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Wie wird ein Mensch zum Helden? Die Legenden Aventuriens kennen viele solcher Geschichten, so auch die von Hashandru, der Heldenkönigin der Alhanier. Als ihr Volk am Rande des Untergangs stand, so erzählt man sich, war sie es, die durch ihren Mut und ihre Zaubermacht dem Vormarsch des Bosparanischen Reiches trotzte. Das erste Blut war längst vergossen, doch es war ihr Schicksal, die Alhanier in ein neues, goldenes Zeitalter zu führen. Über tausend Jahre später fragen sich nur wenige, wer der Mensch war, der einst zu Hashandru, "die durch Zaubermacht herrscht", werden sollte. War es wirklich der Wille der Götter, der ihr die Kraft verlieh, zur Heldin zu werden? Ist der Weg zu Größe oder Verderben vorherbestimmt? Oder gibt es noch etwas anderes, begründet allein in den Entscheidungen derer, die im Angesicht größter Gefahr den Mut aufbringen, zu dem zu werden, was sie sein müssen? Der Roman behandelt die Hintergrundgeschichte der Heldenkönigin Hashandru III. aus dem DAS5 Abenteuer "Gefangen in der Gruft der Königin". Spielt ca. 2000 Jahre vor der aktuellen Zeitrechnung in Aventurien und ist der erste Teil einer zweiteiligen Romanreihe von Jeanette Marsteller.
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Seitenzahl: 512
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Impressum
Ulisses Spiele
Band US25766EPUBTitelbild: Christof GrobelskiAventurien-Karte: Daniel JödemannRedaktion: Nikolai HochLektorat: Frauke ForsterKorrektorat: Claudia WallerUmschlaggestaltung und Illustrationen: Nadine Schäkel, Patrick SoederLayout und Satz: Nadine Hoffmann, Michael Mingers
Mitarbeiter Ulisses:Zoe Adamietz, Jörn Aust, Philipp Baas, Mirko Bader, Steffen Brand, Bill Bridges, Timothy Brown, Simon Burandt, Alina Conard, J-M DeFoggi, Trisha DeFoggi, Carlos Diaz, Nico Dreßen, Christiane Ebrecht, Christian Elsässer, Cora Elsässer, Thomas Engelbert, Simon Flöther, Frauke Forster, Christof Grobelski, Kai Großkordt, Darrell Hayhurst, Markus Heinen, Nils Herzmann, Nikolai Hoch, Nadine Hoffmann, David Hofmann, Curtis Howard, Jan Hulverscheidt, Nadine Indlekofer, Philipp Jerulank, Kirk Kading, Johannes Kaub, Nele Klumpe, Anke Kühn, Christian Lonsing, Matthias Lück, Susanne Majewski, Julia Metzger, Thomas Michalski, Carsten Moos, Johanna Moos, Phillip Nuss, Sven Paff, Stefanie Peuser, Marlies Plötz, Markus Plötz, Stephan Pongratz, Elisabeth Raasch, Nadine Schäkel, Maik Schmidt, Ulrich-Alexander Schmidt, Thomas Schwertfeger, Eric Simon, Alex Spohr, Anke Steinbacher, Stefan Tannert, Maximilian Thiele, Katharina Wagner, Jan Wagner, Ross Watson, Michelle Weniger, W. Gwynn Wettach, Carina Wittrin, Kai Woitczyk
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Jeanette Marsteller
Das erste Blut
Der Aufstieg Alhaniens I
Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge©
Originalausgabe
Prolog
Auftakt des Vortrages »Reich der Königinnen«, gehalten durch die Historienforscherin Wulfriede Birkenhain am 3. Peraine des Jahres 1044 BF anlässlich der Alhanier-Konferenz zu Festum
»Werte Kolleginnen und Kollegen der Gelehrtenzunft, geschätzte Mitglieder der Kirchen und Magiergilden, es ist mir eine Freude, dass Ihr euch hier eingefunden habt, um mit mir in die sagenumwobene Vergangenheit des alhanischen Volkes einzutauchen. Uns bleibt Zeit bis zum Mittagsmahl, also würde ich sagen, wir fangen gleich an – mit einer Frage, die gewissermaßen den Kern dieser Konferenz bildet, und zugleich eine Frage, auf die wir trotz all unserer Bemühungen und all unserer Weisheit bisher nur unzureichende Antworten geben konnten: Wer waren die Alhanier?
Wir alle, die wir hier Vorträge halten, bemühen uns im Grunde darum, eine Antwort auf diese Frage greifbar zu machen. Ich will deshalb nur kurz zusammenfassen, wessen wir uns hinreichend gewiss sind.
Wir wissen nämlich, dass die Welt der Alhanier eine ganz andere war als die unsere. Damit meine ich nicht nur die zeitliche Distanz von weit über eintausend Jahren, die zwischen uns und dem Untergang der Alhanier liegt. Ich beziehe mich in erster Linie darauf, dass die Welt aus den Augen eines Alhaniers betrachtet ein völlig anderes Antlitz hatte. Einige Unterschiede sind augenfällig: Die Alhanier verehrten teilweise andere Götter, pflegten einen anderen Umgang mit Magie und organisierten ihre Gemeinschaft nicht zuletzt auf eine Art und Weise, die mit unserem heutigen Verständnis von Staaten nicht immer in Einklang zu bringen ist. Halten wir also fest:
Ad primo verehrten die Alhanier nicht die Zwölfe, sondern ein eigenes Pantheon, dessen Götter nur teilweise mit heute bekannten Gottheiten übereinstimmen. Besonders hervorzuheben ist Heshinja, die schlangengestaltige Göttin, die ihnen der Legende nach die Gabe der Schrift schenkte und die Alhanier unter allen Völkern auserwählte. Hier liegt, so denke ich, unzweifelhaft eine Verehrung der allweisen Herrin Hesinde vor, die sich in vielen Punkten nicht von dem unterscheidet, was auch in heutigen Tempeln gelehrt wird – die anwesenden Diener der Göttin mögen mich unterbrechen, sollte ich hier falsch liegen.
Neben Heshinja aber wurde die bienengestaltige Mokoscha verehrt, die wir heute nur aus der Glaubenswelt des Volkes der Norbarden kennen. Die Ursprünge dieser Gottheit verlaufen sich im Dunkel der Geschichte, jedoch schien sie für die Alhanier das Prinzip der Gemeinschaft zu verkörpern, das für ihr Selbstbild als Volk ungemein prägend war.
Andere, weniger verehrte Gottheiten entspringen größtenteils dem urtulamidischen Pantheon. Zu nennen wäre hier beispielsweise Feqz, der listige Gott der Nacht und des Mondes, der in ähnlichen Aspekten auch heute noch verehrt wird – oft auch in der Schreibweise P-h-e-x. Auffälliger ist dagegen die durch Inschriften bezeugte Verehrung Firuns, des grimmigen Wintergottes, der gemeinhin nicht zu den urtulamidischen Gottheiten gerechnet wird. Für die Alhanier schien er eine Funktion als Schutzpatron der Sippenkrieger einzunehmen, die möglicherweise auf frühen Kontakt mit Ureinwohnern Nordaventuriens zurückgeht. Alle Forschungen zu diesen Aspekten der alhanischen Götterwelt stehen jedoch noch ganz am Anfang. Fahren wir also fort.
Ad secundo halten wir fest, dass den Alhaniern die Magie als wertvolle, von Heshinja verliehene Gabe galt, die einzig Frauen zustand. Diese sogenannten Zauberpriesterinnen erfüllten oft zugleich auch religiöse Pflichten, und es schien üblich zu sein, dass nur magisch begabte Frauen für die Erbfolge wichtiger Adelstitel infrage kamen. Eine Trennung zwischen magischer, kirchlicher und weltlicher Macht ist im Selbstverständnis der Alhanier also offenbar nicht nötig gewesen.
Diese Gedanken führen uns zu unserer Erkenntnis ad tertio, die den meisten Anwesenden durchaus bewusst sein dürfte, aber die ich dennoch einmal explizit erwähnen möchte, weil sie für alle unsere Betrachtungen der Alhanier zentral ist: die alhanische Gesellschaft war matriarchalisch organisiert. Politische und wirtschaftliche Macht lag fast ausschließlich in den Händen von Frauen, während man die Domäne der Männer eher in der Planung und Durchführung von Kriegen sah. Diese Gesellschaftsform wird durch die hauptsächliche Verehrung zweier weiblicher Gottheiten widergespiegelt, ist aber dennoch sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Urtulamiden, aus deren Stämmen sich die Alhanier entwickelten, moderat bis streng patriarchalisch organisiert waren.
Diese drei Punkte seien nur kurz erwähnt, denn sie allein werfen bereits genügend Fragen auf, und dabei haben wir noch nicht einmal versucht, die undurchsichtige Historie der Alhanier und ihrer Vorfahren zu beleuchten. Auf viele dieser Fragen gehe ich in meinem unlängst veröffentlichten Werk ›Die Alhanier‹ ein – sollten einige der Anwesenden noch nicht über eine Ausgabe dieses Werkes verfügen, so können sie gern nach Abschluss des Vortrages ein Exemplar bei mir erwerben. Ich hoffe, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen verstehen dies nicht als schamlose Werbung, sondern als das, was es sein soll – ein Aufruf zum Austausch, zur Diskussion, zu neuen Fragen. Dies ist es schließlich, was die weise Hesinde von uns verlangt: dass wir Gebrauch machen von der Klugheit, die sie uns schenkte.
Also, geschätzte Zuhörerschaft, wollen wir unsere Klugheit nutzen! Wollen wir einige Fragen stellen, die auf dieser Konferenz noch nicht gestellt wurden – denn über die Glaubenswelt und Sprache gab es bereits gestern ausführliche Vorträge, und über die Frühzeit der Alhanier, ihren Exodus aus den Landen der Urtulamiden und ihre späteren Beziehungen zu den entfernten Vettern im Süden wird im Laufe der Konferenz, soweit ich weiß, noch eingehender gesprochen werden.
Wollen wir uns also auf eine Zeit konzentrieren, die bis vor kurzem wenig Beachtung erfuhr: die goldene Zeit des Königinnenreichs. Diese Zeit endete, wie jeder weiß, mit dem Tod der letzten Königin auf dem Scheiterhaufen, als die bosparanischen Truppen unter Jel-Horas 300 v. BF die großen Städte der Alhanier einnahmen. Ein großer Sieg für Bosparan, ein unrühmliches Ende für eine so einflussreiche Zivilisation wie die Alhanier und vielleicht auch, wie manche sagen, ein Schandfleck der Geschichte, der das Land der Alhanier, das wir heute als Tobrien kennen, für alle Zeiten verfluchte. All diese Ereignisse sind uns bekannt.
Fragen wir deshalb lieber nach den Anfängen des Königinnenreichs. Wann begann es? Allein über diese Frage könnte man trefflich streiten, denn obwohl die Alhanier mindestens seit 1500 v. BF im heutigen Tobrien siedelten, finden wir die Bezeichnung ›Königinnenreich‹ erst ab der Mitte des 9. Jahrhunderts v. BF. Warum also tauchen in früheren Dokumenten die Herrscherinnen der Alhanier unter der Bezeichnung ›Sultana‹ auf, ab etwa 868 v. BF aber als ›Königin‹? Und wie konnte zu genau dieser Zeit ein Land, von dessen drei größten Städten zwei bereits besetzt waren, die Herrschaft der Bosparaner abschütteln und zu einer neuen, über fünfhundert Jahre währenden Blüte finden?
Viele dieser Fragen stellten wir Gelehrte uns bisher wohl nur insgeheim, denn zu viel Zeit ist seitdem vergangen, und die Quellenlage war dürftig. Doch in den vergangenen Jahren wurden uns viele außergewöhnliche Geschichtszeugnisse offengelegt, die hier Licht ins Dunkel bringen können – nicht zuletzt durch die Entdeckung des Grabmals von Königin Hashandru III., die im besagten Jahr 868 v. BF regierte und uns bereits aus späteren Inschriften unter dem Beinamen ›die Heldenkönigin‹ bekannt war. Ihrem Vermächtnis ist es zu verdanken, dass wir hier heute stehen, und ich freue mich, darauf hinweisen zu dürfen, dass im Anschluss an das Mittagsmahl seine Gnaden Ischtan Alassow einen Vortrag halten wird, der sich ganz der Heldenkönigin, ihrer Zeit und ihren Weggefährten widmen wird. Um dem nicht vorwegzugreifen, will ich die überaus spannende Frage, wer diese Frau war, und wie es ihr gelingen konnte, von einer obskuren Kleinadligen zur Bezwingerin Bosparans aufzusteigen, hintanstellen.
Ich frage deshalb lieber dies: Was war das für ein Königinnenreich, das diese Königin gegen alle Widerstände und wohl auch gegen alle Wahrscheinlichkeit erschuf? Wie war das Leben zu einer Zeit, als die prächtige Stadt Ysil’elah über den glänzenden Wassern des Yslisees thronte? Wie konnten die Alhanier den Mut bewahren in einer Zeit, da sie ihrer eigenen Zerstörung durch Bosparan bereits ins Auge sehen mussten? Und welche ungeheuerlichen Anstrengungen mussten die Nachfolgerinnen Hashandrus auf sich nehmen, um das Reich, das die Heldenkönigin geschaffen hatte, viele Jahrhunderte lang erfolgreich gegen alle äußeren Feinde zu verteidigen?
Dies, geschätzte Freunde der Weisheit, ist die Frage, der wir uns gemeinsam widmen wollen. Bevor ich mich jedoch an die Beantwortung mache – gibt es Zwischenfragen aus dem Publikum?«
Akt I – Ende
Ysil’elah, im Jahre 12 der Herrschaft der Sultana Mirescha (872 v. BF)
Der Blick eilte ihr voraus, den schmalen, niemals enden wollenden Gang entlang. Er glitt über die Wandmalereien, die vom einstigen Stolz ihres Volkes kündeten. Viele waren im Laufe der Jahrhunderte verblasst und schienen ihr wie stumme Zeugen zahlreicher vergangener Generationen, die Blüte, Aufschwung und Wohlstand gesehen hatten. Man hatte diesen Gang nicht ohne guten Grund derart ausgestaltet, das verstand Harandra nun, als sie ihn zum ersten und wohl auch einzigen Mal durchschritt. Nein, ihre Ahnen hatten diese steingewordenen Zeugnisse bewusst genau hier hinterlassen, wo nur diejenige sie sehen konnte, die im Begriff war, ein Teil dieser Geschichte zu werden. Dies war der Weg zu ihrer Erhebung.
Tief atmete Harandra ein und fasste die Tür am Ende des Ganges ins Auge. Bis dorthin musste sie es schaffen, ohne an ihrem Pfad zu zweifeln, nur bis dorthin – und doch erschien ihr der Weg unendlich weit. Mehr noch, anstatt der Tür näher zu kommen, meinte Harandra, sich immer weiter davon zu entfernen. So weit, wie sie sich gerade von allem entfernte, was bis vor kurzem noch Sinn ergeben hatte.
Allein ihr Name fühlte sich fern und fremd an – Harandra, die edle Zauberin. Sie wusste, dass es viele in ihrem Volk gab, die im Laufe des Lebens ihren Namen ablegten und einen neuen annahmen, wenn die Umstände es geboten. So wie die Schlange sich häutet, um größer und stärker zu werden, so musste man manches Mal auch einen alten Namen hinter sich lassen. Welchen größeren Schritt konnte es geben, als den, den sie im Begriff war zu wagen? Den Schritt, sich ganz der weisen Göttin Heshinja und dem Wohl ihrer Sippe zu verschreiben, indem sie alles hinter sich ließ und zu ihrer Führerin, ihrer Beyrouna, wurde? Ihr Verstand wusste, dass die Änderung ihres Namens nicht nur angemessen, sondern notwendig war, nun, da sie zu einer Herrscherin werden sollte. Doch tief in ihr fühlte es sich dennoch falsch an, so wie all das, was in den letzten Wochen geschehen war.
Sie blieb stehen. Ein Augenpaar, für immer auf kalkweißen Stein gebannt, starrte sie erbarmungslos an. Heshinjas Gnade hatte zu wenig von dem Kunstwerk übriggelassen, um zu offenbaren, wem diese Augen einst gehört hatten, doch nun erschienen sie Harandra wie der beißende Blick einer Kobra.
»Harandra sollte nicht hier sein«, flüsterte die junge Frau zu sich selbst, ohne ihren Blick von dem Gemälde abzuwenden. »Es hätte sie niemals geben dürfen. All das hier ist ein Fehler. Ich sollte nicht Harandra sein. Ich hätte für immer Orischja bleiben sollen.«
Orischja, der kleine Wirbelwind – so hatte ihre Mutter sie einst gerufen. Doch das war früher gewesen, damals, als ihre Mutter sie noch in dem Glauben gelassen hatte, ihre Tochter würde ihr etwas bedeuten, damals, als sie gemeinsam gelacht und gespielt hatten, lange bevor …
Sie, die nicht mehr Orischja war, ließ den Blick sinken und schüttelte den Kopf. Was damals geschehen war, spielte nun keine Rolle mehr. Es war vorbei, eine dunkle Erinnerung, die genau wie alles, was vor diesem Tag geschehen sein mochte, bald ebenso verblassen würde wie die Malereien auf den Wänden. Sie konnte nicht mehr Orischja sein. Der kleine Wirbelwind war fort, und wenn das Mädchen, das sie einst gewesen war, als Frau weiterleben wollte, dann hatte sie nur eine Wahl: Sie musste Harandra werden.
In einem tiefen Atemzug rief sie sich selbst zurück zur Ordnung. Sie zog die Schulterblätter zusammen, um wieder aufrecht zu stehen, und erinnerte sich daran, was hinter dieser Tür auf sie wartete. Auch dort lauerten Augenpaare, Dutzende von ihnen, glimmend vor Neugier, doch diese waren keine Malerei. Es waren jene der machtvollsten Zauberpriesterinnen und tatkräftigsten Nurbadi ihrer gesamten Sippe. Jedes einzelne dieser Augenpaare würde nur darauf warten, Schwäche in ihr zu erkennen, und dann waren da auch noch jene göttlichen Augen, die niemand sehen konnte, doch von denen jeder wusste, dass sie alles im Blick behalten würden. Harandra wusste, dass jeder, der hinter dieser Tür harrte, nur eine Frage beantwortet sehen wollte: Würde Heshinja sie als Dienerin akzeptieren?
Harandra seufzte leise. »Wenn du mir doch nur gesagt hättest, was mich erwartet«, murmelte sie, als könne ihre verstorbene Tante Rasescha, die vor ihr die Würde der Beyrouna getragen hatte, sie noch hören. Doch der Raum blieb still. »Lass uns hoffen, dass wenigstens Heshinja mich nicht verlassen hat.«
Dann öffnete sie die Tür.
Ihr Herz hämmerte schmerzend in ihrer Brust, als Harandra langsam wieder zu sich kam. Zuerst war es das Gehör, das man ihr wiedergab, so als lüfte sich langsam ein Schleier um ihren Kopf, der bislang alle Geräusche ferngehalten hatte. Sie hörte die Stimme der Priesterin, zuerst dumpf und neblig, dann immer klarer.
»… gezeigt, dass diese Frau ihr Wohlwollen genießt. So sei es hier und für alle Zeit verkündet, dass Harandra suni Gama in den Weihen Heshinjas steht und ihr dienen soll, bis dass Mokoscha sie im Tod mit Wärme ummantele.«
Harandra begann zu begreifen. Es war vorbei, die Zeremonie neigte sich dem Ende zu und alles hatte seinen Lauf genommen. Dann kehrte das Gefühl in ihre Glieder zurück und sie spürte, wie man etwas metallisch Kaltes in ihre Hände legte.
»Dies ist das Zepter von Imme und Natter, wie es die Beyrouna der leuchtenden Stadt Ysil’elah seit den Tagen der großen Hashandru getragen hat«, verkündete die Priesterin mit huldvoller Stimme.
Vorsichtig ließ Harandra ihre Finger darüber gleiten, denn obschon sie das Zepter Jahr um Jahr in den Händen ihrer Tante gesehen hatte, war es ihr doch stets versagt geblieben, dieses heilige Kleinod zu berühren. Und jetzt gehört es mir, dachte sie. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Dann begannen sich die Nebel vor ihren Augen langsam aufzulösen und gaben den Blick auf die Priesterin frei, die ihr würdevoll zunickte.
»Siehe, Volk der Al’Hani, dies ist Harandra suni Gama, von Heshinjas und Mokoschas Gnaden Beyrouna des stolzen Ysil’elah. Es ist der Wille der Göttinnen!«
Obwohl sie sich selbst dafür schalt, konnte Harandra nicht verhindern, dass ihre Knie zitterten, als sie sich umdrehte. Sie sah in unzählige Gesichter, von denen keines wirklich von dieser Welt zu sein schein. Vielmehr war es ihr, als wäre tatsächlich ihr gesamtes Volk hier versammelt, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie umklammerte das Zepter fester und versuchte, einen entschlossenen Ausdruck auf ihr Gesicht zu zwingen.
»Es ist der Wille der Göttinnen«, wiederholte schließlich jemand die Worte der alten Priesterin und keinen Herzschlag später wurden es mehr Stimmen, die alle dieselben Worte sprachen: »Es ist der Wille der Göttinnen.«
Ein Mann trat vor und sein Anblick allein genügte, um Harandra die größte Last von der Seele zu nehmen. Er war längst grau und gewiss alt genug, um ihr eigener Großvater zu sein, doch für Harandra war er weitaus mehr als das. Die Güte in seinen dunklen Augen strahlte beinahe, als er nach ihrer freien Hand griff.
»Erlaube mir, der erste zu sein, der dich beglückwünscht, Herrin«, sprach er voller Überzeugung. »Es ist ein guter Tag für unsere Sippe und für all jene, in deren Adern das Blut der Al’Hani fließt. Heshinja hat dich erwählt und Mokoscha wird dich leiten.«
»Mir bleibt die Hoffnung, dass auch du mich leiten wirst, Keshmir«, ermahnte sie ihren einstigen Lehrer mit gespielter Strenge.
Der Alte nickte und versteckte ein Schmunzeln in den Falten seines Gesichts. »Gewiss, Herrin, doch als Beyrouna steht dir weitaus mehr Hilfe zu als jene, die ein alter Narr und Freund verstaubter Schriften wie ich dir bieten könnte. Sieh, dies sind jene, die deiner ruhmreichen Tante, der Beyrouna Rasescha, als Berater dienten und die nun dich befähigen werden, unser Volk zu Wohlstand und Ruhm zu führen.« Mit den letzten Worten trat er einen Schritt zur Seite, um den Weg für andere freizumachen.
Harandra sah in viele Gesichter, die dem ihres geschätzen Lehrmeisters auf den ersten Blick ähnelten: sie erkannte die hellbraune Haut, die dunklen Augen und das meist schwarze Haar, die vom tulamidischen Erbe ihres Volkes kündeten.
So sehr wie Keshmir eben noch bemüht gewesen war, sein Lächeln zu verbergen, so sehr versuchte Harandra nun, ein solches auf ihre Lippen zu bringen. Mit ruhigem Nicken nahm sie jene Glückwünsche der Zauberpriesterinnen und Nurbadi entgegen, von denen sie genau wusste, dass sie nicht echt waren. Kaum jemand in diesem Raum hatte sich gewünscht, dass ausgerechnet Harandra an der Spitze Ysil’elahs stehen sollte. Selbst jene wie Keshmir, die sie achteten und Großes von ihr erwarteten, hätten sich gewiss andere Umstände ihrer Thronbesteigung gewünscht.
Als die letzten Gratulanten von ihrer Seite wichen, griff Harandra das Zepter erneut fester und wandte sich an die Versammelten.
»Schwestern, Brüder, ich danke euch für eure warmen Worte. Ich versichere, man wird sie nicht vergessen. Doch nun lasst uns den Göttinnen danken für die Gnade, die sie uns allen heute geschenkt haben, indem sie das Blut in unseren Adern fließen lassen.«
»Wir werden ihnen gewiss danken, Herrin, doch ist heute nicht der Tag für ein Fest. Nicht bei all jenen Wunden, die unser Volk in der jüngsten Zeit hinnehmen musste und die es nun dringend zu verbinden gilt«, widersprach ihr eine bereits ergrauende Zauberpriesterin, deren Namen Harandra vergessen hatte. »Du bist jetzt die Beyrouna, also triff die Entscheidungen, die notwendig sind, damit unser Volk überlebt. Feste kannst du feiern, wenn die Zeit der Beratungen vorüber ist.«
Harandra atmete scharf ein. »Und wie, schlägst du vor, soll ich diese Entscheidungen treffen?«
»Indem wir dich darüber beraten.« Die Antwort schien der Zauberpriesterin leichtzufallen. »Lass uns in den Hof der Rosen gehen und dort sehen, was zu tun ist. Folge uns, wir zeigen dir den Weg.«
Allein Keshmirs mahnender Blick hielt Harandra davon ab, eine mehr als schnippische Bemerkung von ihrer Zunge rollen zu lassen. Den Weg zeigen! Als ob sie, die seit Jahr und Tag den Weg zwischen dem Tempel Heshinjas und dem Palast der Beyrouna abschritt, einer Führung bedurfte – sie, die bereits im Alter von elf Sommern jeden Winkel des Palastes auswendig gekannt hatte, die Höhe und Breite der Fensteröffnungen aus dem Innenhof berechnen konnte, die wusste, wie viele Stufen jede einzelne Treppe zählte – und wie viele sie alle zusammen. Sie sollte Führung benötigen? Zu gerne nur hätte sie diese Gedanken in Worte gefasst, wie früher, als sie noch der kleine Wirbelwind gewesen war. Doch ihre Lage hatte sich geändert und nun war ihre Situation eben, wie sie war. Harandra sah in den Augen ihres alten Mentors eine Warnung, wie sie eindringlicher nicht sein konnte. Anstatt ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, biss sie sich auf die Zunge und schwieg.
Der Hof der Rosen war einer von vier Innenhöfen des Palastes und zugegebenermaßen jener, den Harandra am wenigsten kannte. Als sie noch Orischja gewesen war, hatte man sie nur selten hierher vorgelassen, denn obwohl der liebliche Duft der Rosensträucher einmalig in Ysil’elah war, blieb seine Schönheit ganz der Beyrouna und ihren engsten Beratern vorbehalten. Nur wenige Male hatte ihre Tante Rasescha ihr gestattet, an den Beratungen teilzunehmen – und mit jedem dieser Male hatte Harandra mehr begriffen, wie vergänglich Schönheit war. Der Duft der Rosen verlor seine Bedeutung, wenn ihm nur der Zweck gestattet war, den faulen Gestank von Verrat, Intrige und Heuchelei zu überdecken.
Mit versteinerter Miene nahm Harandra auf jenen golddurchwirkten Kissen Platz, auf denen sie stets nur ihre Tante hatte sitzen sehen. Jetzt, da dieser Thron ihrer geworden war, fühlte er sich weitaus weniger komfortabel an als erhofft. Sie atmete tief ein und dann wieder aus, um durch nichts zu verraten, wie viel Unbehagen ihr diese Situation bereitete.
»Es ist an der Zeit, dass wir etwas unternehmen«, begann einer ihrer Berater unvermittelt das Gespräch, noch bevor sich alle gesetzt hatten. Sein Name war Amijan, erinnerte sich Harandra, doch mehr war ihr über den bärtigen Mann nicht im Gedächtnis geblieben. »Ich sage dies: Was geschehen ist, war furchtbar, ohne Zweifel, aber gewiss nicht das Ende aller Zeiten.«
Eine der jüngeren Zauberpriesterinnen zog mit zornerfülltem Blick die Augenbrauen hoch. »Nicht das Ende? Weißt du überhaupt, wovon du da sprichst, du alter Narr? Unser Land brennt, Bey-el-Unukh ist gefallen, die Sultana ist tot! Ihre Krone, die einst der weisen Bilkis geschenkt wurde, ruht in den Händen der götterlästerlichen Bosparaner, wenn sie nicht schon längst eingeschmolzen wurde, um zu einem ihrer grässlichen Schilde geschmiedet zu werden! Ysil’elah ist ihr nächstes Ziel, macht euch doch nichts vor! Sie haben Bey-el-Unukh, sie haben War-Hunk, und wenn sie uns zu Boden werfen, dann ist das Volk der Al’Hani Geschichte. Amijan, du alter Narr! Wenn dies nicht das Ende aller Zeiten ist, was dann?«
Noch bevor Harandra schlichtend eingreifen konnte – und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das wollte, auch wenn es nun ihre Aufgabe war –, erhob die ergraute Zauberpriesterin, die im Tempel auf dieses Treffen bestanden hatte, das Wort.
»Bitescha spricht im Zorn, aber sie spricht doch wahre Worte. Wir befinden uns in Zeiten höchster Not. Schlimmer noch, wir stehen beinahe schutzlos da. Unsere großen Nurbadi sind in Bey-el-Unukh im Feuer der bosparanischen Dämonen vergangen und unsere Prinzessinnen mit ihnen. Die Beyrouna ist tot, wer kann es ihrem Herzen verübeln, dass es angesichts des beißenden Verlustes ihrer Töchter und unserer Sultana versagt hat?« Sie sah fragend in die Runde und zunächst wagte niemand, die Stimme zu erheben.
Schließlich räusperte sich Keshmir, Harandras einstiger Lehrmeister: »Du vergisst, Suljescha, dass wir eine neue Beyrouna haben. Die Schlacht ist verloren, doch der Krieg ist es noch nicht.«
»Noch ein alter Narr, der meint, er wisse es besser«, gab die Zauberpriesterin Bitescha bissig zurück. »Sie ist kaum mehr als ein Kind und nicht einmal der begabteste Spross aus Raseschas Stamm. Sag, Mädchen, wie alt bist du? Fünfzehn? Sechzehn? Vielleicht sogar schon siebzehn?«
Alle Augen wandten sich nun Harandra zu, doch dessen hätte es nicht einmal bedurft, um sie herauszufordern. Die Art, wie Bitescha zu ihr sprach, brannte in ihrer Seele wie Feuer. Diese Worte konnte sie nicht stehen lassen, ganz gleich wie flehend Keshmir zu ihr hinüberblickte.
»Ich bin siebzehn«, spie sie in ebenso bissigem Tonfall in Biteschas Richtung, »und du vergisst wohl, dass du nicht mehr mit der kleinen Orischja sprichst. Ich bin jetzt Harandra, Herrin von Ysil’elah, und so kannst du nicht zu mir sprechen. Heshinja hat mich erwählt.«
Bitescha aber schien unbeeindruckt. »Heshinja hat jede von uns hier gesegnet, sonst säßen wir nicht hier. Glaube nicht, ein paar salbungsvolle Worte und ein Zepter würden dich zur weisen Herrscherin machen.«
»Es ist das Zepter von Imme und Natter, über das du hier sprichst, Bitescha suni Aluzha! Erweise ihm etwas mehr Respekt«, warf der bärtige Amijan mahnend ein.
»Respekt muss man sich verdienen, man bekommt ihn nicht geschenkt«, mischte sich nun erneut die ergraute Zauberpriesterin ein. Dann sah sie wieder zu Harandra. »Und wenn du den Respekt erlangen willst, der einer Beyrouna gebührt, dann wirst du handeln und sprechen müssen wie eine Beyrouna.«
Harandra spürte, wie das Blut heiß durch ihre Schläfen pochte. »Ich werde …«
»Die Vorschläge der hohen Berater nun gerne anhören«, fuhr ihr Keshmir überraschend über den Mund. Er legte die Stirn kraus und sah sie mit demselben Blick an, den er früher stets getragen hatte, wenn sie bei ihren Schreibübungen ungenau geworden war. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er, anders als manch anderer, keineswegs respektlos sein wollte. Er versuchte nur, wie so oft, Harandra vor sich selbst zu bewahren.
Sie räusperte sich angestrengt. »Ja, ich höre.«
Für einen Augenblick kam Unruhe auf, als die Anwesenden versuchten, ihre Gedanken zu ordnen und sich auf einen gemeinsamen Vorschlag zu einigen. Mühsam versuchte Harandra, keinen von ihnen zu genau zu beobachten, sondern ebenso würdevoll abwesend zu wirken, wie sie es bei ihrer Tante stets gesehen hatte. Sie durfte nicht zulassen, dass die Worte dieser Menschen ihr zu nahe kamen, sonst würde diese sorgsam erkämpfte Fassade binnen eines Herzschlags zerbrechen.
»Herrin. Harandra.« Es war erneut der bärtige Nurbadi Amijan, der das Wort erhob, als endlich wieder etwas Ruhe eingekehrt war. »Vor dem bedauernswerten Tod deiner Tante, unserer geliebten Beyrouna, waren einige Pläne in die Wege geleitet worden. Pläne, die nun deiner Zustimmung bedürfen, da du das Zepter von Imme und Natter trägst. Ich bin sicher, da es der Wille deiner Tante war, wirst du wenig daran auszusetzen finden.«
Harandra nickte und bemühte sich um einen ruhigen, beinahe gelangweilten Tonfall. »Worum geht es?«
»Eine Erhöhung der Feldabgaben. Sicher weißt du nicht allzu viel über die Einnahmen und Ausgaben des Beyrounats, und solches Wissen ist auch nicht in all seiner Tiefe notwendig. Was du wissen musst, ist, dass die Bewohner der Stadt und auch unsere Sippen auf den Feldern derzeit je einen zehnten Teil ihrer Einnahmen an das Zepter der Beyrouna geben, damit sie in ihrem Sinne den Wohlstand des Stammes vermehrt. Deine Tante und wir haben jedoch aufgrund der … angespannten Lage beschlossen, diese Abgaben kurzfristig zu verdoppeln.«
»Zu verdoppeln?« Die Worte schossen geradezu aus ihr heraus. Harandra war sich sofort bewusst, wie albern ihre Stimme geklungen haben musste, aber ihre Überraschung war nun einmal nicht zu verbergen gewesen. Auch wenn der Nurbadi glaubte, dass er sie über Zinsen und Abgaben belehren konnte, verstand Harandra doch einiges von Haushaltsführung und Al’Gebra, wie sie mit einem dankbaren Blick zu ihrem alten Lehrer Keshmir feststellte. In jedem Fall aber verstand sie genug, um zu wissen, dass eine Verdoppelung der Abgaben nicht so heiter vom Tisch zu wischen war, wie Amijan sie es glauben lassen wollte. »Das erscheint mir sehr viel.«
»Ebenso viel wie die Schmerzen, die unsere Nurbadi zur Verteidigung unserer Heimat erdulden mussten«, erinnerte sie nun eine sehr alte Zauberpriesterin, als wäre sie Harandras Lehrmeisterin. Harandra musterte die Frau, die bislang noch kein Wort gesagt hatte, als diese weitersprach. »Krieg ist ein schmutziges Geschäft, Herrin, aber dennoch ein Geschäft. Es kostet nicht nur Menschenleben, sondern auch Silber. Mehr Silber als das, über das du derzeit verfügen kannst.«
Bitescha, die scharfzüngige Zauberpriesterin, nickte der Alten zu. »Genau deshalb hat die verstorbene Beyrouna diesen Plan befürwortet. Sie wusste, dass man Notwendigkeiten nicht aus dem Weg gehen kann. Dieses Silber benötigen wir für den Kampf um unser Überleben. Was nutzt es den Bauern, wenn sie in diesem Jahr etwas mehr auf den Tellern haben, nur um im nächsten Jahr auf den Spießen der Bosparaner zu enden? Noble Zurückhaltung wird uns hier sicher nichts einbringen außer den Tod.«
Erneut missfiel Harandra der selbstgefällige Ton, mit dem diese Frau zu ihr sprach, doch ein weiterer Blick ihres alten Lehrers zerrte an ihr wie ein Reiter an den Zügeln seines Rosses. Sie richtete sich gerade auf und versuchte, bewusst langsam und deutlich zu sprechen.
»Ich stimme dir zu, Bitescha. Die Menschen leiden unter Abgaben, aber noch mehr werden sie leiden, wenn die Legionen der Niederhöllen auch über Ysil’elah herfallen. Alles, was ich wissen will, ist aber dies: Wird diese Erhöhung der Abgaben wirklich unsere Rettung sein oder schwächen wir damit nur uns selbst?«
Für einen Augenblick der Stille hoffte Harandra, die Selbstzufriedenheit ihrer Berater durchbrochen zu haben, doch dann sah sie die Mundwinkel der ergrauten Suljescha zucken und sie wusste, dass dieser Krieg noch lange nicht gewonnen war.
»Die Mehreinnahmen wären in jedem Fall ein Anfang, ein Schritt in die richtige Richtung. Wir brauchen alles Silber und auch Korn, Hühner und Schafe. Kurz gesagt, wir brauchen alles, was uns zur Verteidigung gegen die gierigen Bosparaner hilft, wenn wir nicht ebenso enden wollen wie unsere Schwestern in Bey-el-Unukh. Es mag kurzzeitig schmerzen, doch wie der Biss der Schlange vergeht auch das. Es ist zum Besten unserer Sippe.«
»Der Biss der Schlange birgt in sich auch das Gift«, murmelte Harandra mehr zu sich selbst. Als sie merkte, dass manch einer sie wohl verstanden hatte, lehnte sie sich rasch nach vorne und versuchte, schnell von ihren Worten abzulenken. »Was sagst du zu alledem, Gama? Du kanntest die Beyrouna Rasescha besser als manch andere hier.«
Erleichtert stellte Harandra fest, dass die neugierigen Blicke sich von ihr ab- und einer mageren Frau mittleren Alters zuwandten. Obwohl deren Leib einst dem Mädchen das Leben geschenkt hatte, das nun als Harandra einen ganzen Stamm zu führen gedachte, wirkte sie hier fremd und fehl am Platze. Diese Frau, die ihre Mutter gewesen war, bewegte nun nichts mehr in Harandras Herzen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, verstand sie nicht einmal, weshalb ihre Tante Gama vor einigen Monden in den Rat berufen hatte. Auch Rasescha hatte wenig Zuneigung zu ihrer Schwester empfunden.
»Meine Schwester war eine kluge Frau«, sagte die kleine, dürre Gestalt schließlich, nachdem sie sich mehrmals geräuspert hatte. Harandra bemerkte, dass außer ihr noch andere Mitglieder des Rates an diesen Worten des Lobes zweifelten. »Wenn es Raseschas Wille war, unseren Stamm zur Verteidigung heranzuziehen und durch Abgaben jeden daran zu beteiligen, dann müsste jede vernünftige Frau ihr dabei wohl zustimmen.«
Harandra nickte und kratzte an den Knöcheln ihrer linken Hand, so wie sie es immer tat, wenn sie angestrengt nachdachte. Sie versuchte die fragenden Blicke zu verdrängen, die sich nun wieder zunehmend auf sie richteten.
»Ich werde darüber nachdenken, und um mir ein Bild zu machen, will ich selbst hinausgehen und die Schafhirten vor den Toren Ysil’elahs aufsuchen. Dort wird Heshinja mich sicher wissen lassen, was zu tun ist.«
Erneut und mit plötzlicher Heftigkeit brandete Unruhe im Hof der Rosen auf. Die Worte der Berater überschlugen sich beinahe, sodass Harandra kaum die Hälfte davon verstand. Einer der Nurbadi, vielleicht war es Amijan, drängte sie zu einer schnelleren Entscheidung. Ein anderer warf ihr kindhaftes Zögern vor. Von der alten Zauberpriesterin, die vorhin so schulmeisterlich gesprochen hatte, kamen ein zufriedenes Nicken und einige Worte des Lobes, während die eiserne Suljescha von ›eitler Zeitverschwendung‹ sprach.
Harandra hob das Zepter, so wie sie es ihre Tante hatte tun sehen, doch nicht, weil sie wirklich hoffte, damit Ruhe zu schaffen. Im Grunde ihrer Seele war es reine Neugier, denn sie wollte nun wissen, wie ernst es diesen Menschen mit der Heiligkeit des Zepters und der heshinjagewollten Herrschaft war. Wenn Rasescha es gehoben hatte, war binnen kürzester Zeit Ruhe eingekehrt.
Zu Harandras großer Verwunderung dauerte es nur wenige Atemzüge länger, als sie es in Erinnerung hatte, bevor ihre Geste dasselbe Ergebnis hervorbrachte. Sie lächelte, als sie in die verstummten Gesichter der Zauberpriesterinnen und Nurbadi blickte.
»Ihr seid aufgebracht und das nicht ohne Grund. Ihr habt recht, ich bin nicht meine Tante. Ich bin auch nicht die heldenhafte Prinzessin Yilbara, nur die Nichte, die niemand kennt. Aber es ist Heshinjas Wille, dass ich nun die Beyrouna bin, und diesen Willen sollte man nicht nur in Ysil’elah verkünden. Ich werde hinausgehen zu den Schafhirten und mich unserem Volk zeigen. Die Göttinnen sollen fügen, was danach geschieht.« Mit einem kurzen, prüfenden Blick zu Keshmir versicherte sich Harandra, dass sie ihre Rolle nun wieder besser spielte. »Ich danke euch für eure weisen Ratschläge und verspreche, euch baldmöglichst wissen zu lassen, zu welcher Entscheidung mich die Göttinnen geführt haben.«
Mit diesen Worten stand sie auf. Erneut ging ein leises Raunen durch die Berater. Keshmir trat an ihre Seite und flüsterte ihr unauffällig einige Worte ins Ohr. »Die Beyrouna verlässt den Hof der Rosen nie bevor die Beratung beendet ist.«
»Aber die Beratung ist beendet«, beharrte Harandra laut genug, sodass man sie mit etwas Mühe verstehen konnte. »Ich habe keinen weiteren Beratungsbedarf.«
»Dennoch, Beyrouna Rasescha hat den Hof nie zuerst verlassen. Sie hat stets gewartet, bis auch der Letzte fort war, um zu sehen, ob noch jemand ein besonderes Anliegen hat.«
Harandra wandte ihm nun den Kopf zu. Sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte, doch in ihrer Seele keimten Ungeduld und Zorn. »Nun, ich bin es, die ein besonderes Anliegen hat und zwar die Vorbereitung meiner Reise zu den Schafhirten. Deshalb werde ich jetzt gehen, ganz gleich, wer hierbleibt oder mit mir kommt.«
Bitescha, die ihr ganz offensichtlich zugehört hatte, rümpfte die Nase. »So albern. Ich bin sicher, so etwas hätte Beyrouna Rasescha nie gesagt«, spottete sie vor den Ohren einiger Zauberpriesterinnen, die um sie herum saßen.
Harandra riss sich von ihrem alten Lehrmeister los und ging abrupt einige Schritte in Richtung der bissigen Zauberpriesterin. »Ich bin aber nicht Beyrouna Rasescha«, fuhr sie diese überraschend laut an. Bitescha und einige andere zuckten erstaunt zusammen. »Ich bin Beyrouna Harandra und es ist mir gleichgültig, ob dir das gefällt oder nicht.«
Das Mädchen Orischja hätte sich selbst über derart harsche Worte erschreckt und vor allem über den leichtsinnigen Mut, so etwas vor den Ohren aller Anwesenden zu sagen. Doch Orischja war fort, das wurde ihr jetzt endgültig klar, als sie mit giftigem Vipernblick auf ihre Spötterin herabblickte. Sie hatte von sich als Harandra gesprochen und jedes einzelne Wort so gemeint. Es hatte sich richtig angefühlt, obwohl sie wusste, dass es töricht war, es sich am ersten Tag ihrer Herrschaft gleich mit mächtigen Zauberpriesterinnen zu verscherzen. Orischja, der kleine Wirbelwind, hätte sich für so einen Ausfall entschuldigt. Doch Harandra, die Herrin von Ysil’elah, lächelte düster und zog ihre Schultern gerade.
»Brüder, Schwestern, ich wünsche euch einen schönen Tag«, sagte sie und ging, ohne Bitescha oder die anderen noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
Harandra hasste Sänften. Sie verstand durchaus, warum die meisten Menschen den Gedanken reizvoll fanden, herumgetragen zu werden wie ein kostbares Juwel. Ebenso konnte sie nachvollziehen, dass Keshmir zu ihrer Sicherheit darauf bestanden hatte, sie von vier Nurbadi begleitet zu den Bauernhöfen vor der Stadt tragen zu lassen. Nichts davon änderte jedoch etwas daran, dass ihr allein beim Gedanken an eine Sänfte Übelkeit in alle Glieder fuhr. Auf dem Rücken eines Pferdes hatte sie sich stets wohlgefühlt, doch wenn sie, wie jetzt, nicht sehen konnte, wohin die Reise ging, verdrehte sich ihr der Magen. Keshmir, in seiner liebenswerten Treuherzigkeit, deutete Harandras blassen Gesichtsausdruck jedoch anders.
»Es wäre ratsam, die Worte der Priesterinnen und Nurbadi nicht bis in dein Herz vordringen zu lassen. Nicht alles, was in harschem Ton gesprochen wird, ist auch so gemeint.«
Die frisch gekrönte Beyrouna seufzte. »Ich weiß. Ich will mich auch gar nicht beklagen. Ich mag die Reise mit der Sänfte einfach nicht. Wir hätten auch reiten können.«
»Herrin, du weißt, dass ich mit meinen alten Knochen nicht mehr gut im Sattel sitze. Du nimmst nur mir zuliebe die Sänfte«, lamentierte er, doch der Witz in seinen Worten war deutlich. Er ließ Harandra schmunzeln.
»Ja, das tue ich wohl. Dir zuliebe«, pflichtete sie ihm ebenso ironisch bei. »Wem würde ich wohl sonst einen Gefallen erweisen, in dieser Stadt, in der ich – wie es scheint – keinen Freund mehr habe außer dir?«
Der Alte lehnte sich nach vorne, als eine Unebenheit in der Straße ihn aufrüttelte.
»Das siehst du falsch. Hast du meinen Enkel vergessen? Wenn Veron das hört!« Keshmirs Worte waren voller gespielter Empörung. »Nein, das würdest du ihm nie sagen, weil du nämlich weißt, wie falsch deine Worte sind. Er ist dir ein ebenso treuer Freund wie ich dein treuer Diener bin. Du hast Freunde, Herrin, und du könntest viele mehr haben, wenn du es nur klug anstellst. Es ist nicht weise, alte, lang bestehende Bande zwischen Zepter und Beratern direkt zu lösen und jene vor den Kopf zu stoßen, die unser Reich zusammenhalten.«
Harandra schob die Tücher zur Seite, mit denen ihre Sänfte verhüllt war. Sie versuchte, einen flüchtigen Blick auf Ysil’elah zu erhaschen, doch der schaukelnde Anblick wankender Mauern schlug ihr sofort auf den Magen. Mit einem erneuten, tiefen Seufzen ließ sie die Tücher los und sah ihren Berater an.
Er hatte recht. Natürlich hatte er recht, er war älter, weiser und viel belesener als sie. Überhaupt konnte sie sich nicht an einen Tag, an eine Situation, erinnern, in der Keshmir nicht recht gehabt hatte. Damals wie heute machte er nicht viel Aufhebens darum, versuchte nicht, sich zu beweisen oder andere vor sich zu erniedrigen. Er behielt nicht recht, weil er es unbedingt so wollte, sondern weil Heshinjas Weisheit es ihm gab. Wie oft hatte sich Harandra danach gesehnt, seine Weisheit und Seelenruhe zu besitzen? Heute ahnte sie, dass dieser Wunsch auf ewig unerfüllt bleiben würde.
»Was ist es denn, das ich tun soll? Ihr alle wollt etwas von mir und wollt es doch nicht von mir. Dieses Zepter – niemand in dieser Stadt wollte, dass ich es trage. Als ich sagte, dass ich den Zorn der Priesterinnen über meine Krönung verstehe, war das keine Lüge. Yilbara hätte an meiner Stelle stehen sollen. Wir alle wissen es, selbst du, der du auf meiner Seite stehst. Sie war dafür geboren oder zumindest ihre Schwester Daljescha. Das Zepter stand Raseschas Töchtern zu. Aber mir? Das, was die Zukunft von mir verlangt … Keshmir, wir waren immer ehrlich zueinander, also lass uns jetzt nicht lügen. Das Volk der Al’Hani steht vor dem Untergang, den man wohl kaum noch abwenden kann. Das können wir nicht leugnen oder beschönigen. Das Ende ist wahrhaftig nah. Wenn es jemand geschafft hätte, unser Volk davor zu retten, dann Yilbara, aber ich? Was soll ich tun?«
Der Alte schüttelte lächelnd den Kopf. »Du tust doch bereits, was nötig ist. Was lässt dich so zweifeln? Diese Reise hier ist gut, auch wenn sie einige deiner Berater verärgert. Du verschaffst dir einen Überblick und vertraust auf die Führung der Göttinnen. Du bildest dir mit ihrer Hilfe ein eigenes Urteil. Über viele Jahre hinweg hast du deinen Geist gebildet und deinen Willen geschult. Denk nicht mehr an Yilbara oder das, was sie hätte tun können. Das Schicksal findet nicht im Möglichen statt, sondern im Tatsächlichen. Deine Taten werden die Zukunft unseres Volkes bestimmen.«
»Und gerade das fürchte ich«, gab Harandra zu. »Du weißt es nicht, aber ich … Ich habe sie gespürt – Heshinjas Kraft, ihren Odem. Ihre Essenz war da, im Tempel, bei der Zeremonie. Es sind nicht bloß salbungsvolle Worte, die dort gesprochen werden. Ich habe nicht einmal wirklich verstanden, was die Priesterin gesagt hat, alles war so dumpf, so seltsam, als wäre ich dort und doch nicht dort gewesen, als hätte ich mich auf einer Ebene vor Heshinja begeben, die allen anderen im Tempel verborgen war. Ich … ich stand vor ihr, vor der Göttin.«
Keshmir wirkte bewegt von ihren Worten. Er nickte stumm, konnte seine Neugier jedoch nicht verhehlen. Das, wovon sie sprach, war für einen Gläubigen wie ihn von großer Bedeutung und doch völlig unerreichbar. Einem Mann waren, ganz gleich wie fest sein Glaube war, die Weihen Heshinjas verwehrt.
»Ob sie mich wirklich erwählt hat, weiß ich nicht. Raseschas Tod, der Fall Bey-el-Unukhs, war das ihr Wille? Sie hat es mir nicht gesagt, eigentlich hat sie gar nichts gesagt. Aber sie hat mich berührt, Keshmir, auf eine Art, die nicht körperlich war, und da wusste ich es: Ganz gleich, ob sie mich auserwählt hat oder nicht, sie hat mich akzeptiert, für würdig befunden und damit beauftragt, in ihrem Namen unsere Sippe zu führen.«
Mit beinahe feuchten Augen lauschte Keshmir ihren Worten, weiterhin nickend. »Natürlich ist es so. Es muss so sein! Es ist der Wille der Göttin, mein Kind. Vergib mir, dass ich frage, doch warum zweifelst du dann so an dir?«
Harandra wandte den Blick ab und starrte auf den Baldachin der Sänfte. »Das tue ich im Grunde nicht. Aber ich … ich fürchte mich.«
»Wovor?« Die Stimme des Alten zitterte vor Erleichterung. »Was könnte es geben, das dir Angst bereitet, wenn Heshinja dich leitet?«
»Alles«, flüsterte Harandra. »Alles, was vor mir liegt. Ich habe ihn gesehen, den Weg, der vor mir liegt. Er ist lang und felsig, voller Blut, Tränen und Schmerz. Ich weiß, dass Heshinja von mir erwartet, ihn zu beschreiten und ich weiß auch, dass deine Worte wahr sind – dass du mich gut ausgebildet hast, damit ich diese Prüfungen bestehen kann. Ich weiß, dass es keinen Grund gibt, mich zu fürchten. Dennoch tue ich es.«
Stille kehrte ein. Harandra wagte nicht, ihren alten Lehrer anzusehen, aus Angst, was sie in seinem Gesicht lesen würde. Niemandes Meinung war ihr so wichtig wie die seine, und wenn er die Achtung vor ihr verlöre … Doch wenn sie zu ihm nicht ehrlich sein konnte, zu wem dann?
»Bitte erzähl niemandem von dem, was ich dir hier sagte«, bat sie ihn tonlos. »Vor allem nicht deinem Enkel.«
»Ach, der«, winkte Keshmir lächelnd ab. »Der würde seinem alten Narren von Großvater wohl kaum zuhören. Deine Geheimnisse sind bei mir sicher.«
Nun lächelte auch Harandra erleichtert. Sie suchte nach einem weniger gewichtigen Thema, um die Unterhaltung fortzuführen und ihr beschwertes Herz von seiner Last zu befreien, doch der abrupte Halt ihrer Sänfte unterbrach ihre Gedanken.
»Sind wir schon am Ziel?«
Keshmir hob die Tücher an und sah nach draußen. »Beinahe. Ich ging davon aus, dass du die letzten Schritte zu Fuß gehen möchtest.«
Ihr Lächeln wuchs. Niemand verstand sie so wie er.
»Das möchte ich in der Tat. Los, alter Mann, erhebe dich. Lass uns mit dem Volk sprechen, das es zu retten gilt.«
Beinahe einen halben Tag lang war Harandra schon bei den Schafhirten unterwegs. Sie hatte sich die Pferche zeigen lassen und zwei der besten Weidegründe. Sie hatte mit einigen Hirten gesprochen, Tiere gestreichelt und frischen Schafskäse probiert. Jeder hier war ihr mit dem größten Respekt begegnet, sah man doch in ihr die letzte Erbin der hochgeschätzten Beyrouna Rasescha. Es hätte ein erbaulicher, angenehmer Tag werden sollen, doch irgendetwas ließ Harandras Seele nicht los. Etwas war … falsch.
Sie stand gerade mitten in einem der kleinen Dörfer und sprach mit dem Sippenältesten und Keshmir über eine mögliche Anhebung der Steuern, als das Hämmern in ihrer Brust plötzlich lauter wurde. Nervös blickte sie auf die Lippen des Mannes, der ihr gerade versicherte, eine Erhöhung der Abgabenlast sei die Pflicht aller treuen Al’Hani und mit Sicherheit zu schaffen. Sie hörte seine Worte, doch ihr Geist schien eine Ewigkeit zu brauchen, um sie zu verstehen. Über allem lag das Geräusch ihres pochenden Herzens, das immer lauter mit den Worten der Umstehenden wetteiferte. Keshmir neben ihr lächelte gütig und erklärte dem Sippenältesten, dass alles zum Besten des Volkes geschehen würde, doch Harandra verstand kaum ein Wort von diesen Beschwichtigungen. Ihr Herzschlag dröhnte in ihrem Kopf wie das Summen eines Bienenschwarms. Falsch, falsch, falsch, dachte sie. Das sind alles falsche Worte, falsche Beteuerungen, falsche Versprechen. Alles hier ist falsch!
»Herrin?«, hakte Keshmir nach, als warte er auf eine Antwort.
Wortlos drehte sie sich um und ließ ihre Gesprächspartner stehen. Keshmir und der Sippenälteste sahen ihr verdutzt hinterher.
»Herrin?«
Schwer atmend stapfte sie davon, den Blick stur nach vorn gerichtet. Falsch, falsch, falsch.
Keshmir schüttelte die Überraschung ab und folgte ihr hastig. »Herrin, bitte, ich denke, es ist Zeit, in die Stadt zurückzukehren.«
Sie ignorierte seine Worte und ging zügig weiter, wohl wissend, dass der Alte ihr nicht schnell genug folgen konnte, ohne sich vor den Augen aller anwesenden Schafhirten eine Blöße zu geben. Der Bienenschwarm summte noch immer zornig in ihrem Geist.
»Herrin! Bitte!«
»Ah. Aua! Mein Pferd!«
Der Bienenschwarm verstummte. Erstaunt blieb Harandra stehen und starrte auf einen kleinen Jungen herab, der plötzlich zu ihren Füßen saß. Er war anscheinend beim Spielen in ihren Weg gelaufen und sie hatte ihn übersehen und zu Fall gebracht. Jetzt saß er da, schmutzig und beinahe weinend, und versuchte einige dürre, geflochtene Äste wieder zurechtzubiegen.
»Herrin«, hörte sie Keshmirs Flehen aus der Ferne.
Sie kniete sich hinunter zu dem Jungen und musterte ihn. Er mochte vielleicht drei Jahresläufe alt sein, wirkte jedoch schmächtig für sein Alter. »Dein Pferd?« Sie deutete auf das Gebilde aus Ästchen in seiner Hand. »Ist das dein Pferd?«
Etwas verängstigt blickte der Junge zurück. Ihre edlen Gewänder schreckten ihn offenbar ab, doch die ehrliche Neugier, mit der sie sein Spielzeug betrachtete, löste sein Zögern schließlich auf.
»Ja, es ist meins. Mein Bruder hat es für mich gemacht«, erklärte er stolz.
Harandra lächelte und bot dem Jungen ihre Hand an, um ihm auf die Beine zu helfen. »Es ist sehr schön. Du hast großes Glück, einen solchen Bruder zu haben.«
Dann bemerkte sie, dass Keshmir bei ihr angekommen war und auch eine junge Hirtin kam eilig in ihre Richtung gerannt. »Haniril«, rief sie aufgeregt und zog den Jungen an sich. »Haniril! Hani, was hast du nur getan? Herrin, bitte verzeih ihm, er ist ein kleiner Tollpatsch und weiß noch nicht, was sich gehört.«
»Der Junge hat keinen Fehler begangen, die Schuld liegt bei mir«, erklärte Harandra freundlich.
»Nicht doch, Herrin. Bitte, was immer ich habe, ich biete es dir dar als Entschädigung.«
Harandra wollte ablehnen, wie es auch Keshmir ganz offenkundig von ihr erwartete. Ihm schien viel daran gelegen zu sein, diesen Ort schnellstmöglich zu verlassen.
»In diesem Fall möchte ich dich um einen Becher Honigwasser bitten«, ließ Harandra großmütig verlauten. »Sofern du mir Gastfreundschaft in deinem Haus anbietest?«
Die Frau nickte eifrig. »Selbstverständlich, Herrin, Mokoscha schütze und segne deine Wege! Hani, lauf, hol deine Geschwister.«
Mit einem Lächeln sah Harandra dem Jungen nach, der eilig zwischen zwei Hütten davonhuschte. Sie hörte seine hohe Stimme unverständliche Namen brüllen. Ihr Blick traf den Keshmirs, der sie flehend ansah. Noch immer lächelnd schüttelte sie den Kopf und folgte der Hirtin in ihre Hütte.
Es war ein bescheidenes Heim aus gebranntem Lehm, mit Reisig gedeckt und mit Läden aus krummem Holz, um die Fenster zu verschließen. Die Decke war so niedrig, dass Keshmir, der ihr folgte, sich ducken musste, und auch Harandra fühlte sich in der Enge beklommen. Die Wände des Kamins waren schwarz vom Ruß, die Luft erfüllt von rauchigem Geruch. Hastig rollte die überraschte Gastgeberin einige Bastmatten aus und bot Harandra so die Möglichkeit, Platz zu nehmen. Dann beeilte sie sich, Honigwasser für ihre Gäste einzuschenken.
»Ich danke dir …« Harandra ließ die Stimme nicht sinken, so als wolle sie den Namen der Gastgeberin anfügen.
»Misakis.«
Höflich nahm Harandra einige Schlucke des angebotenen Honigwassers. »Es ist köstlich, Misakis. Meinen besten Dank. Sag mir bitte, wenn ich damit die Grenzen deiner Gastfreundschaft überschreite, doch darf ich dir einige Fragen stellen?«
Die Frau nickte ehrfurchtsvoll, so als traue sie sich nicht, zu antworten.
»Du weißt, wer ich bin?«
Die Frau nickte erneut.
»Dann bist du mir voraus. Ich weiß nichts von dir, außer deinen Namen und den deines Sohnes.«
»Bruders«, korrigierte die Frau sie, nur um sich schnell angsterfüllt auf die Zunge zu beißen.
Harandra lächelte, in der Hoffnung, dass ihre Offenheit die unterwürfige Hirtin beruhigen konnte. »Bitte, erkläre dich ruhig. Unwissenheit ist unserer Herrin Heshinja ein Gräuel, also lass mich nicht ahnungslos sterben.«
Die Frau zwang sich ein Lächeln ins Gesicht, auch wenn die ehrfürchtige Angst nicht weichen wollte. Dennoch nickte sie und sprach weiter. »Haniril ist mein Bruder, der jüngste. Unsere Eltern sind zu Mokoscha gegangen.«
»Beide?«
Misakis nickte stumm.
»Und nun kümmerst du dich um deine Familie? Bist du die Älteste? Wie geht es euch damit?«
»Ja, ich bin die Älteste. Wir waren einst sieben, aber jetzt …« Die Frau hielt inne und sah erst Harandra, dann Keshmir zweifelnd an.
»Sprich offen. Dieser Mann ist mein Berater und Freund. Es gibt nichts, was du vor ihm oder mir verbergen müsstest. Ich bitte dich um die Wahrheit und ich schwöre vor Mokoscha, dass dir kein Leid geschehen wird.«
Nun entspannten sich die Gesichtszüge der Frau und sie kam Harandra nicht mehr so alt vor wie bisher. Jetzt schien es so, als habe sie höchstens zwanzig Sommer gesehen, allerdings zwanzig Sommer voller Leid.
»Es ist schwierig, Herrin. Meine Mutter ging zu Mokoscha, als Haniril geboren wurde. Es belastete meinen Vater schwer und er konnte sich oft nicht mehr recht auf das Scheren konzentrieren. Dabei war er einmal der beste Schafscherer unseres Dorfes … Dann, im letzten Winter, lief mein Bruder Mikajin fort, um an der Seite der Prinzessinnen in Bey-el-Unukh zu kämpfen. Er ist nie zurückgekehrt. Der Schmerz traf meinen Vater tief, sein Herz hörte ebenso auf zu schlagen, wie es das der Beyrouna Rasescha tat. Wir mussten unsere Herde verkaufen, um über die Runden zu kommen.«
Harandra nickte bedächtig. »Und nun? Wer sorgt für euch?«
»Ich versuche uns mit Handarbeiten durchzubringen, zusammen mit meiner kleinen Schwester. Mein Bruder Kerijan hilft bei den Hirten aus«, erwiderte die Frau leicht nervös.
»Was ist mit deinen anderen Geschwistern? Du sagtest, ihr wäret sieben gewesen?«
Die Frau nickte. »Das waren wir, bevor die blutige Seuche vor zwei Sommern kam. Danach waren wir fünf, und dann ging Mikajin fort …« Ihre Worte erstarben.
»Herrin«, flüsterte Keshmir aufgebracht. »Wir sollten gehen. Du siehst doch, welchen Kummer du dieser Frau bereitest. Ist das nötig?«
Harandra funkelte ihn ebenso aufgebracht an. »Natürlich ist es nötig. Denkst du, ich würde es sonst tun? Es ist nötig, weil ich nur dann einen Missstand beheben kann, wenn ich von ihm weiß«, herrschte sie ihn an und erhob sich dann. »Misakis, ich bedauere die Prüfungen, die das Schicksal dir auferlegt hat, und ich sehe die Not, in die es dich geworfen hat. Lass mich dir helfen.«
»Das … das wäre nicht angemessen, Herrin«, widersprach diese.
»Nicht angemessen? Sind wir nicht beide Al’Hani, Kinder Heshinjas und Mokoschas, gesegnet vor allen anderen Völkern? Fließt nicht in uns beiden das Blut von Imme und Natter?«
Eingeschüchtert wich die Frau zurück, doch nickte sie dabei.
»Hol deine Geschwister herein«, befahl Harandra und verschränkte die Arme vor der Brust.
Die Frau gehorchte und verließ augenblicklich den Raum. Zufrieden atmete Harandra ein und aus, bevor sie Keshmir ansah. »Wieso blickst du mich so an? Denkst du nicht, dass ich weiß, was ich tue?«
»Oh, ich denke durchaus, dass du es weißt. Dass ich es nicht weiß, das bereitet mir Sorge«, gab er beinahe spöttisch zurück. »Wir haben doch bereits so oft darüber gesprochen, dass du nicht jeder Laune nachgeben darfst, die deinen Geist befällt.«
»Was ich jetzt tun werde, ist aber keine Laune«, widersprach Harandra energisch. »Es ist notwendig, glaube mir. Du wirst es verstehen.«
Wenige Herzschläge später betrat die einstige Hirtin erneut den Raum, gefolgt von dem kleinen schmutzigen Jungen und zwei weiteren ärmlich gekleideten Gestalten. Ihr Bruder, den sie als Kerijan vorstellte, war vielleicht so alt wie Harandra selbst, während das Mädchen, Sireyka, höchstens fünfzehn Winter hinter sich gebracht haben mochte. Harandra musterte beide gründlich, erkannte aber weder Hochmut noch Dummheit in ihren Blicken. Daraufhin nickte sie zufrieden.
»Leg deine Handarbeiten nieder, Misakis, und kümmere dich fortan um deinen jüngsten Bruder. Diese beiden hier werden dir die nötigen Mittel dafür schicken, denn ich nehme sie mit mir nach Ysil’elah«, verkündete sie und genoss dabei das Entsetzen in Keshmirs Blick. »Du bist jung und kräftig, Kerijan. Wenn du den Mut hast, werde ich dich in die Dienste der Nurbadi stellen und du wirst lernen, den Palast zu schützen wie deine eigene Familie. Man wird dir einen Säbel und eine Rüstung geben und du wirst erhaben sein unter den Männern unseres Volkes.«
Zu Harandras großer Freude flammte Begeisterung in den Augen des Jungen auf.
»Ich habe den Mut, Herrin. Ich danke dir.«
»Und du, Sireyka … du wirst mir folgen und deine Handarbeiten fortan im Palast verrichten. Wir haben stets Bedarf an geschickten Händen und wenn du es wünschst, so wollen wir sehen, ob noch andere Talente in dir schlummern.«
Das Mädchen wurde rot und verbeugte sich ehrfurchtsvoll. Auch ihre ältere Schwester verneigte sich nun. »Herrin, du schenkst meiner Familie große Ehre. Ich weiß nicht, wie ich sie dir je vergelten soll.«
»Halte immer einen Becher Honigwasser und ein offenes Wort für mich bereit. Wenn ich wiederkomme, möchte ich mich nur deiner Gastfreundschaft versichert wissen.«
Misakis nickte hastig. »Jederzeit, Herrin. Unser Haus steht dir für immer offen.«
»Gut. Dann packt, was immer ihr benötigt, und verabschiedet euch voneinander. Wir brechen noch vor dem Abend auf. Und du, junger Mann.« Harandra kniete sich erneut nieder, um Haniril in die Augen zu sehen. »Du musst von nun an der Nurbadi deiner Schwester sein. Sei tapfer und beschütze sie. Wenn du das für mich tust, dann verspreche ich dir, dass ich dir zur Belohnung eines Tages ein richtiges Pferd mitbringen werde.«
Die dunklen Augen des Jungen wurden groß. »Ein echtes Pferd?«
»Ein echtes Pferd«, nickte Harandra. »Ich verspreche es, so wahr ich Harandra suni Gama bin. Habe ich dein Versprechen?«
Der Junge biss sich auf die Lippe und nickte dann grinsend, bevor er sich zu seiner ältesten Schwester umdrehte. »Ein echtes Pferd, Misa!«
Beinahe ebenso grinsend erhob sich Harandra wieder und verließ voller Zufriedenheit die Hütte. Keshmir folgte ihr eilig und begann sofort, auf sie einzureden. Sie wusste, dass er sie für töricht halten musste und vielleicht hatte er in Teilen sogar recht damit. Er hatte schließlich meistens recht. Aber vielleicht gab es in diesen Tagen zum ersten Mal Dinge, die er nicht so sah wie sie, die er gar nicht so sehen konnte, weil ihm der Sinn dafür fehlte.
»Wir können nicht einfach Geschenke vergeben, wenn wir eigentlich hier sind, um Abgaben einzunehmen«, mahnte er sie erneut, als sie auf die Sänfte zusteuerten.
»Da ich es gerade getan habe, können wir es wohl doch. Was du mir also eigentlich sagen willst, ist, dass es nicht weise wäre, das zu tun. Doch was ist weise, mein lieber Keshmir? Ist es das, was Priesterinnen wie Suljescha und Bitescha von mir wollen oder kampferprobte Nurbadi wie Amijan? War das, was meine Tante tat, weise? War Yilbaras Entscheidung, an der Seite der Sultana einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, weise?«
Der Alte sah sie wortlos, aber noch immer flehend an. Ihr Blick löste sich von seinem und wanderte zurück zu der kleinen Lehmhütte, aus der gerade zwei junge Menschen traten, die Gesichter gleichsam erfüllt von Wehmut und Hoffnung.
»Ich fürchte, mein Lieber, dass nur die Zeit sagen kann, was weise gewesen wäre und was nicht. Aber ich verspreche dir, dass das hier, jetzt, keine Eitelkeit oder Narretei ist.« Sie lächelte, als sie Kerijan und Sireyka näher kommen sah. Sie waren Fremde und doch bedeutete Harandra das Lächeln auf ihren Lippen mehr als der Respekt ihrer Berater. Ein Bienensummen erfüllte erneut ihr Herz, doch nun war es alles andere als unangenehm. »Das hier ist unser Volk, Keshmir. Wenn wir nicht leben, um einander zu helfen, wozu leben wir dann? Das hier ist richtig.«
Khunchom, einige Monde vor dem Fall Bey-el-Unukhs
Die Luft war schwer von Räucherwerk, das sich in Orischjas Lungen drängte. Ihre Augen brannten beinahe davon, als sie den Raum betrat. Die weit offen stehenden Fenster ließen zwar ein wenig Wind hinein, doch der war ebenso heiß und schwer und vermochte keine Linderung zu verschaffen. Wieder einmal kam die junge Al’Hani nicht umhin, sich zu fragen, wie die Khunchomer es nur in dieser Hitze aushielten. Ständig stand der Schweiß auf ihrer Stirn und legte sich wie ein feiner Schleier über ihre Glieder. Er zog die Stoffe ihres Gewands ebenso an wie die zahllosen Insekten, die hier im Mhanadi-Delta umherschwirrten. Deshalb ja auch das Räucherwerk, dachte sie resignierend. Es mochte zwar in den Augen brennen, aber es vertrieb auch zuverlässig all das Kleingetier, das sich an ihrem Blut laben wollte.
Erschöpft ließ sie sich in die vielen glitzernden bunten Kissen sinken, die man zu ihrer Erholung hier aufgetürmt hatte. Dann sah sie sich um – der Raum war ein anderer als am Tag zuvor, größer und noch prächtiger ausgestaltet, aber die Prozedur war dieselbe. Jeden Morgen führte man sie in einen solchen Raum, polsterte ihn mit Kissen aus und brachte ihr alle Speisen, die sie verlangte. Dann ließ man sie allein.
Und Orischja wartete.
Ihr Blick wanderte hinaus auf den Balkon, von dem aus man einen wunderbaren Ausblick über das Delta haben musste. Vor ein paar Tagen noch wäre sie aufgesprungen und hätte sich alles genau besehen, doch inzwischen hatte sie eine merkwürdige Trägheit ergriffen. Sie wandte den Blick ab und zählte stattdessen im Geiste.
Siebzehn.
Seit siebzehn Tagen machte sie dieses bizarre Spiel aus eitlem Luxus und unendlicher Langeweile mit. Man hatte sie im Vorfeld gewarnt – das Hofprotokoll des Palastes sah diesen Gang durch die Kammern vor, wenn jemand sein Anliegen dem einzig wahren Diamantenen Sultan vortragen wollte. Nur mit horrenden Bestechungsgeldern konnte man das Vorgehen beschleunigen, und wenn es eines gab, was Orischjas Volk derzeit fehlte, dann war es Gold. Also fügte sie sich in ihr Schicksal und wartete.
Siebzehn Tage waren noch nicht viel Zeit im Palast des Sultans. Man hatte sie freundlich darüber in Kenntnis gesetzt, dass die meisten Bittsteller ihres Ranges einen guten Mond warten mussten. Ihr war auch nicht entgangen, mit welch süßem Biss man ihren Rang betont hatte – die Nichte einer Beyrouna aus einem fremden Land galt den Khunchomern offensichtlich nicht viel mehr als einer ihrer Handwerker. Doch wann immer Orischjas Geist damit drohte, sich darüber zu ärgern, rief sie sich die Stimme ihres Lehrmeisters Keshmir ins Gedächtnis. Bleibe ruhig, was immer dir auch widerfährt. Wenn du anderen erlaubst, deine Laune zu bestimmen, gibst du ihnen zu viel Macht über dich. Orischja bemühte sich, seine Worte in ihr Herz zu schließen. Sie lächelte und sah wieder nach draußen.
Dann geschah etwas Unerwartetes – das reich verzierte Portal vor ihr wurde geöffnet. Mit einem Mal begann ihr Herz zu rasen. So etwas war bisher an keinem Tag geschehen. Was mochte es bedeuten? Ließ man sie endlich zum Sultan vor?
Zwei kräftige, mit Säbeln bewaffnete Palastwachen öffneten das Portal und traten ein. Reflexartig wühlte sich Orischja aus den Kissen heraus und ging gerade noch rechtzeitig auf die Knie, um ihren Kopf zu senken, bevor den beiden Wachen jemand folgte. Den Sultan ohne Erlaubnis anzusehen, war ein todeswürdiges Verbrechen, das hatte man ihr eingeschärft. Mit panisch klopfendem Herzen starrte sie auf den Marmorboden. Tu nichts Falsches, sag nichts Falsches, bring keine Schande über deine Sippe, ermahnte sie sich selbst. Goldglänzende Pantoffeln kamen in ihrem Sichtfeld zum Stehen. Orischja biss sich auf die Zunge.
»Sieh mich an«, befahl eine Männerstimme lapidar.
Zitternd entsprach sie dem Befehl und hob ihren Kopf. Ihr Blick glitt von seinen goldenen Pantoffeln über die Beine, die in türkisfarbenen Pluderhosen steckten, und den nur von einer buntbestickten Weste verhüllten Oberkörper zu seinem Gesicht. Orischja kam sich dabei in ihrem einfarbigen Leinenkleid unwohl vor, obwohl es mit kunstfertigen Stickereien verziert war, die Honigwaben nachempfunden waren.
Der Blick dunkler, mit Kohle umrahmter Augen traf den ihren. Sofort mischten sich Faszination und Enttäuschung in Orischjas Aufregung – Faszination, weil der Mann, der vor ihr aufragte, mit einem sehr anziehenden Äußeren gesegnet war, doch Enttäuschung, weil sie sofort begriff, dass er nicht der Sultan sein konnte. Der Sultan, dessen war sie sich sicher, war ein Mann weit jenseits der vierzig. Dieser Mann, obschon königlich gekleidet, hatte sicher noch keine fünfundzwanzig Sommer gesehen. Seine glatte hellbraune Haut bezeugte seine Jugend und sein mit duftenden Ölen gepflegtes schwarzes Haar kündete von seinem Reichtum.
»Steh auf, Al’Hani«, sagte er im selben ruhigen Tonfall. »Wie lautet dein Name?«
Orischja atmete den warmen Duft von Rosenholz ein, der den Mann umgab. »Ich bin Orischja suni Gama, Herr. Meine Tante ist die Beyrouna von Ysil’elah.«
Der Mann schmunzelte. »Die Nichte der Beyrouna von nirgendwo. Deine Sultana ist entweder sehr unhöflich oder aber sehr verzweifelt. Sag mir, Tochter des Nordens, was davon trifft zu?«
»Sultana Mirescha würde es nie wagen, dem Diamantenen Sultan ohne die gebotene Höflichkeit zu begegnen«, beteuerte Orischja hastig.