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Auf der Insel Kavekana konstruiert Priesterin Kai als Geschäftsmodell sozusagen Götter auf Bestellung. Und ihre Kreationen eignen sich perfekt für die Arbeit der Kunstwirker und Kunstwirkerinnen der Alten Welt. Jenseits des Ozeans gedeihen hingegen immer noch echte Gottheiten, unberührt von den Götterkriegen, die die Stadtstaaten Alt Coulumb und Dresediel Lex nachhaltig verändert haben. Bei dem Versuch, den sterbenden Gott eines Freundes zu retten, wird Kai schwer verletzt und aus dem Geschäft ausgeschlossen, da ihr selbstmörderischer Rettungsversuch als Beweis für ihre geistige Instabilität gewertet wird. Als die in Ungnade gefallene Priesterin versucht, die Ursache für den Tod des Gottes zu ergründen, prallt sie gegen eine Wand aus Schweigen und Verschwörung, an der sie zu zerbrechen droht. Es sei denn, sie reißt sie ein.
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Seitenzahl: 612
AUSSERDEM BEI PANINI ERHÄLTLICH:
MAX GLADSTONE: DIE KUNSTWIRKER-CHRONIK
Band 1: DREI VIERTEL TOT – ISBN 978-3-8332-4100-0
Band 2: ZWEI SCHLANGEN LAUERN – ISBN 978-3-8332-4178-9
Band 3: FÜNF FADEN TIEF – ISBN 978-3-8332-4275-5
Band 4: LETZTER ERSTER SCHNEE – ISBN 978-3-8332-4331-8
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2022 by Max Gladstone. All rights reserved.
Titel der Englischen Originalausgabe: »Full Fathom Five: A Novel of the Craft Sequence« by Max Gladstone, published 2015 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA
Deutsche Ausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Helga Parmiter
Lektorat: Katharina Altreuther
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Cover-Illustration: Chris McGrath
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDMAXG003E
ISBN 978-3-7367-4275-5
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, November2022, ISBN 978-3-8332-4275-5
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1
Das Idol würde in dieser Nacht ertrinken.
»Tod voraussichtlich um halb zwei Uhr nachts«, las Kai in der Mittagspause am Schwarzen Brett im Pausenraum des Vulkans. »Alle Anfragen bitte an Mara Ceyla richten.« Eine weitere geschäftliche Mitteilung unter vielen, angepinnt zwischen einer Rekrutierungsanzeige für die Ullamal-Liga des Büros und einem rosafarbenen Plakat für ein Lunch-and-Learn über Seelenhandel im südlichen Gleb. Nur wenige bemerkten das Memo und noch weniger lasen es. Kai tat beides und nahm die Nachricht zusammen mit ihrem Sandwich zurück in ihr Büro. Schinken, Käse und Salat auf Weißbrot waren leicht verdaulich. Die Nachricht aber nicht.
Kai grübelte den ganzen Nachmittag, beim Abendessen und die Nacht hindurch. Um 1:00 Uhr nachts war ihre Arbeit getan: drei Hühner geopfert – je eines auf Altären aus Silber, Eisen und Stein; ein Stapel Gewinn- und Verlustrechnungen per Albtraumtelegraf verschickt; eine Gebetslitanei auf einem Fuß balancierend gesungen; einen Vorschlag für eine Iskari-Familie ausgearbeitet, sie möge doch ihren Glauben vom hochriskanten Markt der persönlichen Auferstehung auf die verlässliche Fruchtbarkeit des Getreides verlagern. Sie schrubbte die Altäre ab, wusch sich die Hände, bürstete ihr Haar, band es zu einem Pferdeschwanz zurück und sah wieder auf die Uhr. 1:20 Uhr.
Die Fenster ihres Büros führten hinaus auf den Krater. Zwei menschliche Gestalten warteten am Ufer des dunklen Beckens weit unten, in der Mitte der Grube. Obwohl sie durch die Entfernung puppenhaft wirkten, erkannte Kai ihre Umrisse. Gavin, groß und rund, spähte in die Tiefe. Mara neben ihm war eine gerade Linie mit einer leichten Biegung an den Schultern; sie schritt in engen Kreisen umher, nervös, verzweifelt und bereits trauernd.
Kai hatte die Feierabendzeit längst überschritten. Der Orden schuldete ihr eine Kutschfahrt nach Hause. In dreißig Minuten konnte sie sich die Zähne putzen, und fünf Minuten später würde sie schlafen, sicher vor allem – außer ihren Träumen.
Mara drehte sich um. Blieb stehen. Drehte ihren Fuß und steckte ihre Schuhspitze in gebrochene Lava. Sie vergrub die Hände in den Taschen, zog sie wieder heraus, verschränkte die Arme und öffnete sie wieder. Sie ging zum Rand des Beckens, sah hinein, schauderte, wich zurück.
»Nicht mein Problem«, sagte Kai und merkte, dass sie laut zu ihrem leeren – zumindest menschenleeren – Büro gesprochen hatte. Doch die Altäre, Gebetsmühlen und Rosenkränze, Fetische und Opfermesser behielten ihre Ratschläge für sich. »Verdammt.«
Sie ging den langen, einsamen Gang zum Pausenraum hinunter und stieg eine Wendeltreppe zum Kraterboden hinab, um sich der Todeswache anzuschließen. Am Fuß der Treppe zögerte sie. Sie konnte immer noch gehen. Sie hatten sie noch nicht gesehen.
Von ihrem Büro aus zu gehen, wäre verständlich gewesen. Jetzt zu gehen, wäre feige.
Und außerdem brauchte Mara einen Freund.
Kai trat in die Nacht hinaus, ins Blickfeld.
Die Klippen über ihrem Kopf umrahmten einen Himmel, der mit fremden Sternen übersät war. Kai näherte sich über Lava, die seit fünfhundert Jahren erkaltet war.
Maras Füße knirschten auf Kies, als sie sich umdrehte. »Du bist gekommen.« Ihre Stimme war erleichtert und bitter zugleich. »Ich habe dich nicht erwartet.«
»Wie kommst du zurecht?«, fragte Kai.
»Mir geht’s gut.« Mara nippte an einem Kaffee aus einem weißen Becher mit dem schwarzen Bergwappen des Ordens. Ihre freie Hand zitterte. Sie drehte die Handfläche nach innen, dann nach außen, spreizte die Finger und sah zu, wie sie zitterten. Sie lachte und es klang wie trockenes, raschelndes Laub. »Ich wünschte, es wäre schnell vorbei. Schneller.«
Kai wollte die Schulter der anderen Frau berühren, hakte aber stattdessen ihre Daumen in die Gürtelschlaufen ein.
Der Wind pfiff über den zerklüfteten Rand des Kraters. Gavin schien Kais Ankunft nicht bemerkt oder aber ihr Gespräch nicht gehört zu haben. Er beugte sich über den Rand des Beckens und beobachtete das Idol, das darin starb.
»Das Warten ist das Schlimmste«, sagte Mara. »Zu wissen, dass ich hilflos bin.«
»Es muss doch etwas geben, das man tun kann.«
Sie lachte kurz auf. »Schön wär’s.«
»Dein Idol braucht nur einen Kredit. Ein paar Hundert Seelen auf Kredit, um sie am Leben zu erhalten, bis sich der Markt erholt.«
»Niemand weiß, ob und wann sich der Markt erholen wird. Das macht es schwer, einen Kredit zu vergeben.«
»Dann opfere ihr. Wir können uns den Seelenstoff leisten, um sie durch die nächsten Tage zu bringen.«
»Schade, dass mir die Jungfrauen und Auerochsen ausgegangen sind.«
»Nimm die Mittel des Ordens. Du bist Priesterin. Du darfst das.«
»Jace sagt Nein.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Ist das wichtig?« Sie lief wieder im Kreis herum. »Er hat Nein gesagt.«
»Sich selbst die Schuld zu geben, wird nicht helfen.«
»Was glaubst du, wen meine Kunden beschuldigen werden, wenn ihr Idol stirbt? Den Markt? Oder die von ihnen angeheuerte Priesterin?« Sie tippte mit dem Daumen vor ihr Brustbein. »Die Schuld wird früher oder später bei mir landen. Das kann ich genauso gut gleich, akzeptieren.«
»Deine Kunden haben dem Handel zugestimmt. Sie kannten die Risiken.«
»Ich frage mich, wie es sich anfühlt«, sagte Mara nach langem Schweigen. »die Hälfte seiner Seele auf einmal zu verlieren.«
»Idole fühlen nicht so wie wir.« Kai wusste, dass sie das Falsche gesagt hatte.
Die Sterne funkelten am schwarzen Himmel und im schwarzen Teich – unterschiedliche Sterne oben und unten, aber keine Spiegelungen. Der zertrümmerte Boden war eine dünne Hülle, die Dunkelheit von Dunkelheit trennte.
Gavin wandte sich vom Becken ab und schlurfte über die Lavakiesel auf sie zu. »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Kai löste ihn am Ufer ab, beugte sich über den Rand des Nicht-Wassers und sah zu, wie das Idol ertrank.
Sie war eine drahtförmige Lichtskulptur, die in der Tiefe zappelte wie ein Fisch an der Angel: weiblich, beinahe menschlich. Die Flügel flatterten. Ziegenbeine krümmten sich gegeneinander. Die Andeutung eines Mundes klaffte in etwas, das beinahe ein Gesicht war. Ihr Herz war verblasst und die Blässe breitete sich aus.
Andere Idole schwammen und bewegten sich um sie herum in dem Becken. Helle Umrisse von Männern, Frauen, Tieren und Engeln tanzten durch unsichtbare Ströme, die durch Silberfäden miteinander verbunden waren. Das sterbende Idol war durch keinerlei Fäden verbunden. Mara hatte ihre Verbindungen zu den anderen bereits gekappt, damit sie sie nicht mit in den Abgrund ziehen würde, wenn sie starb.
»Es ist wunderschön«, sagte Gavin. Er bewegte sich von einer Seite zur anderen, und sein Schatten schwankte, lang und breit, gebrochen durch den Boden. »Und traurig. Es sieht schön und traurig aus.«
Das Idol starrte zu Kai hinauf und durch sie hindurch, verzweifelt, ertrinkend und verängstigt.
Idole fühlen nicht wie wir.
Kai wandte sich vom Becken ab.
Menschliche Silhouetten sahen aus den Bürofenstern herüber. Neugierig genug, um zu beobachten, gefühllos genug, um Abstand zu halten. Kai war ungerecht. Nein. Sie war müde. Die Situation, die war ungerecht. Das Idol war dabei zu sterben und Maras Karriere mit sich zu reißen.
»Wie ist ihr Name?«, fragte Kai.
»Der Dateicode ist vierzig Ziffern lang. Ich habe sie Sieben Alpha genannt.« Mara setzte sich auf einen Stein und starrte in ihren Kaffee. »Jaces Sekretärin hat mir bereits den Papierkram geschickt. Papierkram, kannst du das glauben? Hätte ich mir denken können, aber trotzdem. Sie sterben und wir füllen Formulare aus.«
Kai hätte nicht kommen sollen. Sie hätte früher gehen oder bei ihren Altären und Gebeten verweilen sollen, bis das Schlimmste vorbei war. Eine weitere Silhouette, die Mara beobachtete und die Distanz nutzte, um sich vor dem Schmerz zu schützen.
Maras Verzweiflung tat weh, ebenso wie die Angst in den Augen des Idols. In den Augen von Sieben Alpha. Kai sollte zu Hause sein, eingewickelt in Laken. Aber eingewickelt fühlte sie sich hier. Die Arme an ihren Seiten festgebunden. Hilflos. Ihre eigenen Worte verhöhnten sie: Es muss doch etwas geben, was du tun kannst.
Es gab etwas.
»Glaubst du, sie feuern mich morgen«, fragte Mara, »oder lassen mich lange genug bleiben, um meine Sachen zu packen?«
Kai zog ihre Schuhe aus. Scharfe Steine kratzten an ihren Sohlen. Sie knöpfte ihre Bluse auf. Gavin und Mara würden sie aufhalten, wenn sie sie sahen. Besonders Gavin.
Aber Gavin sah nicht hin. Vielleicht sahen es die Silhouetten oben. Vielleicht rannte jetzt gerade jemand die Wendeltreppe herunter, um sie zu erwischen. Sie knöpfte schneller. »Dir wird nichts geschehen«, sagte Gavin hinter ihr zu Mara. »Das hätte jedem passieren können. Die Schulden des Strahlenden Königreichs steigen immer im Preis. Das weiß jeder. Ich habe es gewusst.«
»Du bist nicht hilfreich, Gavin.«
»Eines von Magnus’ Idolen ist vor sechs Monaten gescheitert und er wurde befördert. Das ist eine gute Erfahrung. Das hat Jace auch gesagt. Ein Anführer muss wissen, wie es sich anfühlt zu verlieren.«
Kai hörte das Rascheln von steifer Baumwolle, als Gavin nach Maras Schulter griff, und einen antwortenden Hauch, als Mara seine Hand abschüttelte. Der letzte Knopf war offen. Der Haken an ihrem Rock folgte, genauso wie der Reißverschluss.
Das Idol im Wasser schrie.
Alles gleichzeitig, dachte Kai. Warte nicht und stell keine Fragen. Wenn sie dich sehen, werden sie versuchen, dich aufzuhalten.
Tu es oder lass es.
Sie schüttelte Hemd und Rock ab, trat aus dem schützenden Kreis des Stoffs, riss die Hände über den Kopf, lief drei Schritte zum Rand der Welt und tauchte ein.
Mara musste es in letzter Sekunde bemerkt haben, zu spät, um etwas anderes zu tun als zu schreien: »Kai, was zum Teufel machst du …«
Schwarzes Wasser öffnete sich vor ihr und schloss sich hinter ihr.
Es gibt viele Welten und eine. Ein geworfener Schatten ist real, ebenso wie der Werfer, auch wenn jeder von ihnen einer anderen Ordnung angehört. Wirf einen Schatten, der komplex genug ist, und eines Tages wird er hochsehen. Eines Tages wird er sich von der Wand losreißen, um den zu suchen, der ihm seine Form gegeben hat.
Wie mag sich so ein befreiter Schatten fühlen, der durch Räume von größerer Dimension als seine eigene taumelt?
Kai fiel durch das Reich der Götter und Idole, in dem Felsen und Licht und lebendiges Fleisch wie ein Floß auf einem Höhlensee trieben. Sie tauchte ein und trat fest aus. Blasen der Wirklichkeit quollen an die ferne Oberfläche. Sie schwamm tiefer hinunter.
Um sie herum schwebten riesige Götzenbilder, Sphingen und Chimären, Tiere und Männer und Frauen von Blitzen umrissen, planetengroß, obwohl sie vom Ufer aus klein erschienen. Jedes Einzelne war wunderschön und furchterregend zugleich. In ihrer Mitte fuchtelte Sieben Alpha mit Gliedmaßen aus Silber und Samit. Scharfe Zähne schimmerten in ihrem offenen Mund.
Kai schwamm immer tiefer hinunter, kam dem ertrinkenden Idol immer näher, dessen Körper so groß wie eine Kathedrale auf dem Festland war. Eine Handbewegung zerteilte Kai beinahe in zwei Hälften; Sieben Alpha war verzweifelt und so gut wie tot, verängstigt wie ein Lamm auf dem Schlachthof, aber immer noch hier, stark wie ein Gott.
Als das Idol das nächste Mal nach ihr griff, erwischte Kai einen der Blitzdrähte, aus denen ihr Handgelenk bestand.
Ihre Schultern wurden beinahe aus den Gelenken gerissen, als der Arm des Idols sie mit sich riss. Sie raste durch leeren Raum und seine verborgenen Kanten zerrissen ihr Fleisch und ihren Geist. In der Schwärze um sie herum zogen papierdünne Münder ihre Lippen zurück und entblößten weiße Reißzähne. Hungrige Geister, bereit, sich auf sie zu stürzen. Der Tod des Idols rief Aasfresser auf den Plan, für die eine in Fleisch gehüllte Seele wie eine in Folie eingewickelte Schokolade war.
Auf diese Weise konnte Kai die Aufmerksamkeit von Sieben Alpha nicht erlangen. Sie war eine Mücke, nur ein flüchtiges Ärgernis. Sie brauchte eine Perspektive.
Sie hielt ein Stück des Handgelenks des Idols, aber dieses Stück bewegte sich mit dem Rest des Handgelenks. Indem sie es hielt, hielt sie also das Handgelenk selbst, und wenn sie das Handgelenk hielt, musste ihre Hand groß genug dafür sein. Und wenn ihre Hand groß war, dann war auch der Rest von ihr groß, da sich der Rest von ihr proportional zu ihrer Hand anfühlte. Tatsächlich war sie groß wie ein Berg und stark, kämpfte aber immer noch gegen den Wirbelwind von Sieben Alphas Tod.
Niemals (das hatte Kais Mutter ihr gesagt, als sie vier Jahre alt war und mit einem halb ertrunkenen Jungen im Schlepptau tropfend aus dem Wasser auftauchte) einen Ertrinkenden anfassen. Wenn sich der Tod nähert, werden selbst die Schwachen kräftig. Ein Ertrinkender, der verrückt geworden ist, wird dich mit sich reißen. Halte dich zurück, such ein Seil oder eine Planke oder eine Rettungsweste, und lass den armen Kerl sich selbst retten. Sich selbst. Sich selbst.
Sieben Alpha trat Kai in die Seite, und sie spürte, wie ihre Rippe brach. Das Idol schnitt und verbrannte sie, als es sie in eine Umarmung zog. Aus dieser Nähe war das Gesicht des Idols eine einzige Geometrie, perfekte Flächen und Kurven. Sie verkrampfte sich in Kais Griff, verwandelte sich in Feuer, in einen Dorn, in eine stechende Qualle, in ein milliardenarmiges Insekt und wieder in eine Frau, wobei die letzte Form nicht weniger schmerzhaft war als die anderen. Die Ziegenbeine schlitzten Kai die Waden und Oberschenkel bis auf die Knochen auf. Blut sickerte ins Wasser.
Das Idol vergrub seine Zähne in Kais linker Schulter. Ein Schrei sprudelte aus Kais Mund, blühte auf und stieg in die Höhe. Die Dunkelheit des Götterreichs strömte in ihre Lungen. Sie würgte und spürte, wie ihr Körper zu sterben begann.
Das Idol zog ihre Zähne zurück und drückte Kai in einer häutenden Umarmung an sich, als sie hinuntersanken. Das Gewicht der Welten drückte sie zusammen.
Keine Zeit zu verlieren. Kai küsste Sieben Alpha auf den Mund.
Kälte verhedderte ihre Zunge. Hunger packte sie. Verzweiflung zerrte an ihrer Seele. Sie ließ es zu. Sie gab nach und gab nach und sank. Ihre Seele strömte in den Mund des Idols, wurde von der Not aus ihr herausgerissen, ein unbedeutendes Stückchen gegen den gewaltigen Hunger von Sieben Alpha.
Das Idol nahm Kais Seele und verlangte nach mehr, aber da war nicht mehr zu geben. Sie fielen, sterbend, gebunden durch Fleisch und Geist. Das Idol erschlaffte. Die Wut wich Verlust.
Perfekt.
Kai entwarf in ihrem Kopf einen Vertrag und bot ihn dem Idol an. Ein einfacher Handel: ein Kredit in Höhe von sieben Millionen Thauma, genug, um sie beide für eine Weile zu retten, wenn Alpha ihr einziges Gut, Kais gestohlene Seele, als Sicherheit zurückgab. Jace hatte Mara vielleicht verboten, die Mittel des Ordens zu verwenden, um das Idol zu retten, aber zu Kai hatte er nichts dergleichen gesagt.
Sieben Alpha war im Begriff zu sterben. Sie hatte keine andere Wahl, als einzuwilligen und sie beide zu retten. Einfacher Selbsterhaltungstrieb.
Jeden Moment.
Die Gedanken bildeten sich bei Kai in dieser Tiefe nur langsam, beschwert von Träumen und der Tiefenzeit. Sie waren so tief gefallen, dass selbst die Einwilligung sie womöglich nicht mehr retten konnte. Zu spät, zu tief. Dumm. Ihr kreisender Verstand ruckelte, verlangsamte sich und würde bald stehen bleiben.
Ihr kreisender Verstand ruckelte, verlangsamte sich und würde bald
Ihr kreisender Verstand ruckelte,
Ihr kreisender Verstand
Ihr
Ja.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Welt herum.
Kai riss die Augen auf. Kraft strömte aus ihr heraus, und ihre Seele floss zurück in den Vertrag, der sie nun mit dem Idol verband. Licht durchbrach ihre Haut. Sieben Alpha breitete ihre Flügel aus, löste sich von ihrem Kuss und lächelte einen Frühlingsmorgen. Das angeschlagene Herz des Idols begann zu heilen, zu leuchten.
Kai bebte vor Freude.
Dann ging alles schief.
Arme packten Kai von hinten: menschliche Arme, fleischig, stark. Sie entrissen sie dem Idol, zogen sie zurück und hoch. Sieben Alpha versuchte zu folgen, aber langsam, zu schwach, um dem Gewicht des Nicht-Wassers etwas entgegenzusetzen. Kai kämpfte, aber die Arme gaben nicht nach. Sie erkannte ihre Verräter an ihrem Griff. Mara, schlank und muskelbepackt, grub ihre Fingernägel in Kais Handgelenke. Gavin, ein immenses Gewicht aus Haut und Fleisch. Auch Jace, ihr Meister. Er war derjenige, der ihren Hals festhielt.
»Lasst mich los!« Sie zerrte an ihren Fingern. »Lasst mich los!« Sie taten es nicht.
Sieben Alpha sank, während Kai aufstieg. Der Vertrag, der sie verband, dehnte sich, franste aus. Sternenaugen unter krausen Hörnern starrten in stummer Hoffnung zu Kai hinauf. Das Idol begann erst zu schreien, als das Band riss und das Wasser sie zerdrückte.
Kämpfend, kratzend, beißend und blutend hörte Kai einen Sinn in diesem Schrei. Inmitten der Wut und der Angst gab es Worte, sinnlose und verrückte, unmögliche Worte, aber dennoch Worte.
Heule, gebundene Welt, hörte Kai, als das Idol fiel, als es starb.
Kai schrie als Antwort vor Frustration und Wut auf. Dennoch zogen sie sie hoch, während Sieben Alpha zu einem fernen, brennenden Schiff, einer Schlacke, einem Funken, einem Stern zusammenschrumpfte und dann verschwand.
Kais Freunde schleppten sie ans Ufer. Sie schrie sie an, bis sie zurückwichen, und lag zusammengerollt auf scharfem Stein, blutend, hustend, Träume erbrechend. Die Wärme kehrte zurück, der Schatten war wieder an die Wand gebunden. Die Hände der Verräter wickelten sie in ein Laken und hoben sie hoch. Jace hielt sie fest. Seine Brust drückte durch das Laken gegen die Wunde, die die Zähne des Idols in ihrer Schulter hinterlassen hatten. Blutiger Stoff schabte über ihre zerstörte Haut.
Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihr fehlte die Kraft. Sie trugen sie aus dem Becken: flach wie Glas, unbeeindruckt vom Tod des Idols.
»Schon gut.« Jaces Stimme war stark, ruhig, traurig, so anders als die ihres Vaters. »Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.«
»Nein«, war alles, was sie sagte.
2
Izza ging zum Götterdistrikt, um Weihrauch für die Beerdigung zu kaufen. Sie fand den Ladenbesitzer schnarchend vor.
Der alte Mann schlief und hatte seine nackten, warzigen Füße auf die Glastheke seines sarggroßen Ladens gelegt. Sein Kopf hing nach hinten über seine Stuhllehne. Ein langer, drahtiger Arm baumelte hin und her, und bei jedem Schwung streifte die Spitze seines Mittelfingers den Boden.
Das kostete ihn keine Kunden. Der Distrikt um ihn herum verträumte den ganzen Tag. Ausländische Seeleute und Hafenarbeiter kamen erst bei Sonnenuntergang, und Einheimische aus Kavekana würden es niemals riskieren, am helllichten Tag mit den Göttern zu verhandeln. Trotzdem war es nicht klug, ein Nickerchen zu machen.
Izza schlüpfte durch die Eingangstür des Ladens, ohne zu klingeln. Der Mund des Mannes klappte auf, als die Tür sich schloss. Sein Schnauben überdeckte das Knarren der Türangel. Izza wartete, eingehüllt in Rauch und Geruch. Es juckte ihr in den Fingern. Sie könnte die Hälfte seiner Vorräte stehlen und verschwinden, bevor er es bemerkte. Sie könnte ihm die Träume aus dem Kopf fegen.
Sie könnte. Sie tat es nicht.
Das war der Punkt.
Sie ging zum Tresen und läutete die Glocke. Der alte Mann erwachte knurrend und kam taumelnd auf die Beine. Plötzlich hielt er eine Machete in der Hand. Izza unterdrückte ihren Fluchtinstinkt. Ihr Spiegelbild starrte von der Machetenklinge und von den gläsernen Räucherkästen zurück. Zerrissene und schmutzige Kleidung, ein hageres und hungriges Gesicht.
Keiner von ihnen sprach. Die Brust des alten Mannes hob und senkte sich. Schwere graue Brauen warfen Schatten auf seine blutunterlaufenen Augen. Weihrauchqualm lag in der schwülen Luft dieses Kavekana-Nachmittags.
»Ich bin hier, um zu kaufen«, sagte sie.
»Raus mit dir, Göre. Deinesgleichen kauft nicht.«
Sie fragte sich, ob er wohl Straßenkinder, Glebländer, Flüchtlinge oder arme Menschen im Allgemeinen meinte. Wahrscheinlich alle.
Sie steckte ihre Hand in ihre Tasche.
»Ich schneide dir die Hand ab und rufe die Wache.« Die Machete zitterte. »Willst du mich herausfordern?«
»Ich bin hier, um Weihrauch zu kaufen.« Sie sprach die Worte sorgfältig aus und unterdrückte ihren Akzent, so gut es ging. »Ich möchte dir meine Münzen zeigen.«
Weder bewegte er sich noch sagte er etwas.
Sie zog eine dünn geklopfte Silberscheibe aus ihrer Tasche, auf deren einer Seite ein Iskari-Tintenfischgott und auf der anderen ein Turm mit zwei Spitzen eingeprägt waren. Sie versenkte ein Stück ihrer Seele in die Münze, zwanzig Thauma und etwas Kleingeld, und versuchte, nicht zu schwanken, als der Laden grau wurde. Es wurde knapp. Gefährlich.
Die Augen des alten Mannes glitzerten. Er setzte die Machete ab. »Was willst du?«
»Etwas Schönes«, sagte sie. Es kostete sie Mühe, Worte zu bilden. Sie gab nicht gern ihre Seele aus, nicht so direkt wie hier. Sie hatte nicht viel, was sie ausgeben konnte.
»Für zwanzig Thauma bekommst du etwas Schönes.« Sein Kopf wippte auf und ab. Sein Hals war irrsinnig lang und gefleckt wie der einer Giraffe. »Was für eine Art von schön? Wir haben hier Dhisthran-Sandelholz, das von der anderen Seite der Tafellande kommt und Männer brünstig wie Elefanten macht.« Sie musste das Gesicht verzogen haben, denn er lachte, was wie das Knarren einer rostigen Dockkette klang. »Düfte für alle Gelegenheiten. Mord, Aufopferung, Leidenschaft, Verrat.«
»Ich brauche Weihrauch«, sagte sie, »um einen Gott zu betrauern.«
Er senkte sein Kinn und musterte sie durch seine buschigen Augenbrauen. Das war der Grund, warum Izza selbst gekommen war und nicht eins der anderen Kinder geschickt hatte: Es waren schon genug Flüchtlinge aus dem Gleb gekommen, sodass die Bitte nicht ungewöhnlich erschien.
»Steht ein altes Fest bevor?«, fragte er. »Ist ein Gott in euren Kriegen gestorben?«
»Gib mir das Zeug.« Sie wollte nicht, dass ihre Stimme zitterte. Aber sie zitterte trotzdem.
»Um welchen trauerst du? Oder sollte ich seinen Namen kennen?«
»Ein Gott, der nicht viel redet.«
Er zuckte mit den Schultern und ging ins Hinterzimmer, wobei er die Machete mitnahm. Dünne Rauchschwaden stiegen von schwelenden Räucherstäbchen auf, drehten sich im Licht und verschwanden wieder. Izzas Kopf schmerzte von dem Seelenverlust. Sie hoffte, dass das der Grund war. Vielleicht hatte der alte Mann sie mit Rauch betäubt. Vielleicht war er jetzt zur Hintertür hinaus, um nach der Wache zu rufen, nach den Büßenden. Sie hatte nichts Falsches getan, aber das war nicht so wichtig.
Sie blieb. Sie brauchte es.
Der Mann kehrte zurück, in der einen Hand seine Machete, in der anderen ein schmales schwarzes Holzkästchen. Er stellte das Kästchen auf den Tresen und schob es zu ihr hinüber.
Sie griff nach dem Kästchen, aber er legte die Schneide der Machete an den Deckel. Das Braun seiner Augen war heller als das von Izzas.
Sie legte ihre Münze auf das Glas. Er schnappte sie sich, strich mit spitzen Fingern darüber, küsste den ausgefrästen Rand und ließ sie dann in eine seiner vier Hemdtaschen fallen.
Sie griff nach dem Kästchen, aber er drückte mit der Machete zu, und die Klinge schnitt in den Holzdeckel.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Fünfzehn.«
»Alt für ein Straßenkind.«
»Alt genug, um das zu nehmen, wofür ich bezahle.«
»Du solltest vorsichtig sein«, sagte er. »Die Büßenden fangen an, sich Kinder in deinem Alter zu schnappen.«
»Ich weiß.« Wenn sie ihn mit ihrem Blick hätte verbrennen können, wäre er bereits Asche gewesen.
Er hob die Machete. Sie verstaute das Kästchen in ihrem Gürtel und rannte auf die Straße. Das Geräusch der Türklingel, der Weihrauchgeruch und das Gelächter des alten Mannes folgten ihr.
Visionen vom Seelenverlust verfolgten sie den ganzen Block hinunter. Zurückgesetzte Fenster starrten aus verputzten Wänden, die Augenhöhlen sonnengebleichter Schädel. Die helle Sonne glitzerte auf zerbrochenem Glas in den Gossen. Die Gasse stank nach verfaulten Mangos, abgestandenem Wasser und saurem Wein. Ihre Kopfschmerzen wollten nicht verschwinden. Sie war schon einmal fast verdurstet, in der Wüste, nachdem ihr Haus abgebrannt war, bevor sie auf das Schiff in Richtung Archipel gesprungen war. Der Verlust der Seele fühlte sich genauso an, nur konnte man ihn nicht durch Trinken heilen.
Sie war so erschöpft, dass ihre zitternden Hände den Mann weckten, dessen Geldbeutel sie Minuten später aufschlitzte; ein Matrose aus Alt Coulumb, der auf einer Couch vor einer Spielhölle im Götterdistrikt schlief, die lange Pfeife auf den Bauch gestützt. Er griff nach ihrem Handgelenk, aber sie duckte sich, flinker als die meisten Nüchternen, schnappte sich eine Handvoll Münzen und rannte die Gasse hinunter. Er rappelte sich auf und rief nach den Wachen, nach den Büßenden, nach seinem Gott, der sie verfluchen sollte. Zum Glück waren weder Wache noch Büßende in der Nähe und fremde Götter waren auf der Insel Kavekana nicht erlaubt.
Sie rannte, bis sie neben einem Brunnen in einem palmenbeschatteten Hof zusammenbrach und die Seelenreste aus den Münzen des Seemanns trank. Das Weiß kehrte zu den Wänden der umliegenden Gebäude zurück, das Rot zu ihren Ziegeldächern, die Freude zum Plätschern des Brunnens, die Wärme in die Luft und das Leben in ihren Körper.
Eine einzelne mattgraue Perle hing an einer abgenutzten Lederschnur um ihren Hals. Sie umklammerte sie fest und wartete darauf, dass der Schmerz verging.
Sie war nicht mehr ganz. Sie wusste nicht mehr, wie sich Ganzheit anfühlte. Aber sie fühlte sich zumindest besser.
* * *
Izza traf Nick eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang an der Ecke Epiphyte/Südweg. Er hockte an einem Laternenpfahl, dünn, vornübergebeugt, die Augen niedergeschlagen, im Staub kritzelnd. Er sah auf, als er sie kommen hörte, winkte aber nicht, lächelte nicht und sprach auch nicht. Sie vergaß oft, dass er jünger war als sie. Sein Schweigen ließ ihn klug erscheinen.
Gemeinsam wandten sie sich nach Norden und liefen den Südweg entlang auf den Berg zu.
Bald verließen sie die Stadt. Hinter ihnen tauchte die Bucht auf und lugte über die roten Dächer, und kurz darauf konnten sie die beiden Klauen, Ost und West, sehen; gekrümmte Halbinseln, die sich nach Süden erstreckten und den Hafen schützten. Im Schatten der überhängenden Palmen gingen sie schnell an großen grünen Rasenflächen und lang gestreckten Häusern vorbei. Die Berghänge waren zwar nicht mehr alleiniges Eigentum der Priester, aber Immobilien waren hier teuer, und die Wachen waren schnell zur Stelle, um Herumtreiber aus dem Weg zu räumen.
Als die Häuser dem Dschungel wichen, verließen Izza und Nick die Straße. Izza schritt leichtfüßig durch das Unterholz, aber nur dort, wo sie Boden sehen konnte. In diesen Wäldern lebten Fallenranken und Giftfarne, Geister und Totenkopf-Tausendfüßler. Nick bewegte sich langsam durch das Laub und machte mehr Geräusche, als Izza lieb war. Jedes Geräusch war lauter, als es Izza lieb war. Sie ging leise, bis die Bäume dem festen Felsen wichen und die Ausläufer des Berges sich aus der Erde erhoben. Sie huschte den Felsen hinauf und reichte Nick eine helfende Hand.
»Ich wünschte«, sagte er schwer atmend während des Aufstiegs, »wir könnten es bei den Docks machen.«
»Der Berg ist heilig«, sagte sie. »Hier gab es einst Götter, auch wenn die Priester jetzt Idole bauen. Wo sonst sollten wir das Begräbnis der Lady abhalten?«
Er antwortete nicht. Er hatte keine Ahnung von dem, was sie taten. Und sie ebenfalls nicht. Niemand hatte ihnen je beigebracht, wie man betet: Sie hatten sich das meiste selbst ausgedacht.
Sie ließen die Bäume hinter sich und kletterten unter freiem Himmel und der Sonne ausgesetzt das Geröllfeld hinauf. Izza rang mit ihrem Bedürfnis, sich zu verstecken. Der Berg Kavekana’ai war ein heiliger Ort, aber nicht ihr heiliger Ort. Es war gut möglich, dass die Priester des Ordens spürten, dass sie wie die Flöhe an der Felswand entlangkrabbelten. Oder dass ein Büßender sehen konnte, wie sie sich vom Stein abhoben: Ihre juwelenbesetzten Augen waren scharf wie die eines Adlers und noch hungriger.
Sie kletterten weiter. Izza half Nick und er half ihr. Eine Libelle beobachtete die beiden von ihrem steinernen Sitzplatz aus und schwirrte dann davon. Ihre Flügel brachen das Licht zu Regenbogen.
Als sie den Grabsims erreichten, berührte die Sonne gerade den westlichen Horizont, und der Schatten des Berges fiel lang auf das Meer im Osten. Die anderen Kinder waren schon da, zehn an der Zahl, stellvertretend für alle weiteren. Sie hatten den Scheiterhaufen errichtet und hockten mit dem Rücken an den Felsen. Izza spürte ihre Blicke. Augen in allen Schattierungen in Gesichtern jeder Hautfarbe, alle hungrig, alle beobachteten sie. Sie hatte sie flüstern hören, bevor sie den Felsvorsprung erreichten. Jetzt waren sie verstummt.
Eine Reihe aus Ascheresten säumte die Klippe – eine für jedes vergangene Begräbnis –, und in ihrer Mitte stand der Scheiterhaufen, ein kleiner Haufen aus Zweigen und Palmstroh. Darauf lag ein Vogel mit jadefarbener Brust und gefalteten blauen Flügeln.
Ivy hatte den Vogel mit gebrochenem Genick vor einem Hotel gefunden. Zumindest behauptete sie, sie hätte ihn tot gefunden. Das Mädchen hatte einen schrägen Sinn für Humor und einen noch seltsameren Sinn für Anbetung. Sie schlang die Arme um sich und lächelte Izza grimmig an. Der Atem pfiff durch die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen.
Izza hockte sich neben den toten Vogel. Nick nahm seinen Platz bei den anderen ein und wartete mit ihnen.
Izza spürte ihr Alter. Mit fünfzehn war sie die Älteste, seit Sophie nach dem Tod des Grünen Mannes zur Büßenden geworden war. Also war es an ihr, die Geschichte zu erzählen.
Die anderen warteten. Die kleine Ellen zog ihre Beine bis unters Kinn. Jet knirschte mit den Zähnen und zupfte an der Seite seiner Sandale, wo sich ein Gummistreifen gelöst hatte.
Izza leckte sich über die Lippen. Sie hatte früher gesehen, wie Sophie das für andere Götter getan hatte. Jetzt war sie dran. Das war alles.
»Die Blaue Lady«, sagte sie, »ist tot.«
Die anderen nickten. »Ja«, flüsterten ein paar. Es gab kein Ritual außer dem, was sich richtig anfühlte. Aber nichts fühlte sich richtig an.
Sie erzählte die Geschichte, die sie sich überlegt hatte. »Sie starb, um uns zu helfen. So wie sie gelebt hat. Da Grinsehans nicht länger darauf warten wollte, dass seine toten Jungs seine Arbeit für ihn erledigten, kam er selbst den Berg herunter und jagte ihre Kinder durch die Straßen. Wenn er sie erwischte, warf er sie in seinen Sack und band ihn zu. Doch als er ihn wieder öffnete, war nichts mehr drin.« Das war nie passiert. Sie hatte sich die Geschichte Tage zuvor ausgedacht, ein Flickwerk aus Erfindung, Diebstahl und halb erinnerten Träumen. Keins dieser Kinder war erwischt worden und keins hatte Grinsehans je gesehen. Dennoch hörten sie zu. »Er erwischte mich in einer Sackgasse, mit gestohlenem Gold in der Tasche. Ich bot es ihm an, aber er sagte, er wolle kein Gold. Ich bot ihm meine Einnahmen für die nächste Nacht an, und er sagte, er wolle auch das nicht. Ich bat ihn, mich zu verschonen, aber er lehnte ab. Er kam mit einem offenen Sack auf mich zu – von außen sieht er aus wie Sackleinen, aber innen ist er voller Nadeln.« Die Köpfe hüpften auf und ab. Sie wussten es, obwohl sie es nie gesehen hatten. Der Sack, die Nadeln, beides fühlte sich echt an. »Die Lady stürzte sich von oben auf ihn, zerrte an ihm und hackte nach seinen Augen. Ich rannte, aber als ich das tat, spürte ich, wie sie starb.«
Mehr Nicken, nachdrücklich. Sie alle hatten den Tod gespürt und ihren Schrei gehört.
»Sie hat mich gerettet. Das habe ich nicht verdient. Ich habe sie nicht verdient.« Izzas Augen brannten. Sie versuchte zu atmen und merkte, dass sie nach Luft rang. Ihr Blick fiel auf den Vogel, und sie sah alles, was er nicht war und was er hätte sein sollen. Dieser kleine gefiederte Ersatz hatte ihr während einer Krankheit nie Schutz geboten; ihr beim Sonnenuntergang niemals Versprechen ins Ohr geflüstert; sie nie aufgefangen, wenn sie fiel. Ihr Herzschlag erklang doppelt in ihren Ohren – laut und weit entfernt zugleich. Das Pfeifen des Atems durch Ivys Zähne klang wie ein Schrei.
»Haben wir nicht.« Nick, schon wieder. Sie hasste das Selbstbewusstsein in seiner Stimme. Als ob er glaubte, diese erfundene Zeremonie würde helfen. »Keiner von uns.« Izzas Herz setzte seinen seltsamen Doppelschlag fort – körperlich, ein Echo, als stünde sie zu nahe an einer lauten Trommel. Ein vertrautes Gefühl. Ihr gefror das Blut in den Adern. »Als ich die Blaue Lady zum ersten Mal traf, habe ich …«
Izza stürzte sich auf Nick. Er schlug hart gegen die Felswand und fluchte, aber sie legte ihm eine Hand über den Mund und zeigte mit einem Finger auf ihren. Da verstand er und erstarrte.
Die anderen verstanden es auch. Jet hörte auf, an seiner Sandale zu zupfen.
Izzas Herz schlug in ihrer Brust, aber das Echo, das sie spürte, war kein Herzschlag. Und das hohe Keuchen war nicht das Pfeifen des Atems durch Ivys Zähne.
Sie ließ Nick los und streckte sich auf dem Sims aus. Sie legte sich flach hin und reckte langsam den Hals, damit sie etwas sehen konnte.
Hundert Meter links von ihnen kletterte ein Büßender den Hang hinauf.
Der Büßende war nach dem Vorbild der Menschen gebaut, aber größer: eine drei Meter hohe und fast ebenso breite Statue, aus Flächen und Winkeln geschnitzte Gesichtszüge, zwei massive Hände mit drei Fingern, zwei Füße wie Felsplatten. Er kletterte nicht so, wie Izza und Nick klettern würden – nach Halt tastend, prüfend und Vertrauen fassend. Er marschierte den Berg hinauf, als wäre eine Treppe in den achtzig Grad steilen Hang gehauen worden. Die Gelenke schleiften Stein auf Stein. Staub wehte hinter ihm her. Juwelenaugen in seinem strengen Steingesicht suchten den Berghang ab.
Bei jedem Schritt schrie der Büßende auf.
Izza fragte sich, wer darin gefangen war. Irgendein harter Kerl vom Hafen, der schlauer oder betrunkener oder wütender gewesen war, als gut für ihn war. Ein Drogenhändler, ein Mörder oder ein Kind, das alt genug war, um wie ein Erwachsener verurteilt zu werden. Vielleicht war es Sophie. Man konnte nicht erkennen, in welchen Büßenden Männer und in welchen Frauen steckten. Man konnte es nur am Klang ihrer Schreie erahnen.
Büßende machen dich zu etwas Besserem. So hieß es. Du bist gebrochen hineingegangen, und ganz wieder herausgekommen.
Sie mussten dich nur erst noch mehr brechen.
Izza zitterte nicht. Sie hatte nicht mehr gezittert, seit ihre Mutter gestorben und ihr Dorf abgebrannt war. Sie machte kein Zeichen, um Unglück oder böse Geister abzuwehren. Sie hatte all diese Zeichen ausprobiert, eins nach dem anderen, aber keins hatte ihr bisher geholfen. Stillhalten hingegen schon.
Also blieb sie still liegen und beobachtete den Büßenden beim Aufstieg.
Er erreichte die gleiche Höhe wie ihr Sims.
Sie hielt den Atem an. Seine Schritte verlangsamten sich – oder aber ihr Entsetzen verlangsamte die Zeit.
Der Büßende kletterte weiter.
Ivy bewegte sich und verschob Kies. Ein winziges Geräusch, aber Izza starrte sie trotzdem an, und die blasse Haut des Mädchens wurde noch blasser.
Die Schritte entfernten sich. Verklangen. Sie verschwanden den Berg hinauf.
Der Wind wehte sanft und kühl über die schattigen Hänge. Die Sonne ging unter und die ersten Sterne durchbohrten den Himmel.
Der tote Vogel lag auf dem Scheiterhaufen. Die Kinder beobachteten sie. Sie hatten Angst und warteten auf Anweisungen. Darauf, dass ihre Anführerin ihnen sagte, was als Nächstes geschah.
»Ich kann das nicht mehr«, sagte sie.
Niemand sagte etwas.
»Gehen wir«, sagte sie. »Wir brauchen keine Götter, die sterben und uns in Angst zurücklassen. Wir müssen nicht diejenigen sein, die überleben.«
Ihre Augen glitzerten im Licht der neu aufgegangenen Sterne.
»Okay«, sagte sie. »Gut. Aber das ist das letzte Mal. Kümmert euch von nun an selbst um die Götter. Ich bin fertig.«
Sie fischte eine Münze aus ihrer Tasche und reichte sie herum. Jeder von ihnen ließ ein Stück seiner Seele in das Metall sickern, und als Nick die Münze an Izza zurückgab, pulsierte sie vor Hitze und Leben.
Sie nahm alle ihre Seelenfetzen, hielt sie fest und berührte damit das Stroh. Das trockene Gras fing sofort Feuer und verbrannte, und der Vogel verbrannte auch. Ein Faden widerlichen Rauchs stieg in den Himmel. Izza nahm zwei Räucherstäbchen aus dem schwarzen Kästchen und zündete sie auf dem Scheiterhaufen an. Sie rochen wie die Wüste nach dem Regen; wie Blut, das auf kaltem Stein vergossen wurde; wie leere Tempel, in die Lichtstrahlen durch die verfallenen Dächer drangen. Unter all dem roch sie brennende Federn.
Schön, hatte der alte Mann gesagt. Sie war sich nicht sicher.
Einer nach dem anderen verließ die Gruppe. Ivy blieb länger als die anderen, zusammengerollt auf dem Sims, das Kinn auf die Knie gestützt, während das reflektierende Feuer und der brennende Vogel in ihren stecknadelkopfgroßen Pupillen wie Lichter der Hölle tanzten. Schließlich kletterte auch sie hinunter und nur Nick blieb zurück.
Izza konnte kaum atmen. Sie redete sich ein, der Rauch sei schuld.
Sie kletterten gemeinsam hinunter, gingen durch den Wald und schlenderten den Südweg entlang, vorbei an den Häusern reicher Leute, bis die Gipswände sich wieder dichter drängten und die Straßenlaternen die Sterne in die Flucht schlugen. Jetzt konnten sie, getarnt von Betrunkenen und wütenden Menschenmassen, unbekümmert gehen.
»Was meinst du damit«, sagte er, »dass du das nicht mehr machen kannst?«
»Was ich gesagt habe. Ich werde nicht darauf warten, in einem dieser Dinger eingesperrt zu werden, nur damit einer von euch nach mir die Rolle des Geschichtenerzählers übernimmt und seinerseits eingesperrt wird. Ich werde nicht Sophie für euch sein. Oder für sie. Ich muss gehen.«
»Das kannst du nicht.«
»Das wirst du schon sehen.«
»Sie brauchen das. Sie brauchen dich.«
»Das sollten sie nicht«, sagte sie und ging den Weg entlang in Richtung Strand. Er folgte ihr nicht. Sie redete sich ein, dass es sie nicht interessierte.
3
Kai traf die Kunstwirkerin eine Woche später in einem Albtraum aus Glas. Sie saß in einem gläsernen Stuhl vor einem Glastisch, und ihre Finger fuhren über die glatten Armlehnen, ohne eine Spur von Öl oder Schweiß zu hinterlassen. In einer Ecke stand ein Glasfarn in einem Glastopf, gläserne Wurzeln schlängelten sich durch gläserne Erde. Weitere identische Räume erstreckten sich darüber, darunter und zu allen Seiten über die transparenten Wände, Decken und Böden hinaus, und in diesen Räumen saßen identische Kais und Kunstwirkerinnen. Als Kai ihre Beine unter dem Tisch übereinanderschlug, schlugen auch ihre unendlich vielen anderen Ichs ihre Beine übereinander, und ein Rauschen von Strümpfen durchbrach die Stille des Traums.
In der fernen, wachen Welt lag sie bandagiert auf einem Bett. Hier fesselten sie keine Verletzungen, außer denen, die sie sich selbst zugefügt hatte.
Sie hatte ihre Hand auf die Tischkante gelegt, und diese hatte in das Rosa ihrer Handfläche geschnitten; eine lange, tiefe Wunde, die sofort verheilte. Das Blut auf dem Tisch blieb jedoch. Millionen von roten Schlieren umgaben sie auf Millionen von Tischen und fingen das von überall und nirgends stammende Licht des Albtraums ein.
»Bevor wir über den Tod des Idols sprechen«, sagte Miss Kevarian, »erläutern Sie bitte, welche Dienstleistungen Ihre Firma anbietet.«
»Unser Orden, meinen Sie.«
»Ja.«
Myriaden von Reflexen boten Kai verschiedene Perspektiven auf ihre Gesprächspartnerin: eine strenge Kunstwirkerin in einem grauen Nadelstreifenanzug, mit schwarzen Augen, kurzen weißen Haaren und einem schmalen breiten Mund. Miss Kevarian saß still wie eine Statue. In ihren Augen lag weder Mitleid noch Humor, nur eine Neugierde, wie Kai sie von Vögeln kannte, fremdartig, abschätzend und räuberisch.
Hinter Miss Kevarian saß ihr Mandant, ein Schatten in einem weißen Anzug, ein grauer Fleck mit einem breiten, strahlenden Grinsen. Seine Finger, die wie Rauchschwaden aussahen, schienen nie zu ruhen. Sie schnürten sich zusammen und lösten sich wieder, fuhren über sein Revers und an der Armlehne des Stuhls entlang, ohne sich um den scharfkantigen Glasrand zu scheren. Seit dem Händedruck hatte er nicht mehr gesprochen, ebenso wenig wie der Kunstwirker, den Jace in den Traum geschickt hatte, um Kai zu beschützen und zu beraten: ein Skelett mit einem runden Brustkorb, das so tief über seinen Notizblock gebeugt saß, dass Kai sich fragte, ob es vielleicht mit seinen Rippen schrieb.
»Ich dachte, Ihre Kunden hätten es Ihnen gesagt«, sagte Kai, und die Kunstwirkerin warf ihr einen scharfen Blick zu. Werd nicht frech, hatte Jace sie ermahnt. So viel dazu.
Kai wünschte sich, sie sähe auch nur annähernd so cool und gelassen aus wie Miss Kevarian. Auch auf sich selbst hatte sie verschiedene Blickwinkel, und was sie sah, gefiel ihr nicht: Der hellbraune Anzug war zerknittert, ein paar Strähnen ihres zurückgebundenen Haars waren lose, ihr rundes Gesicht war angespannt. Unter ihren Augen, in denen ein gequälter Blick stand, waren graue Ringe. Ihr Mund war trocken. Ein Glas Wasser stand vor ihr auf dem Tisch, aber sie fürchtete die scharfen Kanten und trank nicht.
»Ich frage Sie«, sagte Miss Kevarian. »Für das Protokoll.«
Sie fühlte sich klein vor dieser Frau und hasste dieses Gefühl. Sie hätte sich bei der Umgestaltung ihres Körpers größer machen sollen. »Ich habe noch nie direkt mit Ihren Kunden gearbeitet.«
»Also, ganz allgemein gesprochen. Was machen die Priester hier auf der Insel Kavekana?«
»Wir bauen und erhalten Idole – Konstrukte des Glaubens – für Anbetende.«
»Würden Sie sagen, dass Sie Götter bauen?«
»Nein«, sagte sie. »Götter sind kompliziert. Im Besitz eines Bewusstseins. Empfindungsfähig. Die besten Idole sehen aus wie Götter, aber sie sind einfacher. Als würde man einen Menschen mit einer Statue vergleichen: Die Ähnlichkeit ist da, aber die Funktion ist eine andere.«
»Und was genau ist die … Funktion Ihrer Idole?«
»Das kommt auf das Idol und den Kunden an. Manche Menschen wollen das Feuer, die Fruchtbarkeit, den Ozean oder den Mond anbeten. Das ist von Kunde zu Kunde verschieden.«
»Welchen Nutzen hätten Anbetende von so etwas?«
Selbst eine so einfache Frage könnte eine Falle sein. »Dasselbe wie von einem Gott. Ein Feuer-Götze könnte Leidenschaft verleihen. Stärke. Rendite auf Investitionen in verschiedene wärmebezogene Portfolios.«
»Warum sollte jemand mit einem Ihrer Idole zusammenarbeiten und Ihre Provision zahlen, anstatt direkt mit den Göttern zu verhandeln?«
»Jeder Pilger hat seinen eigenen Grund. Warum fragen Sie Ihre Kunden nicht nach ihren?«
»Ich frage Sie.«
»Das Festland ist ein gefährlicher Ort«, sagte sie. »Wenn man in der Alten Welt lebt und arbeitet, verlangen die Götter Opfer, um sich selbst zu versorgen. Wenn man in der Neuen Welt lebt, verlangen die Todlosen Könige und ihre Räte hohe Gebühren, um Polizei, Versorgungseinrichtungen und öffentliche Arbeiten zu finanzieren. Wenn man von Ort zu Ort reist, ist eine Horde von Göttern, Göttinnen und Kunstwirkenden hinter Teilen deiner Seele her. Man kann ihnen geben, was sie wollen – oder man kann bei uns auf Kavekana ein Idol errichten und seinen Seelenstoff hier sicher verwahren. Das Idol bleibt, verwaltet von unseren Priestern, und man empfängt die Vorteile seiner Gnade, wohin man auch geht. Außerdem ist man den Göttern oder Todlosen Königen nicht mehr als jeder andere Anbeter einer fremden Gottheit unterworfen.«
»Sie glauben also, dass die Hauptfunktion Ihrer Idole darin besteht, Opfer zu vermeiden.«
Das Wasserglas war verlockend, trotz seiner scharfen Kanten. »Das habe ich nicht gesagt. Wir bieten unseren Pilgern die Freiheit, ganz nach Belieben zu arbeiten und zu beten.«
»Und Teil dieser Freiheit ist die Gewissheit, dass Sie sich um die von Ihnen geschaffenen Idole kümmern werden. Dass Sie die Seelen schützen werden, die Ihre Kunden Ihnen anvertrauen.«
»Ja.«
»Sind Sie deshalb in das Becken gesprungen?«
»Ich dachte, ich könnte das Idol Ihrer Kunden retten«, sagte Kai. »Sie war dabei, zu ertrinken.«
»Mit ›sie‹ meinen Sie das Konstrukt mit der Bezeichnung Sieben Alpha.«
»Ja.«
»Waren Sie mit der Vorgeschichte von Sieben Alpha vertraut?«
»Ich war es nicht.«
»Würden Sie sagen, dass Ihr Hohepriester, Mr Jason Kol, den Gesundheitszustand eines Idols kompetent beurteilen kann?«
»Jace? Ja. Er hat mich ausgebildet.«
»Und Mara Ceyla?«
»Selbstverständlich.« Sie hatte zu schnell geantwortet. Das wurde ihr klar, als Miss Kevarian sich eine Notiz machte. Oder auch nicht, und Miss Kevarian machte sich wahllos Notizen, um sie zu verwirren. »Unsere Angewandten Theologen sind die Besten weit und breit.«
»Was hat Sie dazu gebracht, an Ihren Mitarbeitern zu zweifeln?«
»Habe ich nicht.« Sie ärgerte sich über den impliziten Hohn. Jace hatte sie gewarnt, und ihr Kunstwirker auch: Antworte nur knapp und innerhalb der Grenzen der Frage. Als ob sie ein Kind wäre, das man anleiten müsste. Sie schluckte ihre Wut hinunter und die schnitt ihr in den Magen. »Ich dachte, ich könnte mehr tun.«
Der Mandant der Kunstwirkerin zog einen Vollmond aus seinem Ärmel, ließ ihn an seinen Fingern entlangwandern und wieder verschwinden. Seine Finger hinterließen schwarze Spuren in der Luft. Miss Kevarian nickte. »Was konnten Sie tun, was die anderen nicht konnten?«
»Erstens war ich bereit, ein großes Risiko einzugehen, um Sieben Alpha zu retten – ich musste ihr meine Seele überlassen, damit sie eine Sicherheit für den Vertrag hätte. Das ist mehr, als Jace von Mara erwarten oder verlangen konnte. Zweitens glaubte ich, im Becken lange genug überleben zu können, um das Idol zu retten. Ich hatte keine Zeit, mich mit Ihren Mandanten in Verbindung zu setzen, aber ich glaubte, wenn ich mich kurz vor Sieben Alphas Tod direkt an sie wendete, würde sie den Handel womöglich aus reinem Selbsterhaltungstrieb akzeptieren.« Sie verstummte. Warte auf die Fragen, hatten sie gesagt, auch wenn dir das Schweigen auf die Nerven geht.
»Warum konnten Sie länger überleben als die anderen?«
»Weil ich im Becken besser bin als die meisten von ihnen.«
»Besser als Ihr Lehrer?«
Dieser kühle Zweifel war ein Köder, aber Kai schluckte ihn gerne. »Ich habe meinen Körper dort komplett erneuert – Jace nicht. Das machen heutzutage nicht mehr viele Leute. Deshalb fühle ich mich im Becken wohler als die meisten. Das steckt mir im Mark.« Der Kunstwirker neben ihr spannte sich an. Sollte er doch. »Ich dachte, ich könnte lange genug durchhalten, um sie zu retten.«
»Mit ›sie‹ meinen Sie wieder das Konstrukt. Das Idol.«
»Ja.«
»Sie implizieren, dass es ein Geschlecht und eine Persönlichkeit hat.«
»Sprache ist schon seltsam«, sagte Kai. Ein Mundwinkel von Miss Kevarian zuckte nach oben, eher anerkennend als zustimmend. »Archipelagisch hat eine Reihe geschlechtsneutraler Pronomen, aber die Festlandbewohner mögen sie aus irgendeinem Grund nicht.«
»Was ist mit der Persönlichkeit? Haben die Idole Bewusstsein oder Selbstbewusstsein?«
»Nein. Aus einem einfachen System kann kein komplexes Verhalten entstehen, genauso wenig wie Eisenklumpen sprechen können. Die Idole, die wir bauen, haben höchstens ein paar Gläubige; egal wie viel Seelenmaterial sie speichern, ihr Verhalten wird dadurch nicht komplexer. Es entspricht etwa dem Niveau einer dummen Ratte.«
Und doch und doch. Was war mit dem Schrei und den Worten darin, der verleugneten Erinnerung: Heule, sagte Sieben Alpha dort am Ende, heule, gebundene Welt. Worte, die im Todesschrei versteckt waren, Steganografie der Angst zwischen zwei Wesen, die vor Kurzem eine Seele geteilt hatten. Nein, bleib bei der Frage. Zögere nicht. Mach keine Andeutungen. Miss Kevarian fragte nicht nach den Worten, denn Kai hatte sie nicht in ihren Bericht geschrieben, und niemand sonst hatte sie vernommen. Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um das Thema anzusprechen.
Wie auch immer, Miss Kevarian war bereits zu ihrer nächsten Frage übergegangen. »Aber Sie besitzen eine Zuneigung zu diesen Konstrukten.«
Kai überging die Worte. Hauchte sie aus, zusammen mit ihren Erinnerungen an die Dunkelheit. »Wir bauen sie mit der Hand. Wir werden dafür bezahlt, sie zu verehren, sie zu lieben. Wir erzählen ihre Geschichten. Es ist leicht, sich an sie zu binden.«
Eine weitere Notiz, ein weiteres Nicken. »Sie haben gesagt, Sie wären im Becken stärker, weil Sie sich komplett neu gemacht haben. Was haben Sie damit gemeint?«
Der Ordenskunstwirker räusperte sich, ein Geräusch wie aufgewirbelter Kies. »Das ist eine persönliche Frage«, sagte er. »Ich wüsste nicht, inwiefern das relevant sein sollte.«
»Ich möchte Frau Pohalas Entscheidungsprozess verstehen.« Dem Lächeln von Miss Kevarian fehlte die Wärme, die Kai normalerweise mit diesem Gesichtsausdruck assoziierte.
Kai sah in diese schwarzen, nicht blinzelnden Augen. »Vor den Götterkriegen«, sagte sie, »begaben die Priester sich während der Initiation in das Becken – sie trafen dort Götter, lernten Geheimnisse, veränderten sich. Darin fließen Geist und Materie leichter von einer Form zur anderen. Jetzt gibt es die Götter nicht mehr, aber wir gehen immer noch hinunter. Das erste Mal, wenn Priester tauchen, verändern sie sich – wir setzen die kaputten Körper instand, die wir bewohnen. Heutzutage sind die meisten Veränderungen klein: Eine Priesterin, die ich kenne, hat ihr Augenlicht korrigiert; eine andere hat einen Portweinfleck auf ihrer Wange beseitigt. In der Vergangenheit gingen mehr Priester weiter, so wie ich. Das ist schließlich der Ursprung der Tradition. Heutzutage gibt es nicht mehr so viele Eingeweihte, aber es gibt ein paar von uns.«
»Wie haben Sie sich selbst neu erschaffen?«
»Ich wurde in einem Körper geboren, der nicht passte.«
»Inwiefern passte er nicht?«
»Es war der eines Mannes«, sagte sie. Trotzig beobachtete sie Miss Kevarians Gesicht und wartete auf eine Reaktion: eine hochgezogene Augenbraue, ein Zucken unter der Haut, eine gekräuselte Lippe. Die Kunstwirkerin schien teilnahmslos wie ein ruhender Ozean – und Kai wusste, wie viel und wie wenig man an der Oberfläche eines Ozeans erkennen konnte.
»Miss Kevarian«, sagte Kai, »ich habe versucht, das Idol Ihres Mandanten zu retten. Ich bin gescheitert. Warum sind wir hier? Warum lassen Sie es nicht gut sein?«
»Sie sind verpflichtet, meine Fragen zu beantworten«, sagte Miss Kevarian. »Ich bin nicht verpflichtet, Ihre zu beantworten. Aber ich werde es tun, in gutem Glauben. Meine Mandantschaft, die Familie Grimwald« – eine gespaltene Zunge zuckte zwischen den gezackten Zähnen des grauen Mannes hervor –, »erlitt durch den Tod ihres Idols betriebliche Unannehmlichkeiten. Wir untersuchen gerade, ob diese Unannehmlichkeiten vermeidbar waren. Ihr Handeln interessiert uns. Sie haben geglaubt, dass das Idol gerettet werden kann. Mr Kol sah das anders. Glauben Sie, dass Ihre Beurteilung falsch war oder seine?«
Kai stand so schnell auf, dass der Stuhl hinter ihr umkippte; die Kante schnitt in die Rückseite ihrer Beine und Blut sickerte in ihre Strümpfe. Sie musste keine Kunstwirkerin sein, um die Bedrohung durch diese Frage zu erkennen: Wenn Kai recht hatte, dann hatte Jace unrecht, und der Orden war für den Tod von Sieben Alpha verantwortlich. Und wenn Kai unrecht hatte, warum beschäftigte der Orden Priester, die so inkompetent waren, ihr Leben für eine aussichtslose Sache zu riskieren? »Ich habe versucht, Ihren Leuten zu helfen. Das tat Mara auch. Und das wollen Sie gegen uns verwenden.«
»Kai«, sagte der Kunstwirker neben ihr. »Setz dich.«
Kai tat das nicht. Allerdings wirkte Miss Kevarian nicht im Geringsten irritiert. »Viele haben mir an diesem Tisch gegenübergesessen oder -gestanden und behauptet, sie wollten bloß helfen. Sie geben nur selten an, ob sie meinen Klienten oder sich selbst helfen wollten.«
»Wenn Sie mich wegen irgendetwas beschuldigen wollen, sagen Sie es.«
»Ich beschuldige weder Sie noch sonst jemanden.« Die Kunstwirkerin strich mit ihrem Stift über den Rand ihrer Notizen und nickte bei jedem Punkt leicht. »Ich stelle lediglich Fragen.«
Kai griff nach dem Wasserglas. Seine Wände drückten gegen ihre Handfläche, sein scharfer Rand gegen ihre Lippe; sie trank den Schmerz, und als sie das Glas absetzte, blieb nur ein Blutstropfen an ihrem Mundwinkel zurück. Sie leckte ihn ab und schmeckte Salz und Metall.
»Es gibt keine Frage«, sagte sie. »Jace und Mara hatten recht. Ich hatte unrecht. Ich habe einen Fehler gemacht und mich selbst in Gefahr gebracht.« Seltsam, dass sie ihre Stimme bei diesen Worten ruhig halten konnte. Demütigung war wie das Abreißen eines Verbandes: leichter zu ertragen, wenn man alles auf einmal nahm.
»Und doch haben Sie keinen formellen Verweis erhalten. Sie haben immer noch Ihr Amt in der Priesterschaft von Kavekana inne.«
»Das ist keine Frage.«
»Glauben Sie, dass Sie aufgrund Ihrer Handlungen eine Disziplinarmaßnahme verdienen?«
»Ich bin noch im Krankenhaus«, sagte sie. »Es ist sehr früh. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Es gibt immer noch mehr Fragen, Frau Pohala.«
»Dann fangen Sie an.«
Miss Kevarian senkte ihren Stift.
Danach brach die Zeit ab und sie taumelte von einem Moment zum anderen durch den Traum. Die Fragen flossen weiter, mit der gleichen wohlklingenden Altstimme. Licht durchdrang sie von allen Seiten gleichzeitig. Sie trank, aber ihr Durst war nicht gestillt; sie wandte sich von Miss Kevarian ab, fand sich aber in den Augen einer anderen Miss Kevarian wieder. Sie saß nicht in einem Raum, der sich bis zur Unendlichkeit spiegelte, sondern in unendlichen Räumen, bekam in jedem eine andere Frage gestellt, und ihre Antworten vermischten sich zu einem Heulen.
Sie wachte in ihrem Krankenbett in Kavekana’ai auf, keuchend, in zerknüllten Laken. Geisterlichter schimmerten von den Tafeln und Instrumenten an den Wänden. Ein Metronom tickte im Takt ihres Herzschlags. Die Ticks wurden langsamer, als sie atmete. An der polierten Decke sah sie ihr eigenes Spiegelbild, einen sepiafarbenen Fleck, der in Krankenhauslaken gehüllt war.
Papier raschelte. Sie war nicht allein.
Jace saß in einem verchromten Stuhl an der Wand. Er faltete seine Ausgabe des Journals so zusammen, dass Kai das Datum nicht sehen konnte. Er sah schlimmer aus, als sie ihn in Erinnerung hatte: dünn und eingefallen, ganz in Schwarz gekleidet. Er legte die Zeitung weg, schenkte ihr ein Glas Wasser ein und hob es an ihre Lippen. Sie versuchte, ihm den Becher zu entreißen, aber ihre Hände waren mit Bandagen umwickelt. Sie trank, obwohl der Geschmack des Glases sie erschaudern ließ.
»Wie war ich?«, fragte sie, als er das Wasser wegzog. Ihre Stimme klang flach und dumpf, wie ein Instrument, das zu lange nicht benutzt worden war.
»Du warst großartig«, sagte er. »Ruh dich jetzt aus. Wenn du kannst.«
Sie legte sich zurück und wusste dann nichts mehr.
4
Izza ließ ihre Beine über den Rand eines Lagerhausdachs auf der Ostklaue baumeln und trank ihr gestohlenes Bier. Die Lichter der Stadt Kavekana spiegelten sich in der schwarzen Bucht unter ihr, lange Irrwege in die Freiheit. Vor ein paar Ewigkeiten hatten die beiden beleuchteten Halbinseln, die den Hafen umschlossen, sie wie die Umarmung ihrer verlorenen Mutter willkommen geheißen. Seitdem hatten sie sich in Zähne verwandelt und das schwarze Wasser zum Inneren des Mauls. Es schlug zwei Uhr morgens. Izza hatte die letzte Stunde damit verbracht, sich die Art ihrer Abreise zu überlegen.
Ihr war es nicht fremd, weiterzuziehen. Das Leben ist Bewegung. Sie hatte sich selbst belogen, als sie das dachte. Die Kinder würden sie vermissen, gut, aber die Kinder konnten ihren eigenen Weg finden, so wie sie es getan hatte. Sie brauchten sie nicht.
Also saß sie da, dachte nach, hasste sich und trank. In der Regel trank sie nicht, aber es gab immer mal eine Zeit, um jede Regel zu brechen. Dieses Bier hatte sie einer dicken Frau gestohlen, die fünf Straßen weiter im Götterdistrikt einen Stand betrieb, an dem sie Zigaretten und billigen Schnaps verkaufte. Die Frau war mit hochrotem Kopf und fuchtelnden Händen in einen Streit mit einem Kositen über den Zigarettenpreis verwickelt und hatte das Verschwinden der Flasche nicht registriert. Sie bemerkte zwar Izzas plötzlichen Rückzug vom Stand und rief ihr »Diebin!« hinterher, aber im Götterdistrikt drängten sich die Menschenmassen. Izza verschwand in einer Seitengasse, bevor jemand den Schrei der Frau hören konnte – nicht, dass irgendjemand ihr geholfen hätte.
Das Bier brauchte einen Flaschenöffner. Zum Glück herrschte in den Slums rund um den Götterdistrikt kein Mangel an Betrunkenen. Izza stahl einen Kirchenschlüssel vom Gürtel eines breitschultrigen Matrosenmädchens, das von einem falschen, den Jüngsten Tag predigenden Propheten abgelenkt war, und fand ein Dach, auf dem sie in Ruhe trinken konnte.
Sie fuhr mit einem Finger über das ausgefranste Leder ihrer Halskette und überlegte, wie sie fortgehen sollte.
In den letzten vier Jahren war sie zu groß geworden, um sich als blinder Passagier irgendwo an Bord schmuggeln zu können. Was Arbeit anging, so schwärmten die Seeleute in den höchsten Tönen vom Anheuern bei Walfängern und dergleichen vor dem Krieg, aber danach beklagten sie sich, dass die schlechten alten Zeiten vorbei seien. Die Kapitäne verlangten Papiere, Lebensläufe und Gewerkschaftsausweise. Sie könnte genug stehlen, um sich eine Schlafkoje zu kaufen – das könnte funktionieren, aber so viel Diebstahl würde Aufmerksamkeit erregen. Sie könnte die Kinder überreden, ihr zu helfen, aber das wollte sie nicht, nicht in diesem Fall. Alles zu verpfänden, was sie besaß, würde nicht für den Preis der Fahrkarte reichen. Sie besaß nicht viel.
So schritt sie in den frühen Morgenstunden durch die Gänge ihres Geistes, bis sie den Kampf hörte.
Kämpfe waren in Ostklaue an der Tagesordnung. Matrosen prügelten sich ebenso wie harte Burschen aus der Gegend. Manchmal, wenn die Schlägereien in Krawall ausarteten, kam die Wache mit Büßenden als Verstärkung. Aber Einsamkeit und Alkohol waren ihr zu Kopf gestiegen, und dieser Kampf war laut und nah. Steinerne Schritte donnerten die Hafenstraßen hinunter, vervielfacht durch den Widerhall: Büßende, die rannten. Zwei, vielleicht mehr. Die Büßenden waren verängstigt, aber sie boten eine gute Show.
Also lief sie auf dem Dach entlang, und nachdem sie ihr Gleichgewicht und ihren Rauschzustand überprüft hatte, nahm sie Anlauf und sprang über die schmale Gasse zwischen diesem und dem nächsten Lagerhaus. Sie rannte bis zum Rand des Gebäudes und legte sich flach hin, wobei ihr Kopf über die Kante ragte.
Zunächst verstand sie nicht, was da unten vor sich ging.
Die Büßenden waren immerhin ein vertrauter Anblick: zwei riesige Steinfiguren, breit und dick wie Zinnen, mit stumpfen, aus Felsplatten geformten Gesichtszügen. Die Büßenden auf dem Kavekana’ai waren mit grimmiger Entschlossenheit den Hang hinaufmarschiert, aber diese bewegten sich so schnell, dass das Wort »Bewegung« nicht auszureichen schien. Die Gefangenen im Inneren schrien und fluchten angesichts des unmenschlichen Tempos, das ihre Statuenhüllen ihnen aufzwang: ein Mann und – wie Izza an der Stimme erkannte – eine Frau. Ihre Schreie drangen in ihren Schädel, verkrampften ihre Glieder und blockierten ihre Gelenke.
Das hatte sie alles schon vorher erlebt. Aber das Ding – die Frau –, gegen die die Büßenden kämpften, war neu.
Sie war wie Quecksilber und Rauch und schnelles Wasser. Grüne Augen glühten in der Maske ihres Gesichts und große, messerscharfe Flügel flatterten an ihrem Rücken. Sie bewegte sich fließend, gedankenschnell: Ein Büßender schlug mit einem Arm aus Granit nach ihr, und sie duckte sich unter dem Schlag weg, sprang aus der Hocke ab und trat mit dem Knie zu. Sie traf den nackten Felsenrumpf des Büßenden und brachte ihn zum Taumeln, wobei seine Brust von Rissen durchzogen wurde. Die Frau drehte sich um und wollte wegrennen, doch der zweite Büßende versperrte ihr den Weg. Sie versuchte auszuweichen – ein Fehler: Die Büßenden waren schneller, als sie aussahen, und hielten ihre Arme weit ausgestreckt. Eine steinerne Hand holte aus und die Frau sprang zurück. Die Flügel breiteten sich aus, fingen sie in der Luft ab und ließen sie wieder zu Boden sinken.
Izza hatte schon früher in wilden, blutigen Hinterhofschlägereien gekämpft – Augen ausstechen, Handgelenke zerbeißen, Steine auf Schädel schlagen. Und umgekehrt, die Kämpfenden in einem wirbelnden Schleier aus Gliedmaßen und Angst. Die geflügelte Frau kämpfte anders, schnell und heftig, aber auch gemessen, als würde jede Bewegung einem höheren Zweck dienen.
Und doch verlor sie. Als sie fiel, schoss die steinerne Faust des ersten Büßenden nach vorn und erwischte sie am Arm. Mit der freien Hand packte die Frau den Ellbogen des Büßenden. Die Flügel flatterten und schlugen und gleichzeitig wurde sie aus Leibeskräften zur Seite gezogen. Stein brach, das Gelenk bog sich nach hinten, und der Schrei des Büßenden – des Mannes – durchzog die Nacht. Er ließ sie los und im Fallen trat sie ihm brutal gegen das Knie. Der Büßende stolperte und brach zusammen. Die Frau landete, aber ein Arm baumelte schlaff von ihrer Schulter. Der zweite Büßende schlug zu; sie wich aus, war aber zu langsam, und die Faust traf sie in die Seite. Izza hörte das Knirschen brechender Knochen.
Die Frau versuchte, sich aufzurappeln. Mit flammenden grünen Augen starrte sie in den Büßenden über sich hinein und durch ihn hindurch. Ein Granitarm hob und senkte sich; die Frau packte das Handgelenk des Büßenden. Stein knirschte und knarrte. Im Inneren des Büßenden schluchzte jemand.
Izza hatte noch nie gesehen, dass jemand so lange gegen einen Büßenden durchhielt, geschweige denn gegen zwei: Sie war fest davon ausgegangen, die steinernen Wächter seien unverwundbar, außer durch die Kunst. Diese geflügelte Gestalt war jedoch keine Kunstwirkerin. Sie trank nicht das Licht um sich herum, verunstaltete nicht den Boden, auf dem sie stand, und knisterte auch nicht vor gespenstischer Zauberei. Sie war fantastisch und sie war dem Untergang geweiht. Der Büßende drückte sie nieder und sie bog sich unter seiner schieren Kraft.