kam ein junger Mann mit einem gebrochenen Arm. Temoc strich mit der Hand über die Wunde und glättete den Knochen. Elayne sah zu. Was die anderen von ihrer Anwesenheit hielten, konnte sie erahnen: eine Außenstehende, die ihre Gepflogenheiten nicht verstand, eine Dienerin der dunklen Mächte, die sich gegen sie stellte.

Na schön.

Temoc wurde langsamer. Er dachte mehr über die Entscheidungen nach, die ihm vorgelegt wurden, und wurde vorsichtiger mit der Heilung, die er anbot. Die Macht der morgendlichen Zeremonie ebbte ab. Scheinopfer, so schien es, verschafften Temocs Göttern nicht so viel Ruhm wie die blutigen Opfer.

Eine Gruppe Jugendlicher, gekleidet in Staub und zerrissene Jeans, trug eine Bahre zu Temoc, auf der ein Mädchen lag. Bei einem Tanz gestürzt, sagten sie. Sie atmete, ihr Herz schlug, aber sie konnte weder sprechen noch sich bewegen, außer wenn sie von Krämpfen geplagt wurde.

Sie setzten sie zu Temocs Füßen ab, und Temoc sah zu Boden. Elayne erkannte seine Angst nur, weil sie sie schon einmal gesehen hatte, im Kampf. Er bezweifelte, dass er dieses Mädchen heilen konnte, und er wollte es nicht versuchen und versagen. Unter diesem Zweifel sah sie auch Wut: auf sein eigenes Zögern, auf ihre Freunde, weil sie sie nicht früher gebracht hatten, auf das Mädchen, weil es gestürzt war, auf Elayne, weil sie als Zeugin dabei war.

Vielleicht war es also Mitleid, das sie dazu brachte, zu sagen: »Ich mach’s.«

Elayne näherte sich, aber die Tänzer scharten sich um ihre gefallene Freundin wie lauernde Hunde. Sie sagten nichts, aber sie sah Hexein der Art, wie der Kiefer der jungen Frau mahlte und der Junge den Arm des gefallenen Mädchens mit weißen Knöcheln umklammerte. Natürlich schien sie ein Feind zu sein, mit Aktenkoffer, Nadelstreifen, Lackleder: das Bild eines Monsters von Anfang fünfzig.

Das Mädchen zitterte.

»Bitte«, sagte Elayne. »Ich kann helfen.«

Die Tänzer rührten sich nicht.

»Lasst sie«, sagte Temoc.

Sie wichen zurück wie ein verknoteter Muskel, der sich löste.

Elayne kniete neben der Bahre. Die Linien der Zeit hingen an ihr wie Spinnweben – der Moment war voll von Hagiografie, jeder Beobachter hielt Elayne und Temoc und das Mädchen in einer Geschichte gefangen. Vergiss die Geschichte. Vergiss die Politik und konzentriere dich auf die Patientin.

Elayne schloss ihre Augen.

Ein guter Arzt könnte das Leiden des Mädchens mit einem Blick auf das Wirrwarr ihres Wesens beschreiben. Ein guter Arzt könnte ihr Problem dauerhaft beheben oder vorbeugende Medikamente und Übungen empfehlen.

Alles, was Elayne tun konnte, war, mit Fingern, die feiner waren als der Rand von zerbrochenem Glas, in den Kopf des Mädchens zu greifen, die verschlungenen Fäden darin zu erfassen und sie wieder in die richtige Bahn zu lenken.

Das sah beeindruckend genug aus.

Sie öffnete die Augen. Die Sonne hatte sich gegen die Erde durchgesetzt. Das Mädchen atmete tief durch. Ihre Pupillen weiteten sich. Sie blinzelte gegen das Licht an und sprach. »Ich sehe.« Sie sagte nicht, was sie sah. Ihre Freunde umarmten sie.

Elayne zitterte vor Kälte, die ihre Kunst hinterlassen hatte. Temoc bot ihr seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Zum zweiten Mal an diesem Tag nahm sie sie an, und zum ersten Mal tat sie es nicht widerwillig.

»Danke«, sagte er, als sie einen privaten Platz in der Menge fanden. »Für sie.«

Sie antwortete zunächst nicht. Sie war hierhergekommen, um Beweise für Ungereimtheiten zu finden, Schwächen, die sie ausnutzen konnte. Sie erinnerte sich an die Angst der Tänzerinnen, an das Weinen des Opfers, an den sauren Atem durch ein Schilfrohr und an den teerigen Gestank des Fackelrauchs der Jäger. Sie war sich nicht sicher, wie sie »Gern geschehen!« sagen sollte.

Ein Schrei unterbrach ihre Suche nach den richtigen Worten. »Temoc!« Chels Stimme: Die Frau kam angerannt. »Es gibt Ärger.«

5

Sie hörten den Streit schon von der anderen Seite des Platzes.

»Gammelfleisch!«, rief ein Mann. Temoc drängte sich durch die Menge, und ausnahmsweise folgte Elayne ihm: Wenn die Sache mit dem Priester fehlschlug, konnte eine Marine den großen Mann als Eisbrecher anheuern. Sie näherten sich dem, was sie aufgrund des Rauchs und des Geruchs von angesengtem Schweinefleisch für ein Kochzelt hielt. Das Geschrei ging weiter: »Meine Tochter und mein Sohn kotzen sich von dem Gammelfleisch, das ihr serviert habt, die Eingeweide aus!«

»Mit unserem Essen ist alles in Ordnung«, antwortete eine Frau mit fester, verärgerter Stimme.

»Du bist eine Betrügerin, Kemal, du und dein Mann. Ihr seid beide Betrüger und Giftmischer.« Als sie sich an die Spitze der Menge drängten, betrachtete Elayne die Szene: Die Frau – offensichtlich Miss Kemal – versperrte mit Hackbeil und blutbespritzter Schürze den Eingang zum Kochzelt. Ein blasshäutiger Souschef stand an ihrer Seite. Der schreiende Mann vor ihnen hatte eine Stimme, die für die Bühne bestimmt war, und ein Feuer, das eine Jury schwer beeindruckt hätte. Ein klassischer Fall von verpasster Berufung. Helle Augen stachen aus einem mageren, hungrigen Gesicht hervor, und die Zähne waren gelb. »Ihr nehmt unsere Seelen und vergiftet uns im Gegenzug.«

Eine Trommel schlug in Elaynes Brust, und sie sah hoch: Wächter kreisten auf den Rücken von Couatls über ihr. Ein Kampf würde sie nach unten ziehen.

Und dieser Kampf war nicht mehr weit entfernt. Kemals Mundwinkel verzogen sich, und ihr Griff um das Beil wurde fester. »Halt’s Maul. Bill und ich lassen den Hut herumgehen, und jeder gottverdammte Thaum geht für Essen und Brennmaterial drauf. Es ist harte Arbeit, ein Lager zu versorgen, und du verschwendest unsere Zeit. Von unserem Essen ist noch nie jemand krank geworden, und das ist auch jetzt nicht der Fall.«

»Du nennst mich einen Lügner?«

»Wir haben gestern für tausend Leute gekocht. Wenn unser Essen deinen Kindern geschadet hat, warum ist dann sonst niemand krank?«

»Ich gehe in dieses Zelt. Ich werde der Welt dein Gammelfleisch zeigen.« Kopfnicken aus der Menge. Rufe der Unterstützung. Nicht viele, aber genug, um Ärger anzudeuten.

»In diesem Zelt gibt es nichts als eine Menge Arbeit für uns zu tun. Es ist eine Küche, um Himmels willen. Wenn deine Kinder wirklich krank sind, könnte das, was sie haben, ansteckend sein. Ich werde nicht zulassen, dass du unseren Raum verunreinigst.«

»Verunreinigst?«

Temoc trat aus der Menge und sprach die Köche an: »Kapania« zu der Frau und »Bill« zu ihrem Gehilfen. Seine Stimme klang durchdringend, und die Leute schauten zu ihm. »Dieser Mann macht sich Sorgen um seine Kinder. Das ist eine vernünftige Bitte. Wie ist Ihr Name, Sir?«

»Sim.«

»Es wird sicher kein Problem sein, Sim in das Zelt zu lassen.«

»Temoc.« Kemal streckte das Kinn vor und fletschte die unteren Zähne. »Das ganze Lager isst unser Essen. Ich kann hier niemandem trauen, den ich nicht kenne. Wir haben diesen Mann erwischt, als er sich reinschleichen wollte.«

Sim errötete. »Warum sollte man Wachen aufstellen, wenn man nichts zu verbergen hat?«

Zustimmendes Gemurmel in der Menge. Temoc warf einen Blick zurück, und das Gemurmel verstummte. »Und wenn ich selbst nachsehe, Sim? Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich es Ihnen sage, wenn ich etwas Unappetitliches sehe.«

»Das sind meine Kinder. Ich traue nur meinen eigenen Augen.«

Kemal verdrehte die ihren. »Zeitverschwendung, Temoc. Sim, es tut mir leid, dass deine Kinder krank sind, aber das ist nicht unsere Schuld. Wir haben viel zu tun.«

Sie musste die Sache für erledigt gehalten haben, denn sie drehte Sim den Rücken zu und öffnete die Zeltklappe.

Sim stürzte sich auf sie. Bill versuchte, ihm den Weg zu versperren, aber er war kein Kämpfer. Der wütende Mann warf ihn zu Boden und versuchte, sich an Kemal vorbeizuschieben. Kemal stieß ihn zurück und drehte sich mit erhobenem Hackbeil um – nicht aus Wut, dachte Elayne, sie hatte es nur zufällig in der Hand, einer der tausend unglücklichen Zufälle, aus denen Tragödien gemacht sind. Sim ergriff ihr Handgelenk, verdrehte es – das Hackbeil fegte auf ihre Beine zu – und Elayne erweckte eine Glyphe in ihrem Arm, falls …

Doch plötzlich stand Temoc zwischen ihnen.

Sim lag auf dem Boden und starrte mit großen Augen nach oben. Bill hatte Miss Kemal aufgefangen, bevor sie fiel. Temoc hielt das Hackbeil.

Die Menge stand dicht gedrängt und wütend. »Kapania«, sagte Temoc. »Die Leute sind aufgebracht. Lass Sim nachsehen.«

»Nein.«

Die neue Stimme schloss sich wie eine Faust um das Gemurmel der Menge und brachte es zum Schweigen. Elayne drehte sich um, Chel drehte sich um, die ganze Menge drehte sich um, sogar Sim, der am Boden lag. Als er den Neuankömmling sah, errötete er.

Ein Mann aus Stahl tauchte aus der Menge auf.

Golem, dachte Elayne zuerst, aber nein, die Bewegungen waren zu fließend, die Stimme zu feucht – die Gestalt war menschlich, vom Helm bis zu den Stiefeln mit Metallschrottplatten gepanzert, mit scharfen Linien, gezackten Kanten und dunklem Leder. Ein Bleirohr hing in einer Scheide an der Seite der Gestalt, und ein roter Emaillekreis glitzerte auf seinem linken Arm.

»Lange her, Sim.«

An dem gepanzerten Mann war keine Spur von Kunstwirkerei zu erkennen, aber die Menge verstummte trotzdem.

Mit Ausnahme von Chel, die Elayne zuflüsterte: »Der Major.«

Als ob Chels Stimme einen Bann gebrochen hätte, rappelte Sim sich vor Schreck mühsam auf. Er hatte sein Gleichgewicht noch nicht ganz wiedergefunden, da versuchte er schon, davonzurennen.

Die Hand des Majors holte aus, und Sim ging zu Boden. Kunstwirkerei, dachte Elayne, bevor sie das Blut an Sims Schläfe und die kleine Eisenkugel sah, die von dem gestürzten Körper des Mannes wegrollte. Ein guter Wurf, das war alles.

Sim versuchte aufzustehen, aber bevor er das tun konnte, erreichte ihn der Major, hob ihn auf und schlug ihm mit einer gepanzerten Faust ins Gesicht. Sim drehte sich, fand sein Gleichgewicht und versuchte, den Major zu überwältigen, aber die Schrottmetallrüstung schien den Mann nicht zu bremsen. Sim rutschte auf der Eisenkugel aus und stürzte mit dem Gesicht nach vorne. Der Major drückte sein Knie zwischen Sims Schulterblätter und verdrehte den linken Arm des Mannes hinter dessen Rücken. Dann tasteten gepanzerte Finger Sims Ärmel ab.

Temoc näherte sich ihnen. »Was machst du da?«

»Temoc.« Wieder die dunkle, schwere Stimme. »Ich erspare dir Ärger.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Bring mir Fleisch«, sagte der Major zu Kapania Kemal.

»Wie bitte?«

»Fleisch!«

Und sie setzte sich in Bewegung.

»Sim und ich«, sagte der Major, »haben eine gemeinsame Vergangenheit, nicht wahr, Sim? Wenn das dein Name ist.« Sim fluchte, dann schrie er auf, als der Major an seinem Arm riss. Der Major fand im Ärmel, was er suchte: eine kleine Phiole, die vor Elaynes geschlossenen Augen schimmerte. »Während des Streiks der Hafenarbeiter im letzten Jahr, zur Sonnenwende, als die Bosse kurz davor waren, nachzugeben, suchte dieser Mann unser Essenszelt auf. Die Hälfte des Lagers wurde zwei Tage später krank. Wir gingen aufeinander los, und die Wächter kamen. Danach ist es schwer, einen Protest wieder auf eine Linie zu bringen, nicht wahr, Sim?« Der gefallene Mann stöhnte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so dumm sein würdest, denselben Trick zweimal zu versuchen. Wo ist das Fleisch?«

Bill brachte es aus dem Zelt: eine Handvoll rohen Rinderhackfleischs. Der Major entkorkte die Phiole und schüttete ihren schimmernden Inhalt auf das Fleisch. Elayne beobachtete die Verwandlung mit klinischem Interesse: die beschleunigte Fäulnis, die Maden, die sich im Fleisch wanden. Ein einfaches Fäulnismittel – nicht von der Stange, aber kaum nachweisbar. Einige im Publikum mussten sich übergeben. Chel taumelte, doch Elayne hielt sie fest.

»Das«, sagte der Major, »passiert, wenn ich so viel auf so wenig schütte. Verteilt auf einen ganzen Eintopf würde das langsam den Geschmack verfälschen – und heute Nacht würde es im ganzen Lager Kranke geben. Genau wie beim letzten Mal.« Der Major zog seine schwere Pfeife aus ihrem behelfsmäßigen Futteral. Sim wimmerte. »Nicht schon wieder.« Der Major hob die Pfeife.

»Halt«, sagte Temoc.

Der Major erstarrte. »Warum?«

Temoc zeigte nach oben. Die dunklen Augen hinter der Maske glitzerten, als sie ins Blau sahen, wo die Wächter kreisten.

»Wenn Kriecher versuchen, uns zu brechen, sollten wir dann nicht zurückschlagen?«

»In einem Kampf können wir die Wächter nicht besiegen«, sagte Temoc. »Im Frieden sind wir stark.«

»Ich habe gesehen, wie die Kraft des Friedens gescheitert ist.«

»Wenn du ihnen einen Vorwand geben willst, uns zu holen«, sagte Temoc, »bist du nicht besser als der Mann vor dir. Und ich werde dich aufhalten.«

Der Moment schwankte wie ein Kreisel, und Elayne konnte nicht sagen, in welche Richtung er fallen würde.

Der Major ließ Sim los und stand auf. Sim keuchte und klatschte schlaff auf den Stein wie ein angeschwemmter Fisch. Langsam erhob er sich auf seine Hände und Knie. Temoc und der Major starrten sich gegenseitig an.

»Geh«, sagte der Major. »Bevor ich meine Meinung ändere.«

Sim floh. Die Menge teilte sich und folgte ihm mit Blicken, während er an den Rand des Platzes humpelte. Elayne ignorierte Sim; sie und Temoc sahen dem Major hinterher, wie er sich in Richtung des Brunnens zurückzog.

Temoc wäre ihm beinahe gefolgt, ging aber stattdessen weiter.

»Kein Rivale«, sagte Elayne, als sie aufholte. »Ich verstehe.«

»Was willst du von mir, Elayne?«

»Dasselbe, was du willst. Frieden. Diese Menschen brauchen jemanden, der sie an einen Tisch bringt.«

»Komm mit mir nach Hause«, sagte er.

Sie sah ihn mit leichtem Unglauben an: Sie waren nicht mehr das, was sie einmal waren, aber die Zeit hatte sie beide verfeinert. Dennoch gab es Grenzen, die man nicht überschritt.

»Temoc«, antwortete sie und überlegte sich ihre nächsten Worte.

Es gelang ihm fast, sein Lachen zu verbergen. »Das habe ich nicht gemeint. Wir müssen unter vier Augen reden. Außerdem.« Und dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: Die Felswand bröckelte, und er lächelte, fast wie ein normaler Mensch es tun würde. »Ich möchte dir meine Familie vorstellen.«

6

Chel führte sie an den Rand des Lagers. »Danke«, sagte Elayne.

Die Frau verbeugte sich. »Viel Glück.« Sie legte ihre Hand auf ihr Herz, als Temoc vorbeiging; das taten die Aufpasser an der Grenze alle.

Die Menschenmengen außerhalb des Lagers waren weniger respektvoll.

Aufmerksame Wächter liefen parallel zu der Abgrenzung der Hafenarbeiter. Elayne und Temoc schritten durch ihre Reihen und ignorierten das spiegelnde Starren der silberglänzenden Gesichter. Hinter den Wächtern versammelte sich eine zweite Menschenmenge, die besser gekleidet und wütender war als die Menschen auf dem Chakal-Platz. Anzugträger winkten mit Schildern, auf denen das Logo der Handelskammer von Huschbank prangte. Aus den Hutbändern der Reporter sprossen Presseausweise.

Ein Schildträger spuckte Temoc vor die Füße. Temocs Schritt wurde langsamer und er wandte sich dem Speienden zu, gemessen wie ein Henker, der seine Axt hebt. Der Mann hielt Temocs Blick einen Herzschlag lang stand, obwohl es ihm länger vorkommen musste. Seine Finger zuckten um den Stiel seines Schildes, der nicht größer war als Temocs Daumen.