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KNISTERNDE KRIMISPANNUNG VOR DER TRAUMHAFTEN KULISSE VON FLORENZ Edith Kneifl inszeniert ein atemberaubendes Krimi-Drama und erzählt ganz nebenher, aber umso eindrücklicher, interessante Geschichten und kulturhistorische Details über Florenz. DER ZWEITE FALL DES KULT-ERMITTLERDUOS KATHARINA KAFKA UND ORLANDO Familiäre Verpflichtungen führen Orlando, Transvestit mit einem Faible für den Sisi-Look, und seine beste Freundin Katharina Kafka nach Florenz. Was als entspannter Kurztrip geplant war, entwickelt sich jedoch rasch zu einem mörderischen Inferno von Dante'schen Ausmaßen: Wenige Stunden nach ihrer Ankunft taucht die übel zugerichtete Leiche eines Cousins von Orlando auf, und statt in Ruhe dem Sightseeing und langen Einkaufsbummeln zu frönen, werden Katharina und Orlando immer weiter in die Mordermittlungen hineingezogen. Je tiefer sie in der Familiengeschichte wühlen, desto mehr unappetitliche Details tauchen auf: Mädchenhandel und Schlepperwesen, Verbindungen zur italienischen und rumänischen Mafia, Diebstahl und illegaler Handel mit gefälschten Parfüms - es scheint kaum ein kriminelles Geschäft zu geben, in dem die ehrenwerte Florentiner Familie Pazzini nicht ihre Finger hat ... Weitere Krimis mit dem Ermittlerduo Katharina Kafka und Orlando: - Endstation Donau - Blutiger Sand - Schön tot
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Seitenzahl: 292
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Edith Kneifl
Ein Florenz-Krimi
für Angelika
© 2011HAYMON verlagInnsbruck-Wienwww.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7099-7446-9
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz:hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/TirolCoverfoto: © Lorenzo CarlmagnoFotos: © Lorenzo Carlmagno
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„Die Qualen all der Leuteda drunten malen mir ins Angesichtdas Mitleid, das für Furcht du halten magst.“Dante Alighieri, Die göttliche Komödie,Inferno, IV. Gesang
Er schmeckt sein eigenes Blut. Die Faust seines Gegners hat ihn mitten ins Gesicht getroffen, seine Oberlippe ist aufgeplatzt. Verblüfft wischt er sich mit der Hand über den Mund. Dann schlägt er zurück. Zielt auf den Unterleib des anderen. Sein Gegner krümmt sich vor Schmerzen. Torkelt. Fast sieht es aus, als würde er sich im Takt einer bekannten Melodie bewegen.
Woher kommt die verdammte Musik? Irritiert blickt er zur Tür. Beinahe hätte er den zweiten Angriff seines Gegners übersehen. Dieser hält plötzlich einen Fleischerhaken in der Hand und geht damit auf ihn los. Er versucht, ihm den Haken zu entreißen, dreht ihm den Arm auf den Rücken. Der Mann schreit, hält aber den Haken fest umklammert und tritt mit den Füßen nach ihm.
Die Musik ist lauter geworden. Toscas „Certa sono del perdono se tu guardi al mio dolor“ hallt durch den kühlen Raum.
Der andere tritt ihn mit dem Fuß gegen das Knie. Er taumelt. Fängt sich sogleich wieder. Stürzt sich auf den Angreifer. Bekommt sein Handgelenk zu fassen und versucht erneut, ihm den Fleischerhaken zu entwinden.
Heftiges Schnaufen der beiden Kämpfenden mischt sich unter die sehnsüchtigen Klänge von Cavaradossis Arie „E lucevan le stelle“.
Die Linke seines Gegners trifft ihn an der rechten Schläfe. Er sieht ein Flimmern vor den Augen. Die bunten Fliesen an den Wänden erstrahlen wie das Firmament in einer klaren Nacht. Aber er geht nicht zu Boden. Seine Fingernägel krallen sich in das Handgelenk des anderen. Mit voller Wucht stößt er ihm sein Knie zwischen die Beine. Aus der Rauferei ist mittlerweile ein Kampf auf Leben und Tod geworden.
Als sich der Fleischerhaken in den Oberschenkel des Angreifers bohrt, hallt immer noch Cavaradossis Gesang durch den Kühlraum. Die Schreie des Verwundeten übertönen bald den großartigen Tenor. Es sind hohe, fast unmenschliche Schreie. Die Spitze des Fleischerhakens hat sich in die Schlagader des Oberschenkels gebohrt. Als er den Haken herauszieht, schießt das Blut mit solcher Wucht aus der Wunde, dass es bis an die Wand spritzt.
Er greift nach seiner Anzugjacke, drückt sie auf die offene Wunde, versucht vergeblich, den Blutschwall zu stoppen. Den Tod seines Gegners hat er nicht gewollt.
Das schreckliche Kreischen wird schwächer und schwächer. Es wird nicht mehr lange dauern. In ein paar Sekunden wird der andere tot sein. Die Finger, die sich um seine Anzugjacke gekrallt haben, erschlaffen bereits. Ein letztes Röcheln. Es ist vorbei, noch bevor Toscas verzweifeltes „Mario! Mario!“ erklingt.
Nach zehnstündiger Autofahrt drohte mein Kopf zu explodieren. Das Pochen in meinen Schläfen war unerträglich. Was für eine Schnapsidee, mich von Orlando überreden zu lassen, ihn zum Begräbnis seines italienischen Vaters nach Florenz zu begleiten.
Orlandos Vater, ein italienischer Adeliger, war leider nicht mit seiner Mutter, sondern mit einer anderen Frau verheiratet gewesen, als er ihn gezeugt hatte. Trotzdem besaß Orlando eine gewisse Sympathie für die Monarchie. Während der langen Fahrt hatte er mich über seinen komplizierten Stammbaum aufgeklärt, der angeblich bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte, und mir von seiner noblen Verwandtschaft vorgeschwärmt.
Bevor ich angefangen hatte, als Kellnerin zu arbeiten, hatte ich Geschichte studiert und auch einige Vorlesungen in Kunstgeschichte besucht. Momentan konnte ich mich aber für gar nichts begeistern: Die bronzene Kopie des David, der fantastische Blick von der Piazzale Michelangelo auf die Stadt, die älteste Kirche von Florenz, die als eine der schönsten romanischen Kirchen Italiens galt – nichts als vergeudete Schönheit für meine müden Augen.
Es war Mitte Juli und drückend schwül. Der Himmel war grau. Von den Boboli-Gärten strömte warme süßliche Luft herauf. Es roch nach Lorbeer.
Leise fluchend keuchte ich die unzähligen Stufen zu San Miniato al Monte hoch. Orlando hatte sich bei mir eingehängt. Ich schüttelte seinen Arm ab.
„Ich schleppe genug eigene Kilos mit mir herum“, zischte ich ihn an.
„Hat diese Treppe nicht auch Michelangelo gebaut?“, fragte er.
„Was weiß ich. In dieser Stadt ist alles große Kunst“, antwortete ich unwirsch.
Ich war die ganze Strecke von Wien nach Florenz allein gefahren, obwohl Orlando versprochen hatte, mich am Steuer abzulösen. Als ich ihn dann kurz vor Bologna bat, sich ans Steuer zu setzen, hatte er vorgegeben, unter heftigen Bauchkrämpfen zu leiden. Wahrscheinlich besaß er in Wirklichkeit gar keinen Führerschein.
Wir waren mitten in der Nacht losgefahren. Auf der Südautobahn und im Kanaltal war nicht viel los gewesen, aber vor Mestre waren wir in den Frühverkehr geraten und eineinhalb Stunden im Stau gestanden. Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Ein Stau gehört zum Schlimmsten, was mir passieren kann. Der dichte Verkehr hatte bis Florenz angehalten. Wir waren nur im Schneckentempo vorangekommen. In Florenz hatten wir uns verfahren, obwohl Orlando behauptet hatte, diese Stadt wie seine Westentasche zu kennen. Wir waren uns in die Haare geraten, und ich hatte kein Wort mehr mit ihm geredet, bis wir endlich einen Parkplatz in der Nähe der Piazzale Michelangelo gefunden hatten. Nachdem wir uns im Auto rasch für das Begräbnis umgezogen hatten, waren wir zur Kirche geeilt.
San Miniato al Monte war bis auf den letzten Platz besetzt. Halb Florenz schien von dem alten Rudolfo Pazzini Abschied nehmen zu wollen. Jede Menge Fotografen und Journalisten, sogar ein Fernsehteam, waren anwesend.
„Fantastisch“, murmelte Orlando beeindruckt. „Mein Vater war ein berühmter Mann!“
Orlando hatte sich wieder einmal viel zu stark geschminkt. Inmitten all dieser aufgetakelten Society-Ladies fiel er jedoch kaum auf. Zum Glück hatte ich ihn davon abbringen können, sein bodenlanges schwarzes Kleid anzuziehen. Genau genommen hatte ich ihn erpresst: Ich hatte nur eingewilligt, mit zu diesem Begräbnis zu fahren, wenn er nicht in seinem heiß geliebten Sisi-Look auftreten würde. Er hatte sogar auf die Diamantsternchen in seiner Langhaarperücke verzichtet und sich nur in ein wadenlanges, hautenges dunkelblaues Cocktailkleid gezwängt.
„Was sagen eigentlich deine italienischen Verwandten dazu, dass du immer in Frauenkleidern herumläufst?“, fragte ich ihn, als wir die Kirche betraten.
„Lass mich in Frieden“, zischte er.
Der schwarz lackierte Sarg mit den in Gold geprägten Initialen des Verstorbenen wurde von fünf Männern flankiert. Ich erkannte Francesco, den Halbbruder Orlandos, den ich schon auf Fotos gesehen hatte. Ein Mann um die Vierzig, mit dunkelbraunem, langem Haar, auffallend hellblauen Augen und einer klassisch römischen Nase. Er war mittelgroß und gut gebaut.
„Da fehlt noch einer“, sagte ich leise. „Wahrscheinlich haben sie mit dir als sechstem Sargträger gerechnet.“
„Davon hat mir keiner was gesagt“, maulte Orlando. „In diesem Kleid kann ich unmöglich …“
„Psst!“, fauchte jemand in der Reihe hinter uns.
„Mein Cousin Riccardo ist nicht da“, flüsterte Orlando. „Bestimmt war er als sechster Mann vorgesehen.“
Als der Priester mit seiner Predigt begann, hörte ich weg. Das Innere von San Miniato al Monte war voller Kunstschätze. Ich erhaschte einen Blick auf den Kreuzaltar von Michelozzo und das Grabmal, das Rosselino für Kardinal Jacob von Lusitanien errichtet hatte.
„Ich muss mich gleich übergeben“, jammerte Orlando. „Dieser verdammte Weihrauch …“
„Okay. Lass uns kurz verschwinden. Das dauert eh ewig hier“, murmelte ich und deutete ihm, mir zu folgen. Anstatt mit ihm ins Freie zu gehen, zog ich ihn hinter mir her in die Krypta. Wenn ich schon mal hier war, wollte ich mir wenigstens den Altar ansehen, in dem die Gebeine des heiligen Minias lagen.
„Kaiser Decius hat Minias 250 nach Christus enthaupten lassen. Angeblich hat Minias sein abgeschlagenes Haupt aufgehoben und ist damit bis zu dieser Stelle gegangen, an der die Christen dann über seinem Grab die erste Kirche der Stadt errichtet haben“, erklärte ich ihm im Flüsterton. Ich hatte für Märtyrer viel übrig.
„Hör mit deinen Schauergeschichten auf, Katharina, mir ist schlecht“, protestierte er.
Ein Mönch in weißer Kutte kniete allein in der düsteren Krypta. Plötzlich beleuchtete ein Sonnenstrahl, der durch ein winziges vergittertes Fenster drang, sein kahles Haupt.
„Sieht er nicht aus wie der Heilige Geist höchstpersönlich“, sagte ich begeistert.
Orlando zupfte mich am Ärmel meines schwarzen Seidenshirts, das ich mir extra für das Begräbnis gekauft hatte. „Ich finde, wir sollten den Alten nicht bei seiner Meditation stören“, flüsterte er.
Gerade rechtzeitig betraten wir wieder das Kirchenschiff. Die Männer hoben nun den Sarg hoch. Ein Ministrant sprang für den fehlenden sechsten Träger ein. Die Trauergemeinde folgte ihnen in angemessenem Abstand. Orlando wollte sich zu seinen Angehörigen vordrängen. Ich hielt ihn zurück und reihte mich mit ihm in der Mitte des Trauerzuges ein.
Die Sargträger hatten soeben die Treppe erreicht, als ein lauter Schrei ertönte.
Ein großer grauhaariger Mann in offenem Hemd und ohne Krawatte stand am Ende der Treppe und schrie noch einmal: „Riccardo ist tot!“
„Wer ist tot?“ „Was ist passiert?“ „Nein, das darf nicht wahr sein!“ „Um Himmels willen!“ „Der Neffe?“ „Auroras Sohn.“ „Nein, unmöglich, Riccardo?“, schrien die Trauergäste durcheinander.
Eine elegant gekleidete ältere Dame, die knapp hinter dem Sarg ging, fiel in Ohnmacht. Dann brach ein Tumult aus. Alle rannten Richtung Ausgang. Schoben und drängten mit Fäusten und Ellenbogen. Hüte flogen, Schals zerrissen und deftige Flüche ertönten.
Ich ließ mich von der Menge treiben. Passte höllisch auf, nicht zu stolpern, denn ich hatte Angst, niedergetrampelt zu werden. Bald hatte ich Orlando aus den Augen verloren.
Ein lautes Poltern und Krachen. Der Ministrant war weniger vorsichtig gewesen als ich und über den Saum seines langen Gewandes gestürzt. Er hatte Francesco ebenfalls zu Fall gebracht. Der Sarg war ihnen entglitten und rutschte über die Stiegen. Entsetzt folgten hunderte Augenpaare diesem makabren Schauspiel. Der Sarg wurde immer schneller und schneller, raste unter dem Schreien und Stöhnen der Trauergesellschaft die steile Treppe hinunter.
Nach ein paar Schrecksekunden liefen einige Männer dem Sarg nach. Es herrschte das perfekte Chaos. Orlando war nirgends zu sehen. Ich hielt mich abseits von dem Getümmel und zündete mir eine Beruhigungszigarette an.
Als die Männer den ramponierten Sarg wieder die Treppe hinaufschleppten, erklangen vereinzelte Bravo-Rufe.
Die Familie des Verstorbenen war umringt von aufgeregten Menschen. Francesco war kreidebleich. Der Sturz hatte Spuren in seinem hübschen Gesicht hinterlassen. Das Cut über seinem rechten Auge blutete, und seine Oberlippe war aufgeplatzt. Heftig gestikulierend redete er auf die umstehenden Leute ein. Eine Frau in meinem Alter, also um die Vierzig, stand in Tränen aufgelöst neben ihm und klammerte sich an seinen Arm. Der große, stattliche Mann, der die Hiobsbotschaft überbracht hatte, versuchte einen Fotografen davon abzuhalten, Bilder von den aufgebrachten Trauergästen zu schießen. Er bedrohte ihn mit seinen Fäusten und entriss ihm schließlich die Kamera.
Eine Hand berührte meine linke Schulter. Ich zuckte zusammen. Drehte mich um.
„Oh mein Gott, Orlando, wo warst du?“
„Vorne bei meinen Verwandten“, schluchzte er.
Ich legte den Arm um seine Schultern und drückte ihn an mich. „Beruhige dich. Schau, sie bringen deinen Vater schon wieder zurück“, sagte ich und deutete auf den Sarg, der über den Köpfen der Menschen zu schweben schien.
„Riccardo ist tot“, schrie Orlando mich an. „Man hat ihn ermordet“, fügte er leiser hinzu.
„Wer hat das gesagt?“
„Livio. Er hat Riccardos Leiche gefunden.“
„Wo?“
„In seinem Kühlhaus. Livio ist Metzger.“
„Das ist ja entsetzlich.“
„Carla ist völlig aus dem Häuschen. Hoffentlich kippt sie nicht auch um, so wie vorhin ihre Mutter.“
„Carla?“
„Meine Lieblingscousine. Sie ist Riccardos Schwester …“
„Was genau ist passiert?“, unterbrach ich ihn.
„Jemand hat ihn mit einem Fleischerhaken auf…, aufgeschlitzt“, stammelte er. „Er muss verblutet sein. Genaueres weiß ich nicht. Ich habe nur ganz kurz mit Livio reden können.“
„Ist das der große fesche Kerl, der beinahe den Fotografen verprügelt hätte?“
„Ja, das ist Livio Francchetti, der Bruder von Carlas Mutter“, sagte Orlando. „Findest du den fesch? Der ist doch ziemlich dick. Außerdem, seit wann stehst du auf Männer mit Knollennasen und Halbglatzen?“
Ich verdrehte die Augen.
Der Himmel über Florenz hatte sich blauschwarz verfärbt. Ein heftiges Gewitter entlud sich über die feine Gesellschaft. Die meisten Trauergäste eilten zu ihren Autos und brausten davon. Außer den nächsten Angehörigen folgte nur mehr eine Handvoll Leute dem schwer beschädigten Sarg. Orlando hatte irgendwo einen Schirm aufgetan. Wir wurden trotzdem nass.
Die wuchtigen klassizistischen Grabmäler und die verzierten Grüfte erinnerten mich an den Wiener Zentralfriedhof. Allerdings hatten dort die Toten mehr Platz. Auf diesem Friedhof lagen sie sehr beengt. Wohin wir auch gingen, begegneten wir gespenstischen, überlebensgroßen Skulpturen.
Die Presseleute hatten längst das Weite gesucht, dafür schickte der Himmel ein Blitzlichtgewitter herab. Lichter zuckten über die finsteren Gestalten aus Stein hinweg, tauchten sie in unheimliches bläuliches Licht. Ich spürte eine leichte Beklommenheit. Orlando presste sich an mich. Er zitterte am ganzen Körper. Als er über eine Grabumrandung stolperte, stieß er einen leisen Schrei aus.
„Reiß dich zusammen“, fauchte ich ihn an.
Die stark geschrumpfte Trauergemeinde zog vorbei an imposanten Mausoleen und riesigen Monumenten für längst vergessene Tote. Wie viele unerfüllte Träume und Leidenschaften mochten hier begraben liegen, fragte ich mich.
Im hinteren Teil des Friedhofes sahen die Gräber verwahrlost und die Statuen verstümmelt aus. Der Leichenzug machte vor dem Eingang zu einer geräumigen Gruft Halt. Zwei bedrohlich wirkende monströse Engelsfiguren hielten schützend ihre Hände über das mit steinernen Weinranken verzierte Dach. Sie erinnerten mich an Todesengel.
Der Priester segnete den Sarg und murmelte ein paar unverständliche Worte. Ich war erleichtert, dass er auf eine Grabrede verzichtete. Wahrscheinlich hatte er keine Lust, sich eine Lungenentzündung zu holen, er war nicht mehr der Jüngste. So wurde Orlandos Vater ohne weitere Förmlichkeiten in der Familiengruft beigesetzt. In der Eile wurde der Sarg schief in die Gruft hinuntergelassen, was nach dem Glauben der Roma bedeutet hätte, dass der Tote in die Hölle fährt.
Unwillkürlich musste ich an das Begräbnis meiner Eltern denken, die vor nunmehr achtzehn Jahren auf einer USA-Reise grausam ermordet worden waren. Meine Mutter war eine Romni gewesen. Unsere Verwandten in Texas hatten sich um die Beerdigung gekümmert. Ich hatte damals nicht genug Geld gehabt, um die Leichen meiner Eltern nach Österreich überführen zu lassen. Obwohl mein Vater ein Gadje war, ein Nicht-Zigeuner, bestatteten sie ihn an der Seite meiner Mutter. Die Leichenwache dauerte die üblichen sechsunddreißig Stunden. Alle meine „Brüder“ und „Schwestern“ in Texas standen mir bei. Auch die männlichen Mitglieder meiner Sippe zeigten ganz offen ihren Schmerz und ihre Trauer. Weinten und wehklagten, obwohl die meisten von ihnen meine Mutter gar nicht persönlich gekannt hatten. Ich selbst hatte keine Tränen. Ich war damals wie versteinert. Fühlte mich, als wäre ich selbst gestorben. Beim Begräbnis wurden die Lieblingslieder meiner Eltern gespielt. Es war fast komisch, als Elvis Presleys „Jailhouse Rock“ und seine Interpretation von „In the Ghetto“ am offenen Grab erschallten. So manch einer von meinen Leuten beherrschte den sexy Hüftschwung ebenso gut wie der King.
Vereinzelte Seufzer und leises Schluchzen erklangen am Grab von Orlandos Vater. Ich wartete, bis alle den Hinterbliebenen Beileid gewünscht hatten, nahm Orlandos Hand und rannte mit ihm zu meinem Wagen.
„Wie ich aussehe! Einfach schauderhaft“, stöhnte er nach einem Blick in den Rückspiegel.
Ich überhörte seine Klagen. Fuhr mit sechzig Sachen auf der kurvigen Straße hinunter in die Stadt. Meine Laune war am Tiefpunkt angelangt.
„Wohin jetzt?“, fragte ich Orlando genervt.
„Wir treffen uns mit ihnen im Caffè Le Giubbe Rosse auf der Piazza della Repubblica“, sagte er mit weinerlicher Stimme. „Giubbe Rosse war früher das Literatencafé. Leider trifft man heutzutage fast nur mehr Touristen dort. Ich weiß auch nicht, warum meine Familie ausgerechnet in dieses Café wollte.“
Als ich den Wagen in der Nähe des großen Platzes im Parkverbot abstellte, schüttete es nach wie vor.
„Ich muss mich vorher umziehen. So gehe ich nirgends hin“, jammerte Orlando.
Er sah wirklich erbärmlich aus. Sein Kleid war klitschnass, klebte an seinem mageren Körper. Das lange, lockige Perückenhaar hing schlaff herunter und sein Make-up war verschmiert. Ich hatte Erbarmen mit ihm. Packte trockene Sachen in einen Plastiksack und lief mit ihm hinüber in das berühmte Café.
Francesco und seine Cousine Carla saßen an einem Tisch beim Fenster. Carla weinte. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und das Gesicht in ihrem langen Haar vergraben. Wir schlichen an ihnen vorbei Richtung Toiletten.
Das schöne Art-déco-Café war überfüllt. Die Leute standen bis zur Tür. Offensichtlich fand hier gerade eine Vernissage statt. Die Schwarz-Weiß-Fotos gefielen mir, leider kamen sie zwischen all den farbenprächtigen Gemälden und Zeitungsartikeln, die die Wände schmückten, nicht richtig zur Geltung.
Rasch schlüpften wir in unsere trockenen Sachen und setzten uns dann zu Orlandos Verwandten.
„Katharina Ka“a“, stellte ich mich selbst vor.
„Meine Freundin“, fügte Orlando überflüssigerweise hinzu.
Francesco schaute seinen Halbbruder, der in Jeans und T-Shirt und ohne Make-up richtig gut aussah, verblüfft an.
„Habt ihr inzwischen mehr erfahren? Hat man einen Verdacht, wer es getan haben könnte?“, wollte Orlando wissen.
„Nein. Wir warten auf Livio. Ich weiß nicht, wo er so lange bleibt“, sagte Carla weinerlich.
„Vielleicht haben sie ihn verhaftet“, sagte Orlando. „Dein Bruder wurde doch in Livios Metzgerei ermordet, oder?“
„Spinnst du?“, fuhr sie ihn an. „Du hast Livio doch bei deinem letzten Besuch kennengelernt. Er ist ein ganz netter …“ Sie begann nun tatsächlich wieder zu weinen.
Die weitere Unterhaltung verlief etwas einseitig. Orlando stellte alle möglichen Vermutungen an und wandte sich immer wieder an seinen älteren Bruder. Aber Francesco schwieg beharrlich, und Carla heulte nur mehr. Ich erklärte mir Francescos Schweigsamkeit mit dem Schock, den er gerade erlitten hatte. An einem Tag den Vater begraben zu müssen und gleichzeitig einen Cousin durch Mord zu verlieren … Außerdem taten ihm nach dem Sturz über die Treppe bestimmt alle Knochen weh. Das Cut über seiner rechten Augenbraue war nicht so schlimm, seine aufgeplatzte Lippe sah jedoch übel aus.
Ich wandte mich ab und beobachtete das Vernissage-Publikum. Die gleichen gelangweilten Gesichter, das gleiche eingefrorene Lächeln, die gleichen kalten Augen, die gleichen gestylten Typen, wie ich sie von Vernissagen in Wien kannte. Allerdings waren die kunstinteressierten Florentiner noch eine Spur modischer und teurer gekleidet als die typischen Vernissage-Besucher in Wien. Auch die Schnorrer, die ewig Hungrigen und im Leben zu kurz Gekommenen hatten sich eingefunden und plünderten die Delikatessen am Buffet. Die Menschen sind in allen Städten mehr oder weniger gleich – die gleiche Gier, die gleiche Egozentrik, die gleiche Wut, dachte ich nicht zum ersten Mal. Ich wandte mich wieder ab und starrte schweigend hinaus auf den großen Platz.
Der Wind peitschte den Regen gegen die Fenster. Die schwarzen Straßenverkäufer hatten längst ihre Waren zusammengepackt und sich unter die Arkaden geflüchtet. Auf der Piazza della Repubblica, wo sich sonst Einheimische und Touristen von ihren Einkäufen in den eleganten Cafés erholten, hatten sich kleine Seen gebildet. Das altmodische Karussell mit den farbenprächtigen Pferdchen drehte sich nicht mehr. Wassermassen stürzten von seinem Dach auf den Platz. Verwaist auch die kleinen Tische und Stühle vor den Lokalen.
Während ich dem stürmischen Gesang des Regens zuhörte, haderte ich mit meinem Schicksal. Mord und Totschlag schienen mich buchstäblich zu verfolgen. Als ich knapp über zwanzig war, wurden meine Eltern wegen ein paar Dollar niedergemetzelt. Letztes Jahr hatte ich gemeinsam mit Orlando eine Mordserie in Wien aufgeklärt. Und nun war ich wieder in einen Mordfall involviert. Trotz meiner Herkunft glaubte ich nicht an Bestimmung oder ähnlichen esoterischen Schwachsinn. Dennoch fand ich es merkwürdig, dass ich immer wieder in die Probleme anderer Leute verwickelt wurde. Was gingen sie mich an? Mich interessierten ihre Leichen nicht!
Plötzlich betrat Livio Francchetti, der vorhin die Begräbnisfeierlichkeiten gestört hatte, das Café und steuerte auf unseren Tisch zu. Nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten, bat er Carla, nach ihrer Mutter zu sehen, die gerade in der Questura einvernommen wurde. „Wir sollten alle hinübergehen, die Polizei braucht auch eure Aussagen fürs Protokoll. Aber ihr müsst euch nicht beeilen. Trinkt in Ruhe aus.“
Er nahm sich einen Stuhl von einem anderen Tisch und setzte sich zu uns. Seine Hände zitterten, als er nach dem Wasserkrug griff. Mir fiel auf, dass seine kräftigen Finger merkwürdig verkrümmt waren.
Francesco und Orlando überfielen ihn sogleich mit Fragen nach Riccardo. Orlando wollte wissen, warum er denn nichts mitbekommen habe von dem Mord, wo doch Riccardo in seinem Haus, buchstäblich vor seiner Nase umgebracht worden war.
„Ich habe mich oben in meiner Wohnung fürs Begräbnis fertig gemacht und dabei ‚Tosca‘ gehört.“ Er summte ein paar Takte und sah mich unsicher an. Er hatte wunderschöne, dunkelbraune, ja fast schwarze Augen. Außerdem fand ich seinen Mund sehr sinnlich. Er hatte auch keine Glatze, wie Orlando behauptet hatte, sondern nur kahle Schläfen, und dick war er auch nicht, er hatte nur ein kleines festes Bäuchlein, wie so viele Männer in seinem Alter. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig.
„Opernmusik muss man, genauso wie Rockmusik, laut genießen, sonst ist es das halbe Vergnügen. Deshalb konnte ich nichts hören. Abgesehen davon ist die Tür zum Kühlhaus fast schalldicht.“
„Was hatte Riccardo in deinem Kühlraum zu suchen? Wie kam er dort überhaupt rein?“, fragte Francesco.
„Ich hatte die Metzgerei nicht zugesperrt. Als ich hinunterging, sah ich ihn gleich zwischen all den Schweine- und Rinderteilen …“
„Das Kühlhaus hat eine Glastür, musst du wissen“, warf Francesco ein, als er meinen irritierten Blick bemerkte.
„Obwohl ich an den Anblick von Blut durchaus gewöhnt bin, drehte es mir den Magen um, als ich Riccardo mit aufgeschlitztem Bein in einer riesigen Blutlache vor mir liegen sah“, fuhr Livio fort. „Der blutige Fleischerhaken lag neben ihm …“ Er hielt inne, stöhnte und bedeckte seine schönen Augen mit beiden Händen. Carla begann laut zu schluchzen.
„Er wurde offenbar von einem sehr wütenden Mann umgebracht“, konstatierte ich nüchtern.
„Ja. Der Mörder hat heftig zugestochen. Die Schlagader war völlig zerfetzt. Riccardo muss wohl versucht haben, die Blutung mit seiner Anzugjacke zu stoppen. Die Jacke war mit Blut durchtränkt …“ Er stieß sein Wasserglas um. Der gute Mann schien nicht nur sehr nervös zu sein, sondern auch tollpatschig. Sogleich eilte ein Kellner herbei und wischte den Tisch ab.
Livio bestellte eine Runde Grappa. Bestimmt hatte er diese Infusion von uns allen am dringendsten nötig.
Als wir gemeinsam das Café verließen, hatte sich das Gewitter verzogen. Die Luft war frisch und angenehm kühl. In der Questura herrschte hingegen eine Luftfeuchtigkeit wie in einem Dampfbad. Entweder war die Klimaanlage ausgefallen oder es gab keine. Nassgeschwitzte Kriminalbeamte liefen fluchend und telefonierend auf dem Gang hin und her. Zum Glück mussten wir nicht lange warten. Carla und Francesco kamen nach wenigen Minuten wieder heraus. Orlando und ich wurden nicht einvernommen. Wir hätten den Beamten auch nicht viel erzählen können.
Da alle weiteren Begräbnisfeierlichkeiten abgesagt waren, standen wir nun ratlos auf der Straße vor dem Polizeigebäude.
Francesco hatte uns im Landhaus der Pazzinis einquartiert, da im Palazzo seine sizilianischen Verwandten übernachteten, die ebenfalls zum Begräbnis angereist waren. Orlando hatte mir das Landgut mit begeisterten Worten beschrieben. Ich wäre am liebsten gleich dorthin gefahren. Andererseits war ich aber hungrig. Seitdem ich in Florenz angekommen war, hatte ich noch keinen ordentlichen Bissen zwischen die Zähne gekriegt.
„So schrecklich diese ganze Geschichte ist, ich muss jetzt etwas essen“, sagte ich energisch.
Nach kurzem Zögern erklärte sich Livio bereit, mit uns essen zu gehen. Carla wollte nicht mitkommen. Francesco verabschiedete sich ebenfalls von uns.
„Ich hoffe, du verstehst, dass ich mich leider um unsere anderen Gäste kümmern muss. Außerdem gibt es jede Menge bürokratischen Kram zu erledigen. Draußen ist alles für euch vorbereitet“, sagte Francesco entschuldigend zu seinem Bruder. „Wir sehen uns in den nächsten Tagen.“
Livio schlug vor, bei einem seiner Freunde einzukehren, der ein Lokal außerhalb der Stadt in den Hügeln von Florenz hatte. „Es liegt fast am Weg zum Landhaus der Pazzinis. Ich lotse euch nachher zurück zur Hauptstraße. Von dort sind es zwanzig Minuten mit dem Auto.“
Der Himmel war nach wie vor grau, aber zögernd wagten sich schon wieder ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Livio fuhr voraus. Er fuhr langsam. Ich hatte keine Mühe, ihm durch die engen mittelalterlichen Gassen von Florenz zu folgen. Die weniger touristischen Viertel wirkten wie ausgestorben.
„Anscheinend flüchten die Florentiner genauso wie die Wiener im Sommer aus der Stadt“, murmelte ich.
Orlando schwieg. Er bemühte sich, sein Make-up zu erneuern, was bei den vielen Ampeln kein Kunststück war.
„Kannst du nicht ein bisschen sanfter auf die Bremse steigen?“, knurrte er mich trotzdem an. „Beinahe hätte ich mir mit dem Kajalstift das Auge ausgestochen.“
„Kannst du deine Renovierung nicht auf der Toilette des Lokals erledigen?“
Orlando würdigte mich keiner Antwort. Erst als wir auf einer von Pappeln gesäumten Straße bergan fuhren, machte er sich wieder bemerkbar: „Dieses Restaurant ist etwas ganz Besonderes. Ich war früher mal mit Livio und meinem Vater da. Damals konnte er noch laufen.“
Orlandos Vater hatte seine letzten beiden Lebensjahre im Rollstuhl verbracht. Raucherbein. Seit ich das wusste, musste ich bei jeder Zigarette unweigerlich an seinen amputierten linken Unterschenkel denken. Ich hatte mir fest vorgenommen, meine Raucherei zumindest einzuschränken. Orlando hatte vor drei Monaten aufgehört und war zum militanten Nichtraucher mutiert, der bei jeder Zigarette, die ich mir anzündete, meckerte.
„Die Rezepte, nach denen sie kochen, stammen hauptsächlich aus der Feder der kalabrischen Mutter des Besitzers“, sagte Livio, nachdem wir unsere Autos auf dem kleinen Platz gegenüber dem Lokal geparkt hatten.
Das Gewitter war nur über dem Zentrum von Florenz niedergegangen. Hier oben war alles trocken. Wir bekamen einen Tisch in der Veranda. Geistesabwesend schaute ich hinunter auf die florentinischen Hügel, die in der Abendsonne golden schimmerten.
„Mein Freund ist ein wahrer Kochkünstler. Seine Kreationen fallen unter Eat-Art“, bemühte sich Livio, das Gespräch in Gang zu halten. Ich hörte ihm zu, in Gedanken war ich jedoch bei dem Mord an dem jungen Florentiner.
Orlando studierte ausführlich die Speisekarte. Entschied sich schließlich für hausgemachte Gnocchi mit Gemüsepesto. Das Tartare di manzo, das uns Livio empfahl, verweigerte er als Vegetarier natürlich.
Während des Essens fragte ich Livio: „Hatte Riccardo eigentlich irgendwelche Feinde?“
„Keine Ahnung. Mein Neffe hat sein eigenes Leben gelebt. Ich habe ihn selten gesehen.“
„Was hat er beruflich gemacht?“
„Er hatte Wirtschaft studiert und nach seinem Studium gemeinsam mit seinem Onkel, später dann allein die Firma geleitet. Anscheinend liefen die Geschäfte in letzter Zeit wieder besser. Denn er hat sich erst vor Kurzem einen neuen Alfa Spider gekauft.“
„Was für eine Firma?“
„Sein Vater war ein bekannter Parfümhersteller. Leider ist er vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Riccardo hat mit Hilfe von Orlandos Vater die Profumeria so recht und schlecht über die große Krise gerettet.“
„Dass es so was hier gibt! Unglaublich!“, unterbrach uns Orlando mit einem lauten Aufschrei. Auf der Dessert-Karte hatte er Veilcheneis entdeckt.
Bevor er zu einem Vortrag über seine geliebte Kaiserin ansetzen konnte, sagte ich rasch zu Livio: „Orlando ist ein großer Verehrer der österreichischen Kaiserin Sisi. Angeblich hat die Kaiserin Veilcheneis geliebt und sich fast ein Jahr lang nur davon ernährt. Ihre Essstörungen sind ja geradezu legendär.“ Ich schickte Orlando, der gerade zu Protest ansetzte, einen warnenden Blick. „Ihren Hungerkuren folgten die üblichen Fressattacken. Soviel ich weiß, hat sie sich nach solchen Eis-Diäten kiloweise Süßigkeiten von der k.u.k. Hofbäckerei Demel liefern lassen.“
Orlandos Tritt gegen mein Schienbein tat weh. Um ihn wieder versöhnlich zu stimmen, bestellte auch ich ein Veilcheneis.
Nach dem Essen cremte sich Livio die Hände mit einer merkwürdig riechenden Salbe ein.
„Pardon, ich weiß, ich sollte mir das stinkende Zeug nicht bei Tisch raufschmieren. Aber ich habe Arthritis.“
Der Wirt kam gerade an unserem Tisch vorbei und spendierte uns einen Grappa. „Hilft besser gegen Schmerzen als jede Medizin“, sagte er augenzwinkernd zu Livio.
Ich verweigerte den Trester mit dem Hinweis, dass ich Auto fahren müsse.
Plötzlich begann Livio zu singen: „Si ridesta in ciel l’aurora, e n’è forza di partir; mercè a voi, gentil signora, di sì splendido gioir.“
Hatte er einen kleinen Schwips? Er hatte nicht viel getrunken, ein Gläschen pro Gang. Aber anders konnte ich mir seine plötzliche Fröhlichkeit nicht erklären. Der Tod seines Neffen schien ihm nicht mehr besonders nahezugehen.
Livio hatte eine kräftige Stimme. Die Gäste an den anderen Tischen schauten belustigt zu uns herüber. Kaum hatte er seine Arie aus „La Traviata“ beendet, griff er nach seinem Schnapsglas und stieß mit Orlando und mir an.
Ich nahm nun doch einen Schluck von dem köstlichen alten Grappa. Das wunderbare Essen hatte mich in meiner Vermutung bestärkt, dass die beste Küche Europas in der Toskana beheimatet ist. Hier würde selbst ich als eingeschworener Junk-Food-Fan zum Gourmet werden.
Als wir gegen zweiundzwanzig Uhr das Lokal verließen, war ich in richtig romantischer Stimmung. Die Grillen zirpten in der warmen Nachtluft. Tausende Sterne blinkten und ein riesiger Mond leuchtete rötlich am toskanischen Himmel.
Ich verabschiedete mich von Livio mit einer herzlichen Umarmung. Aber ich spürte, wie er sich in meinen Armen versteifte und ließ ihn wieder los. Er hatte sich den ganzen Abend lang sehr aufmerksam um mich gekümmert. Meine stürmische Umarmung war ihm anscheinend zu viel gewesen.
Auf der Fahrt zum Landhaus machte mir Orlando prompt eine kleine Eifersuchtsszene.
„Dieser Metzger gefällt dir, oder? Er ist viel zu alt für dich“, sagte er.
„Kennst du ihn näher?“, fragte ich grinsend.
„Nein.“
„Stell dich nicht so an. Was weißt du über ihn?“
„Er ist der Bruder von Carlas Mutter und bestimmt schon fünfzig.“
„Danke. Das habe ich inzwischen selbst begriffen.“
„Soviel ich weiß, stammen seine Vorfahren aus den Abruzzen. Deshalb ist er auch so groß und stark, ein richtiger Abruzzenbär, nicht wahr?“
„Hör auf, du Blödian“, sagte ich lachend.
„Okay. Soweit ich weiß, ist er nicht nur Metzger, sondern auch Wirt.“
„Sein Lokal würde ich gern mal sehen.“
„Wir gehen bestimmt mal hin. Übrigens ist er ein perfekter Entertainer, der sich um die Werbung für die traditionellen Speisen dieser Region sehr verdient gemacht hat. Sein Geschäft ist inzwischen eine echte Touristenattraktion.“
„Mich würde eigentlich mehr interessieren, wie er privat so ist.“
„Du meinst, ob er verheiratet ist?“, fragte Orlando grinsend. „War er. Seine Frau hat sich vor einigen Jahren von ihm scheiden lassen. Frag mich jetzt bitte nicht, warum.“
„Warum?“
„Er hat sie verprügelt.“
„Wie bitte?“
„Ja. Er hat sie mit meinem Bruder im Bett erwischt und beide buchstäblich aus dem Haus geprügelt.“
„Mit Francesco?“
„Hab ich denn einen anderen Bruder?“
„War seine Frau viel jünger als er?“
„Ein paar Jährchen vielleicht, aber sicher einige Jahre älter als Francesco. Solche Kleinigkeiten stören ihn nicht. Mein Brüderchen ist ein großer Womanizer. Nimm dich in Acht vor ihm!“
Ich nickte gelangweilt. Francesco interessierte mich nicht. Er war ein Schönling, der Inbegriff des Latin Lovers. Von solchen Typen hatte ich ein für alle Mal die Nase voll. Aber Männer, die ihre Frauen verprügelten, mochte ich natürlich erst recht nicht. Ich beschloss, diesem brutalen Teddybären in Zukunft lieber aus dem Weg zu gehen.
„Unsere Familie gehörte früher zu den vornehmsten von Florenz. Vielleicht stammen unsere Vorväter von der berühmten Pazzi-Familie ab, aber das ist nur ein Gerücht“, gab Orlando wieder mit seiner Familie an.
„Weißt du, dass ‚pazzi‘ auf Deutsch ‚verrückt‘ bedeutet? Sei froh, dass du den Nachnamen deiner Mutter hast, denn sonst würdest du auch ‚die kleinen Verrückten‘, heißen“, sagte ich vergnügt. War ich genauso beschwipst wie Livio?
„Nachnamen lassen sich nicht eins zu eins übersetzen.“
„Stimmt nicht. Kafka bedeutet zum Beispiel auf Deutsch ‚Dohle‘.“
„Lass den Quatsch! Vielleicht solltest du in Zukunft nicht nur weniger rauchen, sondern auch weniger saufen.“
„Andererseits würde Orlando Pazzini sehr hübsch klingen“, fuhr ich fort, meinen humorlosen Freund zu provozieren.
„Willst du mehr über meine Familie erfahren oder nicht?“, fragte er gereizt.
„Ja bitte“, sagte ich artig und mit bemüht ernster Miene.
„Leider hat Riccardos Vater das Parfümunternehmen, das er gemeinsam mit meinem Vater geführt hatte, heruntergewirtschaftet. Francescos Mutter, eine reiche sizilianische Gutsbesitzerin, ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Francesco hat nach ihrem Tod einiges geerbt. Aber der Palazzo Pazzini gehört beiden Familien, also auch Aurora und Carla.“
„Sie wohnen alle gemeinsam dort?“
„Ja, die ganze Sippe wohnt unter einem Dach. Du wirst den Palazzo in den nächsten Tagen sehen. Sobald die sizilianische Verwandtschaft weg ist, ziehen wir dort ein.“
Ich sah ihn skeptisch an. Vorhin hatte ich eher den Eindruck gehabt, dass sein Halbbruder froh war, uns nicht auch noch am Hals zu haben.
„Der Tod unseres Vaters war sozusagen Francescos letzte Rettung“, fuhr Orlando fort, über seinen Bruder zu lästern.
„Was willst du damit andeuten?“
„Nein, nicht, was du denkst. Er hat unseren Papa sicher nicht umgebracht. Sein Tod kommt ihm trotzdem gelegen. Francesco hat sich nie für die Firma interessiert, er will lieber Künstler sein. Zugegeben, seine Bilder sind nicht schlecht, aber er verdient damit sicher kein Geld“, sagte er in abfälligem Ton.
Ich verkniff mir ein spöttisches Lächeln. Denn auch Orlando versuchte sich, seit er mit siebzehn die Schule abgebrochen hatte, als Maler – leider erfolglos. Zum Glück fand er immer wieder einen Job als Barkeeper in einem der vielen Wiener Schwulenlokale. Es überraschte mich nicht, dass er den gutaussehenden Francesco nicht ausstehen konnte, spürte aber, dass er auf den legitimen Sohn seines Vaters nicht nur eifersüchtig war, sondern ihn insgeheim auch bewunderte.
„Ich bin übrigens gespannt, ob ich was erben werde. Die Testamentseröffnung wird ja schon nächste Woche stattfinden.“
Der Mond leuchtete silbern, wie es sich gehörte, und tauchte die bewaldeten Hügel links und rechts der kurvenreichen Straße in milchigen Glanz. Ich hatte alle Fenster heruntergelassen, genoss unsere Fahrt durch die samtene toskanische Nacht, den lauen Fahrtwind, den Duft der üppigen Vegetation. Bald bogen wir auf einen unasphaltierten Weg ein und fuhren im Schritttempo weiter. In der Ferne sahen wir vereinzelt Lichter hinter den Fenstern abgelegener Bauernhöfe.
„Stopp! Ich glaube, hier ist die Einfahrt“, rief Orlando, als die Abzweigung mindestens fünfzig Meter hinter uns lag. Ich setzte kommentarlos zurück.
Die Zypressenallee erinnerte an bessere Zeiten. Mein kleiner Skoda wirbelte mächtig Staub auf. Ich fuhr nicht schneller als 20 km/h, legte einen wenig eleganten Slalom hin, um die Räder meines Wagens nicht in den tiefen Löchern der Schotterstraße zu versenken.
„Verdammte Scheiße“, fluchte ich lautstark und stieg auf die Bremse, als ein lebensmüder Hase, geblendet von den Scheinwerfern, mitten am Weg eine kleine Verschnaufpause einlegte.
„Eine Dame wirst du nie“, sagte Orlando vorwurfsvoll. Seit wir italienischen Boden unter den Füßen hatten, sprach er nasales Schönbrunner-Deutsch.
„Steig lieber aus und verjag das blöde Vieh“, sagte ich wütend, denn das Häschen traf keine Anstalten zu verschwinden. Erst als Orlando ausstieg, ergriff es die Flucht.
Ich fuhr vor bis zu einer hohen Mauer, die von der Fassade eines zweistöckigen Gebäudes überragt wurde. Das eiserne Tor stand offen. Ich fuhr hinein. Die Scheinwerfer meines Wagens beleuchteten eine arg heruntergekommene Villa. Der Verputz war rissig und stellenweise abgeblättert. Das Dach sah undicht aus. Die Fensterläden waren geschlossen. Das ganze Anwesen wirkte verlassen.
Ich parkte direkt vor der Eingangstür. „Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Orlando und hupte unabsichtlich.
„Du weckst die Leute auf“, meckerte Orlando.
„Welche Leute? Außer uns ist doch keiner hier.“
„Bist du nachtblind? In der Scheune brennt Licht.“
Jetzt bemerkte auch ich den schwachen Lichtschein.