Dünenzorn - Edith Kneifl - E-Book + Hörbuch

Dünenzorn E-Book und Hörbuch

Edith Kneifl

4,0

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Beschreibung

URLAUB MIT ADRENALINKICK: LAURA MARS MISCHT DIE KANARISCHE DROGENMAFIA AUF! VIBRIERENDE STRANDPARTYS UND DER GESCHMACK VON GEFAHR Laura Mars reist auf die KANARISCHEN INSELN - aber anstatt sich in den Bikini zu werfen und ZWISCHEN PALMEN UND WILDROMANTISCHEN SCHLUCHTEN zu entspannen, legt sie sich mit der LOKALEN DROGENMAFIA. Sie ist dem HILFERUF IHRES VATERS gefolgt: Seit Jahren schon SCHREIBT MISCHA MARS ÜBER DEN FLORIERENDEN DROGENSCHMUGGEL auf den Kanaren. Nun ist LAURAS STIEFMUTTER RAMONA VERSCHWUNDEN. Ist sie entführt worden, um SEIN SCHWEIGEN ZU ERPRESSEN? Auf der INSEL LA GOMERA lässt sich Laura zu einer REGENBOGENBUNTEN ALT-HIPPIE-STRANDPARTY hinreißen. Doch der nächste Morgen SPÜLT KEINE LÖSUNG, SONDERN EINE LEICHE AN. LAURA MARS FINDET SICH AUF EINEM INSELHOPPING DER SCHLIMMSTEN ART WIEDER! Die TAFFE WIENERIN beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Da schaltet ihr Vater einen alten Freund ein: PRIVATDETEKTIV ALFREDO DIAZ. Dem traut Laura anfangs nicht so recht über den Weg. Bis die beiden GEMEINSAM AUF TENERIFFA UND GRAN CANARIA ZU ERMITTELN BEGINNEN - und sich dabei ZWISCHEN SCHWARZEM LAVASAND, SCHROFFEN LANDSCHAFTEN UND VERLOCKENDEN INSELSPEZIALITÄTEN immer näherkommen … EDITH KNEIFL LIEBT ES, DICH AN SONNIGE PLÄTZE ZU ENTFÜHREN, ... … DIE SICH ALS SCHAUERLICHE TATORTE ENTPUPPEN. An ihren Reisezielen bringt der GESCHMACK VON SÜDFRÜCHTEN auf der Zunge immer auch einen HAUCH VON GRAUEN mit sich. Wohin Kneifl ihre Laura Mars auch hinschickt: ihr gelingt das BRAVOURSTÜCK, URLAUBSFEELING MIT GESELLSCHAFTSKRITIK zu vereinen. *************************************************************************** Wohin Edith Kneifl ihre Laura Mars auch reisen lässt: überall findet sie Schönes wie auch Hässliches vor. Dieses ungefilterte Aufzeigen von Problemen und die gleichzeitige Lust am Genuss machen für mich den Charme ihrer Geschichten aus. Judith Sallinger, Projektleitung *************************************************************************** EDITH KNEIFLS URLAUBSKRIMI-REIHE RUND UM LAURA MARS: Wellengrab Dünenzorn

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Seitenzahl: 405

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Zeit:9 Std. 22 min

Sprecher:Sandra Busch
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Edith Kneifl

Dünenzorn

Ein Kanaren-Krimi

für Susanne

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
I. Teil: La Gomera
1.
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3.
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5.
6.
7.
8.
9.
10.
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II. Teil: Teneriffa
19.
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22.
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32.
33.
III. Teil: Gran Canaria
34.
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40.
41.
42.
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44.
45.
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47.
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50.
51.
52.
53.
54.
55.
Epilog
Edith Kneifl
Zur Autorin
Triggerwarnung
Impressum

Keine Sonne, kein Licht. Als ich erwachte, wusste ich nicht, wo ich war. Mein Kopf brummte, mein Gaumen war ausgetrocknet. Mir war kalt und speiübel. Ich lag auf einer harten Matratze am Boden anstatt in einem weichen Bett. Rund um die Matratze war es feucht und glitschig.

War ich nicht auf einer schicken Yacht losgesegelt? Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war das Klappern der Wanten. Dieser Idiot hatte die Seile nicht richtig festgemacht.

Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Mein neuer Lover und ich waren die wild zerklüftete Küste Gomeras entlanggesegelt. Bei Sonnenuntergang hatten wir den Anblick der gigantischen Basaltsäulen an der Nordküste genossen. Schlank wie Orgelpfeifen ragten diese achtzig Meter hohen Klippen aus dem Meer empor. Er hatte sich bemüßigt gefühlt mir zu erklären, dass die beeindruckenden Los Órganos Überbleibsel lange erkalteter Lavamassen seien. Ich hatte ihn mit einem Kuss zum Schweigen gebracht. Als wir die Orgelpfeifen hinter uns gelassen hatten und Kurs auf Teneriffa nahmen, schaltete er den Autopiloten ein und schubste mich hinunter in die Kajüte.

Nach der üblichen Schmuserei ging es schnell zur Sache.

Unter Deck hatte es mindestens vierzig Grad. Unsere verschwitzten Körper klebten aneinander. Ich bekam kaum Luft.

Er ließ kurz von mir ab, stärkte sich mit einem Schluck billigem Cava. Ich setzte mich auf ihn, obwohl mir die Lust längst vergangen war. Die Hoffnung, dass er bald kommen würde, ebenfalls. Ich sehnte mich nach einer belebenden Abkühlung im Atlantik.

Ihm schienen die hohen Temperaturen weniger auszumachen als mir. Im selben Rhythmus wie die Wellen, die an den Rumpf des Bootes klatschten, bewegte er sich in mir.

Komm endlich, hätte ich am liebsten gesagt, doch ich hielt den Mund.

I. Teil: La Gomera

1.

Das bevorstehende Wiedersehen mit ihrem Vater ließ Laura Mars nicht kalt. Auf der durchgelegenen Matratze ihres Hotelbetts in Los Cristianos auf Teneriffa hatte sie kaum ein Auge zugetan. Die halbe Nacht lang hatte sie sich die verschiedensten Begrüßungsszenarien ausgemalt, sich überlegt, was sie ihm über sich erzählen sollte und was lieber verschweigen.

Ob sich Mischa, wie sie ihren Vater von klein auf nannte, sehr verändert hatte? Sechs Jahre waren eine lange Zeit. War sein Haar weiß geworden? Hatte er sich ein Pensionistenbäuchlein zugelegt?

Michael Mars hatte einst für diverse österreichische Tageszeitungen und Magazine geschrieben. Nach seiner Pensionierung vor nunmehr zehn Jahren war er mit seiner zweiten Frau Ramona nach Gomera ausgewandert. In seiner Jugend hatte er mit einigen Freunden ein Jahr auf dieser damals noch einsamen Insel verbracht. Als alter Mann war er in das ehemalige Hippieparadies zurückgekehrt und hatte dort eine eigene Zeitschrift, den Saturn, gegründet, eine deutschsprachige Wochenzeitung für Touristen und Zweitwohnungsbesitzer.

Laura fragte sich, wie sie, die neue Laura, ihrem Vater gefallen würde. Er hatte sie nach dem Unfall, der nicht nur ihr ganzes Leben, sondern auch ihr Aussehen verändert hatte, nicht mehr gesehen.

Bei ihrem letzten Telefonat hatte Mischa sehr aufgeregt geklungen. Ramona, Lauras Stiefmutter, war von heute auf morgen spurlos verschwunden. Eine Entführung ließ sich nicht ausschließen.

***

Laura nahm in aller Herrgottsfrüh die erste Fähre von Teneriffa nach San Sebastián, dem Hauptort der Insel Gomera.

Ungetrübter Sonnenschein. Am Himmel zeigte sich keine einzige Wolke. Ein angenehmer Wind machte die hohen Temperaturen erträglich. Weiße Schaumkronen, die Laura an eine andere aufregende Seereise erinnerten, tanzten auf den Wellen. Sie setzte sich auf eine Bank am obersten Deck, schloss die Augen und begann zu träumen.

Vor zwei Jahren hatte sie etwa um die gleiche Jahreszeit auf einem griechischen Fährschiff den Auftragsmörder Alexander Makiris kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Nach den blutigen Ereignissen auf den griechischen Inseln war er in die Türkei geflüchtet. Weihnachten 2019 sah sie ihn auf Zypern wieder. Die Interpol war ihm auf den Fersen. Alexander schlüpfte in dem von Türken besetzten Teil Nikosias unter. Die zwei Wochen in der zypriotischen Hauptstadt vergingen schnell. Laura sah nicht viel von der Insel, verbrachte die meiste Zeit in einem Hotelbett. Im Jänner kehrte sie nach Wien zurück.

Ihr Haus und ihr Olivenhain auf Samos waren im Juni 2019 abgebrannt. Die Versicherung hatte bis heute keinen Cent gezahlt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als für ihre Freundin Marlene zu arbeiten, die in Wien ihr früheres gemeinsames Modelabel LAMAR mittlerweile allein weiterführte.

Dann schlug Corona zu, versetzte Europa, ja die ganze Welt in eine Art Lähmungszustand. Alexander, der versprochen hatte, im Frühling nach Wien zu kommen, konnte nicht mehr nach Österreich einreisen. Sie blieben noch eine Zeit lang telefonisch und per Mail in Kontakt.

Zum letzten Mal hatte er sich aus Beirut gemeldet. Trotz Corona schien er es bis in den Libanon geschafft zu haben. Danach brach der Kontakt ab. Alexander beantwortete ihre Mails nicht mehr. Auch per Telefon war er nicht erreichbar. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Monate später erfuhr sie von einer griechischen Freundin, dass er im Gefängnis gelandet war. Ein türkischer Richter hatte ihn wegen Geldwäsche zu fünf Jahren Haft verurteilt. Alle ihre Versuche, nach Istanbul zu reisen, scheiterten an den strengen Einreisebestimmungen.

Damals war sie verzweifelt gewesen. Mittlerweile fühlte sie sich fast erleichtert. Diese unmögliche Liebe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Wie hatte sie sich nur in einen Profikiller verlieben können? Mit einem Mann schlafen können, der unzählige Menschen auf dem Gewissen hatte? Allein bei dem Gedanken ekelte ihr vor sich selbst.

Während des Lockdowns in Wien hatte sie öfters überlegt, ihre ehemalige Psychotherapeutin zu kontaktieren. Sie hatte es bleiben lassen. Es waren sowieso nur telefonische Sitzungen möglich gewesen. Sie mochte keine langen Telefonate. Außerdem war sie davon überzeugt, dass solche Skype- oder Videositzungen niemals den persönlichen Kontakt mit dem Therapeuten ersetzen konnten.

Nachts, wenn der Schlaf nicht kommen wollte, dachte sie noch manchmal an diese heiße griechische Affäre. Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen. Das griechische Abenteuer war ein für alle Male beendet. Selbst wenn die Brandschutzversicherung endlich zahlen würde, hatte sie nicht vor, nach Samos zurückzukehren. Ihr Grundstück würde sie verkaufen und sich mit dem Erlös ein anderes hübsches Plätzchen am Meer suchen. Vielleicht in Kroatien, der früheren Heimat ihrer Mutter?

Außerdem hatte sie beschlossen, sich nie wieder zu verlieben. Die Liebe war nicht ihre Domäne. Liebeleien, Beziehungen, Ehe … In Zukunft würde sie allein bleiben. Sie brauchte keinen Mann, um ein erfülltes Leben zu führen. Im Gegenteil, Männer hatten immer ihre Kreativität beeinträchtigt und sie in ihrem unbändigen Freiheitsdrang eingeschränkt.

Lebhaftes Geschwätz und lautes Geschmatze. Laura schreckte auf.

Gegenüber hatten zwei ältere englische Paare Platz genommen. Als die Fähre ablegte, begannen sie, ihre prallen Kühltaschen auszupacken. Alle vier waren sehr groß. Die Männer hatten kugelrunde Bierbäuche, aber aus den Socken, die sie zu ihren Wandersandalen trugen, ragten dünne Waden.

Obwohl es früh am Morgen war, stopften sie Hühnerteile, russischen Salat und kalte Pommes frites in sich hinein. Laura nahm an, dass diese Köstlichkeiten vom gestrigen Abendbuffet im Hotel stammten.

Verblüfft beobachtete sie, wie die Briten, kaum hatten sie die Hühner verzehrt, mehreren Tupperware-Dosen weiteren Reiseproviant entnahmen: Schinken-Käse-Sandwiches, hart gekochte Eier, Joghurt und Müsliriegel. Nachdem sich alle vier mit gierigen Schlucken aus Bierdosen gestärkt hatten, folgte der Nachtisch: vergammelt aussehende Muffins und dazu diese ausgezeichnet schmeckenden kleinen kanarischen Bananen.

Eine der Engländerinnen schien Lauras Blicke misszuverstehen. Sie bot ihr eine der Minibananen an. Laura war so überrascht, dass sie sie dankend annahm.

Ein Fehler, denn nun wurde sie von den Ladys in ein Gespräch verwickelt. Sie erfuhr, dass diese gefräßigen Briten den Teide auf Teneriffa, den höchsten Berg Spaniens, bestiegen hatten und auf Gomera den ältesten Urwald Europas erkunden wollten.

Laura lag nichts ferner als Wandern oder gar Bergsteigen. Ungeduldig hörte sie sich die langweiligen Geschichten der Damen an. Als sich die Ehemänner zu Wort meldeten und mit ihren Äußerungen über die Rückständigkeit und Primitivität der Eingeborenen auf diesen von Gott verlassenen Inseln ihren Unmut erregten, erhob sie sich abrupt und sagte: „Viva la Brexit!“ Ihr war bewusst, dass ihre Reaktion überzogen und kindisch war, doch sie hatte sich nicht länger beherrschen können.

Die Banane, die sie geschenkt bekommen hatte, nahm sie mit in die Bar. Das kleine krumme Ding konnte schließlich nichts für die Dummheit und Präpotenz seiner Besitzer.

Als sie in San Sebastián anlegten, standen die Engländer als Erste in der Schlange vor dem Ausgang und mümmelten schon wieder an unappetitlichen Würstchen in seltsam aussehenden Blätterteigtäschchen.

2.

An der Fährstation in San Sebastián herrschte reger Betrieb. Dutzende Taxis sowie größere und kleinere Busse empfingen die Ankommenden auf einem riesigen Parkplatz. Vor dem modernen Hafengebäude hatte sich eine Menschentraube gebildet.

Laura nahm ihre Sonnenbrille ab und hielt Ausschau nach ihrem Vater. Doch er befand sich nicht unter den Leuten am Ausgang, die Freunde, Familienangehörige oder Urlaubsgäste abholten.

Als fast alle Passagiere mit Bussen, Taxis und Privatautos weggefahren waren, setzte sie sich auf eine Bank und nahm ihr Handy aus der Handtasche.

Ehe sie noch Mischas Nummer eingetippt hatte, erregte ein großer, hagerer Mann ihr Interesse. Seine feinen Gesichtszüge erinnerten sie an Velázquez’ Porträts von spanischen Edelmännern oder sogar an das Porträt des Fray Hortensio Félix Paravicino von El Greco. Pechschwarzes Haar, schwarze, tiefliegende Augen, bleiches, schmales Gesicht, eingefallene Wangen, schmaler Schnurrbart, gestutzter Backenbart, sinnliche Lippen.

Der Fremde war zu elegant gekleidet für diese Umgebung. Mit seinem schwarzen Anzug, dem strahlend weißen Hemd und der anthrazitfarbenen Fliege passte er besser auf eine Hochzeit oder ein Begräbnis.

Als er nur mehr ein paar Meter entfernt war, lächelte er sie verlegen an. „Buenos días! Sie müssen Laura Mars sein. Mein Name ist Juan María de Alvarez. Ich bin der Anwalt Ihres Vaters. Er hat mich gebeten, Sie abzuholen.“

Sein Händedruck war lasch, passte nicht zu seinen harten Gesichtszügen. Sie schluckte ihren Ärger, dass ihr Vater es nicht der Mühe wert gefunden hatte, sie selbst abzuholen, hinunter und bemühte sich, das freundliche Lächeln des Mannes zu erwidern.

Sein verblüffter Gesichtsausdruck bestätigte ihr, was sie ohnehin wusste. Seit den zahlreichen Schönheitsoperationen bekam sie kein normales Lächeln mehr hin, sondern schnitt nur mehr entsetzliche Grimassen.

„Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung. Die Hauptverbindung von Valle Gran Rey nach San Sebastián ist wegen eines Waldbrandes gesperrt. Ich habe einen riesigen Umweg fahren müssen …“

„Oh nein“, murmelte Laura. „Nicht schon wieder ein Brand!“

Vor nunmehr fast sieben Jahren war ihr Mann Lorenz in einem brennenden Auto ums Leben gekommen. Seither litt sie unter Arsonphobie, einer übertriebenen Angst vor Feuer.

„Lassen Sie uns aufbrechen“, sagte sie leise.

„Möchten Sie sich vorher kurz frischmachen oder etwas trinken?“ Er sprach hervorragend Deutsch mit einem kaum hörbaren spanischen Akzent.

„Nicht hier. Ich habe auf der Fähre etwas getrunken. Vielleicht können wir unterwegs einmal kurz stehenbleiben.“

Sie schnappte sich ihren Rollkoffer. Er bestand darauf, ihn ihr abzunehmen.

Spanier sind eben Gentlemen, dachte sie.

Unwillkürlich kam ihr wieder ihr verstorbener Mann in den Sinn. Lorenz war Fotograf gewesen. Er hatte keinerlei Skrupel gehabt, sie bei seinen Shootings, bepackt mit diversen Köfferchen und Schirmen, hinter sich her latschen zu lassen.

Der Anwalt fuhr einen Oldtimer, einen dunkelgrünen Roadster. Dieser coole MG RV8 war in den Neunzigerjahren vom Automarkt verschwunden und heute ein kleines Vermögen wert. In ihrem früheren Leben, wie Laura die Zeit vor ihrem schweren Unfall bezeichnete, hatte sie für schöne Männer und schöne Autos viel übriggehabt. Heute konnte sie sich weder für die einen noch für die anderen begeistern.

Sie fragte den Anwalt, auf die Gefahr hin, dass er sie für unhöflich hielt, warum ihr Vater nicht selbst gekommen war. Laura hatte Mischa jahrelang nicht gesehen. Und nun fand er es nicht einmal der Mühe wert, seine einzige Tochter abzuholen? Typisch Papa, dachte sie. Er war eben ein Riesenegoist. Auch in ihrer Kindheit hatte er fast nie Zeit für sie gehabt. Als Journalist war er ständig unterwegs gewesen. Ihre Mutter hatte sich oft darüber beklagt, sich wie eine Alleinerzieherin zu fühlen. Trotzdem oder gerade deswegen war Laura als Kind sehr an ihrem Vater gehangen.

„Michael kann sich kaum bewegen, er ist schwer verletzt“, sagte Don Alvarez.

„Davon hat er gestern am Telefon kein Wort erwähnt. Was ist passiert?“

„Er ist letzten Mittwoch im Hafen von Santa Cruz de Tenerife überfallen worden …“

„Wie bitte?

„Zwei Männer haben ihm seinen neuen Apple entrissen. Leider hat sich in der Laptoptasche viel Bargeld befunden. Wie Sie sicher wissen, ist Ihr Vater ein passionierter Barzahler, er verwendet seine Kreditkarten nur selten. Als er sich zur Wehr gesetzt hat, haben sie ihn zusammengeschlagen. Mit zwei gebrochenen Rippen und einer verletzten Kniescheibe sei er noch glimpflich davongekommen, hat der Arzt gemeint. Michael ist erst am Samstag aus dem Krankenhaus auf Teneriffa entlassen worden. Er geht auf Krücken, und Autofahrten sind, wegen der gebrochenen Rippen, die reinste Hölle für ihn.“

„Scheiße“, entfuhr es Laura. „Pardon!“

Don Alvarez lächelte verständnisvoll.

***

Sie nahmen eine gut ausgebaute Straße, die in Serpentinen hinauf in die Berge führte. Der Ausblick in so mancher Kurve war überwältigend. Imposante Felsformationen, tiefe, fruchtbare Barrancos und dazwischen das silbern glitzernde Meer.

Don Alvarez fuhr langsam, obwohl er die Strecke auswendig zu kennen schien. Er hatte nur eine Hand am Lenkrad. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es sie nicht störte, rauchte er während der Fahrt und machte hin und wieder Bemerkungen über die spärlich besiedelte Gegend.

Laura war verwundert, dass sich keine Tiere blicken ließen. Weder Schafe noch Ziegen. Sie sprach ihn darauf an.

„Vor zwanzig, dreißig Jahren hat fast jeder Bauer ein paar Ziegen oder Schafe gehalten“, sagte er. „2005 hat die EU die private Tierhaltung mit strengen hygienischen Vorschriften unterbunden. Seither wird kaum mehr Viehzucht betrieben. Bei uns laufen daher keine verirrten Zicklein oder Lämmchen auf der Straße herum. Schluss mit der ländlichen Idylle!“

Sie bildete sich ein, seinen Worten eine gewisse Gereiztheit zu entnehmen. „Ich bin keine Nostalgikerin, aber ich habe ein paar Jahre auf einer griechischen Insel gelebt, und dort sieht man sehr wohl noch viele Tiere“, beteuerte sie.

„Der ganze Stolz der Gomeros war früher oft der Besitz eines Schweines. Dieses kostbare Tier haben sie meist von einem scharfen Hund bewachen lassen. Die Eltern meiner verstorbenen Frau hatten eine Finca im Valle Gran Rey. Wegen des fürchterlichen Gebells in dem gegenüberliegenden Barranco haben sie in der Nacht oft kein Auge zugetan. Die Schweine wurden in Erdlöchern mitten in den Feldern untergebracht, und die angeketteten Köter sind die ganze Nacht bellend rund um das Loch gelaufen.“

„Vielleicht kommt das deutsche Schimpfwort Schweinehund ja daher?“

„Gut möglich. Aber wenn Ihnen nach Tieren ist, haben wir jede Menge andere Krachmacher zu bieten. Das Gequake der Frösche ist mindestens so enervierend wie das Hundegebell. Sie werden es erleben.“

„Ich liebe Frösche! Und Schweine liebe ich ebenfalls“, scherzte sie.

Er wurde wieder ernst. „Die jungen Leute wollen sich die harte Arbeit am Land nicht mehr antun. Entweder suchen sie sich einen Job in den touristischen Zentren oder sie verlassen die Insel. Sie gehen aufs Festland oder wandern nach Südamerika aus, falls ihre Familien es schaffen, genügend Geld für die Überfahrt zusammenzukratzen. Man darf es ihnen nicht verübeln. Mit der Landwirtschaft, wie sie hier im Kleinen betrieben wird, kann man kein Geld verdienen. Es reicht oft nicht einmal, um die eigene Familie zu versorgen. Wir können uns keine billigen Landarbeiter aus Nordafrika, Rumänien oder Moldawien leisten, so wie die Andalusier, dafür geben unsere winzigen Felder nicht genügend her. Die Jugendarbeitslosigkeit auf den Kanarischen Inseln ist eines der größten Probleme unserer Zeit. Sechzig Prozent unserer Jugendlichen sind arbeitslos. Das ist eine echte Katastrophe. Während der Coronakrise hat sich die Situation verschlimmert. Alkohol, Drogen und ohrenbetäubende Musik scheinen für viele die einzige Fluchtmöglichkeit aus dieser Misere zu sein.“

„Alkohol und Drogen? Woher nehmen die Kids das Geld?“

„Tja, dreimal dürfen Sie raten. Zuerst bestehlen sie ihre Eltern, dann Fremde. Jugendkriminalität war früher nie ein besonderes Problem bei uns. Die Einheimischen sind eher gutmütig, neigen nicht zu Gewalt. Aber die Lage hat sich in den letzten Monaten zugespitzt. Denken Sie an den Raubüberfall auf Ihren Vater. Ein Überfall am helllichten Tag in der Nähe einer Fährstation wäre vor ein paar Jahren unvorstellbar gewesen. Vor allem hat mich die Brutalität entsetzt, mit der diese Bandidos vorgegangen sind. Ihr Vater ist nicht mehr der Jüngste. Obwohl …“ Er räusperte sich. „Selbst ein jüngerer Mann hätte keine Chance gegen diese Kerle gehabt. Mussten sie ihm wegen eines Laptops gleich das Knie zertrümmern und ein paar Rippen brechen? Sie haben ja nicht wissen können, dass sich Bargeld in der Laptoptasche befand.“ Er steckte sich mit dem altmodischen Zigarettenanzünder des Roadsters wieder eine an und verfiel in Schweigen.

Auch Laura schwieg.

Es war kein unangenehmes Schweigen.

„Könnte es nicht sein, dass solche verzweifelten jungen Leute auch meine Stiefmutter entführt haben?“, fragte sie nach einer Weile.

„Keine Ahnung. Möglich ist alles in Zeiten wie diesen.“

3.

Der Himmel hatte sich verdunkelt. Schwere Wolken zogen über das Hochland und tauchten die Wiesen in ein gräuliches Licht. Zu ihrer Rechten erschien plötzlich dichtes Gestrüpp.

„Hier beginnt der Regenwald“, sagte Don Alvarez, als sie an dem Mirador Degollada del Tanque vorbeifuhren. „Wir werden ein bisschen später Pause machen. Außer Sie möchten unbedingt hier stehen bleiben?“

„Nein, nein, fahren Sie weiter.“

Auf den ersten Blick fand Laura den Urwald enttäuschend. Sie hatte sich einen afrikanischen Dschungel und kein den Alpen ähnliches Hochland erwartet.

Don Juan María de Alvarez hielt einige Kilometer weiter im Nationalpark Garajonay beim Aussichtspunkt Mirador de los Roques an.

Laura war nun doch beeindruckt von der spektakulären Landschaft. Aus der fast schwarzen Vulkanerde sprossen Sukkulenten und Agaven, und in der Ferne erblickte sie bizarre Felsformationen.

„Willkommen auf dem Dach Gomeras“, sagte er. „Der gewaltige Klotz dort drüben wird übrigens Fortaleza genannt und war eine wichtige Kultstätte der Ureinwohner.“

Als sie weiterfuhren, tat sich die ganze Pracht dieses mystischen Waldes vor ihnen auf.

„Unser Nebelwald gilt als der besterhaltene Urwald Europas“, spielte Don Alvarez weiter den Fremdenführer. „Abgesehen von Flechten, Moos und Farnen besteht dieser Dschungel vorwiegend aus verschiedenen Arten von Lorbeerbäumen. Auch der Madeira-Mahagoni gedeiht hier. Wir nennen ihn Vinático. Er ist mit dem Avocadobaum verwandt. Sein Saft ist toxisch. Man sollte besser nicht mit ihm in Berührung kommen. Nur die Ratten lieben sein berauschendes Gift. Sie werden richtig high davon.“

„Na super“, murmelte Laura, die für Ratten nichts übrighatte.

„Leider bepflanzt man die Insel neuerdings mit Eukalyptusbäumen, die den Boden austrocknen.“

Als Laura am Ortseingang des Dorfes El Cercado eine Werbetafel für ein Keramikatelier erblickte, ersuchte sie den Anwalt, kurz anzuhalten.

***

In der Werkstatt arbeiteten ausschließlich Frauen. Sie schauten kurz von ihrer Arbeit auf, als Laura und Don Alvarez eintraten.

Laura entschuldigte sich für die Störung und fragte, ob sie sich ein bisschen umsehen dürfe.

Eine ältere Frau deutete auf ihre Hände, die mit Lehm bekleckert waren, und erklärte ihr, dass sie ihre Keramiken in der jahrhundertelangen Tradition der Ureinwohner, also ohne Töpferscheibe herstellten.

Laura gefiel die schlichte Gestaltung der schwarzen Tongefäße. Sie kaufte zwei Schalen, eine als Mitbringsel für ihre Freundin Marlene in Wien und eine für sich selbst. Obwohl sie gerne länger mit den Frauen geplaudert hätte, verabschiedete sie sich bald. „Wir wollen Mischa nicht zu lange warten lassen“, sagte sie zu Don Alvarez.

„Er wird demnächst essen und danach eine lange Siesta halten. Normalerweise isst er um eins, halb zwei eine Kleinigkeit und schläft danach bis vier, fünf Uhr nachmittags. Momentan braucht er viel Schlaf. Wir haben es also nicht eilig. Ich kenne in der Nähe ein gutes Lokal. Lassen Sie uns dort einkehren. Früher hat im La Montana die hochbetagte Doña Efigenia aufgekocht. Ihr vegetarisches Biomenü ist auf der ganzen Insel berühmt. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt, war eine Ewigkeit nicht mehr dort.“

Das Lokal war geschlossen. Sie gingen in die Bar Victoria an der Dorfstraße. Laura entschied sich für Ziegenfleisch in pikanter Sauce, Don Alvarez für Ropa vieja, einen Kichererbseneintopf mit Lammfleisch, Thymian und Wein. Als Vorspeise empfahl er Almogrote, eine weiche Paste aus geriebenem, gut gereiftem Ziegenkäse mit Paprika, Knoblauch, Tomaten, Olivenöl, Salz und Pfeffer. Zuletzt bestellte er eine Portion Papas arrugadas.

Angesichts der verschrumpelten kleinen Kartoffeln mit einer dicken Salzkruste, die kurz darauf in einem Tongefäß, gemeinsam mit einer giftgrünen und einer roten Sauce, serviert wurden, schaute Laura den Anwalt skeptisch an.

„Diese hässlichen Dinger werden in Meerwasser gekocht, bis sich die Salzkristalle an der Schale ablagern. Mit Mojo verde oder Mojo rojo schmecken sie köstlich. Probieren Sie mal.“ Er tauchte eine winzige Kartoffel in die rote Sauce und reichte seine Gabel Laura.

„Wow! Ich werde mich in Gomera ausschließlich von Kartoffeln ernähren“, scherzte sie.

Erst beim Kaffee kamen sie auf Ramona Mars zu sprechen.

„Ihr Vater ist davon überzeugt, dass seine Frau entführt wurde“, sagte Don Alvarez. „Merkwürdigerweise ist noch keine Lösegeldforderung eingetroffen. Als er am Samstagnachmittag aus dem Krankenhaus in Teneriffa nach Gomera zurückgekehrt ist, war sie bereits weg.“

„Ich weiß. Er hat mich am Sonntagabend angerufen und mir von Monas mysteriösem Verschwinden erzählt.“

Sie dachte an ihr letztes Telefonat mit ihrem Vater. Er hatte sie inständig gebeten, nach Gomera zu kommen. Mischa hatte so verzweifelt geklungen, dass sie nicht Nein sagen konnte und den nächsten Flieger buchte. Während der Coronapandemie hatten sie öfters miteinander gemailt und telefoniert. Meistens hatten sie nur Banalitäten ausgetauscht, aber zumindest hatten sie nach sechs Jahren Funkstille wieder Kontakt miteinander gehabt. Nach dem grauenvollen Unfall, bei dem ihr Mann Lorenz zu Tode gekommen war, hatte Laura eine Zeit lang nicht mehr mit ihrem Vater gesprochen. Er war damals zwar nach Wien gereist, hatte sie im Krankenhaus besucht, doch sie waren bei diesem Wiedersehen in Streit geraten. Er war nicht bis zu Lorenz’ Beerdigung geblieben, sondern gleich wieder abgehauen. Seinen Schwiegersohn hatte er von Anfang an nicht leiden können.

Laura hätte ihren Vater nach Lorenz’ Tod dringend gebraucht. Das Geld, das er ihr danach von Las Palmas aus überwiesen hatte, hätte sie ihm am liebsten zurückgeschickt. Doch sie brauchte es für den Bau ihres Bungalows auf Samos.

4.

„Wir nähern uns dem Tal des großen Königs“, riss sie Don Alvarez’ angenehme tiefe Stimme aus den Gedanken, als sie durch einen hübschen Ort fuhren. „Las Hayas ist sozusagen das Eingangstor zum Garten Eden Europas, dem Palmenparadies Valle Gran Rey.“

Nach wenigen Kilometern bot sich ihnen ein überwältigender Blick auf das Tal. Unzählige in sattes Grün getauchte Terrassen erstreckten sich über viele Kilometer hinunter bis zum Meer. Strahlend weiß getünchte Häuser, die aussahen wie kleine Würfel, schmiegten sich an die mit Palmenhainen bewachsenen Berghänge.

Don Alvarez nahm die Kurven sehr vorsichtig. Die Straße schlängelte sich über atemberaubende Abgründe hinab zum Meer. Laura starrte konsequent auf die Bergseite. Ihre Knie zitterten.

„Keine Angst, wir sind bereits im Paradies gelandet“, scherzte Don Alvarez. „Hier gedeiht alles, Bananen, Papayas, Mangos, Avocados …“

Laura würdigte die Plantagen, die sich unter ihnen ausdehnten, keines Blickes, starrte jetzt wie gebannt auf den Mittelstreifen der Straße.

„Dieses Tal ist nach König Hupalupa benannt worden, der in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts hier residierte. Dieser König plante, den verhassten Inselgrafen Hernán Peraza den Jüngeren zu ermorden. Da er befürchtete, sein Sohn würde diesen Plan verraten, hat er sein eigenes Kind erstochen. Diese abscheuliche, aber uneigennützige Tat hat ihm bei den Ureinwohnern den Ruf, der Größte zu sein, eingebracht. Das Wohlergehen seiner Untertanen ging ihm eben über alles.“

„Das klingt ja nach einer griechischen Tragödie“, warf Laura ein. „Oh nein, passen Sie auf!“, schrie sie plötzlich, als ihnen in einer der beinahe Dreihundertsechzig-Grad-Kehren ein Bus entgegenkam.

Don Alvarez lenkte seinen Roadster elegant daran vorbei.

„Hier habe ich früher gewohnt“, sagte er, als sie einen kleinen Ort etwa zweihundert Meter oberhalb der Küste erreichten. „La Calera gilt als das schönste Dorf der Insel“, fügte er leise hinzu.

„Traumhaft! Wieso sind Sie von hier weggezogen?“

„Eine lange Geschichte. Die erzähle ich Ihnen vielleicht später einmal.“

Sein schwermütiges Lächeln fand Laura sehr einnehmend. Mischas Anwalt gefiel ihr immer besser.

Es ging weiter steil bergab bis nach La Playa, einem modernen Badeort am Fuße eines wuchtigen Felsmassivs. Don Alvarez drehte eine Runde und nahm dann eine Nebenstraße, die wieder bergauf führte und bald in eine nichtasphaltierte Sackgasse überging.

Am Ende des Weges erblickte Laura auf einem sanften Hügel ein modernes, einstöckiges Gebäude, das von einer niedrigen Steinmauer umgeben und weit und breit das einzige Haus war. Don Juan María de Alvarez parkte vor dem offenstehenden schmiedeeisernen Gartentor, sprang aus dem Wagen und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.

Sie amüsierte sich über seine altmodischen Manieren, war aber froh, dass er ihren schweren Koffer bis zur Eingangstür brachte, denn auf Kieswegen funktionierten die Rollen nicht ordentlich.

„Sie werden einander viel zu erzählen haben. Hasta luego, señora Mars!“

Der Anwalt ging zurück zu seinem Wagen, machte eine Kehre, wirbelte jede Menge Staub auf und fuhr in höllischem Tempo die steile Straße hinunter.

War er die ganze Zeit wegen ihr so vorsichtig gefahren? Hatte ihr Vater ihm von dem Unfalltod ihres Mannes und ihrer daraus resultierenden Angst vor rasanten Autofahrten erzählt?

***

Ohne Sonne war es auf dem Schiff bitterkalt. Warum lag er nicht mehr hier, neben mir und wärmte mich mit seinem Körper? Hatte er nicht beteuert, dass er total verrückt nach mir sei und am liebsten jede Nacht mit mir verbringen würde?

Ich rappelte mich auf, war sehr wackelig auf den Beinen. Vorsichtig tastete ich, auf der Suche nach einem Lichtschalter, mit beiden Händen die Wände ab. Es gab kein Licht, nur Schwärze. Ich war in einem schwarzen Loch eingesperrt, das kaum größer war als zwei mal zwei Meter. Immerhin konnte ich aufrecht stehen. Die Decke befand sich allerdings höchstens zehn Zentimeter über meinem Kopf.

Boden und Decke gerieten auf einmal ins Schwanken. Ich bildete mir ein, das Rauschen des Meeres zu hören. Ich war also nach wie vor an Bord eines Schiffes, allerdings nicht mehr auf einer Segelyacht. Der ekelerregende Fischgestank deutete darauf hin, dass ich mich auf einem Fischkutter befand. Und zwar unten im Kühlraum, wo normalerweise der Fang gelagert wurde.

Aber wo war er? Spielte er ein sadistisches Spiel mit mir?

Ich rief seinen Namen.

Keine Reaktion.

Was war passiert, nachdem wir uns geliebt hatten? Waren wir gleich eingeschlafen oder hatten wir noch den Cava ausgetrunken und eine geraucht? Ich konnte mich einfach nicht mehr erinnern.

Plötzlich machte sich Angst breit. Quälende und zugleich lähmende Angst.

Ich wollte schreien, aber meine Stimme versagte.

5.

„Laura! Komm in meine Arme, mein Liebling“, vernahm sie die Stimme ihres Vaters hinter sich. Sie drehte sich um. Ein älterer Mann auf zwei Krücken stand in der Tür und strahlte sie an.

Laura ließ sich von seinem Aussehen nicht täuschen. Obwohl er einen Dreitagebart trug, sein weißes Haar fast bis zum Kragen seines Hawaiihemdes reichte und seine Jeans nach einer Waschmaschine schrien, war Mischa keineswegs ein typischer Althippie, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann. Mittelgroß, schlank, breite Schultern, schmale Hüften. In seiner Jugend hatte er Leistungssport betrieben, war sogar Wiener Juniorenmeister im Hundert-Meter-Brustschwimmen gewesen. Trotz der Hämatome auf seiner Stirn und seinem Kinn und dem gelblich verfärbten linken Auge sah er blendend aus. Er wurde Robert Redford immer ähnlicher, hatte allerdings weniger Falten als der Hollywoodschauspieler.

Mischa musterte sie ebenfalls. „Du hast dich verändert, bist noch schöner geworden. Aber irgendetwas stimmt mit deinem Gesicht nicht.“ Mehr sagte er nicht zu ihrem neuen Aussehen.

Flüchtig küsste sie ihn auf beide Wangen und ging mit ihm ins Haus.

Das Erdgeschoß hatte einen offenen Grundriss, bei dem Wohnzimmer, Esszimmer und Küche ineinander übergingen. Die Kücheninsel war durch eine brusthohe Mauer aus Natursteinen vom hellen, luftigen Wohnbereich getrennt. Im Vorraum gab es zwei Türen. Hinter der einen befand sich ein Bad, hinter der anderen eine Toilette. Vom Wohnzimmer aus führte eine geschwungene Treppe hinauf zu den Zimmern im ersten Stock.

Im Garten mit den subtropischen Pflanzen bemerkte Laura einen Swimmingpool, einen Grillplatz und sogar eine Sommerküche unter einem Vordach. Ganz schön protzig für einen ehemals linksliberalen Journalisten, dachte sie.

Er wollte ihren Koffer auf ihr Zimmer im ersten Stock bringen. Sie war schneller. „Du bleibst gefälligst hier unten“, sagte sie und brachte ihr Gepäck selbst hinauf.

„Deines ist das erste nach der Treppe!“, rief er ihr nach.

Das Gästezimmer sah gemütlich aus. Es war mit dunklen Möbeln im spanischen Landhausstil eingerichtet und verfügte über ein geräumiges Bad. Von den beiden Fenstern aus sah man zwischen den blühenden Sträuchern das Meer. Sie stellte ihre Sachen ab und ging wieder hinunter.

Das Panoramafenster im Wohnzimmer bot einen hinreißenden Ausblick auf die Küste. Kaum hatten sie auf der weißen Sitzlandschaft vor der Glaswand Platz genommen, erhob sich Mischa wieder und humpelte auf seinen Krücken ins Vorzimmer.

Er kam mit einem Sakko und einer Hose im Arm zurück und fing an, den Inhalt sämtlicher Taschen vor ihr auszubreiten. Ein Schlüsselbund, eine Minitaschenlampe, jede Menge Münzen und zusammengeknüllte Zettel, ein gebrauchtes Taschentuch, ein Lippenbalsam und zwei Kugelschreiber landeten auf dem Couchtisch. Schließlich fand er in der Brusttasche des Sakkos, was er gesucht hatte.

Mit verlegener Miene streckte er Laura zwei Fünfhunderteuroscheine hin. „Für deine Reisekosten. Mehr habe ich momentan leider nicht in bar zu Hause.“

Geld, Geld, Geld, damit hatte er schon immer sein schlechtes Gewissen zu beruhigen versucht. Sie nahm es an, ohne zu protestieren, denn sie pfiff aus dem letzten Loch. Für den Flug nach Teneriffa hatte sie Marlene um einen Vorschuss bitten müssen.

Durch die Glasfront hatte man einen grandiosen Blick auf das Meer und den gewaltigen Felsen, der über die Bucht von Valle Gran Rey wachte. In dem prachtvollen Garten vor dem Haus standen der blaue und brombeerfarbene Hibiskus und die orangen Strelitzien in voller Blüte. Selbst die fast mannshohen Kakteen blühten. Violette und lila Bougainvilleen, die so hoch wie Bäume waren, überwucherten die niedrigen Gartenmauern aus Naturstein.

Keine der üblichen gepflasterten Terrassen verunstaltete das kleine Paradies. Zwischen weißen und pinkfarbenen Oleandern und einem Teppich aus rot-orangen kanarischen Glockenblumen gab es entzückende Nischen, in denen zarte Tischchen und schmale Stühlchen zu einem romantischen Tête-à-Tête einluden. Unter schattenspendenden Palmen und Akazien warteten Liegen aus Teakholz auf ruhebedürftige Gäste.

Laura hätte sich gerne nach draußen gesetzt. Mischa meinte, es wäre zu heiß. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in Griechenland. Auch dort hatten die Einheimischen, im Gegensatz zu den Touristen, die Mittagssonne eher gemieden.

„Unserer Haushälterin habe ich heute frei gegeben, damit wir beide ungestört miteinander reden können“, sagte Mischa. „Die liebe Teresita fühlt sich als Teil der Familie, und das ist sie ja auch. Aber sie ist sehr temperamentvoll, mischt sich in alles ein. Teresita ist übrigens auch der gute Geist des Saturn. Sie kümmert sich um unsere Abonnenten und erledigt die ganze Büroarbeit. Möchtest du Kaffee?“

„Gerne. Soll ich ihn machen?“, fragte sie, als sie sah, wie schwer er sich beim Aufstehen tat.

„Nein, nein, von dieser ewigen Sitzerei werde ich ganz steif. Ich muss mich ein bisschen bewegen.“

Er hatte sich nicht geändert, war nach wie vor ein Getriebener, den seine innere Unruhe keinen Moment still sitzen ließ. Laura hatte ihren Vater nie anders erlebt als impulsiv, ungeduldig und umtriebig. Und ich bin ihm ähnlich, dachte sie leicht verärgert.

Als er den Kaffee und eine Karaffe mit Wasser brachte, sagte er: „Über dein Problem mit mir können wir ja später reden. Zuerst will ich dir erzählen, was passiert ist, okay?“

Eine rein rhetorische Frage. Zu einer Aussprache zwischen ihnen würde es nie kommen. Er war viel zu feige. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass auch sie Angst vor einem offenen Gespräch über ihre komplizierte Beziehung hatte.

„In der letzten Ausgabe meiner Zeitschrift habe ich einen langen Beitrag über den Drogenschmuggel auf den Kanaren gebracht und einen zweiten scharfen Bericht über einen Bürgermeister, der wegen Korruption ins Gefängnis musste“, begann Mischa. „Der Überfall könnte mit einem der beiden Artikel in Zusammenhang stehen und eine Art Warnung gewesen sein. Das habe ich zumindest anfangs vermutet. Als dann Mona entführt wurde, ist mir klar geworden, dass nicht die Parteifreunde des Bürgermeisters dahinterstecken, sondern die Drogenmafia.“

„Und du bist dir absolut sicher, dass sie entführt wurde? Vielleicht hat sie dich verlassen? Don Alvarez hat gesagt, dass du keine Lösegeldforderung erhalten hast.“

„Eben. Ich habe noch nichts von diesen Banditen gehört. Genau das beunruhigt mich ja so. Ich fühle mich ohnmächtig, traue mich nicht, die Polizei zu verständigen oder selbst Nachforschungen anzustellen. Denen scheint es nicht um mein Geld zu gehen.“

„Und du denkst, ich könnte dir helfen? Ich bin keine Privatdetektivin.“

„Darum geht es nicht. Ich wollte dich einfach in meiner Nähe haben.“ Er stieß einen Seufzer aus.

Laura konnte sich vorstellen, wie schwer ihm dieser Satz über die Lippen gekommen war. Verbale Äußerungen seiner Bedürftigkeit oder Ängste waren nie seine Stärke gewesen. Er, der große Macher, schaffte normalerweise immer alles allein.

„Erzähl mir mehr über diese Drogensache.“

„In den letzten Monaten haben sich die Drogendelikte auf den Kanaren gehäuft. Bei allem Verständnis dafür, dass sich die Leute zudröhnen wollen, um das ganze Elend zu vergessen, ist meine Wut über diese unverschämten südamerikanischen Drogenbarone, die unsere Inseln in einer Art Blitzkrieg erobert haben so wie einst die spanischen Konquistadoren, mächtig gestiegen.“

„Unsere Inseln? Du bist Österreicher, Papa.“

„Ich fühle mich eher wie ein Canario. Mit meinen engstirnigen, spießigen Landsleuten hatte ich nie viel gemein.“

Laura, die ebenfalls vor einigen Jahren die Flucht aus der Alpenrepublik ergriffen hatte, fielen keine Gegenargumente ein. Sie hatte nicht vor, die Heimat großer Söhne zu verteidigen.

„Die Zahl der Drogentoten ist in den vergangenen Monaten auf den Kanaren enorm gestiegen“, fuhr Mischa fort. „Ich habe in der vorletzten Ausgabe des Saturn eine Serie über die Drogengeschäfte der südamerikanischen Mafia angekündigt. Der erste Artikel ist Montag vor einer Woche erschienen. Am Mittwoch wurde ich zusammengeschlagen. Das war kein Zufall. Und auch Monas Verschwinden am Samstag danach hängt garantiert damit zusammen. Einer der beiden Typen, die mich überfallen haben, hat mir ins Gesicht gespuckt, als ich am Boden gelegen bin, und mir geraten, mein Maul zu halten, wenn mir mein eigenes Leben und das meiner Frau lieb wäre. Davon habe ich übrigens niemandem erzählt, nicht einmal Juan María.“

„Warum nicht?“

„Weil mir die ganze Geschichte peinlich ist. Ich bin wie ein Idiot in eine Falle getappt. Als ich in der Bar hinter der Absperrung auf die Ankunft der Fähre gewartet habe, ist ein SMS gekommen. ‚Pier 4‘, stand darin. Die Nachricht kam wohl von einer dieser Internetseiten, von denen aus man anonym SMS verschicken kann, zumindest gab es keinen Absender. Da ich genügend Zeit hatte, bin ich zu dem Pier spaziert, der sich weit hinten, im einsamen Teil des Hafens, befindet. Es war noch hell. Kein Mensch war dort zu sehen. Alles Baustelle. Container, Baumaschinen und Schutt. Ich wollte Raoul, meinen Mitarbeiter auf Teneriffa, anrufen, ihn fragen, ob er einem seiner Informanten meine Telefonnummer gegeben hat, da habe ich plötzlich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen. Ich habe mich umgedreht und ziellos um mich geschlagen. Rein zufällig habe ich meinen Angreifer mitten im Gesicht getroffen. Fluchend hat er einen Zahn ausgespuckt. Damit war mein heldenhafter Kampf beendet. Ein zweiter Mann ist auf mich losgegangen. Als ich schließlich mit dem Gesicht voran am Boden gelandet bin, haben mich beide mit heftigen Tritten bearbeitet. Ich habe mich auf die Seite gerollt, versuchte aufzustehen. Ein harter Schlag hat mich an der linken Schläfe erwischt und endgültig außer Gefecht gesetzt. Als mir mein Blut in die Augen getropft ist, habe ich jeden Widerstand aufgegeben. Man muss wissen, wann man keine Chance mehr hat.“

„Würdest du die Männer wiedererkennen?“

„Ich habe sie nur flüchtig gesehen. Einer war auffallend groß für einen Spanier. Er trug eine Baseballkappe, hatte sie tief in die Stirn gezogen. Mir ist ein goldener Ring an seinem rechten Ringfinger aufgefallen, dem ich wahrscheinlich die Platzwunde auf meiner linken Schläfe zu verdanken habe. Da war ein ungewöhnlicher pyramidenförmiger schwarzer Stein drauf, den ich jederzeit wiedererkennen würde. Der zweite Kerl war einen Kopf kleiner als der andere, ein richtiger Muskelprotz, mehr breit als hoch, Quadratschädel, Stiernacken und merkwürdige Froschaugen.“

„Hast du die Polizei verständigt?“

„Habe ich. Hat natürlich nichts gebracht. Ich habe den Bullen die gleiche Beschreibung von den Typen gegeben wie dir. Sie glauben, dass es sich um einen ganz gewöhnlichen Raubüberfall gehandelt hat, weil sie meine Tasche mit dem Laptop, in der auch meine Brieftasche steckte, mitgenommen haben. Mittlerweile bin ich aber überzeugt davon, dass die Männer es nur auf den Laptop abgesehen hatten, auf dem sich alle meine Recherchen über den Drogenschmuggel befanden. Sie haben nicht wissen können, dass ich meine Brieftasche dort drinnen hatte. Meine Hosentaschen und die Taschen meines Sakkos haben sie nicht durchsucht.“

„Und das hast du wortwörtlich auch der Polizei erzählt?“

„Ja, verdammt! Aber die Bullen auf den Kanaren sind die gleichen Idioten wie überall auf der Welt“, sagte Mischa gereizt. „Für sie war die Geschichte von Anfang an klar. Ein Raubüberfall auf einen wohlhabend aussehenden älteren Herrn! So was scheint in letzter Zeit keine Seltenheit auf Teneriffa zu sein. Sie werden sich nicht besonders anstrengen, die beiden Täter zu finden.“

„Bravo, Papa, immer noch der große Revoluzzer!“

„Haut die Bullen platt wie Stullen“, murmelte er grinsend.

„Jaja, ich erinnere mich. Dein Lieblingsspruch war ein anderer, lautete der nicht: ‚Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‘?“

„Ich habe diese blöden Sprüche von meinem Auslandssemester an der FU in Berlin mitgebracht. Als ich deine Mutter kennengelernt habe, bin ich zahm wie ein Hamster geworden.“

„Du und zahm …“

„Hast du nicht Hunger?“, wechselte er das Thema. „Ich könnte uns ein Conejo en salmorejo aufwärmen, ein Kaninchen in einer Kräuter-Weißwein-Sauce. Oder hättest du lieber mariniertes Kaninchen? Meine Spezialität! Ich habe in der Kühltruhe ein zweites Karnickel.“

„Lenk nicht ab. Ich will nichts essen, habe mit Don Alvarez unterwegs gespeist.“

„Wo seid ihr eingekehrt?“

„Irgendwo im Urwald.“

„Bei Doña Efigenia?“

„Nein, die hatte zu.“

„Ich wärme mir jetzt das Kaninchen auf. Du kannst ja nachher entscheiden, ob du probieren möchtest oder nicht.“

Er humpelte in die Küche. Stöhnend stützte er sich mit beiden Händen am Herd ab, als er den Schmortopf ins Backrohr schob.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, bleib sitzen, lass dich von deinem alten Vater ein bisschen verwöhnen.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Ihr Vater war ein wunderbarer Koch. Allerdings hatte er sich früher selten fürs Kochen Zeit genommen, bis auf die Feiertage, da war er immer für das Menü zuständig gewesen.

Laura konnte dem herrlichen Duft der Sauce nicht widerstehen. Das Kaninchenragout schmeckte so gut, dass sie mehrmals von Mischas Teller naschte.

„Willst du nicht doch etwas?“

„Nein, danke.“

Er hatte zum Essen eine Flasche Rotwein geöffnet. Laura hatte bisher nur an ihrem Glas genippt. Sie hatte es während der letzten Monate in Wien geschafft, trocken zu bleiben, obwohl ihre Freunde nicht gerade Antialkoholiker waren.

6.

„Ich weiß, du kannst mir nicht verzeihen, dass ich nach dem Tod deiner Mutter nach Gomera ausgewandert bin“, sagte Mischa, als sie es sich nach dem Essen auf den Sofas bequem machten.

„Verdreh nicht alles. Nicht deine Flucht nach Gomera hat mich verletzt, sondern dass du so schnell nach Mamas Tod wieder geheiratet hast. War Mona, als Mama noch lebte, bereits deine Geliebte?“

„Nein! Ich habe Adriana nie betrogen, das musst du mir glauben. Sie war die große Liebe meines Lebens! Aber ich habe das Alleinsein nicht ertragen. Heute komme ich damit besser zurecht, denn im Grunde bin ich auch jetzt noch allein. Mona führt schon lange ihr eigenes Leben. Damals aber war ich so verzweifelt, dass ich dankbar war für jede Art von Aufmerksamkeit und Zuwendung. Egal von wem. Und Mona hat sich eben liebevoll um mich gekümmert, während du vollauf mit deinem überspannten und unreifen Ehemann beschäftigt warst.“

Laura schwieg, starrte verbissen auf ihr halbvolles Weinglas. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie selbst sehr verzweifelt gewesen, hatte nicht arbeiten können und mit letzter Kraft versucht, ihre kaputte Ehe zu retten. Mit ihrer Trauer hatte Lorenz jedoch noch schlechter umgehen können als mit ihren beruflichen Erfolgen.

„Nach Adrianas Tod habe ich mich auf riskante Geldgeschäfte eingelassen, und ich hatte Glück. Vielleicht weil mir alles scheißegal war?“, fuhr Mischa fort. „Als Mona und ich nach Gomera gingen, war ich bereits ein vermögender Mann. Die globale Banken- und Finanzkrise hat auch auf den Kanarischen Inseln ihre Spuren hinterlassen. Als die Eurokrise 2009 den Immobilienmarkt in ganz Europa ins Taumeln brachte, habe ich zugeschlagen. Sowohl das kleine Haus an der Promenade im Valle als auch mein Anwesen hier oben waren echte Schnäppchen. Die Wohnung in Las Palmas auf Gran Canaria habe ich ein Jahr später erstanden. Mit dem restlichen Geld habe ich den Saturn gegründet, der mittlerweile schwarze Zahlen schreibt.“

„Das hast du schon am Telefon gesagt.“

„Verzeih, ich wiederhole mich, so wie alle alten Leute.“

„Sei nicht so kokett! Du und alt …“

Lächelnd fuhr er fort: „Wir sind keine Konkurrenz für den Valle-Boten. Diese höchst originelle deutschsprachige Zeitung gibt es schon länger auf Gomera als den Saturn. Wir kommen uns nicht in die Quere. Der Saturn zeichnet sich durch informative Artikel über gesellschaftspolitische Themen aus und hat einen umfangreichen Veranstaltungsteil. Tagespolitik klammern wir eher aus. Außerdem berichten wir über alle Kanarischen Inseln, nicht nur über Gomera. Die Zeitung ist bei deutschsprachigen Urlaubern sehr beliebt. Auch Skandinavier, Holländer und sogar Engländer kaufen sie wegen unseres ausführlichen Programmteils. Die Redaktion des Saturn befindet sich heute in Las Palmas. Auch deshalb verbringe ich die meiste Zeit dort.“ Er hielt kurz inne, um eine zweite Karaffe mit kaltem Wasser aus dem Kühlschrank zu holen.

Als er zurückkam, ließ Laura ihn weiter über seine Zeitung reden, obwohl sie lieber mehr über seine Ehe mit Ramona erfahren hätte.

„Mein Mann auf Teneriffa heißt Raoul. Seine Mutter ist Deutsche, seinen spanischen Vater hat er nie kennengelernt. Er war wohl das Resultat eines Urlaubsflirts. Raoul schreibt vorwiegend im Kulturteil und über die Gastronomie. Er ist auch zuständig für Teneriffa und Lanzarote. Momentan hat er eine Krise, wahrscheinlich weil er vor Kurzem vierzig geworden ist. Aber das ist nicht so wichtig. Um den Veranstaltungsteil und das Layout kümmert sich Harry. Er ist Wiener und von Beruf Grafiker. Vor allem aber ist er ein begnadeter Surfer und daher Spezialist für das Surferparadies Fuerteventura. Unser Schwerpunkt liegt jedoch auf Gran Canaria, Teneriffa und Gomera, über die anderen Inseln berichten wir seltener. Seit Kurzem erscheint der Saturn auch online. Das war Elviras Idee. Heutzutage funktioniert ja alles online, selbst Redaktionssitzungen. Während der Coronakrise haben wir seriöse Artikel über das Virus und die Schutzmaßnahmen gebracht. Elvira hat die Artikel ins Spanische übersetzt, dadurch haben wir die Zeitschrift auch für Einheimische attraktiv gemacht.“

„Wer ist Elvira?“

„Doña Elvira Hernández-Flores ist sozusagen meine Chefin.“

„Wie bitte?“

„Begonnen hat sie vor eineinhalb Jahren als meine Redaktionsassistentin in Las Palmas, nachdem sie wegen der Krise ihre eigene Tourismusagentur zusperren hatte müssen. Mittlerweile folgen beim Saturn alle ihrem Kommando. Selbst meine Mitarbeiter auf Teneriffa und in Las Palmas tanzen nach ihrer Pfeife. Und ich sowieso. Sie ist eine wahnsinnig tüchtige und sehr kluge Frau. Ein echter Glücksgriff. In kürzester Zeit ist sie mir unentbehrlich geworden. Du musst dieses hübsche, zierliche Persönchen, dem man all diese Energie gar nicht zutrauen würde, unbedingt kennenlernen.“

„Höre ich da nicht nur Bewunderung für ihre Tüchtigkeit aus deinen Worten? Hast du etwa eine Affäre mit ihr?“

„Aber nein. Sie ist zu alt für mich.“

„Wie alt?“

„Sechzig.“

„Du bist und bleibst unverbesserlich.“

Mischa erhob sein Glas und stieß mit ihr an: „Auf dich, mein Kind!“

„Prost“, erwiderte Laura, nahm aber nur einen kleinen Schluck.

„Elvira ist übrigens von Beruf Übersetzerin und spricht sehr gut Deutsch. Teresita erledigt, wie gesagt, die Büroarbeit auf Gomera. Und Raoul hat in Santa Cruz de Tenerife ebenfalls eine Frau zur Seite gehabt. Leider hat Antonia vor Kurzem gekündigt. Auch sie war außerordentlich engagiert.“

„Drei Engel für Mischa“, warf Laura ein.

„Könnte man sagen.“ Seinem charmanten Lächeln konnte nicht einmal Laura widerstehen, obwohl sie ihm einen strengen Blick zuwarf.

„Außerdem habe ich während der Krise erneut an der Börse zu spekulieren begonnen …“

„Coronagewinnler!“

„Du bist genauso moralisch und politisch korrekt wie deine Mutter.“

„Na und?“, konterte sie, „ist das in deinen Augen etwas Verwerfliches?“

Er schenkte ihr nach.

„Es reicht!“ Sie hielt eine Hand über ihr Glas. „Ich habe hart gekämpft, um mir dieses Scheißzeug abzugewöhnen. Wegen dir werde ich sicher nicht rückfällig. Ein Gläschen genügt!“

„Verzeih! Ich habe nicht gewusst, dass du ein Alkoholproblem hattest.“

„Woher solltest du das auch wissen? Du weißt nichts, absolut nichts über mein Leben in den letzten Jahren, weil du dich eben nicht dafür interessiert hast.“

„Das stimmt nicht! Ich habe dich unzählige Male angerufen und dir mehrere Mails geschrieben. Du hast weder abgehoben noch meine Mails beantwortet. Erst als dieser Coronaspuk ausgebrochen ist, hast du wieder mit mir geredet, besser gesagt, dich zu einer Art Smalltalk mit mir herabgelassen.“

„Warum wohl …? Aber lassen wir das. Überlegen wir lieber, was wir jetzt wegen Mona unternehmen sollen. Wäre es nicht doch gescheiter, die Polizei einzuschalten?“

Seit Ramonas Verschwinden waren vier Tage vergangen. Wenn ein Entführungsopfer nach vierundzwanzig Stunden nicht auftauchte, standen die Chancen schlecht. So hieß es zumindest immer in den Kriminalfilmen.

„Du hast seit Tagen nichts von deiner Frau gehört und findest es nicht der Mühe wert, die Polizei zu verständigen?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Du spinnst komplett! Offensichtlich ist deine Kopfverletzung schlimmer, als die Ärzte angenommen haben.“

„Ich traue den Beamten nicht über den Weg. Sie sind alle korrupt bis in die Knochen. Wer wird in Spanien schon Polizist? Nur ein Ultrarechter, das kannst du mir glauben. Denk an die bestialischen Verbrechen der Guardia Civil während der Franco-Diktatur. Die haben hier den Faschismus genauso im Blut wie wir Österreicher. Vergangenheitsbewältigung ist für die meisten Spanier der herrschenden Klasse und für ihre Handlanger, die Bullen, ein Fremdwort.“

Entsetzt sah Laura ihn an, ging aber nicht auf seine harte Kritik ein, sondern fragte: „Warum, glaubst du, ist bisher keine Lösegeldforderung eingetroffen?“

„Das habe ich dir schon erklärt. Weil es den Entführern nicht ums Geld geht. Sie wollen mich zum Schweigen bringen. Ich habe bereits meinen Leitartikel über die lukrativen Drogengeschäfte auf den Kanaren in der nächsten Ausgabe gecancelt. Hoffe, das wird diese Leute etwas besänftigen. Wenn nicht …“

„Wird dir nichts anderes übrig bleiben, als die Polizei …“

Auch er ließ sie nicht ausreden. „Ich zerbreche mir seit Tagen den Kopf, was die Drogenmafia so aufgebracht haben könnte. Meine Artikel waren zwar sorgfältig recherchiert, aber im Grunde habe ich nicht viel Neues berichtet. In den kanarischen Zeitungen ist Ähnliches zu lesen gewesen.“

Laura nahm ein gerahmtes Foto von der Kommode.

„Mona sieht heute noch toll aus“, sagte sie neidlos.

Ramona war eine aparte Brünette. Sie hatte auffallend hohe Backenknochen und einen olivfarbenen Teint. Ihr rotgefärbtes Haar trug sie zu dem Zeitpunkt, als das Foto gemacht wurde, extrem kurz geschnitten. Auch figürlich hatte sie sich nicht verändert. Sie war eher der androgyne Typ, hatte wenig Busen und schmale Hüften.

„Was hat sie in den letzten Jahren gemacht? Hat sie die Zeitung mit dir gemeinsam aufgebaut? Sie war doch auch Journalistin.“

„Wenn du das Verfassen einer Kolumne über die neuesten Modetrends für eine Frauenzeitschrift als Journalismus bezeichnen willst …“

„Sei nicht so sexistisch!“

Ramona hatte für ein österreichisches Modejournal gearbeitet und war mit Laura und Marlene oberflächlich befreundet gewesen.

„Ihre Tipps, in denen sie unser Label mehrmals erwähnt hat, waren anfangs recht hilfreich für Marlene und mich. Über uns hast du sie ja auch kennengelernt. Tja, eure Affäre war allerdings weniger hilfreich für uns. Außerdem habe ich nie verstanden, warum du sie gleich heiraten musstest.“

„Sie war schwanger.“

„Waaas? Davon höre ich zum ersten Mal! War sie damals nicht schon Mitte vierzig?“

„Ja, es war ihre letzte Chance. Leider hat sie das Kind im dritten Monat verloren.“ Seine feuchten Augen widersprachen seinem lockeren Tonfall.

Laura beherrschte sich, nicht mit ihren Fingern durch sein dichtes Haar zu fahren. „Das tut mir wahnsinnig leid“, sagte sie mitfühlend. „Ich hätte gern Geschwister gehabt.“

Über Gefühle zu reden, gehörte nicht zu Mischas Stärken. „War es dir allein mit deinen Eltern zu fad?“ Er griff nach seinem Glas.

„Allein mit Mama, wolltest du wohl sagen.“

„Geht das wieder los? Ich gebe zu, ich war nie der Typ des treusorgenden Familienvaters.“

„Männer, die im fortgeschrittenen Alter Vater werden, entwickeln oft sehr fürsorgliche Qualitäten.“

„Könnten wir dieses Thema bitte sein lassen?“

„Natürlich, entschuldige bitte … Was hat Mona also so getrieben, nachdem ihr ausgewandert seid? Hat sie dich treu umsorgt in eurem mondänen Zuhause? Bei euch sieht es aus wie auf der Titelseite von Schöner Wohnen. Ich nehme an, das ist ihre Handschrift. Für Möbel und solch bürgerlichen Kram hast du dich doch nie interessiert.“

Sein Lachen entwaffnete sie. Obwohl sie seit ihren Gesichtsoperationen kaum mehr lachte, fiel sie in sein Gelächter mit ein.

„Den Zynismus hast du von mir“, sagte er.