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Teil 5 des ungewöhnlichen Genremixes von Ausnahmeautor Max Gladstone. Die so ungewöhnliche wie großartige Stadt Alt Coulumb steckt in einer echten Glaubenskrise. Die längst für tot gehaltene Mondgöttin Seril ist zurück - und die Menschen in Alt Coulumb sind nicht besonders glücklich über diese göttliche Wiederkehr.
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Seitenzahl: 702
AUSSERDEMBEIPANINIERHÄLTLICH:
MAX GLADSTONE: DIE KUNSTWIRKER-CHRONIK
Band 1: DREI VIERTEL TOT ISBN 978-3-8332-4100-0
Band 2: ZWEI SCHLANGEN LAUERN ISBN 978-3-8332-4178-9
Band 3: FÜNF FADEN TIEF ISBN 978-3-8332-4275-5
Band 4: DER LETZTE ERSTE SCHNEE ISBN 978-3-8332-4331-8
Band 5: VIER WEGE KREUZEN ISBN 978-3-8332-4399-8
Band 6: FALL DER ENGEL ISBN 978-3-8332-4480-3
Nähere Infos und weitere phantastische Bände unter: www.panini.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © 2023 by Max Gladstone. All rights reserved.
Titel der Englischen Originalausgabe: »Four Roads Cross: A Novel of the Craft Sequence« by Max Gladstone, published 2016 in the United States by Tom Doherty Associates LLC, New York, USA
Deutsche Ausgabe 2023 Panini Verlags, Schloßstr. 76, 70176 Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Geschäftsführer: Hermann Paul
Head of Editorial: Jo Löffler
Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])
Presse & PR: Steffen Volkmer
Übersetzung: Helga Parmiter
Lektorat: Katharina Altreuther
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Cover-Illustration: Chris McGrath
Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln
YDMAXG005E
ISBN 978-3-7569-9982-8
Gedruckte Ausgabe:
1. Auflage, Oktober2023, ISBN 978-3-8332-4399-8
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www.paninicomics.de
PaniniComicsDE
1
Tara Abernathys erste Aufgabe als Syndikusanwältin der Kirche von Kos war es, eine Leiche zu verstecken.
Ein Schwarzanzug führte sie eine Wendeltreppe hinunter in einen fensterlosen Steinraum, der bis auf einen stabilen Tisch, einen Tresen, ein Waschbecken und die Leiche von Alexander Denovo leer war.
Ihr alter Lehrer und Peiniger sah so aus, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte – zumindest körperlich. Selbst im Tod behielten seine Lippen ihr selbstgefälliges Grinsen bei. Die Augen hatten jedoch ihren triumphalen Glanz verloren. Der Glanz des Eroberers, der immer hinter den Augen des tölpelhaften Professors hervorgelugt hatte. Er trug etwas, das an seine übliche Garderobe angelehnt war: Tweedjacke mit Ellbogenaufnähern, rote Hosenträger, braune Schuhe. Natürlich hatte man ihm im Gefängnis nicht erlaubt, seine eigene Kleidung zu behalten. Immerhin konnte die Jacke eines Kunstwirkers alles verbergen.
Er war tot.
»Haben Sie ihn getötet?«, fragte sie den Schwarzanzug. »War es die Justiz?«
Die polierte Silberstatue antwortete: Nein. Die vertrauten Stimmen der Schwarzanzüge, die nicht durch die Luft drangen, sondern sich im Kopf manifestierten und sich aus Schreien, verzerrten Cellotönen und zerbrechendem Glas zusammensetzten, sorgten weder für Verachtung noch für Wohlbefinden ihnen gegenüber. Er starb in seiner Zelle an einem Herzinfarkt.
Schwarzanzüge logen nicht, zumindest nicht in ihrer offiziellen Eigenschaft als Vertreter der Justiz. Sie mordeten auch nicht. Sie zogen es vor, zu exekutieren.
Tara ging langsam im Kreis um die Leiche herum. Die Zeichen waren stimmig. Das war logisch, unabhängig von Denovos wahrer Todesursache. Niemand, der sich die Mühe gemacht hatte, in die Zelle einzubrechen, in der die Schwarzanzüge den Mann gefangen hielten, ihn zu töten und unerkannt zu entkommen, würde Anzeichen dafür hinterlassen, dass er an etwas anderem als einem natürlichen Tod gestorben war.
»Er ist ein Kunstwirker«, sagte Tara, um sowohl sich selbst als auch den Schwarzanzug daran zu erinnern. »Er hat Götter ermordet. Er hat den Willen von Hunderten in seinen Dienst gestellt und diese Stadt beinahe zerstört. Zur Hölle, er wäre fast selbst ein Gott geworden. So würde er nicht sterben.«
Nichtsdestotrotz.
»Ich werde ihn nicht für euch zurückbringen«, sagte sie.
Das haben wir auch nicht erwartet. Das Gegenteil ist der Fall.
»Sie wollen, dass ich dafür sorge, dass er tot bleibt.«
Der Schwarzanzug nickte.
Tara ließ erst ihren Hals und dann ihre Fingerknöchel knacken. »In Ordnung. Dann fangen wir mal an.«
Das Problem war simpel, zumindest soweit es die nekromantische Logik der Kunstwirkerei betraf. Hundertfünfzig Jahre zuvor, als die ersten Todlosen Könige eine Gesellschaft ohne göttliche Einmischung – und übrigens auch ohne Sterblichkeit – gründeten, standen sie vor einem praktischen Problem: Wie kann man antisoziales Verhalten unter ehemals menschlichen Wesen verhindern, für die lebenslange Haft eine kurze Unannehmlichkeit, wenn nicht gar eine unbestimmte Zeitspanne bedeutet, und die Todesstrafe lediglich einen Klaps auf die Hand? Wie hält man eine Nekromantin, die durch Tausende von Schulden an die Welt gebunden ist, davon ab, wieder aus ihrem Grab zu steigen?
Die Antworten reichten von grotesk bis einfach unmenschlich, aber alle hatten eine gemeinsame theoretische Grundlage: Man lässt die Toten nicht davonkommen.
Tara legte ihre Handtasche auf den Tresen und holte eine Retorte, ein Stück Silberkreide, drei Gasbrenner, mehrere große Gläser und zwei Silberarmbänder daraus hervor. Sie schüttelte ihre Jacke ab, krempelte die Ärmel hoch, legte die Armbänder an und schlug sie gegeneinander. Sie sprühten Funken. Glitschiges schwarzes Öl rann von ihnen hinunter und bedeckte ihre Hände. Die Glyphen, die in ihre Unterarme eingearbeitet waren, leuchteten silbern auf ihrer dunklen Haut. Sie zog ihr Arbeitsmesser aus der Glyphe über ihrem Herzen, und seine Klinge aus Mondlicht warf ein seltsames Leuchten in die Ecken des steinernen Raums.
Denovo lag vor ihr.
Sie holte tiefer Luft, als sie zugeben wollte, und berührte die kalte, trockene Haut seiner Schläfe.
»Hallo«, sagte die Leiche.
Miss Abernathy?
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Tara zu dem Schwarzanzug. Sie zwang ihr Herz wieder zu einem langsamen und angemessenen Rhythmus. »Er ist tot, aber seinem Körper wohnt immer noch Kraft inne. Diese Kraft kann«, sie suchte nach Begriffen, die der Schwarzanzug verstehen würde, »auf meine Erinnerungen an ihn einwirken. Die Handschuhe halten das meiste davon ab, aber er war stark. Ich komme schon zurecht.« Sie schärfte ihr Messer, griff nach seinem Kragen und schnitt ihm die Kleidung vom Leib.
»Zurechtkommen«, sagte der Leichnam ironisch. »Sie werden zurechtkommen, Tara, wirklich? Zurechtkommen in dieser gottverlassenen Stadt, wo Sie für eine verrückte Göttin und einen zweideutigen Gott schuften, der einem Kunstwirker nicht einmal ansatzweise das Wasser reichen kann?«
Auf den Spott eines Phantoms zu antworten war schlechter Stil, aber sie wurde hier nicht benotet. »Kos der Ewigbrennende ist ein guter Gott. Er hat sich aus den Kriegen herausgehalten. Er brauchte schon lange eine eigene Kunstwirkerin. Und Seril ist nicht mehr zornig.«
Miss Abernathy?
»Sie können draußen warten«, sagte sie zu dem Schwarzanzug, »wenn Ihnen das lieber ist. Das hier wird eine Weile dauern, und Sie machen mich nervös, wenn Sie nur da rumstehen.«
Die Statue floss aus der Tür, schloss sie und ließ Tara mit der Leiche allein.
Sie zog ihm die Schuhe aus, einen nach dem anderen, und schnitt ihm die Hose ab. Er lag nackt auf der Platte, korpulent und blass.
»Was für ein Service«, sagte der Leichnam. »Ich sollte öfter hierherkommen.«
»Sie sind ein Arschloch«, sagte sie ohne Groll. Welcher Groll könnte in einer Tatsachenfeststellung stecken? Sie setzte sich eine chirurgische Maske auf und kehrte mit einem Glasgefäß, einem Gummischlauch und einer silbernen Nadel zum Tisch zurück. Die Nadel schob sie in seinen Arm, und das Glasgefäß saugte ihm Blut ab – drei Liter. Glücklicherweise war das Glas, genau wie ihre Handtasche, größer, als es von außen aussah. »Das waren Sie schon immer.«
»Ich habe Ihnen geholfen, Tara, wie ich allen meinen Schülern geholfen habe. Ich habe Sie zu einem Teil von etwas Größerem gemacht: einer Gemeinschaft, die sich dem Streben nach Wissen, der Förderung der Kunstwirkerei, der Rettung und Erhöhung der Rasse verschrieben hat.«
»Sie haben Gedankengut gestohlen. Sie haben versucht, mich zu brechen, und als ich mich wehrte, wollten Sie meine Karriere zerstören.« Das Ausblutungsgefäß wirkte schnell; seine Haut straffte sich, als seine Venen kollabierten. »Als das nicht funktionierte, sind Sie mir nach Alt Coulumb gefolgt, und jetzt sind Sie tot und ich nicht.« Sie zog die Haut unter dem V seines Schlüsselbeins straff, schnitt eine gerade Linie zu seiner Leiste hinunter und schälte seine Brust zurück. Muskel- und Fettpakete glitzerten, und sie schnitt in diese hinein, bis sie den Knochen freilegte. »Damit ist wohl die Frage geklärt, wessen Methoden besser funktionieren.«
Ein gespenstisch vertrautes Lachen antwortete ihr. »Ich bitte Sie. Sie hatten zwei Götter, Elayne Kevarian und ein Heer von Gargoyles und Schwarzanzügen auf Ihrer Seite. Ihr habt mich nicht besiegt, sondern wart einfach nur in der Überzahl. Aber bei dem, was kommt, können Sie nicht in der Überzahl sein.«
Sie presste ihre Lippen aufeinander und zerlegte seine Beine. Silberne Glyphenlinien funkelten um Schien- und Oberschenkelknochen; seine Kniescheibe trug einen Stern mit sechs, nein, sieben, nein, sechs Zacken. Während sie seine Knochen säuberte, schnitzte sie sich durch Kunstwirkersiegel, versteckte Mechanismen und Maschinen. In seinem linken Oberschenkel fand sie eine mit Narbengewebe umwachsene Kugel.
»Ich wollte den Gott von Alt Coulumb töten und seinen Platz einnehmen«, sagte er. »Es war ein Schuss ins Blaue, aber stellen Sie sich nur die Vorzüge vor, wenn ich gewonnen hätte.«
»Das möchte ich lieber nicht.« Leichenfleisch schmatzte unter ihren behandschuhten Händen. Das Blut klebte nicht an ihren Schattenhandschuhen.
»Aber jetzt – haben Sie eine Ahnung, wie schwach Ihre Position ist? Ihre Mondgöttin Seril ist zurückgekehrt, natürlich im Geheimen, denn die halbe Stadt hasst sie immer noch. Sie hassen sie seit Jahrzehnten, seit sie sie im Stich gelassen hat, um in den Kriegen zu kämpfen und zu sterben. Dass sie zurück ist und sich versteckt, ändert nichts daran. Kos wird sie bis in den Tod verteidigen – sie ist also eine Schwachstelle, ein reines Druckmittel, das Ihre Feinde ausnutzen können. Hunderte von Kunstwirkenden empfinden die bloße Existenz einer göttlichen Stadt in der Neuen Welt als Affront. Sie haben eine Schwachstelle für sie geschaffen. Wenn sie erfahren, dass Seril wieder da ist, werden sie Sie holen kommen. Sie sind nicht so schlau wie ich und auch nicht halb so ehrgeizig. Sie werden nicht hinterm Berg halten, wie ich es getan habe. Sie werden Ihre Götter töten, und Ihre Freunde. Sie werden sie in Stücke reißen. Sie werden diese Stadt besetzen und sie wieder in eine glänzende Zitadelle der Kunstwirkerei und des Handels verwandeln. Keine Ausrufer mehr – stattdessen Zeitungen an jeder Ecke und Zombies auf dem Markt. Sie werden weinen, wenn Sie das erleben. Sie werden sich wünschen, Sie hätten sich nie aus diesem Kaff herausgekämpft, wo Elayne Sie gefunden hat.«
Sie entnahm seine Organe, eines nach dem anderen, wog sie Stück für Stück und verbrannte sie zu Asche.
»Für den Moment haben Sie meinen Job, klar. Genießen Sie ihn, solange es dauert.«
»Das hier war nicht Ihre Aufgabe«, sagte sie. Fleischerhaken der Kunstwirkerei hoben den Körper an und drehten ihn um. Sie riss ihm den Rücken in einem einzigen Stück ab.
»Ich war vierzig Jahre lang Berater des Kardinals.«
»Und Sie haben ihn benutzt, um seinen Gott zu töten.«
»Wenn man die Menschen nicht benutzt, benutzen sie dich. Die ganze Welt liegt in Ketten, Tara – Gerhardt hat es gesagt, und die Götterkriege gaben ihm recht. Als ich mit der Kirche gearbeitet habe, habe ich dafür gesorgt, dass ich eine Kette fest um ihren Hals gelegt habe. Sie haben sich selbst eine um Ihren Hals geschlungen und ihnen das baumelnde Ende übergeben. Sie können diese Leute nicht von innen heraus befehligen – und das Kommando zu haben, ist der einzige Weg, wie Sie das Kommende besiegen können.«
Der Seziertisch war bis auf die Knochen leer. Für Laien sahen alle Skelette mehr oder weniger gleich aus. Experten konnten Unterschiede erkennen: verheilte Knochenbrüche, bestimmte Verhältnisse von Gliedmaßenlänge zu Rumpf. Tara hatte die Knochen von Alexander Denovo noch nie gesehen. Sie hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn sie ihn nicht mit ihren eigenen Händen auseinandergeschnitten hätte.
»Diese Stadt wird bestehen«, sagte sie.
»Welche Stadt? Es herrscht ein Durcheinander von Gargoyles und Priestern, Kunstwirkenden und einfachen Leuten, verborgenen und enthüllten Göttern. Wenn es Ärger gibt, reißen sie sich gegenseitig die Kehle raus. Sie können sie nicht aufhalten. Entweder sind Sie an sie gekettet – ein Teil einer zerbrechenden Maschine – oder Sie sind allein, ein Mädchen, das nackt gegen eine Flut ankämpft. Sie werden Ihnen nicht trauen. Sie werden Ihnen nicht folgen. Sie werden nicht mit Ihnen zusammenarbeiten, es sei denn, Sie knien vor ihnen, und wenn Sie knien, werden sie ohnehin verlieren.«
»Sie lügen.« Sie machte ihr Messer dick und scharf und schwer, ein Hackbeil aus Licht.
»Ich bin in Ihrem Kopf. Ich bin Ihre schlimmsten Erinnerungen an mich, Ihre größten Ängste. Und die größte Angst von allen – die, die Sie immer noch um zwei Uhr morgens zum Schwitzen bringt, wenn die Welt still ist – ist, dass ich die ganze Zeit recht hatte. Dass ich recht hatte, und Sie sind …«
Ihre Klinge trennte den Schädel von der Wirbelsäule und die Stimme verstummte.
»Kommen Sie zurück«, sagte sie zu dem Schwarzanzug. »Ich bin fertig.«
* * *
Sie steckte den Schädel in eine bleigefütterte, mit Verpackungsmaterial gefüllte Kiste und folgte dem Schwarzanzug in die untersten Etagen der Asservatenkammer des Tempels der Gerechtigkeit, vorbei an beschlagnahmten Drogen und Waffen, Gralen und Werkzeugen und Artefakten, die zu seltsam waren, um sie mit einem einzigen Wort zu beschreiben. Sie stellte die Schädelkiste neben seine persönlichen Gegenstände und versah sie dreimal mit Schatten und Silber, um zu verhindern, dass Kunst hinein- oder herausdringen konnte. Als sie die Tür schloss, wechselte das Licht an der Decke von Rot zu Grün.
Sie erwachte in dieser Nacht auf ihrem Bett in ihrem sarggroßen Schlafzimmer, als das Mondlicht durch das Fenster fiel. Eine Göttin sang.
Taras Herz schlug schnell. Sie lag in ihrem eigenen Schweiß und wartete auf den Sonnenaufgang.
* * *
Am Tag nach dem Einzug in ihr neues Büro, nachdem sie ihre Bücher ausgepackt, den Albtraumtelegrafen installiert, das Astrolabium aufgestellt und den Spion in der Lobby an die Luft gesetzt hatte, legte sie ein Stück cremeweißes Papier auf ihren Schreibtisch und schrieb in großen rubinroten Buchstaben an den oberen Rand: »Für den Fall, dass das Überleben der Mondgöttin Seril oder die Anwesenheit ihrer Gargoyles in Alt Coulumb öffentlich bekannt werden sollte, und bevor sie wieder genügend Kraft hat, sich selbst zu verteidigen.«
Danach blieb nicht mehr viel Platz auf dem Papier. Glücklicherweise – oder eher unglücklicherweise – wusste sie nicht, was sie als Nächstes schreiben sollte.
Sie starrte auf das Papier und klemmte den Schaft des Stifts zwischen die Zähne. Sie warf einen Tennisball gegen die Wand und fing ihn auf, bis ihr Nachbar sie bat, aufzuhören. Das dauerte ungefähr zwei Stunden, in denen keine weiteren Worte auf dem Papier erschienen. Sie spazierte durch die Straßen von Alt Coulumb und tauchte in seine Bibliotheken ein. Sie befragte die Sterne und die Gelehrten der Kunstwirkerei, wobei sie im letzteren Fall die Einzelheiten ihrer Anfrage allgemein hielt. Sie sprach mit kichernden Schrecken von jenseits der Zeit und errichtete ausgeklügelte Paläste der Möglichkeiten, verknüpfte und verflochtene Eventualfälle, von denen keiner zufriedenstellend war.
Nach all dem legte sie das Papier zurück auf ihren Schreibtisch und schrieb in kleinen Buchstaben unter die überlange Überschrift: »Wir sind wahrscheinlich am Arsch.«
Dann verbrannte sie das Papier, denn es war dumm, ein solches Dokument herumliegen zu lassen, selbst in einem Büro, das mit den besten Flüchen und Fallen gesichert war, die sie – eine Absolventin der Verborgenen Schulen – kunstwirken konnte.
Tara verstreute die Asche an drei verschiedenen Tagen im Hafen von Alt Coulumb. Dann widmete sie sich dem Schaffen einer ausreichenden Zahl von Anbetern für Seril und den anderen, öffentlicheren Aufgaben der Syndikusanwältin von Alt Coulumbs anderem, öffentlicheren Gott – und auf diese Weise verbrachte sie ein aufgeregtes Jahr, bis Gabby Jones alles verdarb.
2
Steinerne Flügel erschütterten Alt Coulumbs Nächte, und Göttersilber leuchtete aus ihren Schatten.
Gavriel Jones floh durch Pfützen aus Müllsäften eine schmale Gasse hinunter und keuchte in der verdorbenen, feuchten Luft. Schmutziges Wasser befleckte die Aufschläge ihrer Hose und den Saum ihres langen Mantels; hinter sich hörte sie die rennenden Füße der Straßenräuber.
Sie riefen nicht hinter ihr her. Jetzt wurde kein Atem verschwendet. Sie rannte, und sie verfolgten sie.
Dumm, dumm, dumm, das war das Mantra, das ihr im Rhythmus ihrer Schritte durch den Kopf hämmerte. Sie hatte die ältesten Regeln des Stadtlebens gebrochen. Geh nicht allein nach Mitternacht durch die Heißstadt. Trinke keinen Weißwein zu rotem Fleisch, sieh in beide Richtungen, bevor du die Straße überquerst, tritt nie auf Fugen. Und gib ihnen immer, immer deine Geldbörse, wenn sie es verlangen.
Sie rannte tiefer nach Heißstadt hinein, zwischen hohen verbarrikadierten Fenstern und nackten, von Alter und Krallen gezeichneten Ziegelwänden hindurch. Sie schrie auf, ihre Stimme war schon ganz rau. Ein Fenster schlug zu.
Der Vollmond beobachtete die Verfolgung vom Himmel aus. Vor ihr öffnete sich die Gasse zu einer breiten, leeren Straße. Neben dem säuerlich-süßen Gestank von Fäulnis roch sie gewürztes Lammfleisch. Jemand verkaufte an der Ecke Spieße und vielleicht konnte ihr dieser Jemand helfen.
Sie warf einen Blick zurück. Zwei Männer. Drei hatten sich ihr genähert, als sie für eine Zigarette in die Gasse abgetaucht war. Wo war der dritte?
Sie prallte gegen eine Wand aus Fleisch. Dicke Arme zogen sie an einen Mantel, der nach Tabakspucke und Schweiß roch. Sie wollte ihm das Knie in die Leistengegend rammen, aber er wich mit dem Unterkörper aus ihrer Reichweite, zischte und schleuderte sie weg. Gabby knallte auf den Boden und platschte in eine schmutzige Pfütze.
Sie trat nach seinem Knie, hart, aber zu tief: Die Stahlspitze ihres Stiefels traf sein Schienbein, brach ihm aber nicht die Kniescheibe. Er fiel auf sie, während Hände ihre Kleider und ihre Haare umklammerten. Sie schlug ihm mit dem Scheitel auf die Nase und hörte ein Knirschen. Der Staub, der ihn antrieb, hatte ihn zu sehr benebelt, um Schmerz zu empfinden. Er blutete auf ihr Gesicht; sie riss den Kopf zur Seite und presste die Lippen zusammen, nur nichts in den Mund bekommen, nichts in den Mund …
Die anderen holten auf.
Starke Hände entrissen ihr die Tasche, und sie spürte, wie ihre Seele mit ihr verschwand. Sie warfen ihr Leben zwischen sich hin und her. Der Stiefel kam als Nächstes, sein erster Treffer war fast zart, wie der einer Konzertmeisterin, die einen frisch gespannten Bogen über saubere Saiten zieht. Aber er tat trotzdem weh. Sie krümmte sich um das Leder und schnappte nach Luft, die nicht in ihre Lungen gelangte.
Sein zweiter Tritt brach ihr eine Rippe. Sie hatte sich schon lange keinen Knochen mehr gebrochen, und das Knacken überraschte sie. Galle quoll in ihrer Kehle auf.
Sie bekam ihre Hände frei, krallte sich fest, fand Haut und riss weitere blutige Striemen. Wieder kam der Stiefel.
Doch dort oben wachte der Mond.
Gabby lebte zwar in einer gottesfürchtigen Stadt, aber sie selbst hatte keinen Glauben.
Auch jetzt nicht. Aber sie hatte ein Bedürfnis.
Also betete sie so, wie es ihr von den Frauen in Heißstadt und von den Westlingen beigebracht worden war, die eines Tages aufgewacht waren und einen Widerhall von Worten im Kopf hatten, die im Traum von Höhlenmündern gesprochen worden waren.
Mutter, hilf mir. Mutter, erkenne mich. Mutter, halte mich und nimm mich auf.
Ihre Nägel rissen ihre Handflächen auf.
Höre meine Worte, meinen Schrei des Glaubens. Nimm mein Blut, den Beweis für meine Not.
Das letzte Wort wurde durch einen weiteren Tritt unterbrochen. Sie versuchten, auf ihre Hand zu treten, aber sie zog sie mit der Geschwindigkeit der panischen Angst zurück. Sie packte den einen Mann am Knöchel und zerrte daran. Er stürzte, riss sich von ihr los und erhob sich fluchend. Eine Klinge blitzte in seiner Hand auf.
Der Mond verschwand, und Gabby hörte das Schlagen mächtiger Schwingen.
Ein Schatten fiel vom Himmel und schlug so hart auf die Steine der Gasse, dass Gabby den Aufprall in ihrer Lunge und ihrer gebrochenen Rippe spürte. Sie schrie vor Schmerz auf. Ihr Schrei verhallte in der Stille.
Die drei, die sie festhielten und schlugen, hörten auf.
Sie wandten sich dem Ding zu, das die Göttin geschickt hatte.
Steinmänner nannten sie manche als Fluch, aber dies war kein Mann. Die Straßenlaternen an der Mündung der Gasse im Rücken, das Gesicht dem Mond zugewandt, war sie Silhouette und Silber zugleich, breit und stark, mit einem schroffen Gesicht wie ein Tiger, mit langen Zähnen und Sichelklauen, mit grünen, funkelnden Edelsteinaugen. Die spitzen Flügel krönten die Bergkette ihrer Schultern und auf ihrer Stirn glänzte ein Diadem.
»Lauft«, sagte die Gargoyle.
Der Mann mit dem Messer gehorchte, wenn auch nicht so, wie die Gargoyle es meinte. Er rannte vorwärts und stach von unten zu. Die Gargoyle ließ die Klinge auftreffen. Funken sprühten aus ihrer Granithaut.
Sie schlug ihn mit dem Handrücken beiseite, als würde sie eine Fliege verscheuchen, und er flog gegen eine Wand. Gabby hörte mehrere laute Knackgeräusche. Er lag schlaff und verdreht da wie eine weggeworfene Bananenschale.
Die beiden anderen versuchten zu fliehen.
Die Flügel der Gargoyle breiteten sich aus. Sie bewegte sich wie eine Wolke vor dem Mond entlang, um ihnen den Rückweg abzuschneiden. Die Krallen blitzten auf, schnappten nach den Kehlen und hoben die Männer mit der Sanftheit der Kraft hoch. Sie waren Gabby riesig erschienen, als sie sie verfolgten und auf sie einschlugen; in den Händen der Gargoyle waren die Männer wie Kätzchen. Gabby drückte sich vom Boden hoch, und trotz der Schmerzen in ihrer Seite empfand sie einen Moment lang Mitleid. Wer waren diese Männer? Was hatte sie hierhergeführt?
Die Gargoyle zog die Straßenräuber dicht an ihren Mund heran. Gabby hörte ihre Stimme klar und deutlich wie zerbrechendes Gestein.
»Ihr habt unrecht getan«, sagte die Gargoyle. »Ich versehe euch mit dem Zeichen der Herrin.«
Sie verstärkte ihren Griff, bis etwas Blut floss. Der Mann auf der linken Seite schrie, der Mann auf der rechten Seite nicht. Wo ihre Klauen in die Hälse drangen, hinterließen sie Spuren aus silbernem Licht. Sie ließ die Männer fallen, und sie schlugen hart und schwer auf dem Boden auf. Sie kniete sich zwischen sie. »Euer Freund braucht einen Arzt. Bringt ihn zur Weihe, und man wird sich um ihn kümmern, und um euch. Die Herrin wacht über alles. Wir werden es wissen, wenn ihr euch wieder Schande bereitet.«
Sie berührte jeden an einer Stelle am Oberarm. Für die Gargoyle schien es nicht mehr als eine Berührung zu sein: ein Zusammendrücken von Daumen und Zeigefinger, als würde sie ein Blütenblatt abzupfen. Das Geräusch des brechenden Knochens war laut und sauber, aber deshalb nicht weniger widerlich.
Diesmal schrien sie beide, wälzten sich auf dem schmutzigen Pflaster und hielten sich den Arm.
Die Gargoyle erhob sich. »Tragt ihn mit euren gesunden Armen. Die Herrin ist gnädig, und ich bin ihre Dienerin.« Den letzten Satz sprach sie in einem Tonfall, der andeutete, was sie ihnen hätte antun können, wenn die Herrin nicht gnädig gewesen wäre und sie ihr nicht gehorcht hätte. »Geht.«
Sie gingen, humpelnd, taumelnd, und trugen ihren zerschmetterten Freund zwischen sich. Sein Kopf rollte haltlos hin und her. Silber schimmerte von den Wunden an ihren Hälsen.
Und auch von den Narben an den Gassenmauern. Nicht jeder Fleck leuchtete dort, nur die tiefen, sauberen Rillen, die von den Dächern bis zu den Pflastersteinen reichten, schraffierte Furchen, die in elegante, lange Linien übergingen, hier flankiert von einem diakritischen Zeichen und dort von einem Krallenschnörkel.
Poesie brannte auf dem Ziegelstein.
Die Gargoyle kam näher. Ihre Schritte hallten von den Pflastersteinen wider. Sie beugte sich vor und streckte eine schwere, krallenbewehrte Hand aus. Gabbys Finger passten in die Handfläche der Gargoyle, und sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind im Westen in die Brandung gefallen war und wie die Hand ihrer Mutter ihre verschluckt hatte, als sie ihr aufhalf. Die Gargoyle stützte Gabby, während sie auf die Füße kam. Zu voller Höhe aufgerichtet befand sich Gabbys Stirn auf gleicher Höhe mit dem gebogenen Schlüsselbein der Gargoyle. Die Gargoyle war nackt, obwohl dieses Wort falsch war. Nackte Dinge waren entblößt: die nackte Wahrheit in den Morgennachrichten, der nackte Körper unter dem Licht eines Chirurgen, die nackte Blüte vor dem Frost. Die Gargoyle war nackt wie die Haut des Ozeans oder die eines Berghangs.
Gabby sah in die grünen Steinaugen. »Danke«, sagte sie und betete zur gleichen Zeit, indem sie sich an den Willen wandte, der ihr das Wesen, das vor ihr stand, geschickt hatte: Ich danke dir. »Die Geschichten sind also wahr. Du bist wieder da.«
»Ich kenne dich«, antwortete die Gargoyle. »Gavriel Jones. Du bist Journalistin. Ich habe dich singen gehört.«
Sie spürte eine Antwort dieses fernen Willens, eher ein Gefühl als eine Stimme: ein Vollmond über dem See ihrer Seele, der Atem der Mutter, die ihre Mutter gewesen war, bevor sie dem Trinken verfiel. »Du weißt, wer ich bin, und hast mich trotzdem gerettet.«
»Ich bin Aev«, sagte sie, »und weil ich das bin, wurde mir eine Wahl angeboten. Ich wollte dich für deine Anmaßung büßen lassen. Aber das ist nicht der Grund, warum wir geschaffen wurden.«
»Ich weiß.« Der Schmerz in ihrer Brust hatte nichts mit der gebrochenen Rippe zu tun. Sie wandte sich von Aev ab. »Du willst meine Loyalität, nehme ich an. Ein Versprechen, dass ich nicht darüber berichten werde. Dass ich dich beschützen und dir dienen werde, wie der Begleiter an der Seite eines Serienhelden.«
Aev antwortete nicht.
»Sag etwas, verdammt.« Gabbys Hände zitterten. Sie zog eine Schachtel Zigaretten aus der Innentasche ihres Mantels und zündete sich eine an. Ihre Finger rutschten auf dem billigen Funkenrädchen des Feuerzeugs ab. Sie atmete den Teer gegen den Schmerz in ihrer Seite ein.
Als sie ein Viertel der Zigarette zu Asche gezogen hatte, drehte sie sich um und fand die Gasse leer vor. Die Gedichte glühten in der Dunkelheit nach wie müde Glühwürmchen. Ein Schatten kreuzte den Mond, doch sie sah nicht hoch.
Das Licht erlosch, und die Worte schienen wieder beschädigt zu sein.
Sie humpelte von der Gasse auf die Straße. Ein drahtiger Mann fachte eine Blechkiste mit Kohlen an, über der ein Grillrost mit gewürzten Lammfleischspießen lag.
Gabby zahlte ihm ein paar Thauma ihrer Seele für eine Handvoll Spieße, die sie nacheinander aß, während sie die gut beleuchtete Straße hinunterging, vorbei an den Schaufenstern von Pornoläden und nie geschlossenen Supermärkten. Die Luft roch hier süßer, angereichert mit Zigarettenrauch und den scharfen, vielfältigen Gewürzen des Lamms. Nachdem sie gegessen hatte, konnte selbst sie das Zittern in ihren Händen kaum noch spüren. Das Hämmern des Blutes in ihrem Körper verblasste.
Sie warf die Spieße in einen Mülleimer und zündete sich eine zweite Zigarette an, die zweite von fünf, die sie sich heute erlaubte. Worte tanzten in ihrem Schädel. Sie hatte nichts versprochen.
Sie merkte, dass sie summte, eine langsame, traurige Melodie, die sie noch nie gehört hatte, ein Geschenk eines Gottes oder einer Muse. Sie folgte ihr.
Ihre Uhr schlug eins. Es war noch Zeit, sich zur Mette einzureihen, wenn sie die Sprüche einfach hielt.
3
Tara kaufte gerade Eier auf dem Markt im Armenviertel, als sie das gefürchtete Lied hörte.
Sie wohnte drei Blocks weiter nördlich in einer Wohnung, die sowohl wegen der günstigen Miete als auch wegen der Nähe zum Kunstgerichtshof und zum Markt – Alt Coulumbs bester Quelle für Frischwaren – überzeugte. Jetzt, kurz nach Sonnenaufgang, wimmelte es auf dem Markt von Trägern, Lieferwagen und Menschen. Die Käufer tummelten sich in den verwinkelten Gassen zwischen Salatmauern und Melonenpyramiden unter Markisen aus schwerem gemustertem Stoff.
Während sie sich durch die Menge drängelte, machte sie sich Gedanken über ihre Studienkredite und ihre Aufgabenliste. Das iskarische Verteidigungsministerium verlangte stärkere Garantien für die göttliche Unterstützung durch die Kirche von Kos. Sie würden sie nicht bekommen, da eine schwächere Version derselben Garantien Kos im letzten Jahr beinahe getötet hätte. Die Iskari drohten mit einer Klage wegen Vertragsbruchs, was lächerlich war – Kos erfüllte seine Verpflichtungen tadellos. Aber das musste sie erst einmal beweisen, was ein weiteres Durchforsten der Kirchenarchive und eine weitere lange Nacht bedeutete.
Was sich nicht so lästig anfühlen würde, wenn Tara noch nach Stunden abrechnete. Heutzutage bedeutete weniger Schlaf nur weniger Schlaf. Sie hatte sich an die Vorteile des öffentlichen Dienstes verkauft: Sei mehr als nur ein weiteres angeheuertes Schwert. Widme dein Leben dem Aufbau von Welten, anstatt sie niederzureißen. Der Edelmut dieser Position schien weniger deutlich zu sein, wenn man gerade genug verdiente, um seine Studentenkredite zu tilgen, aber nicht genug, um sie zurückzuzahlen.
Das Leben würde sich nach dem Frühstück einfacher anfühlen.
Doch als sie den Stand erreichte, an dem Matthew Adorne Eier verkaufte, fand sie ihn unbewacht vor. Die Eier waren noch da, in Bambusschachteln gestapelt und von klein nach groß und von hell nach dunkel sortiert, aber Adorne selbst war verschwunden. Tara wäre weniger überrascht gewesen, das Allerheiligste von Kos dem Ewigbrennenden unbewacht und seine Ewige Flamme im Verlöschen zu sehen, als sie es beim Anblick von Adornes leerem Stand war.
Und seiner war nicht der einzige.
Um sie herum murrten die Kunden in langen Schlangen. Die Ältesten des Marktes hatten es ihren Gehilfen überlassen, sich um ihre Stände zu kümmern. Der Junge von Capistano eilte panisch hinter der Metzgertheke herum und erledigte die Arbeit seines Vaters und seine zugleich. Er hackte, sammelte Münzen ein, in denen Seelenfetzen steckten, und schrie eine wütende Kundin an, die einen drei Nummern zu großen Geldbeutel trug. Die blonden jungen Frauen, die neben Adorne frisches Gemüse verkauften – der Stand, den Tara nie besuchte, weil ihr Vater sie für Ausländerinnen hielt und laut und langsam mit ihnen sprach, als wären sie die einzigen dunkelhäutigen Frauen in Alt Coulumb –, hasteten von einer Aufgabe zur nächsten, wobei die Jüngste mit Kleingeld hantierte, Zwiebeln fallen ließ und den anderen in die Quere kam wie eine Sommeraushilfe, der man echte Arbeit gegeben hatte.
Adorne hatte keinen Assistenten. Seine Kinder seien zu gut für den Beruf, sagte er. Schule für sie. Der Stand war also leer.
Sie war nicht groß genug, um über die Menge hinwegzuschauen, und hier in Alt Coulumb konnte sie nicht fliegen. Eine Holzkiste lag verlassen neben dem Stand der Mädchen. Tara kletterte auf die Kiste und sah sich auf den Zehenspitzen wippend auf dem Markt um.
Am Rande der Menge entdeckte sie Adornes breite Schultern und den großen, hageren Capistano, der wie eine schlecht gebaute Vogelscheuche aussah. Auch die anderen Standbetreiber sahen – nein, hörten – zu. Das Orange der Ausrufer blitzte auf dem Podium auf.
Adorne stand wie angewurzelt, während Tara sich ihren Weg zu ihm bahnte. Das war nicht ungewöhnlich: Der Mann war so groß, dass er einen größeren Anreiz brauchte, um sich zu bewegen, als andere Menschen. Die Welt war etwas, das dem schwarzbärtigen Matthew Adorne passierte, und wenn es vorbei war, blieb er stehen.
Aber es hatte sich auch sonst niemand bewegt.
»Was ist passiert?«, fragte Tara Adorne. Selbst auf Zehenspitzen konnte sie die Ausruferin kaum sehen, eine rundliche Frau mittleren Alters, die eine orangefarbene Jacke und einen braunen Hut trug, aus dessen Band ein ebenfalls orangefarbener Presseausweis ragte. Taras Worte kletterten die Hügel von Adornes Armen und die Wölbungen seiner Schultern hinauf, bis sie seine guckenden Ohren erreichten. Er spähte über seine Wangenschichten zu ihr hinunter und hob einen Astfinger an seine Lippen.
»Die Zugabe kommt.«
Das brachte Tara schnell zum Schweigen. Die Ausrufer sangen das Morgenlied einmal umsonst und ein zweites Mal nur, wenn das erste Mal genügend Trinkgeld einbrachte. Eine Zugabe bedeutete eine große Neuigkeit.
Die Ausruferin hatte eine Altstimme mit guter Tragfähigkeit, wenig Vibrato und lautstark. Tara musste dem archaischen Verfahren der Nachrichtenübermittlung in Alt Coulumb eins zugutehalten: Im letzten Jahr war sie eine viel bessere Musikkritikerin geworden.
Dennoch, eine Zeitung hätte ihr mit einer Überschrift jetzt schon einen Grund für die Aufregung genannt.
Das Lied von Gavriel Jones, sang die Ausruferin.
Geschichten von einer neuen Präsenz an unserem Himmel.
Oh, dachte Tara.
Heißstadtnächte brennen silbern,
Steinmänner steigen in den Himmel.
Bete zum Mond, sagen die Träume,
Und sie breiten ihre Schwingen zum Flug aus.
Ein Märchen ist nur ein Märchen, bis man es sieht,
Derweil die Gerüchteküche brodelt.
Ich habe sie gestern Abend selbst in Heißstadt gesehen.
Obwohl es Sünde ist, davon zu erzählen.
Tara hörte mit halbem Ohr den Rest des Vortrags und beobachtete die Menge. Köpfe wurden geschüttelt. Lippen nach unten verzogen. Arme verschränkt. Matthew Adorne trommelte mit seinen dicken Fingern auf seinen noch dickeren Bizeps.
Serils Kinder übten Selbstjustiz. Eine Ausruferin hatte sie gesehen.
Das Lied ging weiter und erzählte von den Gargoyles, die nach Alt Coulumb zurückkehrten, nicht um zu plündern, wie sie es seit dem Tod ihrer Herrin in den Götterkriegen oft getan hatten, sondern um zu bleiben und den Kult ihrer getöteten Göttin Seril des Mondes wieder aufzubauen, die von den Menschen in Alt Coulumb als Verräterin, Mörderin und Diebin bezeichnet wurde.
Tara wusste es besser: Seril war nie gestorben. Ihre Kinder waren keine Verräter. Sie waren Soldaten, die manchmal in Notwehr und Extremsituationen töteten, aber niemals Mörder oder Diebe. Der Ausruferin war es hoch anzurechnen, dass sie nichts von alledem behauptete, aber sie korrigierte auch keine weitverbreiteten Missverständnisse.
Die Stadt kannte sie.
Wie würden sie reagieren?
Es gab keine Kunstwirkerei, mit deren Hilfe man Gedanken lesen konnte, ohne den Geist zu brechen, keine Magie, mit der man die Gedanken eines anderen ohne dessen Zustimmung hören konnte. Das Bewusstsein war ein seltsames kleines Gebilde, zerbrechlich wie der Rücken eines Kaninchens, und es zerbarst, wenn man es zu fest anfasste. Aber es gab prosaischere Tricks, um Männer und Frauen zu lesen. Die Verborgenen Schulen hatten Tara gelehrt, Tote auferstehen und sie davonwatscheln zu lassen, um ihre Befehle auszuführen: die Herzen ihrer Feinde anzuhalten und durch ihre Albträume zu flüstern, zu fliegen und Blitze zu rufen, das Gesicht eines möglichen Zeugen zu stehlen, Dämonen zu beschwören und Verträge und Rechnungen in Zehntelsekunden zu begleichen. Sie lehrten solche prosaischen Tricks aber auch als Ergänzung zur wahren Zauberei.
Die Menge schwankte zwischen Angst und Wut. Ihr Flüstern klang wie das Geräusch von Regen und Donner in der Ferne.
»Schlecht«, sagte Matthew Adorne so leise, wie er konnte. »Steinmänner in der Stadt. Sie helfen doch den Priestern, nicht wahr?«
Tara konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal gehört hatte, dass Matthew Adorne eine Frage stellte.
»Das tue ich«, sagte Tara.
»Sie sollten etwas unternehmen.«
»Ich werde fragen.«
»Könnte jemand von Ihnen sein«, sagte er. Er wusste es besser, als »Kunstwirker« zu sagen, war aber nicht gewillt – so dachte Tara –, zuzugeben, dass eine Frau, die er kannte, um nicht zu sagen eine treue Kundin, zu dieser verdächtigen Klasse gehörte. »Intrigieren. Tote Dinge zurückbringen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Die Schwarzanzüge werden sie kriegen«, sagte Adorne. »Und die Justiz auch.«
»Schon möglich«, sagte sie. »Entschuldigen Sie mich, Matt. Ich muss arbeiten.«
So viel zum Frühstück.
4
Man braucht kein teures Studium an den Verborgenen Schulen, um zu wissen, dass der erste Schritt im Krisenmanagement darin besteht, der Geschichte einen Schritt voraus zu sein. Wenn das nicht möglich ist, sollte man wenigstens mit ihr gleichziehen. Tara, die einen teuren Abschluss von den Verborgenen Schulen in der Tasche hatte, war hinter Gavriel Jones her.
Die Gilde der Ausrufer war mehr Bienenstock als Büro. Streicher, Sänger und Reporter schwirrten mit der Kaffeetasse in der Hand wie orangefarbene Bienen von einem Schreibtisch zum anderen, um andere bei der Arbeit zu stören oder sie mit Neuigkeiten zu befruchten.
»Verspätete Meldung des Albtraumtelegrafen, Handel mit den Indizes des Strahlenden Imperiums geht zurück …«
»Hast du gehört, dass die Schwarzanzüge Johnny Gutnacht bei den Docks erwischt haben, als er eine Ladung aufnahm?«
»Ohne Scheiß?«
»Ich habe noch keine zweite Quelle dafür gefunden, aber es sieht so aus, als würde Walkers die AV-Slums für ihr neues Einkaufszentrum abreißen.«
»Du hast immer noch nicht deine Wetten für die Ullamal-Spiele abgegeben, Grindel macht gleich Feierabend …«
»Leihst du mir eine Zigarette?«
»Willst du sie wirklich zurück?«
Eigentlich durften hier keine Leute hinein, aber das galt nicht für Tara. Sie hielt dem Empfangschef ihre Papiere vor die Nase – ich bin Miss Abernathy, Kunstwirkerin der Kirche von Kos dem Ewigbrennenden, wir arbeiten an einem Fall und wollen die Fakten überprüfen –, ohne Luft zu holen. Dann hielt sie dem Blick des Empfangschefs für die zehn Sekunden stand, die das Wort »Kunstwirkerin« brauchte, um an watschelnde Leichen und ausgeweidete Götter zu erinnern. Nicht dass die meisten Götter Eingeweide hätten.
Dennoch ein nützliches Bild.
Der junge Mann wurde blasser und wies ihr den Weg zu Jones: dritter Schreibtisch von hinten, links, eine Reihe weiter.
In Taras erstem Jahr hatten sie solche Tische aus den Verborgenen Schulen geworfen, verchromte Kanten und falsche Holzplatten, die nicht einmal an Holz erinnerten, grüne Metallrahmen, klappernde Schubladen und scharfe Ecken. Sie hatten sie, wie sie sich erinnerte, direkt in die Weltspalte geworfen. Wenn man ein Loch in der Realität hat, warum sollte man seinen Müll nicht dort hineinwerfen? Damals hatten sie auch einige klapprige Bürostühle weggeworfen, wie den, auf dem Gavriel Jones jetzt saß, wobei sie sich mit einem schlammigen Schuh am Schreibtisch abstützte. Die Ausruferin hielt einen Bleistift im Mund und ein umgedrehtes Notenblatt in der Hand. Sie streckte den Fuß, mit dem sie sich abstützte, und lockerte ihn dann wieder, wodurch sie mit ihrem Stuhl hin und her wippte. Ihre freie Hand schlug synkopisch auf ihren Oberschenkel. Eine Zigarette glomm im Aschenbecher auf ihrem Schreibtisch. Tara betrachtete stirnrunzelnd den Aschenbecher und den Rauch. Sie mochte für Kos arbeiten, aber das bedeutete nicht, dass sie die seltsame Anbetung, die der Feuergott verlangte, gutheißen musste.
Oder vielleicht war die Ausruferin einfach nur süchtig.
»Miss Jones.«
Jones’ Hand hielt inne. Sie hörte auf zu schaukeln und zog den abgenagten Bleistift zwischen ihren Zähnen hervor. »Miss Abernathy. Ich habe Wetten angenommen, wann Sie auftauchen würden.«
»Wie war die Streuung?«
»Sie haben den idealen Punkt getroffen.«
»Ich werde auf meine alten Tage berechenbar.«
»Ich werde die Geschichte nicht zurückziehen«, sagte Jones.
»Zu berechenbar.«
»Wenigstens werden Sie nicht alt. Jedenfalls nicht so wie wir anderen.« Jones deutete auf den mit Papieren übersäten Schreibtisch. »Willkommen in meinem Büro.«
Tara schob einen Stapel leerer Papiere beiseite und lehnte sich gegen den Schreibtisch. »Sie fangen an, Ärger zu machen.«
»Wir halten die Menschen auf dem Laufenden. Sicherheit ist die Aufgabe der Kirche. Und die der Schwarzanzüge.«
»Sie haben den Markt im Armenviertel heute Morgen nicht gesehen, als sie Ihren Beitrag gesungen haben.«
»Ich kann es mir vorstellen, wenn es so ist wie das Gaffen im Norden.« Sie grinste. »Gute Trinkgelder heute.«
»Die Menschen sind wütend.«
»Sie haben ein Recht darauf. Sie mögen praktizierende Atheistin sein, aber die meisten Leute haben diesen Luxus nicht. Wir hatten schon früher Probleme mit Gargoyles. Wenn sie zurück sind – wenn ihre Herrin zurück ist –, ist das eine Nachricht.« Jones hatte eine ganz bestimmte Art, zu Tara hochzusehen und dabei so zu wirken, als würde sie … nicht auf sie herabsehen, sondern geradewegs wie eine Nadel in Taras Augapfel stechen. »Wir verdienen es zu erfahren, wie und warum sich die Stadt unter uns verändert hat.«
»Wer sind Ihre Quellen?«
Einer von Jones’ unteren Vorderzähnen war abgebrochen und mit einer Silberkappe versehen worden. »Glauben Sie wirklich, ich würde diese Frage beantworten? Wenn Leute Seril anbeten, ist eine Kirchenvertreterin die Letzte, der ich das sagen würde.«
»Ich brauche keine Einzelheiten«, sagte Tara.
»Ich traf ein Mädchen in einer Bar, das mir eine Geschichte erzählte. Sie arbeitete als Lieferantin, und ein paar Ganoven überfielen sie und stahlen ihre Tasche. Im Vertrag stand, dass sie für alles, was darin war, haftet. Eine kleine Tasche, aber Sie kennen ja Kunstwirkende. Was auch immer darin war, es war teuer – die Schulden hätten sie zu einem unfreiwilligen Zombie-Dasein verkommen lassen. Sie hatte von einer Geschichte gehört, die gerade im Umlauf war: Wenn du in Schwierigkeiten steckst, vergieße dein Blut und sprich ein Gebet. Jemand wird kommen und helfen. Jemand kam.«
»Welche Bar war das?«
Der Silberzahn blitzte wieder auf.
»Sie schreiben das also aufgrund eines Paares hübscher blauer Augen …«
»Grau.« Sie ließ ihre Hände in die Taschen gleiten. »Ihre Augen waren grau. Und das ist das letzte Detail, das Sie von mir erfahren. Aber es hat mich dazu gebracht, herumzufragen. Haben Sie sich das Lied angehört?«
»Ich ziehe es vor, meine Nachrichten direkt von der Quelle zu bekommen.«
»Ich habe Nachforschungen angestellt, Miss Abernathy. Ich habe einen Ordner mit Interviews, die Sie nie zu Gesicht bekommen werden, es sei denn, ein Schwarzanzug bringt mir etwas, das über eine höfliche Anfrage hinausgeht. Die Frauen im AV haben vor einem Jahr angefangen zu träumen: eine Höhle, das Gebet, das Blut. Und bevor Sie spotten: Ich habe es selbst versucht. Ich geriet in Schwierigkeiten, blutete, betete. Ein Gargoyle kam.« Ihre Stimme hatte jede Zurückhaltung verloren.
»Sie haben sie gesehen.«
»Ja.«
»Sie wissen also, dass sie keine Gefahr darstellen.«
»Darf ich das zu Protokoll nehmen?«
Tara zuckte nicht mit der Wimper. »Nach Ihren eigenen Recherchen haben sie den Menschen nur geholfen. Sie haben Sie gerettet, und im Gegenzug haben Sie sie ins Rampenlicht gerückt, vor die Augen von Menschen, die sie fürchten und hassen.«
Jones stand auf – damit sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, dachte Tara zunächst. Doch dann drehte sich die Reporterin um und lehnte sich mit verschränkten Armen an Taras Seite gegen ihren Schreibtisch. Sie starrten gemeinsam über die Redaktion und ihre orangefarbenen, menschenförmigen Bienen. Schreibmaschinentasten klapperten und Zeilenumbrüche sangen. Oben übte eine Sopranistin Oktavenläufe. »Sie kennen mich nicht, Miss Abernathy.«
»Nicht gut, Miss Jones.«
»Ich bin bei der Times groß geworden, in Dresediel Lex, bevor ich in den Osten gezogen bin.«
Tara sagte nichts.
»Der Huschbank-Aufstand war meine erste große Story. Ich sah, wie der Protest schiefging. Ich sah, wie Götter und Kunstwirker sich gegenseitig über einer Stadt im Würgegriff hatten, während Menschen unter ihnen starben. Ich weiß, dass man keiner Seite trauen sollte, schon gar nicht beiden gleichzeitig. Priester und Zauberer brechen Menschen, wenn es ihnen passt. Zur Hölle, ihr brecht sie versehentlich. Ein Gargoyle hat mich letzte Nacht gerettet. Sie leisten gute Arbeit. Aber die Stadt verdient die Wahrheit.«
»Sie ist nicht bereit für diese Wahrheit.«
»Das habe ich schon mal gehört, und es stinkt. Die Wahrheit ist die einzige Waffe, die Leute wie ich – keine Kunstwirkenden oder Priester oder Schwarzanzüge, nur Zahltagssäufer – gegen Leute wie Sie haben. Glauben Sie mir, sie ist schwach genug. Sie werden schon klarkommen.«
»Ich bin auf Ihrer Seite.«
»Das denken Sie. Ich kann mir den Luxus des Vertrauens nicht leisten.« Sie wandte sich an Tara. »Es sei denn, Sie wollen mir sagen, warum eine Kunstwirkerin, die für die Kirche von Kos arbeitet, ein solches Interesse daran hat, Berichte über die Rückkehr der Gargoyles zu unterdrücken?«
»Wenn die Gargoyles zurück sind«, sagte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht, »könnten sie neue Probleme für die Kirche aufwerfen. Damit fallen sie unter meine Verantwortung.«
Jones sah zu Boden. »Die Träume begannen vor etwa einem Jahr, nachdem Kos gestorben und wiederauferstanden war. Als Kos starb, gab es auch Gargoyles in der Stadt. Vielleicht sind sie nie weggegangen. Es klingt, als wären mehr als nur die Gargoyles zurückgekommen.«
Tara errichtete eine Mauer der Gleichgültigkeit um ihre Panik. »Das ist eine … verwegene Theorie.«
»Ungefähr zur gleichen Zeit begannen Sie, für die Kirche zu arbeiten. Sie haben die Wiederauferstehung von Kos geregelt und die Stadt gerettet. Als Sie ihn zurückbrachten, haben Sie womöglich auch etwas anderes mitgebracht. Oder jemanden.«
Tara öffnete ihre Faust. Die Ermordung von Pressevertretern war in der höflichen Gesellschaft generell verpönt. »Wissen Ihre Redakteure, dass Sie die Angewohnheit haben, unbegründete Anschuldigungen zu erheben?«
»Behandeln Sie uns nicht wie Kinder, Miss Abernathy – nicht Sie, nicht Lord Kos, nicht die Priester oder die Gargoyles oder die Göttin selbst. Wenn die Welt sich verändert hat, haben die Menschen ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Die Zeit ist ein Juwel mit vielen Facetten. Tara lehnte am Schreibtisch. Vor einem Jahr hatte sie auf einem Friedhof unter dem Sternenhimmel gestanden, und die Menschen in ihrer Heimatstadt waren mit Heugabeln, Messern, Fackeln und Mordabsichten auf sie losgegangen, nur weil sie versucht hatte, ihnen zu zeigen, dass die Welt größer war, als sie dachten.
Zugegeben, es hätte auch eine Möglichkeit gegeben, keine Zombies einzubeziehen.
»Die Menschen mögen es nicht, wenn sich die Welt verändert«, sagte sie. »Veränderung ist schmerzhaft.«
»Darf ich Sie zitieren?«
Sie ließ Gavriel Jones an ihrem Schreibtisch zurück, allein unter den Bienen.
5
In jeder Stadt gibt es verlassene Orte: verfallene Lagerhäuser am Wasser, Gassen im Stadtzentrum, in denen Türme den Blick auf den Himmel versperren, Stadtrandgebiete, in denen Immobilien billig sind und Fabriken sich wie Junggesellen in verwahrlosten Häusern in der Gewissheit ausbreiten, dass ihr Rauch die empfindlichen Nasenlöcher der Großen und Guten nicht stört.
Die härteste unter den rauen Gegenden Alt Coulumbs lag im Westen und Norden, zwischen dem Armenviertel und den Glastürmen des Zentralen Geschäftsdistrikts – der diesen Namen kaum verdiente –, und war eine heruntergekommene Region, die Schlacke genannt wurde. Die dort während der Kriege verfallenen Siedlungen aus dem letzten Jahrhundert waren sich selbst überlassen worden und hatten sich nie ganz erholt, da ihre Landrechte in dämonischen Kämpfen gefangen waren. Zwanzigstöckige Steinbauten ragten an den engen Straßen auf, klein im Vergleich zu den modernen Glas- und Stahlnadeln im Norden und Osten, aber stark.
Tara war auf dem Land aufgewachsen und hatte angenommen, dass man nach dem Bau eines Gebäudes damit fertig war – natürlich nicht mit den Bauernhäusern, Scheunen und Silos in Edgemont, die immer repariert werden mussten und deren Strukturen langsam zu Staub zerfielen. Doch ihre Schwäche lag sicherlich in den schlechten Materialien und Baumethoden begründet, die bestenfalls einen Hauch von Modernität besaßen. Aber eine Freundin von ihr an den Verborgenen Schulen studierte Architektur und lachte über Taras Naivität. Als Tara beleidigt war, erklärte sie: Wolkenkratzer brauchen mehr Pflege als Scheunen. Komplizierte Systeme erfordern Arbeit, um ihre Komplexität zu erhalten. Eine Scheune hat keine Klimaanlage, die kaputt gehen kann; befreie die Elementare, die einen Turm kühlen, und die Menschen darin werden in ihrem eigenen Schweiß kochen. Je komplizierter der Tanz, desto verhängnisvoller der Stolperstein.
Die verlassenen Türme in Schlacke waren einfache Dinger, gebaut aus Mörtel, Stein und Bögen, wie Kathedralen der Alten Welt. Wenn Alt Coulumb morgen fiele, würden sie auch in fünfhundert Jahren noch stehen. Doch ihr Inneres verfaulte. Fassaden zerbrachen. Glasscherben ragten aus den Fensterbänken.
Tara näherte sich zu Fuß bei Tageslicht durch Heißstadt. Kinder lungerten an Gasseneinmündungen herum, die Hände in den Taschen ihrer weiten Sweatshirts, die Kapuzen trotz der Hitze hochgezogen. Straßenfeger starrten sie an, ebenso wie Frauen, die vor Bars mit schmutzigen Schildern rauchten. Mädchen spielten auf dem rissigen schwarzen Asphalt »Double Dodge«.
Doch als sie Schlacke erreichte, war sie allein. Nicht einmal Bettler hielten sich in diesen Schatten auf.
Der höchste Turm hatte keine Spitze, und obwohl schwarze Vögel ihn umkreisten, landete keiner von ihnen.
Tara schloss ihre Augen.
Außerhalb ihres Schädels war es beinahe Mittag, drinnen leuchteten die Spinnweben im Mondlicht gegen die Schwärze an. Dies war die Welt der Kunstwirkerinnen, der Bindungen und Verpflichtungen. Sie sah keine Fallen, keine neue Kunstwirkerei vor Ort. Sie öffnete ihre Augen wieder und näherte sich dem Turm ohne Dach.
Das Sonnenlicht strömte durch die zerbrochenen Fenster. Zerborstenes Glas warf helle, scharfe Schatten auf die Ruinen im Inneren. Tara sah weit hoch bis zur ersten intakten Gewölbenische sieben Stockwerke über ihr. Die dazwischenliegenden Etagen waren eingestürzt, und die Trümmer der Büros und Wohnungen türmten sich in der Mitte des Gevierts sieben Meter hoch auf: zersplittertes, verrottetes Holz, Stücke von Trockenbauwänden, Stein und Keramik, Toilettenschüsseln und Arbeitsplatten sowie angelaufene Namensschilder der Büros.
Und natürlich konnte sie hier immer noch nicht fliegen, verdammt seien die eifersüchtigen Götter.
Ein paar Jahrzehnte des Verlassenseins hatten die Wände nicht genug verwittern lassen, um sie erklimmen zu können, selbst wenn sie die Ausrüstung hätte. Sie hatte den Turm der Kunst in den Verborgenen Schulen erklommen, kopfüber, in dreihundert Metern Höhe, aber da hatte sie Aufpasser gehabt, und außerdem, was bedeutete es schon für eine Frau, die fliegen konnte, zu fallen? Sie überlegte, ob sie beten sollte, und verwarf den Gedanken.
Irgendwo musste es einen Eingang geben, sagte sie sich, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmte.
Als sie das Bauwerk zum dritten Mal umrundete, entdeckte sie hinter einem Haufen Schutt ein Loch in der Wand – und dahinter eine steile, schmale Treppe. Vielleicht hatte man für dieses Gebäude Kathedralenarchitekten angeheuert. Alte Gewohnheiten ließen sich nur schwer ablegen.
Sie stieg lange Zeit in der Stille und der Dunkelheit hinauf. Eine fette Spinne landete auf ihrer Schulter, hüpfte an ihrem Jackenärmel hinunter und strich mit ihren gefiederten Beinen über ihren Handrücken; sie nahm sie zwischen die Finger und brachte sie zurück an ihre Wand und in ihr Netz. Das Gift der Spinne kitzelte in ihren Adern, eine angenehme Spannung wie ein elektrischer Schlag oder wie ein Kloß im Hals nach dem Kauen einer Betelnuss. Innerhalb der Turmmauern hauste ein Rattenkönig, aber er wusste es besser, als seine Rattenritter gegen eine Kunstwirkerin zu schicken. Sie knieten nieder, als sie vorbeiging.
Zwanzig Minuten später erreichte sie die Spitze.
Das Tageslicht blendete sie nach dem langen Aufstieg. Sie trat in den schattenlosen Mittag hinaus. Die Finger der unvollendeten Kuppel des Turms krümmten sich über ihr. Umgestürzte Steinblöcke bedeckten das Dach, und eiserne Bögen wölbten sich in seltsamen Winkeln über ihr, verziert mit Runen und Ornamenten aus verwitterter Emaille.
Sie drehte eine langsame Runde, sah niemanden, hörte nur den Wind. Sie ließ ihre Hände in die Taschen gleiten und näherte sich dem Fuß eines Bogens. Er war nicht im Stein verankert, sondern darunter, durch eine Lücke im Mauerwerk, als wäre der Bogen zum Kippen oder Drehen gedacht. Sie erkannte den Stil der Runen, obwohl sie sie nicht lesen konnte. Und die emaillierten Ornamente, eines für jeden der vielen ineinandergreifenden Bögen.
»Es ist ein Orrery«, sagte sie. »Eine Planetenmaschine in deinem Skript.«
»Gut erkannt«, antwortete eine steinerne Stimme.
Sie wandte sich vom Bogen ab. Aev stand kaum eine Körperlänge entfernt. Ihr Kopf, ihre Schultern und Flügel überragten Tara. Der Glanz ihres Silberdiadems hatte nichts mit der Sonne zu tun. Tara hatte ihre Annäherung nicht gehört, aber das sollte sie auch nicht. »Ich wusste, dass du hier wohnst. Ich wusste nicht, dass es eigentlich dein Haus ist.«
»Ist es nicht«, sagte Aev. »Nicht mehr. Als unsere Herrin in den Götterkriegen fiel, wurde ihr vieles gestohlen, auch dieses Gebäude.«
»Ich dachte, Tempel sind nicht dein Stil.«
»Wir sind Tempel in uns selbst. Aber die Welt hat sich damals verändert, auch hier. Wir dachten, wir müssten uns mit ihr verändern.« Sie griff in die Höhe – weit in die Höhe – und kratzte eine Rostflocke vom Eisen. »Selbst eure heidnische Astronomie gibt zu, dass der Felsen, der als Mond kreist, unserer Welt von allen Himmelskörpern am nächsten ist. Wir wollten die Herrlichkeit unserer Herrin durch Ehrfurcht und Verständnis kultivieren.«
»Und dann kamen die Götterkriege.«
Aev nickte. »Eure einst menschlichen Kunstwirker, die sich als Meister des Universums gefallen, haben wenig Achtung vor Ehrfurcht oder Wundern, vor allem dann, wenn sie sie nicht kaufen und verkaufen können. Sie sind so tödlich, dass selbst die Hoffnung in ihrem Griff zu einem Werkzeug wird.«
»Ich bin nicht hier, um darüber zu streiten«, sagte Tara.
»Unser Tempel wäre prächtig gewesen. Nachts würden die Menschen von Alt Coulumb hier heraufklettern, um zu erfahren, wie die Welt sich dreht.«
»Wo sind die anderen?«
Aev hob ihre Hand. Die Gargoyles tauchten lautlos hinter und aus den Steinblöcken auf, entfalteten Flügel und Gliedmaßen – Anbetende, die gleichzeitig Waffen waren, Kinder einer untergegangenen Göttin. Es waren etwa dreißig, die letzten Überlebenden eines Heeres, das durch den Krieg, in den ihre Herrin sie geführt hatte, geschwächt worden war. Stark, schnell, meist unsterblich. Tara wollte sie nicht fürchten und tat es auch nicht, im Gegenteil.
Dennoch kostete es sie Mühe, ihre Gelassenheit zu bewahren.
Schwarzanzüge konnten stundenlang stillstehen. Golems fielen in den Winterschlaf. Nur ein schmaler Grat trennte ein Kunstwirkerinnenskelett, das meditierte, von einer Leiche. Aber die Gargoyles, Serils Kinder, waren keine aktiven Wesen, die Unbeweglichkeit vortäuschten. Sie waren aus Stein.
»Ich sehe Schiefer nicht«, sagte sie.
»Er fühlt sich in deiner Nähe unwohl. Selbst du musst zugeben, dass er seine Gründe hat.«
»Ich habe sein Gesicht für einen guten Zweck gestohlen«, sagte Tara. »Und er hat später versucht, mich zu töten, und dann habe ich euch alle vor Professor Denovo gerettet. Ich denke, wir sind quitt.«
»›Quitt‹ ist ein menschliches Konzept«, sagte Aev. »Stein trägt die Spuren von allem, was ihm angetan wurde, bis neue Spuren die vorherigen auslöschen.«
»Und die Selbstjustiz – wurde die auch in euch hineingeschnitzt?«
»Wie ich sehe, hast du die Nachrichten gehört.«
»Ja, ich habe die Nachrichten gehört, verdammt noch mal. Wie lange machst du das schon?«
»Die Herrin schickte ihre ersten Träume kurz nach unserer Rückkehr in die Stadt. Ein einfaches Tauschangebot, um die Verehrung für sie wieder aufzubauen.«
»Und eure Herrin …« Tara hörte die Ehrfurcht in ihrer eigenen Stimme, was ihr nicht gefiel, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte ihre Göttin in sich getragen, wenn auch nur kurz. »Eure Herrin kontrolliert jetzt die Justiz. Sie hat eine Polizeitruppe zu ihrer Verfügung, und sie hält diese Terror-im-Schatten-Nummer immer noch für eine gute Idee?«
Aevs Lachen erinnerte Tara an das Schnaufen eines Tigers, und sie wurde sich der Zähne der anderen Frau unangenehm bewusst. »Die Justiz mag unserer Herrin gehören, aber wenn sie als Justiz dient, ist sie an Regeln, Arbeitskräfte und Zeitpläne gebunden. Dein alter Meister Denovo hat zu gut gearbeitet.«
Taras Kiefer spannte sich bei dem Wort »Meister« an, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren. »Seril benutzt dich also, um Gebete zu erhören.«
»Seril ist schwach. Seit vierzig Jahren halten die Menschen in dieser Stadt sie mehr für einen Dämon als für eine Göttin. Ihr Kult ist verblasst. Diejenigen, die ihre Riten abhalten – beim Mondtod Steine ins Meer werfen, das Verbrennen von Blumen und das Anstoßen auf den Mond –, kennen die Bedeutung ihrer Taten nicht. Also geben wir ihnen Wunder, um ihren Glauben zu stärken. Lord Kos und seine Kirche bewahren die Stadt, aber Seril und wir, die ihre Kinder sind, arbeiten in der Dunkelheit, in den Stunden der Not.«
»Manchen Leuten würde der Gedanke nicht gefallen, dass eine Göttin in den Slums wächst und sich vom Blut verzweifelter Menschen ernährt.«
»Wir haben Raubüberfälle, Morde und Vergewaltigungen verhindert. Wenn das etwas Schlechtes ist, dann sehe ich es nicht. Du lebst seit einem Jahr in dieser Stadt – im Armenviertel, wenn auch in seinen besseren Gegenden –, und du hast so lange gebraucht, um von unseren Bemühungen zu erfahren. Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass wir notwendige Arbeit geleistet haben? Dass wir Menschen geholfen haben, die sonst für dich unsichtbar wären?«
Knirschendes Gemurmel der Zustimmung erhob sich von den Gargoyles. Der Wind drang durch Taras Jacke und kühlte den Schweiß ihres langen Aufstiegs.
»Seril ist nicht stark genug, um an die Öffentlichkeit zu gehen«, sagte sie.
»Die Herrin ist stärker als vor einem Jahr, was sie nicht gewesen wäre, wenn wir auf dich gehört und stillgehalten hätten. Einige glauben jetzt – und das ist ein größerer Erfolg, als deine Bemühungen gebracht haben.«
»Ich habe ein Jahr damit verbracht, Spuren zu verfolgen und deine alten Verbündeten zu jagen, von denen die meisten tot sind, aber das ist nicht der Punkt. Es klingt, als hättest du nur zehn Minuten gewartet, bevor du anfingst, Robin Hood zu spielen. Du hast es mir nicht einmal gesagt.«
»Warum sollten wir dir das sagen, wenn wir wissen, dass du mit unseren Methoden nicht einverstanden bist?«
»Ich bin eure Kunstwirkerin, verdammt. Es ist meine Aufgabe, für eure Sicherheit zu sorgen.«
»Vielleicht hättest du von unseren Angelegenheiten gewusst«, sagte Aev, »wenn du ab und zu mit der Herrin gesprochen hättest.«
Mondlicht und kühles Silber und ein Lachen wie das Meer. Tara schloss die Göttin aus und starrte in ihr eigenes Spiegelbild in Aevs Edelsteinaugen.
»Ihr habt Glück, dass sie immer noch glauben, Seril sei tot. Ich will ein Versprechen von euch allen: keine Missionen heute Nacht. Und ich brauche dich, Aev, bei einer Ratsversammlung, sobald es dunkel genug ist, um zu fliegen.«
»Wir werden uns nicht aus der Verantwortung stehlen.«
»Das ist nur zu deinem Besten. Und zu Serils.«
Aev ging auf und ab. Ihre Krallen schlugen weite Bögen durch die Luft. Tara sprach ihre Sprache nicht gut genug, um ihr zu folgen, aber sie erkannte einige der Flüche.
»Nein!«
Die steinerne Stimme gehörte nicht Aev. Die Gargoyle drehte sich erschrocken um.
Ein grauer Fleck schlug auf dem Dach auf und stürzte, wobei er durch die Wucht seiner Landung lange Rillen in den Stein riss. Gekrümmt und knurrend stand eine neue Gestalt vor Tara: schlank und elegant im Vergleich zu den massigen Statuen hinter ihm, majestätisch vollendet, mit schlanken Gliedern und polierten Muskeln, aber nicht weniger steinern und wütend.
Tara ließ ihn nicht sehen, dass sie zusammenzuckte. »Schiefer«, sagte sie. »Ich bin froh, dass du zugehört hast. Ich brauche dein Versprechen, zusammen mit dem der anderen, euch nicht einzumischen.«
»Ich werde nichts versprechen. Und das sollten die anderen auch nicht.« Aev griff nach Schiefer, um ihm Handschellen anzulegen oder ihn zurückzuziehen, aber er drehte sich weg und sprang mit einem einzigen Schlag seiner weit ausgebreiteten Flügel auf den zerbrochenen Orrerybogen. Von dort starrte er finster auf Tara hinunter. »Wir unterrichten das Volk von Alt Coulumb. Sie haben zum Glauben gefunden – im Armenviertel, auf den Märkten. Sie beten zu unserer Herrin. Sie schauen in den Himmel. Du willst, dass wir das aufgeben – den einzigen Fortschritt, den wir in einem Jahr gemacht haben. Du verlangst von uns, dass wir den wenigen Gläubigen den Rücken kehren, die unsere Herrin hat. Dass wir ihr Vertrauen brechen. Ich weigere mich.«
»Runter da«, schnauzte Aev.
»Ich fliege, wohin ich will, und sage, was ich will.«
»Wir haben Tara um ihre Hilfe gebeten. Wir sollten auf sie hören«, sagte Aev, »auch wenn ihr Rat schwer zu ertragen ist.«
»Es ist nur für eine Nacht«, sagte Tara.
Schiefers Flügel klappten schlagartig aus und wirbelten Staub auf. Er wirkte riesig. »Eine Nacht lang, und die nächste und die übernächste. Wir haben ein Jahr lang Nacht für Nacht gekauert und gebangt, und wenn wir mit unserer kleinen Bekehrung aufhören, wird der Glaube, den wir aufgebaut haben, mit jedem Tag mehr zerbrechen, und einmal zerbrochener Glaube ist dreimal schwieriger wieder zu kitten. Ich werde das Volk, das uns um Hilfe bittet, nicht verraten. Wirst du es, Mutter?« Er sah Aev finster an. »Wird das irgendjemand von euch tun?« Sein Blick schweifte über die Versammlung auf dem Dach. Die steinernen Gestalten scharrten nicht mit den Füßen, aber dennoch spürte Tara die Unsicherheit in den sich bewegenden Flügeln und den geballten Krallen.
Aev machte ein Geräusch in ihrer Brust, das Tara wie ein entferntes Donnern wahrnahm. »Ich werde es schwören«, sagte sie, entschlossen und endgültig. »Wir alle werden es schwören. Wir werden uns nicht zeigen. Wir werden Gebete zur Sicherheit für unsere Herrin nicht erhören.«
Tara spürte, wie sich das Versprechen zwischen ihnen festsetzte. Nicht so bindend wie ein Vertrag, da keine Gegenleistung erbracht wurde, aber das Versprechen war dennoch eine Handhabe für Flüche und Vergeltung, sollte Aev ihr Wort brechen. Das war gut genug.
»Du schwörst um der Herrin willen«, sagte Schiefer, »doch wenn du schwörst, wendest du dich von ihrem Dienst und von unserem Volk ab – du kehrst den Übersehenen und den Ängstlichen den Rücken. Lass sie nicht im Stich!«
»Und ich werde es schwören«, sagte ein anderer Gargoyle, dessen Namen Tara nicht kannte. »Und ich.« Und die anderen, sie alle, stimmten im Chor ein. Tara sammelte ihre Versprechen zu einem Bündel und schnürte es durch eine bindende Glyphe an ihren Unterarm. Das war schmerzhafter als das Gift der Spinne, aber es war für einen guten Zweck.
»Gebrochen«, rief Schiefer. Es war ein weiteres Wort, das ein Fluch in der Steinsprache sein musste. »Kapitulation.«
»Schiefer«, sagte Aev. »Du musst mit uns schwören.«
»Ihr könnt mich nicht zwingen«, entgegnete Schiefer. »Nur die Herrin kann befehlen.«
Er sprang vom Turm. Mit angelegten Flügeln sauste er auf die Straßen der Stadt zu, dann schoss er mit einem peitschenden Knall in die Höhe und glitt zwischen den Türmen von Alt Coulumb davon.
Tara formte ihre Kunst zu einem Netz und zu Haken, um ihn zu fangen, festzuhalten und zurückzuziehen. Ein Schatten hüllte sie ein, und sie streckte ihren Arm aus.
Doch eine gewaltige Klaue schloss sich um ihr Handgelenk, und Aevs Körper versperrte ihr die Sicht auf Schiefers Rückzug. Taras Blitze verpufften in der steinernen Haut der Gargoyle.
»Ich kann ihn aufhalten«, sagte Tara. Sie stemmte sich gegen Aevs Griff, aber die Hand der Gargoyle rührte sich nicht. »Geh mir aus dem Weg.« Ein Knurren kam von den anderen Statuen, die hinter dem großen Bogen von Aevs Flügeln verborgen waren.
»Er hat die freie Wahl«, antwortete Aev. »Wir werden nicht zulassen, dass du ihn bindest.«
»Er wird alles verderben.«