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Was wir aus Vorwürfen für unsere Beziehung lernen können - Ein zentrales Thema in Paartherapie und Paarberatung - Tiefe Einblicke in Bedeutung und Dynamik von Schuldzuweisungen »Du denkst immer nur an dich!«, »Du schließt mich aus deinem Leben aus«, »Du bist ein Geizhals!« – Anlässe gibt es viele, einen mehr oder weniger treffenden Vorwurf an den Partner zu richten. Die Folgen sind meist eher ein Gegenvorwurf als Einsicht und Veränderung. Warum das so ist, untersucht der bekannte Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer. Er analysiert die Facetten des Themas auf der Basis aussagekräftiger Fallvignetten aus der Praxis und deckt auf, wie viel Vorwürfe mit dem Eindringen veränderter Werte in die Liebesbeziehungen zu tun haben. Sie hängen eng mit der Auflösung traditioneller Strukturen in der Konsumgesellschaft zusammen. Schmidbauer schärft das Verständnis dafür, was Schuldzuweisungen im Grunde bedeuten und wie in der Paarberatung damit umgegangen werden kann. Die wechselseitige Vorwurfshaltung etwa als »Ritual der Gleichzeitigkeit von Nähe und Abstand« zu verstehen, kann eine neue Blickrichtung auf ein altes Thema eröffnen. Dieses Buch richtet sich an: - PaartherapeutInnen und PaarberaterInnen - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Schmidbauer-LeserInnen - Alle, die sich für Beziehungsthemen interessieren
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Seitenzahl: 244
Wolfgang Schmidbauer
Du bist schuld!
Zur Paaranalyse des Vorwurfs
Klett-Cotta
Zu diesem Buch
»Du denkst immer nur an dich!«, »Du schließt mich aus deinem Leben aus«, »Du bist ein Geizhals« – Anlässe gibt es immer und überall, einen mehr oder weniger treffenden Vorwurf an den Partner zu richten. Die Folgen bestehen meist eher in Gegenvorwürfen als in Einsicht und Veränderung. Wolfgang Schmidbauer analysiert die unterschiedlichen Facetten des Themas auf der Basis aussagekräftiger Fallvignetten aus der Praxis und deckt auf, wie viel Vorwürfe mit dem Eindringen veränderter Werte in die Liebesbeziehungen zu tun haben. Er schärft das Verständnis dafür, was Schuldzuweisungen im Grunde bedeuten und wie in der Paarberatung und dann in der Paarbeziehung damit umgegangen werden kann.
Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.
Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:
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Leben Lernen 315
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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von © istockphoto/WildLivingArts
Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell
Printausgabe: ISBN 978-3-608-89266-6
E-Book: ISBN 978-3-608-12056-1
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20445-2
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Einleitung
Die Liebe in Gebäuden
The cornered rat bites the cat
Das Authentizitäts-Paradox
Dolmetscher an der Klagemauer
Ein impulsives Geschehen
Kapitel 1
Immer machst du mir Vorwürfe!
Kapitel 2
Du hättest mich küssen müssen!
Kapitel 3
Du schließt mich aus deinem Leben aus!
Kapitel 4
Ich fehle dir nicht so, wie du mir fehlst!
Kapitel 5
Ich bin dir nicht wichtig genug!
Vorwurf und Regression
Der Vorwurf in Briefen
Kapitel 6
Du denkst nur an dich!
Kapitel 7
Meine Mutter hat sich nie beklagt!
Kapitel 8
Du bist zu dick!
Kapitel 9
Immer soll ich alles machen!
Kapitel 10
Du stehst nicht zu mir!
Kapitel 11
Du meinst mich nicht, ich bin nur bequem für dich!
Kapitel 12
Du bist eben ein Rechthaber!
Kapitel 13
Du bist undankbar!
Kapitel 14
Du bist mir in den Rücken gefallen!
Kapitel 15
Du hast den anderen lieber als mich!
Neid und Eifersucht
Kapitel 16
Du hast mich allein gelassen!
Kapitel 17
Du hast mich nie geliebt!
Kapitel 18
Du hättest mich warnen müssen!
Kapitel 19
Du bist ein Geizhals!
Kapitel 20
Du hast einen Ordnungsfimmel!
Kapitel 21
Du bist sexsüchtig!
Kapitel 22
Du bist so spießig!
Kapitel 23
Du willst mich an die Kette legen!
Kapitel 24
Du raubst mir die Luft zum Atmen!
Kapitel 25
Die Überwindung des Vorwurfs
Schlussfrage: Gibt es den guten Gebrauch des Vorwurfs?
Dem Partner die Schuld zu geben, ist das kleinere Übel, verglichen damit, ihm gar nichts zu geben.
Von anderen Lebewesen unterscheidet sich der Mensch1, indem er nicht nur baut, sondern sich mit seinen Gebäuden verändert. Vögel, Bienen, Ameisen und Termiten siedeln in oft sehr eindrucksvollen Gebilden. Aber sie gehen nach einer festgelegten und in ihrem Erbgut verankerten Form vor, während Menschen einsichtig handeln und ihr Vorgehen an die Forderungen und Möglichkeiten der Umwelt anpassen. Bereits auf der frühen Entwicklungsstufe der Jäger- und Sammlerkulturen gibt es das Iglu im Norden, die Laubhütte in den Tropen, es gibt Zelte aus Tierhäuten und Wigwams, in denen ein Feuer gehütet wird.
Menschliche Bauten haben sich mit den Veränderungen der Kulturen entwickelt, besonders einschneidend nach dem Beginn der Sesshaftigkeit und der Stadtkulturen. Gegenwärtig beeinflussen die Gebäude, in denen wir aufwachsen, uns nicht weniger als umgekehrt wir (oder zumindest einige von uns) die Häuser und Städte, die geplant und gebaut werden.
Menschliche Liebesbeziehungen unterscheiden sich in ihren modernen Formen von den traditionellen in erster Linie durch ihre Bauweise. Wer klassische Liebeslyrik liest oder sich in Boccaccios Erzählungen vertieft, findet Vertrautes über Affekte, aber wenig über die Erwartungen, wie eine Beziehung aufgebaut und für die Kinder gestaltet werden soll. Begehren und Freude am Sex übergreifen Kulturen und Geschichte. Die Hüllen, welche das Geschehen umgeben und zum Teil mitgestalten, hat früher die Tradition errichtet; heute müssen sie die Paare aus den Bruchstücken verlassener Tempel und Kirchen basteln. Den verbindlichen Bauplan gibt es nicht mehr.
Mit der romantischen Liebe und der individualisierten Ehe ging der übergreifende Baustil verloren, der in der Architekturgeschichte die Epochen vor dem Historismus prägte. Anders gesagt: Der Erwartungsrahmen, in dem sich Männer und Frauen begegneten, war von der Tradition vorgegeben. Heute arbeiten Liebende mit einem vielgestaltigen und variablen Baukastensystem. Manche der geistigen Bestandteile entnehmen sie den Filmen, dem Fernsehen, den Videos im Internet. Andere kommen von den Eltern, den Geschwistern. Oft werden in den mentalen Regalen, in die wir nach dem Material für unsere Beziehungsmodelle greifen, gerade »ganz andere« Komponenten gesucht als die, welche als kindliche Beobachtung und strukturierende Erfahrung in der Psyche gespeichert sind. Ich weiß nicht, wie meine Ehe aussehen wird, aber eines weiß ich ganz genau: Auf keinen Fall darf sie so werden wie die Ehe meiner Eltern!
Während nun das erotische Begehren flexibel ist und leicht entflammbar, sind die Gebäude der Liebe fest und von Ängsten bewacht. Aus diesem Widerspruch entsteht das vertraute Bild des von Konflikten gequälten Paares: Bauvorschriften, Uneinigkeit über Umbaumaßnahmen, Vorwürfe über mangelnde Orientierung an dem gemeinsam gedachten und doch nicht gemeinsamen Plan bestimmen das Bild. Je umstrittener und anfälliger das Gebäude der Beziehung, desto seltener finden die Partner erotisch zueinander. Das ängstlich gebundene Paar kann das Gebäude nicht mehr loslassen, in dem es lebt; so ist die zur Erotik nötige Selbstvergessenheit blockiert.
Obwohl die Erfüllung des sexuellen Begehrens der Anlass zu den Baumaßnahmen war und das Gebäude errichtet wurde, um diese Erfüllung von Ängsten zu befreien und Kindern Raum zu geben, verschwindet aus dem fertigen Gehäuse nach der Geburt des jüngsten Kindes die Sexualität wie der Geist von Karl Marx aus sozialistischen Staaten und der Freuds aus den psychoanalytischen Instituten.
Der von einem Teil offensiv mit Vorwürfen, vom anderen defensiv mit Gegenvorwürfen ausgetragene Kampf über die »Schuld« daran gehört zu den häufigsten Anlässen, Hilfe bei Beratern zu suchen. Die bisherigen Lösungsversuche haben nur tiefer in eine erotikfreie Vorwurfswelt geführt. (»Du interessierst dich nicht für mich, du fasst mich nicht an, du willst dich nicht streicheln lassen!« »Wenn du mich unter Druck setzt, geht gar nichts, ich verliere jede Lust, willst du mich wie ein Stück Holz vernaschen?« »Wenn ich dich nicht unter Druck setze, passiert auch nichts!« »Du musst Geduld haben!« »Wie lange noch?« »Siehst du: Du kannst es einfach nicht lassen, Druck zu machen!«)
Viele Paare fürchten sich vor dem Schritt in eine Therapie noch mehr als vor der Vorwurfswelt, die ihnen besser kontrollierbar erscheint und ihre Ängste vor dem Ungewissen mildert. Wenn der Berater den Vorwurfszyklus unterbrechen will, stellt er die Frage: Was halten Sie für aussichtsreicher, um die verlorene Erotik zurückzugewinnen: Vorwürfe zu machen oder sich zu verlieben? Er erntet vielleicht Zustimmung auf einer intellektuellen Ebene, aber er wird auch herausfinden, dass sich damit die Situation noch nicht verändert. Es ist auf jeden Fall einfacher, ein Paar darin zu unterstützen, die Vorwurfskämpfe zu mildern, als die erotische Selbstvergessenheit zu erneuern.
»Anfangs haben wir uns keine Gedanken gemacht. Wir haben einfach zusammen geschlafen, wenn wir uns am Wochenende trafen, ohne uns zu fragen, wer da den ersten Schritt macht. Und jetzt geht schon seit Jahren nichts mehr. Keiner ergreift die Initiative, und wenn es einer tut, versandet es doch, wir sind zu müde. Wir kümmern uns um die Kinder, wir verstehen uns meistens gut …« »Na ja, würde ich nicht sagen, wir streiten eben nicht!« »Aber ich möchte unsere Ehe nicht gefährden …« »Ich auch nicht!«
Angesichts des Mangels an erotischem Erleben sind viele Paare bemerkenswert gleichgültig. Sie vermeiden das Thema, so gut sie können; endlich rücken sie damit heraus, dass da etwas fehlt, was früher da war und gut war. Beide kommen aus dem Urlaub zurück. Sie erklärt: »Eigentlich hätte ich öfter mit dir schlafen wollen!« »Ich auch!«, sagt er. »Aber du hattest doch Rückenschmerzen, weil du unbedingt die Möbel auf die Terrasse wuchten musstest!« – »Aber der Sex hätte mich entspannt!« – »Und warum hast du nichts gesagt?« – »Weiß auch nicht. Ich dachte, du hast keine Lust!« – »Und ich dachte, es tut dir weh!«
Wenn der aggressive Affekt blockiert ist, den Frustration sonst auslöst, liegt es nahe, einen anderen, in diesem Fall mächtigeren Affekt zu vermuten, der ihn blockiert. Die Paaranalyse zeigt schnell, worum es sich handelt: Die Gegenkraft ist die Angst, das Gebäude der Beziehung könnte zerbrechen. Sie ist meist mächtiger als der Ärger, der durch die Versagung entstehen könnte, erlaubt nur halbherzige Versuche, ihn zu formulieren, und erzwingt das »Wir« im Negativen, das dem Menschen sonst sehr ferne liegt. (»Wir streiten ständig!« »Wir können uns nicht einigen!« »Wir haben es wieder nicht geschafft, Sex zu haben!«)
Dieses WIR ist sozusagen die Stimme des Gebäudes, welche die einzelnen Stimmen der Partner abgelöst hat. Angesichts der Kontaktaufnahme mit dem Experten formuliert sich dieses WIR besonders kraftvoll und mahnt den Dritten, vorsichtig zu sein. Das geht bis zu paradoxen Aussagen wie: »Wir müssten uns eigentlich trennen!« Fragt jetzt die Paaranalytikerin: »Und warum haben Sie es nicht getan?«, muss sie mit der Antwort rechnen: »Das wollen wir ja gerade von Ihnen erfahren, wozu sind wir sonst hier?«
In dem Satz »Wir haben es wieder nicht geschafft, Sex zu haben!« wird auch ein Teil der inneren Dynamik des WIR deutlich. Es organisiert und trägt Leistungen, festigt Austausch und sichert Kontrolle. So verwandelt sich der Appetit in die Normalität der Hemmung, die durch Bemühung entsteht und auf eben diesem Weg wieder abgeschafft werden soll, ohne sich den Gefahren des schwer kontrollierbaren Begehrens auszusetzen. Es ist ein Paradox der modernen Psychotherapie – »Ich habe es wieder nicht geschafft, mich gehen zu lassen!« »Es will mir einfach nicht gelingen, meinen Perfektionismus ganz zu überwinden!« Die Anorektikerin sagt: »Ich habe mir fest vorgenommen, normal zu essen!« Spontaneität wird unterdrückt, ihre Wiederherstellung in den Begriffen der Unterdrückung formuliert.
In romantischen Anfängen ist das Gebäude ein Liebestempel, eine Landung auf der Liebesinsel, wie Watteaus »Aufbruch nach Kythera«. Aber auch Tempel und Inseln müssen bewirtschaftet werden. Herzzerreißende Konflikte der Liebenden ergeben sich, sobald eine Hälfte ihre ganze Kraft und ihr ganzes Wissen auf den Aufbau mit gerade diesem Gegenüber konzentriert, während die andere Hälfte nur vorgibt, in dieser Intensität und Exklusivität mitzubauen, weil sonst das Gebäude gar nicht zustande käme, gleichzeitig aber an anderen Gebäuden bastelt oder nach wie vor in ihnen lebt, ohne sie aufzugeben.
Don Jon, eine romantische Komödie von 2013, illustriert diese Situation. Der junge Italo-Amerikaner Jon (Joseph Gordon-Levitt) reißt praktisch jeden Abend eine andere Frau auf und gilt bei seinen Kumpels als der Macho schlechthin. Hinter dieser Fassade ist er stolz auf seine saubere Wohnung, die er selbst putzt und seine Sammlung von Pornofilmen. Er findet Sex mit Frauen anstrengend und kommt mit ihnen nie zu der Entspannung, die ihm Selbstbefriedigung spendet, weil er immer auf die Performance und die Befriedigung der Frau achtet. Jon ist katholisch, beichtet jede Woche die Zahl seiner sexuellen Verfehlungen (»außerehelicher Geschlechtsverkehr«) und betet die Vaterunser und Avemarias der Buße während des Trainings im Fitnessstudio.
An einem Abend lernt er eine Blondine (Barbara, gespielt von Scarlett Johansson) kennen, die ihn erst einmal abblitzen lässt. Jon durchbricht sein Ritual des One-Night-Stands und gehorcht den Ansprüchen, die Barbara an ihn richtet: Er soll einen Kurs machen, damit er endlich einen besseren Job bekommt und im Anzug arbeiten kann, er muss ihre Eltern kennenlernen und sie seine und er muss schwören, nie wieder einen Porno anzusehen, nachdem sie ihn dabei erwischt hat.
Jetzt fügt Jon sich Barbaras Liebesvorstellungen. Er kritisiert seine Kumpels für ihre oberflächlichen Beziehungen, die Familien lernen sich kennen, er lässt sich von Barbara seine Freude am Saubermachen der eigenen Wohnung verbieten – ihr Mann muss eine Putzfrau haben, sie schickt ihm die ihrer Mutter!
Nur Jons Masturbations-Ritual läuft heimlich weiter. Er guckt Pornos sogar während seines Abendkurses auf dem Handy und erregt dadurch die Aufmerksamkeit von Esther (Julianne Moore). Esther hat vor einem Jahr Mann und Sohn durch einen Autounfall verloren. Manchmal kann sie ihre Trauer nicht kontrollieren und bricht in Tränen aus; Jon ist von ihr gefesselt und verunsichert, fühlt sich ihr aber auch näher als den anderen Kursteilnehmern, die jünger sind als sie beide. Später schenkt ihm Esther einen Porno auf einer Diskette und erklärt, dieser habe eine viel bessere Qualität als das, was er im Internet finde. Jon wehrt diese freundliche Geste ab, er habe eine feste Freundin.
Dann kontrolliert Barbara Jons Browser und entdeckt, dass er binnen einer Woche 42 Pornos konsumiert hat. Sie überschüttet ihn mit Vorwürfen und verlässt ihn. Jon ist außer sich und zerschlägt mit der Faust die Scheibe eines Autos, mit dessen Fahrer er Streit gesucht hat. Seine zunächst einzige Verbündete angesichts des Entsetzens seiner Eltern, dass er die perfekte Schwiegertochter nicht halten konnte, ist Jons Schwester. Sie sagt, Barbara habe Jon nie geliebt, sondern einen Mann gesucht, der sich an alle ihre Vorstellungen anpasse.
Jon entwickelt jetzt Abstand zu seinen Ritualen. Er unterwirft sich nicht mehr stumm den Bußen, die der Beichtvater verhängt. Die Beziehung zu Esther wird intensiver. Seine neue Freundin erklärt ihm, sie sei zufrieden mit dem gemeinsamen Sex, aber sie verstehe, wenn er nicht zufrieden sei, denn er könne sich nicht fallen lassen. Eben deshalb sei er von der gefälschten Lust auf den Pornoseiten abhängig. Liebe heiße, sich in einem anderen aufzulösen und zuzulassen, dass das mit dem Gegenüber geschehe.
Jon wehrt ab, gerät aber in große Bedrängnis, weil ihn jetzt die Pornoseiten nicht mehr zuverlässig entspannen. Als er das Esther erzählt, reagiert sie mit Zärtlichkeit und Humor. Jon bittet Barbara noch einmal um ein Treffen. Er entschuldigt sich dafür, dass er sie angelogen hat. Sie kann das nicht annehmen, sondern ergeht sich weiter in Vorwürfen – nur eine Sache habe sie von ihm verlangt, und er habe sie betrogen, sei ein Lügner, ein schlechter Charakter. Jon sagt ruhig, sie habe weit mehr als nur eine Sache von ihm verlangt, worauf Barbara empört geht.
Am Ende des Films sind Esther und Jon ein Liebespaar mit völlig offener Zukunft, aber einer von Jon bisher nicht erlebten Intensität der Beziehung.
In diesem Kinofilm wird die Macht der Traditionsverluste in genaue, ironische Bilder übersetzt. Das katholische Ritual der Beichte existiert noch, hat aber seine prägende Gestalt längst verloren und unterscheidet sich nicht mehr von dem Zwang, regelmäßig ein Fitnessstudio aufzusuchen. Die Familie der Eltern existiert noch und möchte Einfluss entfalten, aber die Eltern können kein Vorbild sein und verdienen es so wenig, ernst genommen zu werden wie der Beichtvater, der stets dasselbe sagt, sodass Jon nicht weiß, ob es jedes Mal ein neuer Geistlicher ist oder immer der gleiche.
In dieses Vakuum dringt Barbara mit ihrer melodramatischen Intensität. Sie fordert Romantik, sie spricht von Liebe, aber sie liebt nicht den Jon, den sie vorfindet, sondern ihren Entwurf.
Die erotische Anziehung und die latente Sehnsucht von Jon nach einem anderen Leben tragen anfangs die Beziehung zu Barbara. In dieses Gebäude kann aber Nähe so wenig einziehen wie in die Ehe von Jons Eltern in ihrer Mischung aus realem Desinteresse (der Vater zieht Sportsendungen im Fernsehen dem Gespräch mit Jons Mutter vor) und zur Schau gestellter Romantik (»ich wusste, sie ist die Richtige, die Einzige«). Aus der Komödie würde eine Tragödie, sobald in dem von Jon und Barbara bewohnten Gebäude Kinder geboren würden.
Die moderne Beziehung beruht auf einem Paradox. Sie kann durch die periodische Auflösung des ganzen Gebäudes in der Erotik verleugnen, dass dieses auf Kompromissen ruht. Solange sich beide verhalten können, als ob ihre Liebe ein ihnen gemeinsames Gefühl wäre, fühlen sie sich sicher.
Im Alltag wird die erträgliche Einheit durch Vermeidungen hergestellt. Beruhen diese auf Liebe oder auf Angst vor Liebesverlust? Es ist auf jeden Fall klug, hier nicht auf einer chirurgischen Trennung zu bestehen. Denn auch die Angst vor dem Verlust ist eine Gestalt der Liebe.
Ein weiter Weg führt von DaPonte/Mozarts Don Giovanni zu dem Don Jon von 2013, aber das Thema der Kontrolle über die Erotik durch Zählzwänge und die Metapher der Erschütterungen und des Einsturzes von Liebesgebäuden nach der Einsicht in Täuschung und Verrat ist über die Jahrhunderte bestehen geblieben. Der Don Giovanni der Oper errichtet ein Lügengebäude nach dem anderen mit dem einen, unersättlichen Ziel, sein Register zu vermehren; der Don Jon im Film hat schon unzählige Frauen in den pornografischen Bildern genossen und andere in der Diskothek verführt, ruhelos im Beweisen seiner Männlichkeit.
In dem so inszenierten Amalgam aus Trieb und Kontrolle zeigen beide das Motto der Moderne schlechthin: den Zerfall. Things Fall Apart ist der erste Roman des nigerianischen Schriftstellers Chinua Achebe. Er erschien 1958 und wurde zu einem Meilenstein und zugleich Klassiker der afrikanischen Literatur. Der Titel orientiert sich an einem Gedicht von William Butler Yeats (1865 – 1939), The Second Coming, das nach den Erfahrungen des Dichters im Ersten Weltkrieg geschrieben wurde. Es beginnt mit dem Bild des Falken, der immer weitere Kreise zieht und den Falkner nicht mehr hören kann. Dinge zerfallen, die Mitte kann sie nicht mehr halten, Anarchie bricht aus in der Welt. In Achebes Roman geht es um den Zusammenbruch der Igbo-Kultur unter dem Einfluss von Kolonialismus und Missionierung.
In einer wachsenden Zahl von Liebesschicksalen wird mit hohem Aufwand seelischer Kraft ein zerfallenes Gebäude aufgebaut, indem die fehlenden Teile durch die Fantasie einer »eigentlichen«, »versprochenen« Zusammenarbeit mit einem Gegenüber ersetzt werden. Erfahrungen, die nicht in den Entwurf passen, der für einen gemeinsamen gehalten wird, werden verleugnet oder umgemünzt.
Julia, eine 32-jährige Akademikerin, die in einer guten Position in einem großen Unternehmen arbeitet, lernt während einer Kooperation mit externen Beratern Sean kennen, einen Schotten mit deutscher Mutter, der in Aberdeen aufgewachsen ist, aber gegenwärtig mit seiner Familie in Norddeutschland lebt. Sie findet Sean ebenso attraktiv wie er sie. Sean erklärt ihr, seine Ehe sei am Ende, er lebe mit seiner Partnerin nur wegen der Kinder noch zusammen; sie sei eine Blutsaugerin, arbeite nicht, setze ihn mit ihrer Kaufsucht und ihren Ansprüchen unter Druck, es gäbe schon seit Jahren keine Nähe mehr zwischen ihnen.
Er bewundert an Julia ihre Unabhängigkeit, ihre Energie, ihre Selbstständigkeit. Sie werden ein Liebespaar. Julia sagt Sean, dass sie nicht verhütet, weil sie sich ein Kind wünscht. Sie wird schwanger. Sean sagt, das sei die willkommene Gelegenheit für einen Neuanfang, aber augenblicklich passe es schlecht, er müsse beruflich viel reisen und sei mit seiner Ehefrau und den Kindern aus erster Ehe noch nicht so weit.
Julia sagt trotzig, dass sie das Kind behalten möchte. Sie entbindet einen Sohn. Er wird auf den Namen James getauft. Sean sagt zu, zur Taufe zu kommen, sagt dann ab, er hat eine neue Stelle in London angetreten, er kann nicht weg. In der Folge dünnt Sean den persönlichen Kontakt aus, schreibt aber E-Mails und zahlt Julia pünktlich eine Summe, die etwas über dem gesetzlichen Unterhalt liegt.
Julia organisiert schlecht und recht Berufstätigkeit und Kind. Sean behauptet, er brauche Zeit, um sich von seiner Frau zu trennen. Immer wieder sagt er Verabredungen, Julia zu besuchen, kurzfristig ab oder kommt einfach nicht und erklärt nachher, dass ihn ein dringender beruflicher Termin abgehalten habe. Julia beklagt sich in langen Textbotschaften über diese Unzuverlässigkeit, die mit ihren Vorstellungen einer Liebesbeziehung nicht vereinbar sei, was Sean ebenso ausführlich erwidert, sich rechtfertigt, seine berufliche Belastung erklärt, Julia vorwirft, sie setze ihn unter Druck, so seien bereits seine Mutter und seine Ehefrau mit ihm umgegangen. Er hätte gehofft und geglaubt, dass Julia anders sei. Julia überlegt sich, ob sie Sean wirklich unter Druck setze oder nur darauf bestehe, dass er Abmachungen einhalte; sie versucht das Sean in neuen Textbotschaften zu erklären.
Inzwischen ist James acht Jahre alt. Julia hat seit vier Jahren keine sexuelle Beziehung – weder zu Sean noch zu einem anderen Mann. Sie hat sich von Sean getrennt und muss James immer wieder trösten, weil Sean verspricht, ihn zu besuchen, dann aber mit einer Entschuldigung absagt. Sean zahlt den vorgeschriebenen Unterhalt und schreibt gelegentlich aus einem Hotel oder von einem Flughafen wehmütige E-Mails, in denen er darüber räsoniert, warum »wir unsere große Liebe nicht verwirklichen konnten«. Julia antwortet mit oft noch längeren Nachrichten, in denen sie Sean an seine Unzuverlässigkeit und seine gebrochenen Zusagen erinnert. Wenn er sich endlich scheiden ließe und sich wirklich um James kümmern würde, wäre sie vielleicht bereit, wieder einen Versuch zu wagen.
Manchmal denkt Julia, dass sie einen anderen Mann braucht, um Sean aus ihrem Kopf zu treiben. Sie geht selten aus, ist viel mit James zusammen, fährt mit einer Freundin und James in Urlaub, besucht ihre Eltern, die den Enkel gerne sehen. Sie mag Internetportale nicht, diese anonyme Fleischbeschau, aber irgendwann probiert sie es doch. Sie verabredet sich einige Male, aber sie findet die Männer uninteressant, es springt kein Funke über, wie damals bei Sean, was nutzt ihr ein anderer Mann, mag er auch zuverlässiger sein als Sean, wenn sie ihn nicht liebt? Sie ahnt, dass sie immer noch in einem Gebäude lebt, in das der reale Sean nicht zurückkehren wird, kann sich aber nicht dazu durchringen, etwas zu tun, was diesem Gebäude gefährlich werden könnte. Auch Sean, den sie in den letzten Jahren nur einmal kurz gesehen hat, als er kurz vor Weihnacht vorbeischaute und James eine große Schachtel mit Playmobil-Figuren mitbrachte, schreibt in seinen melancholischen E-Mails immer nur von Julia und ihm, nie von seiner neuen Freundin, mit der zusammen er sich in seiner schottischen Heimat ein Ferienhaus gekauft hat.
Die Gebäude-Metapher handelt von Liebe in Zeiten der Sesshaftigkeit, einem späten Stadium der menschlichen Evolution. Das Leben in festen Bauten ermöglicht ein hohes Maß an Komfort und Sicherheit um den Preis mehr oder weniger drückender Normen und Pflichten. Wer sich den Forderungen der Sesshaftigkeit entzieht, ist Landstreicher, Obdachloser, Penner. Seit es diese Bequemlichkeiten gibt und bürgerliche Dichter ihre Existenz reflektieren, hat das freie Zigeuner- oder Räuberleben neue Attraktivität gewonnen. 1782 wurden Schillers »Räuber« uraufgeführt. Der Dichter singt das Lob der Freiheit2, versäumt aber nicht, auf ihre trunkene Qualität und ihr Ende in der Hölle hinzuweisen.
Eine moderne Variante der Regression in die Rolle des fahrenden Ritters mit damsel in distress (Jungfrau in Nöten) und feuerspeienden Drachen schildert Lee Child in seinen Romanen über Jack Reacher. Der Held ist ein brillanter Soldat, der im Rang eines Majors der Militärpolizei ausgeschieden ist und seither als drifter lebt. Außer Zahnbürste, Ausweis und etwas Geld trägt er nichts bei sich, wirft getragene Kleider weg und verschenkt ein Haus, das er von einem Freund geerbt hat. Wenn er Geld braucht, jobbt er oder überfällt einen Drogendealer. Schöne Frauen verlieben sich in ihn, aber nach einigen Liebesnächten zieht Reacher weiter, dem nächsten Abenteuer entgegen. In diesen Abenteuern geht es den Bösewichten um Geld und Macht; Reacher aber um den Beweis, dass er der bessere Mann ist.
Wir wissen nicht genau, wie sich die Liebe in den altsteinzeitlichen Kulturen der Jäger und Sammler abgespielt hat. Die Zeugnisse sind spärlich, weit verstreut, von Projektionen der Missionare und später der Anthropologen in die »Wilden« entstellt. Aber es gibt doch einige Einzelheiten, die von großer Unbefangenheit zeugen und jene befremden, die von romantischen Vorstellungen geprägt sind.
Eine davon ist das Angebot des Eskimopaares an den Gast, doch Sex mit der Frau des Hauses zu haben; eine zweite die in der Jägerkultur herrschende Sitte, angesichts eines mehrwöchigen Jagdzuges die wegen einer Schwangerschaft in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmte eigene Frau gegen die beweglichere eines Freundes zu tauschen3. Eine dritte ist die Beobachtung von Elizabeth Marshall-Thomas, dass eine Buschmannfrau, die sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlt, den Schmuck aus weißen Perlen wieder anlegt, den sie nach der Eheschließung abgelegt hat4.
Das bedeutet: Ich bin zu haben! Ändert der Ehemann sein Verhalten nicht, läuft er Gefahr, dass sie mit einem anderen durchbrennt.
Wo jeder Mann und jede Frau nur so viel persönliche Habe anhäufen kann, wie sie bereit sind zu tragen, kann es auch keine aufwendigen Gebäude der Liebe geben. Die Orientierung an den vitalen Bedürfnissen greift, nur wenig behindert von Normen und Erwartungen. Hunger lehrt, dass es Sinn macht, Bedürfnisse gleich zu befriedigen; was ich im Magen habe, habe ich sicher, es wird nicht verfaulen und es wird mir nicht weggenommen.
Eine völlig andere Sicht auf die Welt und damit auf die sexuellen Beziehungen entstand aus den Anforderungen des Ackerbaus und der Viehzucht. Jetzt mussten Vorräte bewahrt und Herden bewacht werden.
In einer systematischen Untersuchung haben Herbert Barry und seine Mitarbeiter herausgefunden, dass sich Jägerkulturen in ihrer grundlegenden Haltung zur Erziehung von Kindern dramatisch von agrarischen Kulturen unterscheiden. Wer von der Hand in den Mund lebt, wie es die Menschen 99 Prozent ihrer Evolution taten, braucht andere Tugenden als der Hirte oder der Ackerbauer, deren Kultur seit einigen Jahrtausenden die Erde dominiert. Diese Tugenden sind vor allem Selbstvertrauen und Eigeninitiative.
Nimmt man Eigeninitiative und Gehorsam als entgegengesetzte pädagogische Ziele, dann ist die Zuordnung klar: Von den 22 Jägerkulturen in der Stichprobe betonten 19 (86 Prozent) das selbstständige Handeln mehr als den Gehorsam. In den Kulturen, die auf Ackerbau und Viehzucht beruhten, war es umgekehrt: 34 der untersuchten 39 Kulturen betonten den Gehorsam und stellten ihn über die Eigeninitiative. In der Tat gehören Viehherden und bestellte Felder zu einer Gesellschaft, deren wichtigste Aufgabe sorgfältige Pflege der traditionellen Aufgaben ist, während der Jäger nichts zu bewahren hat, sondern einfallsreich und unternehmungslustig sein muss, um Beute zu machen – und so wird er auch als Kind trainiert.
Wenn wir an die Geschichte von Julia und Sean zurückdenken: Wie enorm sind die Anstrengungen, die vor allem Julia unternimmt, um den einmal begonnenen Aufbau der Beziehung mit Sean zu erhalten, zu bewahren, ihre Vorstellungen von der »richtigen« Familie durchzusetzen. Die sexuelle Beziehung zu Sean wird diesen Zielen untergeordnet. Als Julia die gemeinsame Erotik beendet, steht nicht der Wunsch dahinter, Sean gegen einen Mann zu tauschen, der verlässlicher ihre Bedürfnisse erfüllt. Vielmehr hofft sie, dass ihr Rückzug Sean veranlasst, sich mehr als bisher anzustrengen, um sie zurückzuerobern.
Sean ist durch die intensive Sehnsucht, die er in Julia geweckt hat, mächtiger als alle Männer, die eine alltagstaugliche Liebe anbieten. Nicht der häufige Ärger und Frust, nein, die seltenen Höhepunkte bestimmten den Maßstab, den sie an neue Bekanntschaften anlegt.
Wer Geschichten wie die von Julia und Sean nachvollziehen will, entdeckt in beiden Partnern die Sehnsucht nach einer Beziehung, die alle Erwartungen erfüllt. Anders als in dem Gedicht Goethes, in dem er die Dynamik der sexuell unerfüllten, symbiotischen Liebe so genau erfasst hat5, wird hier diese Sehnsucht durch eine sexuelle Beziehung ausgelöst und führt zum Aufbau eines Erwartungsgebäudes, das so lange als gemeinsam erlebt wird, wie nur die erotische Begegnung real, die »Familie«, aber imaginär bleibt.
Das Medium, in dem die mangelnde Stimmigkeit zweier ganz unterschiedlicher Liebes-Gebäude fassbar wird, ist der Vorwurf. Um Erotik ohne größere Kränkungen in das Selbstgefühl zu integrieren und es auf diesem Weg auch zu festigen, brauchen wir die bewundernde Zustimmung des Gegenübers. Fehlt diese, schwindet auch die Möglichkeit, sich selbst zu idealisieren. Diese Selbstgefühlskrise weckt Wut gegen ihre Auslöser. Die Liebenden beginnen, sich gegenseitig zu beschuldigen – oft in der Form, dass ein Teil etwas kritisiert, sein Gegenüber aber die Kritik kritisiert (»immer machst du mir Vorwürfe!« »wir hätten es so schön, wenn du nicht immer so unzufrieden wärst«).
Das paaranalytische Erstgespräch kann eine bisher latente Vorwurfswelt wecken oder die bereits bestehende verstärken. Eindrucksvoll ist der Kontrast zwischen der Begrüßung im Flur und dem Gespräch selbst. Während des Türöffnens, Händeschüttelns, der Unterbringung von Handtaschen oder Mänteln wirkt das Paar aufgeschlossen, zugewandt, kooperativ. Kaum haben die Partner Platz genommen und begonnen, über ihre Probleme zu berichten, verändert sich diese Stimmung dramatisch.
Die Freundlichkeit ist dahin; eine Art Verdrängungswettbewerb beginnt. Anfangs ist er noch leise, es gibt vielleicht sogar eine höfliche Rangelei, wer dem anderen den Vortritt lässt. Wenn dann ein Problemthema konkrete Gestalt annimmt, wird die Rede gänzlich zum Plädoyer, zur Verteidigung einer bedrohten Wahrnehmung oder Erklärung der Beziehungswelt.
Der Liebespartner wird nun deutlich als Störer erlebt; er bedroht die Selbstdarstellung und ignoriert den Platz, der ihm in dieser zugewiesen wird. Seine Gegenrede ist oft hektisch, von der Angst geprägt, unterbrochen zu werden, die sich auch durch das Verhalten des Gegenübers bekräftigt. Dieses nutzt die Pause, um ein Aber, eine Gegendarstellung, ein Gegenargument einzuwerfen. Ganz deutlich ist: Keiner will hören, beide wollen darstellen. Es interessiert nicht, was die Gegenseite meint und möchte, es muss an die Stelle dieser falschen Sicht auf die Beziehung die eigene, richtige treten, die den vorgelegten Entwurf quasi überschreibt.
Die Vorwurfswelt hat mit dem Erleben eines geschlossenen Raums und versperrter Fluchtwege zu tun. Aufbauarbeit wurde geleistet, um es einander schön zu machen: eine Wohnung eingerichtet, eine Küche in Betrieb genommen, ein Haus gebaut, ein Kind geboren.