Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen - Martin Seelos - E-Book

Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen E-Book

Martin Seelos

0,0

Beschreibung

Martin Seelos macht in diesem Buch auf knapp 1.000 Seiten (Band 1 und Band 2) den Begriff der dualen Ökonomie für die Wirtschaftsgeschichte fruchtbar. Das Konzept der "Dualökonomie" wurde bislang hauptsächlich in der Ethnologie oder der Entwicklungssoziologie verwendet, um die Gleichzeitigkeit von einem modernen mit einem vormodernen Wirtschaftssektor zu umreißen. Dieser begrenzte Fokus wird hier überwunden. Erstens, weil die "Modernität" konkret zu bestimmen ist, um sie historisch einzuordnen. Und zweitens findet sich die duale Ökonomie in der Globalgeschichte immer wieder als dynamisches Element: Die Dualität umreißt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen, der jede neue Produktionsweise begleitet. Im Fokus des vorliegenden zweiten Bandes dieses Buches steht die duale Ökonomie der Sowjetunion sowie die Dialektik der historischen Entwicklung seit der Antike. Der inhaltliche Schwerpunkt von Band 1 liegt in der Wechselwirkung zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und Afrika sowie den Antillen. Bei all diesen Konstellationen geht es auch um die Frage, nach welchen Kalkülen so unterschiedliche Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, mit welchen Methoden und mit welchen Folgen: Aus dem Nebeneinander wird ein Nacheinander. In dieser Hinsicht kann von einer globalgeschichtlichen Relevanz jeder Dualökonomie gesprochen werden. Das vorliegende Werk ist originär, kenntnisreich verfasst und spannend zu lesen. Die Untersuchung liegt im Schnittpunkt der Geschichtsforschung und der politischen Ökonomie. Konkrete Berührungspunkte zu der Wirtschaftsanthropologie fehlen nicht. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat sowie ein Literaturverzeichnis (Band 2) machen die Textbelege nachvollziehbar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 555

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Seelos

Duale Ökonomie

und historische Eigentumsformen

Band 2

2021

Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen, Band 2

© 2021 Martin Seelos

Beiträge zur Kulturgeschichte, Teil 7

Cover-Illustration: Bildbearbeitung: Martin Seelos 2020, unter Verwendung von: Wenzel Jamnitzer, Perspectiva Corporum Regularium, Nürnberg 1568 (dokumentiert von der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, vgl.: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12830/).

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

978-3-7469-0054-4 (Paperback)

978-3-7469-0055-1 (Hardcover)

978-3-7469-0056-8 (e-Book)

Druck in Deutschland und weiteren Ländern

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

DER INPUT DES SOZIALISTISCHEN EIGENTUMS

DER INPUT DES BÄUERLICHEN EIGENTUMS

DUALÖKONOMIE DER 1920ER–1930ER JAHRE

PREISPOLITIK UND DUALE ÖKONOMIE

DIALEKTIK DER DUALEN ÖKONOMIE

ANHANG

ANMERKUNGEN

AUSGEWÄHLTE LITERATUR (BEIDE TEILBÄNDE)

VORWORT

Im Fokus des vorliegenden zweiten Bandes dieses Buches steht die duale Ökonomie der Sowjetunion sowie die Dialektik der historischen Entwicklung seit der Antike.

Der inhaltliche Schwerpunkt von Band 1 liegt in der Wechselwirkung zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und Afrika sowie den Antillen.

Die gesamte Arbeit versucht, den Begriff Dualökonomie für die Wirtschaftsgeschichte nutzbar zu machen. Der Begriff „Dualökonomie“ wurde bislang hauptsächlich in der Ethnologie oder der Entwicklungssoziologie verwendet, um die Gleichzeitigkeit von einem modernen mit einem vormodernen Wirtschaftssektor zu umreißen.

Dieser begrenzte Fokus wird hier überwunden. Erstens, weil die „Modernität“ konkret zu bestimmen ist, um sie historisch einzuordnen. Und zweitens findet sich die duale Ökonomie in der Globalgeschichte immer wieder als dynamisches Element: Die Dualität umreißt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen, der jede neue Produktionsweise begleitet. Somit muss eine Analyse der dualen Ökonomie en passant auch alte Eigentumsformen bestimmen. Das Thema ist in der Schnittmenge zwischen Wirtschaftswissenschaft und Geschichtsschreibung angesiedelt.

Das zweibändige Buch bietet keine systematische, aber eine exemplarische Aufarbeitung. Verweilt wird an folgenden „Stationen“: Neolithikum vs. Mesolithikum in Mitteleuropa, Hellenismus vs. altorientalische Produktionsweise, Spätantike vs. Feudalismus, Feudalismus vs. frühneuzeitlicher Kapitalismus, frühneuzeitliches Europa vs. altamerikanisches und altafrikanisches Eigentum, Französische Revolution & Bauernbefreiung in Kontinentaleuropa, sowjetische Industrie vs. kleinbürgerliche Agrarproduktion.

Bei all diesen recht verschieden gelagerten Konstellationen geht es auch immer um die Frage, nach welchen Kalkülen gegensätzliche Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, mit welchen Methoden und mit welchen Folgen: Aus dem Nebeneinander wird ein Nacheinander. Hier zeigt sich die globalgeschichtliche Relevanz jeder dualen Ökonomie.

DER INPUT DES SOZIALISTISCHEN EIGENTUMS

Als nächste Station unseres Streifzuges durch die Geschichte der Dualökonomie wählen wir die Periode von 1917 bis 1991. Oder anders gesagt: Das ökonomische Verhältnis der Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts zu dem sie umgebenden bürgerlichen und kleinbürgerlichen Eigentum. Dabei nehmen wir es mit den Jahreszahlen insofern nicht ganz so genau, als ja auch nach 1991 Planwirtschaft – etwa auf Kuba – existierte und anderseits die sowjetische Planwirtschaft nicht bereits 1917 fertig da war, sondern erst in den dem politischen Umsturz folgenden Jahren nach und nach Fuß fasste. Im Grunde als Reaktion auf die Tatsache, dass die Privateigentümer mit der durch die russische Revolution ermöglichten Arbeiterkontrolle über die Produktion, falls irgendwie möglich, nichts mehr zu tun haben wollten.

„Während 1917, als die Arbeitslöhne stiegen, hörten die Privatunternehmer infolge der hohen Kosten auf, die Schiffe zu reparieren, so daß viele Schiffe der früheren Jahre rasch betriebsunfähig wurden. Auf diese Weise ist ein Drittel der Binnenschifffahrtsflotte verlorengegangen (…).“1

Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Schifffahrt entlang der großen Ströme und Kanäle, etwa von St. Petersburg bis Astrachan, neben der Eisenbahn den wichtigsten Gütertransport darstellte. Auch der 1917 eingeführte, damals weltweit noch gänzlich unübliche Achtstundentag spielte eine Rolle. Jurij Larin führt zu den Wartungsarbeiten des Schienennetzes an:

„(…) so daß durchschnittlich auf eine Werst Eisenbahnweges 28 Arbeiter und Angestellte kamen statt 14 wie vor dem Kriege. (Die Erhöhung der Anzahl der Arbeiter geschah in der Hauptsache 1917 mit dem Übergang vom zwölfstündigen zum achtstündigen Arbeitstag.).“2

Da die Bahn staatlich betrieben wurde, gab es hier keine Kapitalflucht vor der Arbeiterkontrolle. Aber das Beispiel zeigt, welche betrieblichen Auswirkungen die von den Industrie- und Transportarbeitern 1917 durchgesetzten Änderungen hatten. Wenngleich sich die Verdoppelung der Arbeitskräfte pro Werst Streckensanierung vermutlich auch auf die während des Bürgerkrieges gesunkene technische Arbeitsproduktivität zurückführen ließe. Für das Kapital waren die ständigen Einmischungen der Betriebsarbeiter in die Firmenführung schwer zu ertragen. Die Arbeiterkontrolle hatte weitreichenden Umfang:

„The owners of enterprises had to make available to the organs of workers‘ control all accounts and documents. Comercial secrecy was abolished. The decisions of workers‘ control organs were binding on owners of enterprises.“3

Die Abschaffung des Betriebsgeheimnisses ist ein schwerer Eingriff in das Wesen des Privateigentums.

In der ersten Phase der Existenz des neuen Staates bestand die Idee, Privateigentümer auch an der Tätigkeit des Obersten Rats für Volkswirtschaft (WSNCh) zu beteiligen, also der noch am 15. Dezember 1917 geschaffenen obersten Planungsbehörde. Der WSNCh hatte in der Tat zuerst einmal mehr Ähnlichkeiten mit einem Amt für Beschaffung und Produktionskontrolle, wie es verschiedene bürgerliche Staaten während des Krieges einführten, und weniger mit einem Ministerium für sozialistische Industrie.

„Certainly in the first few months of existence the organs (…) included some managers and even owners.“4

Vielleicht hätten sich die Privateigentümer in eine bürgerliche Verstaatlichung der strategischen Wirtschaftsbranchen und der Infrastruktur wie in anderen Ländern während und nach dem Krieg einbinden lassen. Indes, mit der Arbeiterkontrolle über die einzelnen Betriebe nicht. Es widerspricht dem Wesen des Privateigentums, für jeden betrieblichen Vorgang die Zustimmung der Betriebskomitees, Gewerkschaften und lokalen Sowjets einholen zu müssen. Ein Dreivierteljahr lang, also bis zum Sommer 1918, zogen sich die Konflikte hin. Oft gaben die Privateigentümer auf und versuchten ihr Kapital abzuziehen. Diese Unternehmen wurden zuerst sozialisiert.

Silvana Malle hinterfragt zurecht, ob nicht auch die vom WSNCh vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs „von oben“ nationalisierten Unternehmen in Wirklichkeit auch solche waren, die von den ursprünglichen Eigentümern aufgegeben wurden.

„Between 15 November 1917 and 6 March 1918, eighty-one enterprises were expropriated by Sovnarkom decree or by VS-NKh. (…) But this is not by itself evidence of the implementation of a plan. Nationalization often sanctioned autonomous initiatives by workers or local soviets. Of the thirty-four decrees of expropriation signed by Sovnarkom and by VSNKh between December 1917 and February 1918, only five mentioned the national importance of the undertaking. Refusal by the management to apply workers’ control led to nationalization in eight cases and stoppage of production in twelve.“5

Oder, nun über die Region Ural:

„Other factories of the same region were confiscated by Sovnarkom at about the same time for not applying workers’ control or the decree on land. For twenty-four out of thirty-four factories in the Urals, the reason for expropriation was that stocks were deteriorating after the owners had stopped production.“6

Oder, nun im Südwesten:

„(…) in the Donbass, where industrial cooperatives were formed. Also in the Donbass the workers spontaneously formed local economic councils and proclaimed those mines which were ownerless, for whatever reason, to be the property of the Republic. They directly assumed the management. In this case, nationalization was declared without any participation of the higher authorities; it covered half of the mines.“7

Nove spricht von 487 Unternehmen, die bis zum Juni 1918 sozialisiert wurden. Malle von 3.221 Unternehmen bis inklusive Juli 1918, darunter 38 % Kleinbetriebe mit unter 50 Beschäftigten.8

Und das ist offensichtlich der typische Vorgang:

„The large majority (over two-third) of nationalizations (…) may have been due to genuinely local decisions (…) the refusal of employers to accept orders from workers’ councils.“9

Der Autor dieser Passage, Alec Nove, beschreibt in seinem Klassiker aus dem Jahr 1969 zur Ökonomie der Sowjetunion, wie es zur Entstehung der Planwirtschaft kam. Eigentlich eher, welche Faktoren die Schritte in Richtung Planwirtschaft beschleunigten und welche sie verzögerten. Indes, so wertvoll diese Quelle ist – Nove wertet zahlreiche Originaldokumente aus –, folgt seine Darstellung keiner elaborierten Eigentumstheorie. Er spricht die erste Phase als „mixed economy“ an und verwendet diesen Begriff so, wie er landläufig gemeint ist: als Koexistenz zwischen einem verstaatlichten und einem privatwirtschaftlichen Sektor.10 Um die Verwirrung komplett zu machen, mag dies durchaus auch von einigen der damals Beteiligten so anvisiert worden sein. Der Begriff „gemischte Wirtschaft“ definiert jedenfalls nicht, ob nun das bürgerliche oder das verstaatlichte Eigentum das ökonomische Milieu bestimmt und deswegen sind Noves Hinweise, dass selbst die Labour Party Großbritanniens sich einmal für eine gemischte Wirtschaft ausgesprochen hatte, zwar sachlich richtig, aber dennoch den Punkt nicht treffend. Es geht einfach darum, ob unterschiedliche Eigentumsformen (im engeren Sinne) in eine bürgerliche oder sozialistische Produktionsweise eingebettet sind. Oder, pointiert gesagt, es geht um die Frage: Welcher Sektor bestimmt die Spielregeln des jeweils anderen? Ein ähnliches Problem stellt sich mit dem in den 1920er Jahren entstandenen Begriff einer „warensozialistischen Wirtschaft“. Es gab zwar Autoren, wie Evgenij Preobrazenskij, die diesen Begriff bereits in den 1920er Jahren hinterfragten, um die Frage nach dem ökonomischen Milieu zu beantworten. Aber noch in den 1950er Jahren führte dieser Begriff zu Verwirrungen – mehr dazu im abschließenden Kapitel in diesem Buch.

Uns genügt hier vorerst, aus dem konkreten Geschehen erste Schlüsse zu ziehen, und das ist auch gar nicht so schwer: Wenn die in der Revolution von 1917 entstandene Arbeiterkontrolle so einflussreich war, dass sie zum Kapitalboykott der Privateigentümer führte und damit in weiterer Folge zur Weiterführung der Betriebe ohne bürgerliche Eigentümer …dann bedeutet dies im Grunde nichts anderes, als dass der Staat das bürgerliche Eigentum im Fall des Falles nicht mehr schützte. Ob nicht konnte oder nicht wollte, ist in diesem Zusammenhang nebensächlich. Dass der WSNCh wiederholt, nämlich am 19. Jänner und am 24. April 1919, dekretierte, Enteignungen von privaten Unternehmen durch die Arbeiterkomitees hätten zu unterbleiben, verdeutlicht nur, dass eine Organisation der Regierung nicht die Macht hatte, das bürgerliche Eigentum zu schützen.

Arbeiterkontrolle ist Ausdruck des Konflikts. Es stimmt, das könnte auch einmal in einem Land mit bürgerlichen Eigentumsverhältnissen geschehen, in einer Phase der Streiks und Betriebsbesetzungen. Aber im Frühjahr 1918 war die heiße Phase der Revolution längst abgeklungen, der Oktoberumsturz seit bereits einem halben Jahr Geschichte. Und ab dem Sommer 1918 wollte der WSNCh das bürgerliche Eigentum auch nicht mehr schützen. Weshalb? Er musste im Bürgerkrieg die Produktion geradezu selbst in die Hand nehmen. Hier kann die Frage nur beantwortet werden, indem wir aus dem konkreten Geschehen „hinauszoomen“ und verallgemeinern: Der Staat im weitesten Sinne – nicht allein die Regierung und ihre Organe, sondern „der Staat“ als Entität der politischen Kräfte im Lande – schützte die bürgerliche Produktionsweise nicht mehr. Und deswegen gelangte jeder noch so begrenzte Schritt, die Souveränität der Privateigentümer zu begrenzen, sofort in einen Sog Richtung sozialistisches Eigentum. Dieselben Schritte hätten unter anderen Rahmenbedingungen etwa zu einem vorübergehenden Kompromiss der Kapitalvertreter mit den Gewerkschaften, zu bürgerlichen Verstaatlichungen wie in Großbritannien oder in Österreich nach dem 2. Weltkrieg, oder zu einem Kapitalismus mit gelenkter Kriegswirtschaft geführt – wie unter der OHL in Deutschland zwischen 1916 und 1918. All diese Phänomene hatten eine gewisse objektive sozialistische Logik innerhalb des framework of capitalism. In Russland nach dem Oktober 1917 verhielt es sich offensichtlich genau umgekehrt: Hier existierten Phänomene mit einer bürgerlichen Logik innerhalb des framework of socialism.

Das ist der zentrale Aspekt: Sowohl Arbeiterkontrolle über Betriebe als auch Verstaatlichungen „von oben“ gibt und gab es innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise wie auch außerhalb derselben. Bloß die historisch feststellbare Existenz von Arbeiterkontrolle und Verstaatlichung erklärt nicht, welche Eigentumsform insgesamt den Ton angibt und die Dynamik der weiteren Entwicklung bestimmt. Ungefähr so ähnlich wie mit der Haitianischen Revolution (1791–1804) veränderten sich mit der Russischen Revolution die Eigentumsverhältnisse: In dem einen Fall konnten die ehemaligen Sklaven nicht wieder in das System der Sklavenplantage gezwungen werden. In dem anderen Fall ließen sich die Lohnarbeiter nicht mehr unter das Kapital unterwerfen. Das war ein auf die Ökonomie wirkendes Verhältnis, nicht ein – wie Nikolai Bucharin 1922 in einem Buch formulierte – ökonomisches Verhältnis, das auf die Politik wirkte.11

Aber es war ein objektives Verhältnis – unabhängig vom Willen und Bewusstsein des Einzelnen. Wir sehen dies nur deswegen nicht sofort, weil zum Beispiel Phänomene wie Lohn nach der Phase des Kriegskommunismus wieder verwendet wurden; oder weil im ersten Jahr nach dem Oktoberumsturz der Großteil der Betriebe noch von ihren ursprünglichen Privateigentümern geführt wurde – wenn auch oft nicht direkt bzw. nicht vor Ort. Und schließlich, weil die führenden politischen Figuren selbst von „Staatskapitalismus“ sprachen …ein Terminus, den noch heute Historiker verwenden, der aber die Dynamik der ökonomischen Entwicklung mehr verschleiert, als sichtbar macht.12 Abgesehen davon, dass dies nur ein politischer Begriff ist, und kein ökonomischer, denn eine eigene Eigentumsform namens Staatskapitalismus gibt es nicht. Eigentumsverhältnisse existieren immer nach dem Modus „entweder oder“. Zwischenformen beziehen sich auf eine politische Verformung der Produktionsweise, nicht auf das Wesen des Eigentums.

Eine Zwitterform der Eigentumsverhältnisse ergibt sich etwa bei Charles Bettelheim. Dieser definierte zuerst einen richtigen Punkt: dass die Arbeit in den Planwirtschaften des 20. Jahrhundert noch nicht zur Transparenz im Produktionsprozess führte. Dann meint er aber: Aus diesem Grunde handelte es sich noch nicht um eine Vergesellschaftung des Eigentums, sondern bloß um eine Verstaatlichung – allerdings auch wiederum nicht um eine bürgerliche Verstaatlichung. Demnach hätten wir drei Formen vor uns: bürgerliche Verstaatlichung, planwirtschaftliche Verstaatlichung und planwirtschaftliche Vergesellschaftung. So richtig die Kritik Bettelheims an der fehlenden Transparenz und damit an der fehlenden Bewältigung des Produktionsprozesses durch die Arbeiter ist, so ist diese Kritik eigentlich eine an der politischen Entmachtung der Arbeiter durch die Bürokratie und an der bürokratischen Blockade der Planwirtschaft durch den Stalinismus. Unser Zugang zu dieser Frage: Die Bürokratie hat das Potential des sozialistischen Eigentums blockiert, aber sie hat keine neue bzw. eigene Eigentumsform geschaffen. Die gegenteilige Annahme würde die Bürokratie aufwerten und ihr eine historische Legitimität verleihen – ähnlich wie bei Rudolf Bahro, der sie als Organ einer Art asiatischen Produktionsweise der Industrie ansprach.13

Des Rätsels Lösung liegt in der Dynamik. Es geht immer um die Dynamik … sozusagen um die Frage, in welche Richtung der „Sog“ der Eigentumsveränderung wirkt. Selbst ohne Bürgerkrieg und eine Wirtschaftspolitik namens Kriegskommunismus hätte dieser Sog gewirkt. Vermutlich langsamer, aber eben doch. Wir sehen diesen Zusammenhang auch an Hand von folgendem Beispiel: Formen der Arbeiterkontrolle in den Fabriken entstanden großteils bereits im Zuge der Februarrevolution und hielten sich bis nach der Oktoberrevolution. Der Unterschied ist nun aber, dass der Staat unter der „Provisorischen Regierung“ bei Konflikten zwischen Belegschaft und Kapitaleigner im Zweifelsfalle eher letztere Seite unterstützte. Selbst wenn dieser Staat immer wieder der anderen Seite Zugeständnisse machen musste, wie bei der Einführung des Achtstundentages. Genau dieses Verhältnis drehte sich mit dem Oktoberumsturz um. Nun machte der Staat gerne auch Zugeständnisse an die bürgerliche Seite, musste im Zweifelsfalle aber der proletarischen Seite recht geben. Es hatten sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse geändert, denen der Staat im engeren Sinne – als Regierung und Staatsapparat – entsprechen musste. In dieser Hinsicht ist der Staat nicht souverän, sondern Ausdruck von etwas anderem. Ein Dekret vom 27. November 1917 zum Thema Arbeiterkontrolle und Fabrikkomitee hob diese in den politischen Überbau. Die Arbeiterkontrolle wurde vorerst zu einem Prinzip dieses Staates.

Die Entwicklung führte dazu, dass beides, die Betriebsenteignungen durch die lokalen Komitees bis zum Juni 1918, als auch die von oben durchgeführten Betriebsenteignungen durch den WSNCh der folgenden Monate, keine bloßen Verstaatlichungen waren, sondern echte Sozialisierung von Privateigentum. Der Staat führte Unternehmen nicht an der Stelle von privatem Kapital weiter, sondern der Staat schützte die Kollektivierung. Wie gut oder schlecht im weiteren Verlauf die Planwirtschaft auch geführt wurde – und nach Jahrzehnten der Bürokratisierung so schlecht, dass sie schließlich kollabierte –, dennoch handelte es sich nüchtern betrachtet nicht mehr um ein bürgerliches Eigentum und daher qua Logik um ein sozialistisches – auch wenn der Sozialismus als Gesellschaftsform nie erreicht und das Stadium einer Übergangsgesellschaft bis 1991 nicht überwunden wurde.14

Wir sehen hier nebenbei – nämlich bei der interessanten Entstehungsgeschichte der neuen Eigentumsform –, dass alleine die Frage, ob die Enteignung von der Basis oder von der Staatsspitze ausgeht, zwar für den weiteren Verlauf vor allem in den 1930er Jahren nicht gerade unwichtig war … aber zumindest nicht entscheidet, ob es sich um eine bloße Verstaatlichung von bestehendem bürgerlichen Eigentum handelte oder um die Aufhebung desselben. Ausgangspunkt und damit Richtung der Enteignung stellen einen politischen Faktor dar, der auf die Ökonomie wirkt. Aber der Faktor selbst ist nicht Ökonomie. An dieser Stelle eine Gesetzmäßigkeit aufzustellen, ist nicht möglich. In der Sowjetunion begann die Umwandlung von unten und in dieser Phase dominierte daher zwangsläufig die Macht der Arbeiterkontrolle. Später wurde sie hingegen von der Staatsspitze aus als Ressourcenallokation im Bürgerkrieg vorangetrieben. Es wäre ein Fehler, bereits von dieser empirischen Ebene weg eine Theorie über den Unterschied zwischen Nationalisierung und Vergesellschaftung aufzustellen. Der setzt bei dem Unterschied der Produktionsweise an, nicht bei der Historie der Enteignung bürgerlichen Eigentums. Hier gibt es so viele Varianten, wie es geschichtliche Zufälle gibt.

Zum Beispiel Ungarn 1919: Die Distribution zwischen dem ungarischen und vor allem dem österreichischen Kapital setzte nach dem 1. Weltkrieg aus und die ungarische Bourgeoisie des Reststaates stellte sich als kapitalarm heraus, während jene Gebiete, die ehemals das alte Ungarn am Balkan dominieren konnte, nun eigene Wege gingen. In der Literatur wird die Kapitalarmut Ungarns kontrovers diskutiert. Auch innerhalb der ungarischen kommunistischen Partei gab es bis in die 1960er Jahre unterschiedliche Ansichten, ob Ungarn im Verband mit Österreich eine „Kolonie“ gewesen sei, bzw. zumindest kapitalarm gegenüber Österreich, oder nicht.15 Der Wirtschaftshistoriker John Kolmos berichtet, dass die Stalinisten vor 1956 das Ungarn der Monarchie als Kolonie Österreichs auffassten:

„In den 1950er Jahren dominierte bei den ungarischen Historikern eine ausschließlich negative Bewertung der Zollunion mit der Begründung, sie habe Ungarn in einen kolonialen oder halbkolonialen Statuts gezwungen (…). Nach 1959 wurde die Sichtweise etwas differenzierter. Zwar hörte man auf, Ungarns Stellung als kolonial zu bezeichnen, die negativen Auswirkungen der Monopolisierung der ungarischen Industrie, der Bergwerke und der Transportwirtschaft durch österreichisches Finanzkapital wurden aber weiterhin hervorgehoben.“16

Nebenbei erwähnt: Kolmos möchte beweisen, dass die Zollunion des k.u.k. -Staates ab 1850 für Ungarns industrielle Entwicklung zumindest keine Nachteile gehabt habe, eher schwache Vorteile – was freilich nicht die Frage beantwortet, ob die Zollunion die Kapitalarmut Ungarns beseitigt hätte. Die Daten, die Kolmos in seiner „kliometrischen“ Untersuchung aus den 1980er Jahren aufarbeitet, widerlegen die Ausgangshypothese zu Ungarns Kapitalarmut nicht, was freilich auch nicht Kolmos’ Fragestellung war.

Wie auch immer, Ungarn litt – „litt“ aus bürgerlicher Perspektive – 1918 und 1919 vermutlich an einer Kapitalkontraktion und dieses Phänomen wirkte als einer der Faktoren bei der Aufhebung des bürgerlichen Eigentums. Binnen weniger Wochen und Monate gelangte ein Großteil der Betriebe in sozialistische Eigentumsverhältnisse. Unter anderem auch am Lande:

„Unter diesen Umständen konnte bei der Enteignung des Grund und Bodens energisch vorgegangen werden. Die Verordnung vom 3. April erklärt allen Groß- und Mittelbesitz samt dem ganzen lebendigen und toten Inventar und den Forderungen und Bankenguthaben ohne Entschädigung für enteignet. Das Minimum, welches von der Enteignung frei blieb (…) wurde (…) auf (…) 57 Hektar (…) festgesetzt.“17

So Eugen Varga, sozusagen der „Finanzminister“ Räteungarns. Er selbst sagt aber auch:

„(…) es muß offen eingestanden werden, daß die Enteignung in den meisten Fällen nur juristisch vollzogen wurde, sozial aber in vielen Fällen sich so wenig änderte, daß die Landbevölkerung von der Enteignung oft keine klare Kenntnis besaß.“18

Wäre es dabei geblieben, wäre es tatsächlich schwer möglich, von Sozialisierung zu sprechen. Aber zumindest hätte dieser Staat das bürgerliche Eigentum an Grund und Boden, ursprünglich oft in den Händen des alten ungarischen Adels, bei Konflikten mit den Bauern nicht verteidigt. Dafür sprechen folgende Indizien: Bereits vor der Bildung der Räteregierung am 21. März fand Enteignung von bürgerlichem Eigentum statt:

„Die Dorfarmut, unterstützt durch örtliche Räte, Kommunisten und linke Sozialdemokraten, enteignete nun eigenmächtig Magnatenland. Im Komitat Somogy organisierteder Vorsitzende des Landarbeiterverbandes Sándor Latinca und der Regierungsbeauftragte Hamburger bis zum 21. März 1919 die Umwandlung von 400.000 ha Großgrundbesitz in staatliche Produktionsgenossenschaften der Landarbeiter.“19

„(…) verschafften sich Arbeiter Waffen und kontrollierten Betriebe.“20

Interessant ist auch folgende Episode: Eugen Varga sah die Lohnabschlüsse der Räteregierung in einem Gegensatz zu dem Aufbau eines Investitionsfonds für die Industrie; indes konnten sich die Arbeiter und Gewerkschaften gegen die Regierung durchsetzen, da sie nun unbedingt „im Sozialismus“ einen höheren Anteil des Gesamtprodukts als unter dem bürgerlichen Eigentum konsumieren mussten. Der Akkumulationsfonds kam erst einmal zu kurz. Freilich, wegen des zeitlich begrenzten Bestandes des roten Ungarns, war diese Frage post factum nicht relevant.

Ökonomisch gesehen handelte es sich jedenfalls um ein sozialistisches Eigentum. Historisch gesehen wäre es 1919 ohne die Existenz der Sowjetunion vermutlich nicht zu der Planwirtschaft in Ungarn gekommen.

Wenn Gräfe über Ungarn schreibt…

„Die Ablösung der bürgerlich-sozialdemokratischen Koalition durch eine sozialistisch-kommunistische Räteregierung war weder das Werk des Kremls noch der KMP – sie war eine kaum voraussehbare Resultante der neuen politischen Kräftekonstellation.“21

… dann ist dies zwar sachlich nicht falsch und deutet auf den relevanten Unterschied zu den Vorgängen Ende der 1940er Jahre in Osteuropa hin. Sprich: Im Gegensatz zu den Eigentumsumwälzungen in Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg waren jene 1919 nicht von der Sowjetunion orchestriert. Aber das eben angeführte Zitat wäre irreführend, wenn damit gemeint sei, zu der Räteregierung in Budapest wäre es ohne die Existenz der Räteregierung in Moskau gekommen. Denn ohne die Existenz des sozialistischen Eigentums in Russland hätte sich die KMP – die kommunistische Partei Ungarns vor der Fusion mit den Sozialdemokraten – nicht gebildet. Und auch die historisch fast singuläre Selbstaufgabe des sozialdemokratischen Reformismus in Budapest kann am ehesten verstanden werden, weil als Alternative zu dem gefühlten Zusammenbruch des bürgerlichen Ungarns nach Kriegsende und Trianon immerhin die Planwirtschaft in Russland bereits vorhanden war.22 Die Rolle des Reformismus, zwischen den Faktoren Kapital und Arbeit zu vermitteln, verunmöglichte sich mit dem (selbstverständlich nicht vollständigen) Zusammenbruch des ungarischen Kapitalismus als Folge der Nachkriegsordnung und der Militarisierung der Fabrikarbeiter durch die Kriegsheimkehrer. Aber auch dieser Faktor wirkte in anderen Ländern nicht solcherart auf die Sozialdemokratie wie in Ungarn. Es kam noch ein „nationaler“ Aspekt hinzu, indem der KMP am ehesten Widerstand gegen „Trianon“ zugemutet wurde. Im Frühjahr 1919 galt Räteungarn irgendwie als ungarischer als das alte Ungarn unter der Dominanz von Habsburg-Österreich und auch als ungarischer als das Ungarn Károlys, der nur die Dominanz Österreichs durch die Dominanz der Entente vertauschen konnte. Das erklärt auch, weshalb Leute wie Béla Bartók und Zoltán Kodály ohne viel zu zögern kulturpolitisches Involvement in der Räterepublik zeigten:

„In den vom Volkskommissariat für Bildungswesen geschaffenen leitenden Organen der Kunst, den Direktorien, waren die besten Vertreter der verschiedenen Tendenzen des Literatur- und Kunstwesens anwesend, so unter anderem (…) Béla Bartók, Zoltan Kodaly und Béla Reinitz an der Spitze desjenigen für Musik (…).“23

– im deutlichen Gegensatz zu der Konstellation während des Finnischen Bürgerkriegs (Jänner bis Mai 1918), als sich Leute wie Jean Sibelius ganz selbstverständlich ins Lager der „Weißen“ stellten. Zusammengefasst, abseits dieser konkreten historischen Details, stellte die bloße Existenz der Sowjetunion eine Alternative selbst für ein bürgerliches Ungarn dar, obwohl ein Räteungarn nur noch als „Gespenst“ des bürgerlichen Eigentums auftreten konnte. Insofern, wenn wir die Entstehung dieser neuen Eigentumsform im 20. Jahrhundert an sich verstehen wollen, sind wir doch wieder auf das Beispiel Russland zurückgeworfen.

Kommen wir nun zu der Phase zurück, als in Russland bürgerliches Eigentum an der Industrie noch nicht verunmöglicht worden war, obwohl der Charakter des Staates nach dem Oktoberumsturz unabhängig von den aktuellen Vorhaben der Staatsspitze das Vorherrschen des sozialistischen Eigentums begünstigte: die Monate vom November 1917 bis zum Juli 1918. Die Integration der russischen Kapitalisten ging zwar nicht lange gut. Aber es dauerte einige Zeit, bis geeignete Institutionen geschaffen wurden, die auf gesamtstaatlicher Ebene die Produktion, den Transport und die Verteilung der Güter in die Hand nehmen konnten. Andererseits, und das ist der aus unserer Sicht relevante Punkt, zeigte die Entwicklung des sozialistischen Eigentums in der Phase des Kriegskommunismus von 1918 bis 1921 eine von dem Bewusstsein der Beteiligten unabhängige Logik. Es ergab sich eine Entwicklungsstufe organisch aus der vorhergehenden und der Stress des Bürgerkrieges bewirkte immerhin auch, dass kaum Zeit zur „kulturellen Einkleidung“ ökonomischer Formen blieb. Alles war nüchtern und pragmatisch. Nebenbei erwähnt erleichtert dies für den Wirtschaftshistoriker, die Entwicklung nachzuzeichnen.

Der erste Schritt: Im Gegensatz zu der Phase der Arbeiterkontrolle vor dem Oktoberumsturz werden nun vom Kapital verwaiste Betriebe unter der Regie der Beschäftigten weitergeführt. Ab dem Sommer 1918 kamen immer mehr Betriebe hinzu, sodass die Verantwortlichen des WSNCh für den Stichtag 1. November 1920 die Sozialisierung von 65,7 % aller Industriebetriebe anführten. In absoluten Zahlen nimmt sich der sozialistische Sektor dennoch bescheiden aus: 4.547 Betriebe mit vielleicht einer Million Beschäftigten und unter den Betrieben vermutlich eine ganze Menge Klein- und Kleinstbetriebe.24 Aber dennoch: Diese Entwicklung brachte notwendigerweise mit sich, dass zumindest ein Teil der Arbeiter Leitungsaufgaben und Managementaufgaben übernehmen und erlernen musste. Wie gut oder schlecht und mittels welcher organisatorischen Formen, die sich entweder bewährten oder nicht bewährten, ist für unsere Fragestellung nicht relevant. Jedenfalls änderte sich durch die Sozialisierung die innere Struktur der Belegschaft und die innere Organisation der Betriebe.

Der zweite Schritt: Die Arbeitsteilung innerhalb der gesamten Produktion, die die sozialisierten Betriebe von der bürgerlichen Produktionsweise übernommen hatten, wurde durch die Sozialisierung nicht aufgehoben. Die Betriebe mussten sich über ihre Produkte, die jeweils für andere Vorprodukte darstellten, austauschen.

„Most transactions between state enterprises were of a bookkeeping nature only and not for cash.“25

– so Alec Nove, der die Tendenz zu postmonetärem Austausch als ökonomisch wenig zielführend anspricht. Aus unserer Sicht geht es aber nicht darum, eine vergangene Wirtschaftspolitik als erfolgreich oder erfolglos zu bewerten, sondern die in dem Wandel der Eigentumsform objektiv zum Ausdruck kommende Logik deutlich zu machen. Zudem stehen Noves eigene Forderungen nach einer „gemischten Wirtschaft“ und einem „machbaren Sozialismus“ der Aufdeckung des Wesens des sozialistischen Eigentums ein wenig im Wege. Er fokussiert sich auch mehr auf die Wirtschaft im engeren Sinne und nicht auf das Eigentum. Aus unserer Sicht ist der Bürgerkrieg an sich eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Eigentumsformen und nicht bloß eine wirtschaftliche „Störung“, die dadurch zu besonderen und „extremen“ Entwicklungen gezwungen wurde. An einer Stelle stellt Nove das Auftreten der „Grünen“ neben den „Weißen“ und „Roten“ im Bürgerkrieg in einen ganz richtigen Zusammenhang: nämlich als den militärischen Arm des kleinbürgerlichen Eigentums, das im Kampf zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen eine unabhängige Position suchte. Nicht in diesen Worten – so deutlich formuliert es Nove nicht. Aber er stellt das Auftreten der „grünen Armee“ und die Bewegung von Nestor Iwanowytsch Machno als Reaktion auf die „Prodrazverstka“, die erzwungene Lebensmittelbeschaffung auf dem Land für die Städte, dar. Das ist richtig, nebenbei.

Der dritte Schritt: Alle sozialisierten Werke konstituieren zusammen ein Unternehmen. Wenn man so will: einen „Trust“ mit Werken an vielen Standorten. Die Werke – das sind die ehemals auf eigene Rechnung produzierenden Privatunternehmen. Diese Formveränderung ergibt sich aus der Eigentums-Umwälzung, nicht aus einer speziellen politischen Organisationsreform. Selbst wenn die Werke als Unternehmen weitergeführt werden und die Koordination zwischen ihnen nur lose ist, sind sie nicht mehr selbstständig. Sie sind nicht mehr Bestandteil des Privateigentums.

Der vierte Schritt ist Folge des zweiten mit dem dritten: Da auch die Arbeiter in den sozialisierten Unternehmen zu diesem Trust gehören, erübrigen sich die Lohnzahlung in Geldform und die monetären Gebühren des „öffentlichen Dienstes“ – ein Begriff, der im Kapitalismus Sinn macht, aber unter sozialistischen Eigentumsverhältnissen seine Trennschärfe verliert. Im Laufe der Zeit wird alles „öffentlicher Dienst“. Dass sich die Arbeiter in Geld entlohnen, um mit diesem Geld im eigenen Staatstrust etwas einzukaufen, ist eine sinnlose Übung. Das Geld repräsentiert hier keine Waren mehr und die Warenform löst sich zusammen mit dem Privateigentum auf.

Diese Entwicklung macht Nove einerseits an den Zwängen des Bürgerkrieges, dem „chaos“ und anderseits an dem „extremistic“ Bewusstsein führender Personen fest. Dieser Bewertung folgen wir nicht. Aber immerhin, die Details, die Nove anführt, sind interessant. Hier zitiert er einen sowjetischen Autor:

„The next step was the gradual abolition of monetary charges levied on state institutions for comunal services, first in Moscow and later throughout the country. At the same time workers and employees and their families and also some other strata of the population were no longer charged for foodstuffs and consumer goods, for postal and transport services, for housing and communal services, etc.“26

Dass etwa Lebensmittel in den Städten rationiert werden mussten, ist einerseits wie in vielen anderen Ländern Resultat der Kriegsproduktion, anderseits auch eine aus dem sozialistischen Eigentum quasi naturwüchsig hervorgehende Form – nicht unbedingt der Mangel, aber zumindest die geldlose Verteilung.

„In 1919–20 workers‘ wages were largely paid in kind, the meagre ration being free. (…) By 1920 there was even an attempt at a moneyless budget.“27

Oder, bei Larin:

„Gegen Ende 1919 hielt man es für notwendig, Seife kostenlos an die Arbeiter zu verteilen. Dies geschieht durch die Betriebsräte und Gewerkschaften. Einige Monate vorher war ein Dekret erlassen worden, wonach die Arbeiter für den auf Karten zu beziehenden Zucker, Salz und Streichhölzer sowie andere Gegenstände nur den Preis vom Juli 1919 zu zahlen haben, der für die anderen Bevölkerungsschichten bedeutend erhöht worden war. All diese Maßnahmen zusammengenommen (…), haben immer mehr die Bedeutung des Geldes herabgesetzt und umgekehrt die Bedeutung der unmittelbaren Versorgung mit Nahrungs- und anderen Verbrauchsgegenständen (…) erhöht. Im März 1920 wurde u. a. mit der kostenlosen Verabreichung von warmem Mittagessen an sämtliche Arbeiter und Angestellten an ihrer Arbeitsstelle begonnen. (…) der Versuch gemacht, den Arbeitern als Zusatz zu dem normalen Geldlohn besondere Prämien in Natura (Zucker, Salz, Manufaktur usw.) entsprechend dem Mehraufwande an Arbeitskraft (also abgesehen von der Verteilung nach Karten) zuzuwenden. (…) Wenn die Abstoßung des Papiergeldes aus einigen Wirtschaftsgebieten durch deren Vereinigung in den Händen des Staates den langsameren Umlauf von Papiergeld im Vergleich zur Preissteigerung erklärt, so macht es der allmähliche Übergang zum Naturallohn auch begreiflich, warum die Arbeiter nicht darauf bestehen, daß man den Lohn entsprechend der Preissteigerung und dem Geldumlauf erhöhe. Dank der neuen Wirtschaftsorganisation verlieren die Arbeiter jedes Interesse am Geldlohn. Die Funktion des Geldes beginnt in Rußland abzusterben, wie vorher schon die Funktion der Banken, der Börse usw.“28

Hier wie in anderen Passagen wird deutlich, dass der Geldlohn nicht „abgeschafft“, sondern ersetzt wurde. Die Tatsache, dass es keinen Preis der Ware Arbeitskraft gab, weil der Warencharakter derselben abhandengekommen ist, machte sich in diesem Fall nicht als Erkenntnis über die Struktur, sondern als Pragmatik der Wirtschaftspolitik deutlich.

Das Budget betraf den nächsten, fünften, Schritt der Evolution der Planwirtschaft. Denn nun wurde es Dank des Clusters an sozialisierten Unternehmen auch möglich, den Aufbau ganzer Branchen in die Hand zu nehmen, wovon die Elektrifizierung des Landes und der diese abbildende GOELRO-Plan nur das bekannteste Beispiel ist.29

Auch die Verteilung ökonomischer Ressourcen wie die der Arbeitskraft bezieht sich nun nicht mehr auf die Ebene eines Betriebes. Genauso wie in einem bürgerlich geführten Unternehmen Arbeitskräfte nach Qualifikation und technischer Arbeitsteilung auf verschiedene Abteilungen, Sparten und Standorte aufgeteilt werden, genauso müsste es im Falle eines großen Trusts sein. Oder anders gesagt: Die Aufteilung der Arbeitskräfte auf alle Standorte eines Territoriums ist eine legitime Anforderung, die dem Wesen des sozialistischen Eigentums entspricht. Es ist bloß für uns gewöhnungsbedürftig, dass der Arbeitsmarkt keine Funktion mehr haben soll. In der konkreten Geschichte wurde diese Frage erst 1920 gestellt, dann aber wieder verschoben. Immerhin aber, und das ist der für uns signifikante Punkt, tauchte sie überhaupt auf:

„In dieser Beziehung muß man die Resultate der Arbeiten des 1920 ernannten Hauptarbeitsausschusses abwarten, der die Verteilung der Arbeitskräfte über das ganze Land zu leiten hat.“30

Der sechste Schritt, der sich aus dem vorhergehenden ergibt: Jede Änderung der Verteilung von Arbeit und anderer Ressourcen innerhalb des Trusts bedeutet zwangsläufig, dass sich alle anderen damit verbundenen Prozesse ändern. Das kann recht komplex sein. In der theoretischen ökonomischen Literatur ist dies unter „Matrixrechnung“, offensichtlich ein Begriff vor der Zeit der Digitalisierung, abgehandelt. Diese ist eigentlich keine Erfindung der Planwirtschaft, sondern des Merkantilismus. Spätestens von diesem Punkt weg liegt die Berechnung nach material balances auf der Hand. Den beteiligten Personen ging diese Kalkulation recht schnell in Fleisch und Blut über. Es wurde fast unbemerkt nicht mehr in Geldeinheiten, sondern in stofflichen Einheiten gerechnet:

„In Rußland zählt man über 40 Millionen Wohnhäuser und andere Gebäude. Um nur 3 % der Dächer mit Eisen zu bedecken (zur Erneuerung einmal in 35 Jahren) wären 35 Millionen Pud im Jahr notwendig. Aber selbst in Friedenszeit konnte man zu diesem Zweck nur 10 Millionen Pud liefern; die anderen Dächer waren aus Holz, Dachziegeln und ähnlichem.“31

In der Phase des „Kriegskommunismus“ führte diese Kalkulation irgendwann zur Entstehung einer eigenen Behörde:

„By the end of 1918, another body was undertaking the coordination of resource allocation: this was the Commission of Utilization (…), which, as its title suggests, was concerned with distribution, not production. It (…) tried to reconcile conflicting interests (…). In doing so, it began (…) the practice of drawing up material balances (…).“32

Diese Kommission rechnete nach: Wenn an der einen Stelle eine bestimmte Menge an Ressourcen in die Produktion eingeht, fehlen diese vielleicht woanders oder müssen nachproduziert werden, was wiederum neue Berechnungen über die dazu notwendigen Ressourcen nach sich ziehen kann und so weiter. Es ergeben sich Ziel-Mittel-Konflikte, die entweder so gelöst werden, dass die Mittel variieren – etwa die Einbeziehung einer größeren räumlichen Einheit, um mehr Ressourcen bewegen zu können. Oder indem die Ziele variieren. Manche Ziele könnten wieder verworfen oder nachgereiht werden.

Und an dieser Stelle stellt sich geradezu zwangsläufig die Frage nach einer politischen Entscheidungsfindung. Ziel-Ziel-Konflikte wollen politisch und nicht bloß ökonomisch entschieden werden. Irgendwann ist nicht mehr das Aufsuchen, Auflisten und Rechnen gefragt, sondern das Abstimmen und Entscheiden.

Hier sind wir eigentlich bereits am Endpunkt der logischen Genese einer Planwirtschaft angelangt – zumindest in groben Zügen. Übrigens sehen manche Autoren erst an diesem Endpunkt den Beginn der Planwirtschaft – also in etwa mit dem ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion. Diese Sichtweise ersetzt die Perspektive der Eigentumsform durch die Perspektive der Produktionsweise. Aus einer historischen Perspektive muss diese Genese wohl immer kompliziert und verwirrend wirken. Indes, die Logik dieser Genese wird wohl so zum Ausdruck kommen: Die Planwirtschaft entsteht nicht aus einem fertigen „Superplan“, sondern indem sich die Notwendigkeit des Tages aus dem anderen ergibt. In der konkreten Geschichte wird der eine Schritt vielleicht in die Länge gezogen, ein anderer verkürzt und durch den nächsten vorweggenommen; einmal wird ein Fortschritt erzielt; einmal müssen Zugeständnisse an die Vergangenheit gemacht werden. Bei jeder dieser Bewegungen entsteht das entsprechende Bewusstsein der beteiligten Personen, sodass jede Wendung dieser Genese immer auch als Resultat von politischen und „ideologischen“ Vorstellungen erscheint. Jede Wendung erzeugt auch ihr eigenes Gegenbewusstsein, das entweder den nun vergangenen oder den vermutlich zukünftigen Verhältnissen entspricht. Für die Zeitgenossen und die Historiker erscheint die Genesis der Planwirtschaft als Produkt von Ideen. Dem vermeintlichen Realismus dieser Untersuchungsmethode wird dadurch Rechnung getragen, dass die materiellen Widerstände zur Verwirklichung einer Idee aufgespürt werden. Solch eine Geschichtsschreibung kann im Detail viel Interessantes zu Tage fördern. Aber für die Erklärung des roten Fadens, der sich durch die Geschichte zieht, versagt auch der realistische Idealismus. Die Ideen waren Ausdruck von einer realen Entwicklung. Preobrazenskij und Bucharin hätten ihr Buch „Das ABC des Kommunismus“, das sie in der Periode des Kriegskommunismus gemeinsam verfassten, eben einfach nicht geschrieben, wenn es den Faktor Masse, der die Revolution von 1917 in Gang setzte, nicht gegeben hätte. Die Planwirtschaft, der Sozialismus und der Kommunismus sind nicht Umsetzungen der Ideen von Marx und Engels – wie dieses Thema von bürgerlichen Autoren noch heute gerne aufgespannt wird. Selbst Marx hat nichts anderes getan, als das an sich bereits vorhandene Potential der bürgerlichen Produktionsweise, in ein anderes Eigentum umzuschlagen, zu erkennen und dann zu analysieren. Die bisherige Geschichte von Eigentumsumwälzungen diente dabei als Analogie. Der Sozialismus selbst ist keine Idee, aber die Idee „Sozialismus“ ergibt sich aus der gegebenen Realität. Dass etwas so Gewichtiges, Zähes und in sich Konsistentes wie eine Eigentumsformation aus einer Idee geboren wird, ist in der gesamten Geschichte jedenfalls noch nie vorgekommen. Jedes Eigentum hat seine Materialität in der Produktion aller Güter einer Gesellschaft. Die Bedingungen einer bestimmten Produktion werden durch diese tagtäglich aufs Neue reproduziert. Das gibt dem Eigentum seine Schwerkraft und einen festen Anker.

Deswegen gibt es in der langen Geschichte der Menschheit bis heute im Grunde nur ein paar Eigentumsformen. Es bedarf mehr als einer Idee und es bedarf mehr als bloß des „geschickten Ausnutzens“ einer Massenbewegung durch vermeintliche „Ideologen“ oder „Extremisten“, um eine Eigentumsform in eine andere umzuwälzen. Eine Revolution ist mehr als nur ein Staatsakt, aber sie ist auch ein Staatsakt. Und insofern handeln jene Personen, die die Revolution verstehen, auch bewusst. Freilich, auch der Materialismus lässt sich auf eine kleinliche und somit sinnlose Art und Weise anwenden. Wenn irgendwann im Jahr 1919 ein Unternehmen dazu überging, die Beschäftigten nicht mehr in Geldscheinen zu „entlohnen“, sondern in Bezugsanweisungen für die Konsumprodukte anderer Unternehmen, dann spiegelt sich in dieser Entscheidung keine Notwendigkeit, sondern Zufall wider, der durch die Idee der Beteiligten zustande kam. Aber dass sich diese Frage überhaupt stellte und diese Praxis erst nach der Sozialisierung der Betriebe zur Dauerlösung werden konnte, ist kein Zufall, sondern Notwendigkeit dieser Eigentumsform.

Der Kriegskommunismus 1918–1921 war aus unserer Perspektive weder gut noch schlecht, aber er hatte für unser Erkenntnisinteresse den Vorteil, fast alle Wesensmerkmale der Planwirtschaft aus sich selbst heraus entwickelt zu haben; und das in einer relativ kurzen Zeitspanne. Dass nach 1921 viele der konkreten Formen der Planwirtschaft zurückgefahren wurden, um der NEP Platz zu machen, bedeutet nur, dass unterschiedliche Wirtschaftspolitiken und unterschiedliche Oberflächenformen einer Struktur möglich sind. Nicht aber, dass jene Politiken und Formen der Periode 1918–1921 nicht aussagekräftig wären, was die Struktur irgendeiner Planwirtschaft betrifft.

Verkompliziert wird die Auswertung dieser Jahre durch die Tatsache, dass die damals beteiligten Personen diese Entwicklung ziemlich genau reflektiert haben. Weshalb stellt dies eine Verwirrung, ja sogar einen Nachteil dar? Ist es nicht komfortabler, Zeitzeugnisse auswerten zu können? Nun, das ist so: Die Reflexion bezieht sich zwangsläufig auf die Perspektive der Wirtschaftspolitik. Was ist gut, was ist schlecht, welcher Weg soll eingeschlagen werden? Unsere Perspektive ist aber nicht, ob eine bestimmte Wirtschaftspolitik gut oder schlecht war, sondern welche strukturellen Phänomene sich in ihr äußern. An Hand der Zwangskollektivierung Ende der 1920er Jahre kann etwa studiert werden, wie diese Wirtschaftspolitik die Struktur des sozialistischen Eigentums schwächte, indem sie sie ohne die dazu passenden Voraussetzungen ausdehnte. Oder: An Hand des improvisierten und kriegsbedingten Aufbaus der Planwirtschaft in der Periode 1918–1921 kann studiert werden, welche Schritte eine Planwirtschaft sozusagen zwangsläufig setzen wird, auch wenn sie in einer anderen historischen Situation auf andere Voraussetzungen trifft und der eine oder andere Schritt entweder in die Länge gezogen oder im nächsten Schritt vorweggenommen wird.

In Russland selbst entstand das sozialistische Eigentum auf andere Weise als in all den sonstigen Planwirtschaften Osteuropas, Ostasiens und der Karibik nach dem Zweiten Weltkrieg. In letzteren wurde sie von einer fertig herausgebildeten Staatsbürokratie mit administrativen Mitteln „von oben“ eingeführt. „Von oben“ bedeutet nicht, dass die Eigentumsumwälzung den Arbeitern egal war. Eher bedeutet es, dass die Staatsbürokratie die Sache ohne Eigeninitiative der Bevölkerung durchsetzen wollte. Nehmen wir zum Beispiel die Tschechoslowakei Ende der 1940er Jahre: Mobilisierungen der Arbeiter, Gewerkschaften und Milizen, von denen auch das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete, sowie Fraktionskämpfe innerhalb der Arbeiterparteien SPČ und KPČ bestimmten (vor deren Fusion) das Bild:33

„(…) als während der dramatischen Februartage 1948 die überwältigende Mehrheit der Arbeiter dem Aufruf zum Generalstreik folgte, der dem Vorgehen der Partei gegenüber den Vertretern der Bourgeoisie und der rechten Sozialdemokratie Nachdruck verleihen sollte.“34

Das könnte aus einer offiziösen Geschichtsdarstellung der KP vor 1989 entnommen sein. Aber die Autoren dieser Zeilen sind Proponenten der 1968er-Selbstverwaltung in den sozialisierten Betrieben der ČSSR und im Widerspruch zu Antonin Novotný und Gustáv Husák. Das Programm der Selbstverwaltung war sozusagen die Kehrseite des Programms des Marktsozialismus von Ota Šik und Jiří Kosta. Eine kritische Geschichte des Februars 1948 kann nicht in wenigen Sätzen skizziert werden. Jedenfalls, Vera Plogen und Max Borin zu den Ereignissen 1948:

„Ein anderer Teil der Linken innerhalb der Sozialdemokratie, der, wenn auch diffus, ein Rätesystem für die Tschechoslowakei propagierte und sich so in offenen Widerspruch zur rechten Führung der SPČ stellte, wurde derselben Verfolgung von Seiten der KP ausgesetzt, wie diese rechte Fraktion selbst.“35

Die Tschechoslowakei stellt ein interessantes Beispiel dar. Von allen „neuen“ Planwirtschaften der End-1940er Jahre brachte dieses Land die älteste und reifste Industrie mit. Und die stärkste Arbeiterbewegung. Samt einer KP mit einer bewegten Geschichte in den 1920er und 1930er Jahren, die vor dem Umsturz 1948 fast 1,5 Millionen Mitglieder aufwies. Und:

„In der Tat wurde die ČSSR (…) zu einem Land, in dem Rassismus und Antisemitismus florierten, in dem von allen volksdemokratischen Ländern die meisten Menschen hingerichtet wurden.“36

Der Punkt mit dem Antisemitismus wird auch in einem Stück Belletristik verarbeitet. In der halb-biographischen Prosa „Der Lauf durch Prag“ geht es um einen jüdischen Aktivisten, der anlässlich der Parlamentswahlen 1946 einen Lauf mit seinen Söhnen durch Prag als Wahlwerbung für die KP organisiert. Einer der Läufer, der Erzähler, wird dabei schwer zusammengeschlagen. Dennoch war das Opfer nicht umsonst: Die KP wurde stärkste Partei. Indes, nur ein paar Jahre später liest der ehemalige Insasse des KZ in seiner Parteizeitung, der Rudé právo, nach den Namen der vom KP-Regime Hingerichteten jeweils den Vermerk: „Jüdischer Herkunft“. Das bricht ihm das Herz.37

Hier nimmt die Belletristik das Material aus dem realen Alltag. Es ist vorderhand schwer zu verstehen, weshalb die kommunistischen Parteien geradezu sofort nach der Machtübernahme gegen jene Unterstützer vorgingen, die in der Vergangenheit den größten persönlichen Einsatz auf sich nahmen. Ein anderer Autor beschreibt, dass in den 1930er Jahren die selbstständig Denkenden aus der KP ausgeschlossen wurden. Aber nach 1948 wurden sie nicht nur ausgeschlossen, sondern hingerichtet. Anfang der 1950er Jahre, selbst nach Stalins Tod, unterschrieb Novotný eine ganze Reihe Todesurteile für Dissidenten.

„(…) noch im Jahre 1964 wurde Závodský gehängt.“38

Ob gerade in der ČSSR von allen „Satellitenstaaten der UdSSR“ die meisten Menschen hingerichtet wurden, wie Ján Mlynárik schreibt, wissen wir nicht. Aber es würde eine gewisse Logik darin liegen. Denn wenn es darum ging, das sozialistische Eigentum „von oben“ einzuführen, bedeutete dies einerseits soziale Gewalt gegenüber der Bourgeoisie, wie auch politische Gewalt gegenüber der Arbeiterklasse „unten“. Eine Planwirtschaft „von oben“ einzuführen bedeutet nicht nur, die Unternehmer sozial, sondern auch die Arbeiter politisch zu enteignen. In letzterer Hinsicht war am meisten zu tun in einem Land mit einer starken Arbeiterbewegung. Denn die „unten“ ließen sich hier weniger gefallen, umso eher sie sich selbst für die Enteignung des Bürgertums eingesetzt hatten – und das traf auf die tschechoslowakische Arbeiterbewegung wahrscheinlich mehr zu als auf jene der anderen Länder Ostmitteleuropas. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings – eine Bewegung, die zwar weit weniger proletarisch als die Aufstände in den 1950er Jahren in der DDR und in Polen war, aber dennoch Illusionen für einen „echten Sozialismus“ nährten:

„Die Aktion der Arbeiter der großen Eisenhüttenwerke von Kladno bei Prag, die ihre Parteibücher in Kisten verpackt an Husák persönlich schickten (…).“39

Der Protest der Metallarbeiter entsprang keineswegs der Enttäuschung, dass Alexander Dubček nicht das bürgerliche Eigentum wiederherstellen konnte, sondern dass mit Husák und Breschnew nur eine Vogelscheuche des Sozialismus übrig blieb. Immerhin, die Belegschaft von Kladno zeigte Mut und Courage und so erklärt sich das Paradoxon, dass bei der Umwandlung der KP von einer Arbeiterpartei zu der Partei der Staatskaste der Planwirtschaft so viele Parteimitglieder zu Schaden kamen. Was aber war die Staatskaste?

In den 1960er Jahren gab es in der Tschechoslowakei etwa 6.000 Betriebsdirektoren, die größere Industriebetriebe verwalteten. Sie hatten keine wirkliche „Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel“, aber sie gewährleisteten die Anleitung und Kontrolle des Arbeitsprozesses und fungierten als Instrumente der leitenden Bürokratie in den Ministerien und Planungsapparaten – diese zählte wiederum einige Tausend Personen im Falle der ČSSR. Dazu kamen der Gewerkschaftsapparat und die Betriebskomitees, die nicht mehr die Aufgabe hatten, gute Arbeitsbedingungen gegenüber den Betriebsleitern zu verteidigen, sondern die Arbeiter in deren Ziele einzubinden. Eine Reihe von „Sozialleistungen“ wurde von dem gewerkschaftlichen Goodwill abhängig gemacht. Es handelte sich um einen Verteilungsmechanismus von Sachen, die eigentlich wiederum Arbeiter produziert hatten, wie etwa Wohnraum. Eine Einmischung der eigentlichen Arbeiter in das Planungswerk war nicht vorgesehen und deswegen wurde Planung als Technik aufgefasst, die nur Spezialisten beherrschen könnten. Ebenso wenig war eine demokratische Abstimmung der Bevölkerung über Planungs- und Produktionsziele vorgesehen. Der Planungsapparat lebt davon, als eigener Beruf zu gelten, der Einkommen und – in Relation zu dem Lebensstandard der Bevölkerung – einige materielle Privilegien mit sich bringt. Planung würde es naheliegenderweise in jeder Planwirtschaft geben; nur dann, wenn daraus eine Institution wird, die nicht mehr von der Bevölkerung kontrollierbar ist, handelt es sich bei diesem Apparat um eine bürokratische Kaste. Diese hätte die kommunistische Partei eigentlich nicht für ihr Dasein benötigt, sie diente nur als Legitimation der bürokratischen Herrschaft, etwa so, wie das Christentum als Legitimation der feudalen Ausbeutung im Mittelalter fungierte. Und in einigen Ländern, in denen der nationale Gehalt als Legitimation besser diente, wurde die kommunistische Tradition damit versetzt, wie etwa in Rumänien und in Nordkorea. Das sind nur Details und diese zeigen nichts Wesentliches, außer eben: dass der Charakter der KP als Arbeiterpartei bei der Einführung der Planwirtschaft von oben verloren ging und gehen musste. Zurück blieb irgendeine ideologische Hülle.

Wie auch immer, das hauptsächliche Moment der Eigentumsumwälzung blieb das bürokratische: aus einer Arbeiterpartei eine Organisation der Diktatur über die Arbeiter zu machen. Und dieses bürokratische Moment war Resultat des Stalinismus in der UdSSR. Letztendlich war alles – zwar bei weitem nicht alternativlos, aber faktisch – Resultat der russischen Revolution. Das trifft auch zum Beispiel auf Kuba, China und Vietnam zu, wo die Revolution „von unten“ den spezifisch demokratischen Charakter kapitalarmer Länder annahm. Erst im erfolgreichen Gegensatz zu den kapitalreichen Ländern wurde hier auf die Sowjetunion gesetzt, um die Planwirtschaft einzuführen. Diese musste demnach bereits existieren. Die neuen Staatsbürokratien konnte es nur deswegen geben, weil ihr Äquivalent bereits in Moskau vorhanden war. Dass bei der Eigentumsumwandlung, etwa Ende der 1940er Jahre in Ostmitteleuropa, auch bürgerliche Parteien und Kapitaleigentümer einbezogen wurden, war nur noch ein orchestrierter plot, um der Geschichte von 1917–1918 zu entsprechen. Das war real, aber „unwirklich“ im Hegelschen Sinne. Es handelte sich bei der Ausweitung des Territoriums der Planwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings um echt sozialistisches Eigentum – freilich von Anfang an in einer politisch widersprüchlichen Form exekutiert, die dessen ökonomisches Potential nicht verwirklichen konnte. Somit stellte der ganze Prozess keinen historischen Fortschritt der Umwandlung von bürgerlichem Eigentum in sozialistisches dar.

Russland nach 1917: Trotz aller theoretischer Reflexionen der Beteiligten und trotz der politischen und militärischen Zwänge entstand die Planwirtschaft nach der Methode „Versuch und Irrtum“.40 Erst als Resultat des Bürgerkrieges wurde eine industrielle Planwirtschaft Wirklichkeit, die genügend Masse umsetzen konnte, um in einem Zyklus von Investition, Produktion, Output und Konsum zu akkumulieren. Dass dieses Resultat gleichzeitig mit einer Reduktion der industriellen Produktion auf weniger als ein Drittel – gemessen am Stand von 1913 – einherging, war dem Bürgerkrieg, nicht der Planwirtschaft geschuldet. Nach dem Bürgerkrieg wurden Mitte der 1920er Jahre mit 1913 vergleichbare Output-Werte erreicht. Nun entwickelte sich ein Austausch zwischen sozialistischer Industrie und privater Landwirtschaft, während im Bürgerkrieg Nahrungsmittel und sonstige Agrargüter von dem Staat der sozialistischen Industrie ohne direkte Gegenleistung requiriert wurden. Selbstverständlich gehören auch diese Variante und ihre Methode der Gewalt in die Geschichte der dualen Ökonomie. Auch wenn die Gewalt nicht immer angewandt werden musste und Bauern Getreide ablieferten, so stand die Staatsmacht auf Seiten der Industrie, eben weil in anderer Hinsicht Staat und Industrie identisch waren.

Im „Kriegskommunismus“ ersetzte die Requirierung das zukünftige Tauschgut einer dualen Ökonomie. Die historische Analogie: Die napoleonischen Truppen requirierten in Kontinentaleuropa außerhalb Frankreichs Lebensmittel – eine Belastung für die Bevölkerung. Sie brachten langfristig aber auch das Ende der feudalen Aneignung von ökonomischen Werten mit. Dieser „Handel“ war von beiden Seiten der Ökonomie nur über wenige Jahre durchhaltbar und kein Modell einer dauerhaften Einrichtung.

Kleinbürgerliches Eigentum (der Bauern) tauscht sich mit sozialistischem Eigentum (der planwirtschaftlichen Industrie) aus. Nach welchen Spielregeln? Das ist die genuine Fragestellung der dualen Ökonomie. Wir könnten es so sehen: Die planwirtschaftliche Industrie basierte zuerst nur auf einer Hypothek. Sie musste nach dem Bürgerkrieg einlösen, was – abstrakt gesehen – ihr Projekt war: billige Güter für alle zur Verfügung zu stellen. Dieser Satz hat aber an beiden Enden Fragezeichen. Erstens müssen die Bauern ja nicht kaufen und sie kaufen nur zu jenen Preisen, die zu ihren Verkaufspreisen an Getreide passen. Es gibt aus der Perspektive des Handels keinen absolut richtigen Preis für die Industriegüter, sondern nur einen relativ optimalen. Zweitens weist der Preis innerhalb der sozialistischen Domäne des Landes keinen Bezug zu einem Tauschwert auf, da es sich innerhalb dieser Domäne um keine Warenproduktion handelt.

Wir sehen somit, dass diese Dualität komplex ist: Sie verknüpft Warenhandel mit Nichtwarenhandel und wir werden weiter unten sehen, dass dies von Seiten der Bauern auch kein bürgerlicher Warenhandel sein konnte. Dazu aber später. Vorerst wollen wir uns ein etwas konkreteres Bild von den Vorgängen machen.

Der allgemeine Eindruck ist, dass die Bauern mehr gaben, als sie von der Industrie im Gegenzug erhielten. Würden wir hypothetisch davon ausgehen, dass beide Seiten in einer gemeinsamen Eigentumsform wirkten … es würde sich um so etwas wie einen ungleichen Tausch handeln. Mit der Einschränkung, dass die Ungleichheit nicht nur durch einen unterschiedlichen Stand an Produktivität (der in der Industrie zwangsläufig anders ist), sondern auch durch die Tatsache gegeben ist, dass die Staatsmacht auf einer der beiden Seiten steht. Diese Einschränkung widerspricht aber bereits der Hypothese einer gemeinsamen Eigentumsform. Denn die Tatsache des Staates ist bereits ein Element dieser dualen Ökonomie. Wir könnten die Sache auch einfacher angehen: Angenommen, es handelt sich auf beiden Seiten um eine echte Warenwirtschaft, bei der die Preise im langfristigen Schnitt die Werte der Waren verkörpern. In diesem Falle hätten die Bauern ein schlechtes Geschäft gemacht und die Industrie ein gutes: Die Bauern gaben mehr Werte (Preis pro Stück mal Stückmenge) als die Industrie. Aber genau das wäre in einer echten Warenwirtschaft langfristig nicht möglich. Das Wertgesetz würde irgendwann zum Durchbruch gelangen. Konkret gesehen wäre eine Verzerrung des Wertgesetzes vielleicht in den Jahren des Bürgerkriegs wegen der Besonderheit des Krieges möglich; aber in den Jahren danach hätte sich auch die Verzerrung ausgleichen müssen.

Kriege einer Warengesellschaft haben komplexe ökonomische Auswirkungen: Zum einen wird die Aufteilung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit geändert und Arbeit in die Produktion der Vernichtungsgüter verlagert, die dann im Produktionszyklus keine Werte mehr übertragen, sondern wie Konsumgüter nur noch unproduktiv verbraucht werden können. Gleichzeitig sind sie aber keine Konsumgüter, vom Gebrauchswert her gesehen, und der Bedarf an Konsumgütern, um Leben zu ermöglichen, bleibt nach wie vor vorhanden. Wie dieses Missverhältnis ausgleichen? Die Produktion muss kreditfinanziert werden, wobei der Staat zum größten Schuldner wird und wie im Ersten Weltkrieg Kriegsanleihen bei der großen Masse aufnimmt oder Staatsanleihen beim Geldkapital. Oder sie wird über die Notenpresse „finanziert“, was so gut wie immer auch der Fall ist und dieser Effekt hilft mit, den Staat real wieder zu entschulden und gezogene Anleihen wieder zu entwerten. Den Krieg bezahlen dann die Konsumenten über die Teuerung bzw. die Gläubiger. Im Grunde ist bis zu diesem Punkt das Wertgesetz völlig intakt: Kredit und Inflation widersprechen ja dem gleichen Tausch der Warenwirtschaft nicht. Das Wertgesetz wird erst ab dem Punkt gebrochen, wenn der Krieg mittels Gewalt jemand anderem (meist anderen Staaten) etwas unentgeltlich nimmt. Aber selbst das ist nur ein Einmaleffekt, auf den allerdings die Gläubiger der Kriegsanleihen in guter Spekulation setzen. Die Spekulation selbst ist wiederum ganz in der Domäne des gleichen Tausches angesiedelt. Der Raub ist hier nur ein Kollateralschaden des Krieges und ab dem Punkt, einer anderen Macht den eigenen Willen aufzuzwingen, sind wir von der ökonomischen auf die politische Ebene gelangt. Selbst wo dieser Wille die Ökonomie betrifft – was so gut wie immer der Fall ist –, bedeutet die Ökonomie nicht, dass deren Gesetze gebeugt werden, sondern dass sich die politischen Kräfte anders auf eben diese Ökonomie berufen können. Etwa wenn als Ergebnis des Krieges die berühmt-berüchtigten „Rohstoffquellen und Märkte“ neu verteilt werden. Damit wird an der Struktur der Ökonomie nichts geändert. Solche Verlagerungen sind Anwendungen des Wertgesetzes. Der Krieg hat erst dann eine andere Bedeutung für die ökonomische Struktur, wenn er zwischen Staaten mit unterschiedlichen Eigentumsformen geführt wird. Erst da wird es spannend. Nun mobilisieren die Kriegsparteien unterschiedliche Produktionsweisen und soziale Kräfte, um sich durchzusetzen. Und nun dreht sich alles um: Während die Ökonomie zwischen beiden Parteien inkompatibel ist, ist der Krieg kompatibel. Sterben tut jeder gleich. Tod und Leben sind die einzig kompatiblen Einheiten, die diese duale Ökonomie miteinander verbinden. Doch der Tod auf der einen Seite hat eine andere Funktion, Rolle und Auswirkung auf der anderen Seite. Im Bürgerkrieg starben die Bauern für eine ganz andere Sache als noch vor wenigen Jahren im Ersten Weltkrieg, vor dem sie desertierten. Freilich, das ist nur die Ebene der Motivation – und daher wenig greifbar. Aber die Motivation bezog sich auf etwas Handfestes: auf unterschiedliche Eigentumsformen. Nun stand das sozialistische zusammen mit dem durch die Agrarreform gefestigten kleinbürgerlichen Eigentum der Bauern dem bürgerlichen Eigentum der Interventionstruppen gegenüber. Industrie und Infrastruktur des sozialistischen Eigentums konnten aus wenig Vorhandenem ein Maximum herausholen, indem sie bei allen Defiziten und Fehlern dennoch als Staat die gesamte Ökonomie ohne die Eigeninteressen des Privateigentums leiteten. Wir sehen dies nur deswegen nicht in den Zahlen, weil es sich dennoch um Kriegsproduktion handelte. Sie gleicht der oben beschriebenen Kriegsproduktion im Kapitalismus immerhin in dem Punkt, dass bei vorhandenen – und im konkreten Fall verminderten – Ressourcen diese in die Produktion von Kriegsgüter und Kriegs-Dienstleistungen verschoben werden. Ergo vermindert sich der Output an Konsumgütern und Produktionsmitteln für die Herstellung von Konsumgütern zusätzlich.

Dennoch handelte es sich bei allen Härten des Bürgerkrieges immerhin um sozialistisches Eigentum: Die Industrie produzierte keine Waren, sondern Produkte, und der Austausch mit den Agrarprodukten fand nicht im Rahmen des Kapitalismus statt. Nun gelten die Regeln des Kapitalismus nicht mehr und somit nicht das Prinzip, dass sich gleiche Werte tauschen – Tauschwerte. Das alleine beantwortet noch nicht, was Zweck und Folgen dieses „Handels“ für beide Seiten, den Bauern und die Industrie, sein konnten.

An dieser Stelle mag auch eingefügt werden, dass andere Berechnungen andere Schlussfolgerungen nahelegen können. Larin berechnete den Austausch zwischen den Gebieten mit Getreideüberschuss und den Städten („der Industrie“) für die vier Jahre 1917 bis 1920. Demnach sind mehr Wagonladungen – quasi die Containereinheit dieser Zeit – mit Manufakturwaren aufs Land gefahren, als mit Getreide in die Gegenrichtung. In Geldeinheiten, in die Larin nur für seine Untersuchung umrechnet, da der Austausch bereits postmonetär stattfand, wäre der Wertetransfer noch deutlicher, aber auch deswegen, weil, wie Larin richtig bemerkt, die Arbeitsproduktivität in der Industrie gesunken war und deswegen deren Güter wertvoller wurden.41 „Wertvoll“ im Sinne von investierter Arbeitszeit, nicht im Sinne eines Tauschwertes.

Wie aber unschwer zu erkennen ist, kommt Larin nur deswegen zu diesem Schluss, weil er nicht Land (Bauern) gegen Stadt (Industrie) rechnet, sondern jene Gebiete des Landes, die Getreideüberschuss produzieren, dem Rest (Stadt und Land mit Getreidenachfrage) gegenüberstellt. Uns interessiert hingegen der Austausch zwischen Eigentumsformen. Übrigens ist die Arbeitsproduktivität nicht wegen der Usancen des Kriegskommunismus gesunken, wie dies wiederum Alec Nove wegen des Verschwindens von „Geld, Lohn und Gewinnorientierung“ annimmt, sondern aus einem viel einfacheren Grund: Geländeverluste im Bürgerkrieg bedeuteten auch immer den Verlust bzw. die Vernichtung bestimmter Rohstofflager (Kohle, Gas, Erz, Salz), Förder- und Produktionsanlagen. Mitunter stand alles in gutem Zustand und mit ausreichender Belegschaft betriebsbereit, dann fehlten aber etwa Kohle und Holz oder die Schienen für die Zufahrt. Ein realistischer Eindruck lässt sich gewinnen, wenn die Karte der Betriebsstandorte über die Karte des Frontverlaufes gelegt wird. Ähnlich während des Zweiten Weltkrieges, als 1942 der industrielle Output einen Tiefststand erreichte, West- und Südrussland okkupiert waren und die neuen Fabriken im Ural und Sibirien noch im Aufbau begriffen waren. Indirekt trug diese Verlagerung zur Industrialisierung der UdSSR bei, denn als das von den Deutschen besetzte Territorium zurückgewonnen war und die Industrie wieder im Rahmen der Planwirtschaft arbeitete, wurde diese von den neuen Industrieclustern im Ural und Sibirien verstärkt.

Das quantitative Austauschverhältnis zwischen Land und Stadt wurde durch den Bürgerkrieg geprägt; auch dort, wo das Land politisch auf Seiten der Sowjetmacht stand. Der Bürgerkrieg ist an sich ein Konflikt unterschiedlicher Eigentumsformen. Aus der Perspektive der neuen Eigentumsform ging es darum, Zeit und Raum zu gewinnen. Auch das, nämlich das Eigentum ohne die dazu passende Produktionsweise am Leben zu erhalten, ist eine Art Hypothek. Weshalb Hypothek? Weil die Planwirtschaft 1918–1921 zwar den Krieg gewinnen, aber dabei gleichzeitig den Bauern immer weniger geben konnte. Diese Hypothek war überhaupt nur möglich, da das sozialistische Eigentum als Staat auftrat und Staatsgewalt einsetzen konnte. Nebenbei bemerkt, aus diesen Staats-Erfahrungen lernten alle beteiligten Kräfte. Die Erfahrung legte den (falschen) Schluss nahe, dass sich letztlich jedes ökonomische Problem, wenn keine Alternativen in Sicht scheinen, notfalls auch mittels Staatsgewalt lösen ließe. Auch hier liegt wahrscheinlich die Gewaltbereitschaft des Stalinismus begründet. Die vor allem von Stalin initiierte Zwangskollektivierung der Bauern 1928–1932 begann mit Requirierungen von Getreide der Bauern und all jene, die nicht genug liefern konnten, wurden als „Verräter“ oder „Spione“ polizeilich verfolgt. Diese „Kriegskultur“ ersetzte die Antwort auf die Frage, wie die Produktivität gehoben werden könnte. Krieg und Gewalt waren auch die initialen Methoden, die beginnend vom Hitler-Stalin-Pakt bis 1948 zu einer Ausweitung der Planwirtschaft in Osteuropa führen sollte – allerdings auch hier, ohne dem Sozialismus einen Schritt näher zu kommen, im Gegenteil.

1918 wie 1928: Bewaffnete Kräfte kommen in die Dörfer und requirieren. Das eine Mal „nur“ Agrarprodukte, das andere Mal sogar Grund und Boden, Bauten und Gerätschaften, Land und Leute.42 Nebenbei erwähnt, aus Sicht des Bestandes des sozialistischen Eigentums war das eine ohne Alternative, das andere sehr wohl. Wahrscheinlich war die Zwangskollektivierung der Anfang vom Ende des sozialistischen Eigentums auf dem Boden der Sowjetunion, auch wenn dieses erst sechs Jahrzehnte später eintrat. Fast ein Treppenwitz der Geschichte: Ein ganzes halbes Jahrhundert nach der Zwangskollektivierung steckte die Getreideproduktion der UdSSR 1984 in einer dramatischen Krise, ungeachtet enormer Produktionsmengen bis in die 1970er Jahren hinein. Die Importe aus dem Westen erreichten in den letzten 15 Jahres des Bestandes der UdSSR bis zu 27 % des Binnenverbrauchs an Weizen. Gewiss, im Rahmen der globalen Arbeitsteilung muss nicht jedes Land die eigenen Lebensmittel produzieren. Aber Russland war immer ein Getreidehauptproduzent und -exporteur und ist es auch heute wieder. Und gerade die Planwirtschaft erhob den an sich logischen Anspruch, vom Weltmarkt unabhängig zu sein und Ressourcen besser mobilisieren zu können.

Das Problem der Zwangskollektivierung kann politisch aufgerollt werden: Erstmals entfremdeten sich die (nun ehemaligen) Bauern von der Planwirtschaft, während sie trotz der Härten des Kriegskommunismus abgesehen von der Episode der „grünen Armee“ auf Seiten des sozialistischen Staates blieben, der ihnen immerhin das Agrardekret vom November 1917 eingebracht hatte. Die politische Perspektive erklärt die ökonomische aber nicht restlos. Denn vielleicht hätte sich die 1. oder 2. Generation der Landbevölkerung nach der Kollektivierung irgendwann in den Verlust des kleinbürgerlichen Eigentums gefügt, wenn das im Gegenzug dazu gewonnene sozialistische Eigentum mehr Produktivität und mehr Konsum bei weniger Arbeit gewährleistet hätte. Der Punkt ist also, ob die technologische Grundlage für eine sozialistische Agrarwirtschaft bereits zur Verfügung stand. Das konnte aber nur das Ergebnis der Industrie und der planwirtschaftlichen Organisationstechnik sein. Diese Voraussetzung der Produktionsweise fehlte. Auch nach der Kollektivierung mussten die Kolchosniks den niedrigsten Lebensstandard aller Schichten der sowjetischen Arbeiter hinnehmen. Malenkow versuchte dies nach Stalins Tod zu ändern; was auch gelang, aber die Arbeitsproduktivität stieg alleine deswegen nicht. Nach Malenkows Sturz versuchte Chruschtschow die Anbauflächen für Feldfrüchte und die Fleisch- und Milchproduktion auszuweiten, vor allem durch die Neulandkampagne. Auch das gelang, aber die Arbeitsproduktivität stieg alleine deswegen nicht. Die einzulösende Hypothek der Kollektivierung wäre gewesen, auf den Kolchosen und Sowchosen mehr und unter besseren Umständen (geringere Arbeitszeit, weniger Arbeitsunfälle, mehr Konsumgüter zum eigenen Gebrauch) produzieren zu können. Dazu müsste die Produktivität schneller wachsen als unter den kleinbürgerlichen