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DIE WIENER OPER ZU SISIS ZEITEN - FEUDAL UND MÖRDERISCH! Gestatten - Gustav von Karoly, Privatdetektiv und Lebemann im Wien der Jahrhundertwende, leidenschaftlicher Liberaler, Halbadeliger und großer Freund der Frauen. Nachdem seine Angebetete Dorothea im fernen Zürich weilt, steht Ablenkung auf dem Programm. Was bietet sich mehr an als die feudale Hofoper? Gespielt wird Otello. Doch als sich dieser den unvermeidlichen Dolchstoß verpasst, sackt er getroffen zu Boden - das Blut ist echt. Der Dolch also auch ... DIE KNISTERNDE EROTIK DER WIENER VARIETÉS TRIFFT AUF DEN CHIC DES FIN DE SIÈCLE Der charmante Privatdetektiv sieht das Drama mit an und stürzt sich volley in die Ermittlungen. Was steckt hinter der Bluttat: Eifersucht, Rache, Konkurrenz? Schnell stellt sich heraus - verdächtig ist so mancher im hochwürdigen Ensemble. Doch ebenso wenig wie die Polizei kommt Gustav weiter in dem Fall. Um seine Frustration darüber zu bekämpfen, amüsiert er sich in den sündigen Wiener Varietés. Bis der nächste Mord passiert. DRAMATISCHES FINALE IM MONDÄNEN K.K. SEEBAD OPATIJA Zwischen kaiserlicher Oper, Café Sacher und Wiener Graben stellt Gustav von Karoly seine Nachforschungen an. Die Spuren führen ihn schließlich auf der berühmten Südbahnstrecke über den Semmering direkt ins mondäne Sommerfrische-Paradies des europäischen Hochadels: nach Opatija in die Villa Neptun (heute Hotel Miramar). Dort erwartet Gustav nicht nur eine betörend-schöne junge Sängerin, sondern auch ein dramatischer letzter Akt: Königlich-kaiserliches Krimivergnügen!
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Seitenzahl: 305
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Edith Kneifl
Der Tod liebt die Oper
Ein historischer Wien-Krimi
Ich wollte heute Abend um keinen Preis auftreten. Mein sechster Sinn sagte mir, dass etwas Schreckliches passieren würde.
„Cave Idus Martias – Hüte dich vor den Iden des März“, mit diesen Worten wurde der große Julius Caesar am Tage vor seinem gewaltsamen Tod von einem Augur gewarnt.
Der Wiener Hofoperndirektor Gustav Mahler machte sich über meinen Aberglauben lustig. Selbst mein Impresario nahm meine Vorahnung nicht ernst. „Du singst nicht den Julius Caesar, sondern den Otello!“, sagte mir Theodore lachend ins Gesicht und winkte mit einem Vertrag für ein Gastspiel an der Mailänder Scala.
Das Honorar war sehr verführerisch. Außerdem würde der Meister, also Giuseppe Verdi höchstpersönlich, der Vorstellungen beiwohnen, und der neue Star am Dirigentenhimmel, Arturo Toscanini, würde am Pult stehen. Die Versuchung war zu groß. Ich unterschrieb und versprach in der heutigen Aufführung mein Bestes zu geben. – Und damit nahm das Unheil seinen Lauf.
Mein Lampenfieber war schlimmer denn ja. Wie ein Verrückter lief ich hinter der Bühne hin und her, schnauzte jeden, dem ich begegnete, an, verscheuchte sogar die Maskenbildnerin aus meiner Garderobe. Dem Souffleur, der mir sowieso ein Dorn im Auge war, weil er mir in den letzten Vorstellungen öfters ein paar Sekunden zu spät das Stichwort gegeben hatte, drohte ich seine Entlassung an, wenn er heute nicht aufmerksamer wäre. Und zuletzt zerbrach ich einen Spiegel in der Garderobe meiner Geliebten. Ich war zu ihr geeilt, um ihr von dem Engagement in Mailand zu berichten.
„Und wer singt die Desdemona?“, fragte sie, anstatt mir zu gratulieren.
Jetzt erst bemerkte ich die Reste von weißem Pulver auf ihrem Handspiegel.
„Du sicher nicht, wenn du weiterhin dieses gefährliche Zeug schnupfst. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst damit aufhören.“
Ihre hübschen Züge röteten sich vor Zorn. „Du hast mir gar nichts zu verbieten“, schrie sie und warf den Handspiegel nach mir. Ich fing ihn auf und schleuderte ihn zurück.
Maria war im Fangen weniger geschickt als ich, der Spiegel knallte mit voller Wucht gegen den Schminktisch und zerbrach in mehrere Teile. Der kaputte Spiegel versetzte mich in größeres Entsetzen als die Iden des März.
„Sieben Jahre Unglück“ schreiend, stürzte ich davon. Marias höhnisches Gelächter verfolgte mich bis in meine eigene Garderobe.
Bei der Vorstellung lief anfangs alles bestens. Sobald ich auf der Bühne stand, war meine Nervosität verflogen. Meine Partien im ersten Akt bestritt ich fehlerlos. Theodore Kramer, der die ganze Zeit, eine nach der anderen rauchend, hinter den Kulissen stand, lächelte mir jedes Mal aufmunternd zu, wenn ich die Bühne verließ. Am liebsten hätte ich diesem intriganten Kerl sein falsches Grinsen mit einem Faustschlag aus dem Gesicht gewischt. Wusste ich doch, dass er hinter meinem Rücken eine große Karriere für meinen Rivalen Jakob Doma plante. Dieser kroatische Fischer kann mir natürlich nicht das Wasser reichen. Trotzdem, für zwei Tenöre ist kein Platz bei ein und demselben Agenten. Entweder Theodore annulliert den Vertrag mit Doma oder ich suche mir einen neuen Impresario – das habe ich ihm heute Nachmittag ins Gesicht gesagt. Theodore ist Italiener wie ich, aber er hält sich wohl zu viel in Wien auf, denn mittlerweile hat er diese schleimige, hinterfotzige Art der sogenannten besseren Wiener Gesellschaft angenommen.
Als ich im dritten Akt meiner Wut und Verzweiflung über Desdemonas vermeintliche Untreue freien Lauf ließ, „Gott! Wären auf mich gehäuft alle Qualen …“, hatte ich das Publikum endgültig für mich gewonnen. Ich bekam sogar Szenenapplaus für meine wehmütige Arie, etwas Besonderes in dieser Stadt, denn das Wiener Opernpublikum ist nun einmal das verwöhnteste und schwierigste der Welt. Pfiffe und höhnisches Gelächter von den Stehplätzen und den billigen oberen Rängen sind keine Seltenheit. Gerade diese leidenschaftlichen Musikliebhaber verziehen einem nicht den geringsten Fehler. Ein falscher Ton und alles ist aus. Für immer. Schon so manche Sängerkarriere endete schmählich in der Wiener Hofoper.
Als ich mich wieder und wieder vor dem jubelnden Publikum verbeugte, warf ich meinen Kollegen einen kurzen Blick zu.
Maria, die die Desdemona sang, war vor Neid erblasst. Cassio und Jago sahen finster drein. Nur Alma, die die Emilia gab, lächelte mich begeistert an. Meine Alma ist eben eine gute Haut, aber unheimlich naiv. Wie könnte sie sonst weiterhin mit Maria Cerruti so eng befreundet sein, nachdem ich sie wegen ihr verlassen habe?
Maria hatte heute ihre schwierige Arie, in der sie ihre Unschuld beteuerte, hervorragend hinbekommen. Alles war, wie gesagt, ausgezeichnet gelaufen. Doch in der Schlussszene ist es dann zum Eklat gekommen.
„Keiner fürchtet den bewaffneten Feldherrn …“, hob ich an.
Das Publikum auf den billigen Plätzen begann wieder zu jubeln.
Ich übertönte ihr Gekreische: „… Desdemona! Desdemona! Ach! Tot! Tot! Tot!“, zog den Dolch aus dem Gewande, sang „Mir blieb der Dolch!“ und stach ihn mit voller Wucht in meine Brust.
Während das Orchester die Melodie des Liebesduetts aus dem ersten Akt wieder aufnahm, sank ich neben Desdemona nieder und schluchzte mit letzter Kraft: „Einen Kuss … einen Kuss … und noch einen Kuss.“
Verwundert starrte ich auf das Blut, das aus meiner Brust sickerte. Wie war das möglich? Theaterdolche waren vollkommen ungefährlich. Mir tat nichts weh, ich fühlte mich aber leicht benommen.
Plötzlich erblickte ich das entsetzte Gesicht Cassios über mir. Während es mit Desdemonas lieblichem Antlitz zu einer grotesken Maske verschwamm, hörte ich mich „… einen Kuss“ röcheln. Verzerrte, fürchterliche Grimassen schneidende Gestalten kamen bedrohlich näher, und auf einmal sah ich nichts mehr, spürte nur einen schrecklichen Schmerz in meiner Brust.
„Otello ist tot!“
Die kräftige Stimme von Marie Luise, Gustav von Karolys Halbschwester, drang bis in sein Zimmer, obwohl die Tür zum Vorraum geschlossen war.
Am liebsten hätte er zurückgeschrien: „Dieser Trottel hat den Tod mehr als verdient.“
Er besann sich jedoch auf seine guten Manieren, legte seinen Morgenmantel ab und wusch sich ordentlich in der großen Schüssel, die auf der Kommode neben seinem Bett stand.
Inzwischen teilte Marie Luise von Batheny Gustavs Tante in kurzen Worten mit, was gestern Abend in der Wiener Hofoper passiert war.
Josefa, Gustavs ehemaliges Kindermädchen, die heute Haushälterin, Dienstmädchen und Köchin in einem für die Karolys spielte, hörte ebenfalls aufmerksam zu.
Als jedoch Gustav nach ihr rief, eilte sie sofort in sein Zimmer.
„Ich brauche dringend einen starken Kaffee. Ohne Kaffee ertrage ich die liebe Marie Luise nicht. Es ist erst acht Uhr! Hat sie denn überhaupt keinen Genierer?“
„Der Otello ist tot“, flüsterte Josefa.
„Na und? Muss sie mich deswegen in aller Herrgottsfrüh aus dem Bett jagen? Ich habe ihr hundertmal erklärt, dass diese Angewohnheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit unangemeldet bei Leuten hereinzuschneien, nicht gerade comme il faut ist. Ich weiß, sie hat dieses unmögliche Benehmen von Ihrer Majestät, Kaiserin Elisabeth – Gott hab sie selig –, übernommen, aber sie ist eben nicht die Kaiserin.“
„Reg dich bitte nicht so auf, Gustl. Jede Art von Aufregung ist in deinem Zustand schlecht für dich, hat der Herr Doktor gesagt.“
„Wie soll ich mich nicht aufregen, wenn mich jemand wegen irgendeines toten Opernsängers um meine kostbare Nachtruhe bringt?“
„Soviel ich mitgekriegt hab, hat er sich nicht selbst umgebracht.“
„Ah, du meinst, sie hat einen neuen Fall für mich? Kein Interesse. Ich bin krank.“
„Gustav, zieh dich endlich an!“
Josefas energischer Ton verfehlte nicht seine Wirkung.
Er griff nach Hemd und Hose, die ordentlich auf einem stummen Diener hingen, und schlüpfte hinein. „Zuerst will ich einen Kaffee“, murmelte er trotzig.
„Den kannst du in der Küche trinken.“ Seinen Protest überhörend, verließ die alte Frau mit der schweren Waschschüssel in den Händen sein Zimmer.
Während sich Gustav von Karoly fertig ankleidete und ein Zigarillo zur Beruhigung rauchte, beklagte sich Vera bei Marie Luise über ihren Neffen. „Sein Liebeskummer ist mittlerweile in eine richtige Melancholie ausgeartet.“
„Das eine bedingt das andere …“, warf Marie Luise ein. „Deshalb habe ich ihn ja in letzter Zeit öfters zu den Soireen und Kammerkonzerten in unserem Palais eingeladen. Aber er ist nie erschienen.“
„Ich weiß, trotzdem vielen Dank für Ihre Versuche, ihn außer Haus zu locken. Er geht fast überhaupt nicht mehr aus, bläst andauernd Trübsal. Angeblich laboriert er seit Wochen an einer Erkältung, nur ist davon wenig zu bemerken. Er ist nicht einmal verschnupft.“
Vera von Karoly, die ihren Neffen über alles liebte und normalerweise viel Verständnis für seine Stimmungsschwankungen zeigte, verwünschte diesen Hypochonder in letzter Zeit.
Gustav befürchtete nach wie vor, dass seine große Liebe Dorothea, die gerade in Zürich ihr Medizinstudium beendete, wieder zu ihrem Ex-Verlobten Dr. Jank zurückkehren könnte. Dorothea hatte lange nichts von sich hören lassen. In ihrem letzten Brief vom 14. Februar hatte sie von der Auflösung der Verlobung geschrieben. Wer weiß, was mittlerweile passiert war? Womöglich hatten sich die Verlobten inzwischen wieder versöhnt?
Gustav von Karolys Ruf als Privatdetektiv war ausgezeichnet, vor allem, seit er den Mord am Wiener Dombaumeister aufgeklärt hatte. Er konnte sich vor Aufträgen kaum retten, vertröstete aber alle neuen Auftraggeber auf später, behauptete, völlig ausgebucht zu sein und lag lieber im Bett, las die Neuausgabe der Schriften von Friedrich Nietzsche und die jüngsten Veröffentlichungen des Wiener Seelenarztes Dr. Sigmund Freud.
Das fürstliche Honorar, das er von den Freimaurern für seinen letzten Fall kassiert hatte, schwand dahin. Seine Tante würde wohl oder übel demnächst wieder schlecht geschriebene Dissertationen gutsituierter Studenten redigieren oder besser gesagt neu schreiben und weiterhin Artikel für die Österreichische Illustrierte verfassen müssen. Dabei hatte sie gerade Wichtigeres zu tun. Ihre Mitstreiterinnen hatten sie beauftragt, eine mindestens zwanzig Seiten lange Kampfschrift für die Zulassung von Frauen an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien zu verfassen. Vera von Karoly kämpfte seit Jahren für die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium. 1897 hatten sie und ihre Freundinnen einen Teilerfolg erzielt. Damals wurden erstmals Frauen an der Philosophischen Fakultät angenommen. Nun ging es um die Eroberung des Medizinstudiums. Aus diesem unbezahlten Projekt würde nichts werden, wenn Gustav so weitermachte. Am liebsten hätte sie ihren Neffen zur Hölle geschickt.
Als sich Gustav von Karoly zu den Damen gesellte, verstummten die beiden Frauen.
Das Speisezimmer in der Wohnung der Karolys über den k.k. Hofstallungen war durch einen schweren Vorhang aus dunkelrotem Brokatstoff von der Küche getrennt. Man hörte Josefa hinter dem Vorhang mit Töpfen und Tassen hantieren.
Marie Luise starrte ihren Halbbruder entsetzt an.
„Du siehst verheerend aus. Hast du in letzter Zeit einmal in einen Spiegel geschaut?“
Gewöhnt an ihre direkte Art, war er nicht einmal gekränkt. Außerdem hat sie ja recht, dachte er, denn er schaute öfter in den Spiegel, als sie ahnte.
Seine schönen dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen, die bläulich schimmernden Augenringe waren nicht zu übersehen, seine Haut war bleich, und er wirkte noch magerer als sonst.
Nachdem er sie auf die Wange geküsst hatte, nahm er Platz und starrte schweigend auf die Tischplatte.
Marie Luise zappelte auf der unbequemen Bank am Esstisch hin und her und bat ihn schließlich um eine Zigarette.
„Ich kann dir nur Zigarillos anbieten.“
„Egal, ich benötige etwas zur Beruhigung. Haben Sie Baldrian im Haus?“, fragte sie Vera.
Gustavs Tante schüttelte den Kopf. „Wie wäre es mit einem Kamillentee? Oder vielleicht ein Gläschen Cognac?“
„Ja bitte, Cognac wäre genau das Richtige“, sagte Marie Luise.
Gustav erhob sich, weiterhin schweigend, und holte die Cognacflasche aus seinem Zimmer.
„Morgen werdet ihr es in den Zeitungen lesen. Der großartige italienische Tenor Salvatore Valentino hat auf der Bühne Selbstmord begangen, sich mit einem Dolch erstochen.“
„Aha …“, murmelte Gustav.
„Natürlich hat er sich nicht selbst umgebracht. Der Dolch war zwar echt, aber kein Mensch glaubt, dass der Stich, den er sich zugefügt hat, tödlich war. Jemand anderer muss nachgeholfen haben. Und ich möchte, dass du herausfindest, wer es getan hat.“
„Hm, wie soll ich das bitte machen?“
„Stell dich nicht so an, Gustav, du bist ein exzellenter Detektiv, das hast du mehrmals bewiesen. Du wirst es sicher schaffen, den Täter zu überführen. Ich komme für alle deine Ausgaben auf und bezahle dir ein fürstliches Honorar, wenn du diesen mysteriösen Fall aufklärst.“
„Warum überlässt du das nicht der Polizei? Bei meinem Freund, dem Oberkommissär Rudi Kasper, ist der Fall bestimmt in besten Händen.“
„Dein Freund verdächtigt Jakob Doma. Ich habe dir letztens von ihm erzählt. Er ist ein junger, aufstrebender Tenor aus Kroatien und sang den Hauptmann Cassio, den Otello verdächtigt, mit seiner Ehefrau Desdemona ein Verhältnis zu haben.“
Gustav begann zu begreifen, warum seine Halbschwester seine Hilfe suchte.
Marie Luise hatte sich nach dem Schock, als sich ihr hochadeliger Verlobter als Frauenmörder von Schönbrunn entpuppte, entschieden, ledig zu bleiben. Seither unterstützte sie junge Künstler aus den verschiedensten künstlerischen Metiers, umgab sich mit Malern, Schriftstellern und jungen Sängern. Er vermutete seit längerem, dass sie diese nicht aus edlen und reinen Motiven förderte, sondern zumindest platonisch in den einen oder anderen verliebt war.
„Dein Schützling war also ein Rivale dieses italienischen Startenors?“
„Nein, so kann man das nicht sagen. Salvatore Valentino war ein hochqualifizierter Sänger von Weltrang. Nur so einer kann die Partie des Otello in Wien singen. Jakob steht erst am Anfang seiner Karriere, aber er beherrscht zum Beispiel das hohe C fast ebenso gut wie Salvatore, ist also am besten Wege, einer der größten Tenöre der Welt zu werden … Und jetzt dieser Skandal!“
„Ich wäre zu gerne dabei gewesen“, sagte Vera.
„Salvatore Valentino war gestern fantastisch“, fuhr Marie Luise fort. „Er musste seine große Arie wegen heftigen Szenenapplauses sogar wiederholen. Jakob hat bestimmt Höllenqualen gelitten. Ich konnte von meiner Loge aus mit dem Opernglas sein verzerrtes Gesicht recht gut sehen. Selbst die Cerruti schien vor Neid zu platzen …“
„Maria Cerruti? Ich liebe diese Sängerin!“, warf Gustav ein.
„Was Frauen betrifft, ist kein Verlass auf deinen Geschmack“, sagte Marie Luise. „Diese Primadonna ist ungemein eitel und hat angeblich ein Verhältnis mit ihrem Impresario. Theodore Kramer ist der wichtigste Theateragent in ganz Europa. Er ist ein hageres, unscheinbares Männchen, aber ungemein schlau und sehr erfolgreich. Ohne ihn hätte sie es nie geschafft, die Spitze zu erklimmen.“
„Ich habe gehört, dass sie eine Affäre mit Salvatore Valentino hatte“, warf Gustav ein.
„Ja, das stimmt. In letzter Zeit hatte sie nur mehr Augen für ihn. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass er mehr für sie tun könne als Kramer. Denn der schöne Valentino ist schließlich der Lieblingssänger der Amerikaner, hatte monatelang Engagements in Amerika, sang wochenlang an der MET. Du verstehst, was ich meine?“
Gustav zuckte mit den Schultern.
„Sie ist nicht mehr die Jüngste, geht auf die vierzig zu, sieht aber fantastisch aus. Zarte rothaarige und blasse Frauen erwecken bei jedem Mann Beschützerinstinkte …“
„Sie haben von Ihrem Platz aus genau sehen können, was sich in der Schlussszene abgespielt hat?“, unterbrach Vera, die sich für Tratsch und Klatsch nicht besonders interessierte, ihren Gast.
„Ja und nein. Otello hat sich wie üblich im Schlafgemach der Desdemona seinen Dolch ins Herz gestoßen. Sterbend hat er sich an die Liebe zu seiner Frau erinnert, die er aus Eifersucht erwürgt hatte. Anstatt zu singen, hat Otello zu röcheln begonnen. Cassio, also Jakob, war als Erster bei ihm. Da er dem Publikum seinen Rücken zugekehrt hat, habe ich seine Reaktion nicht genau sehen können. Erst als sich andere Mitwirkende auf den Tenor gestürzt haben und ein richtiger Tumult entstanden ist, habe ich begriffen, dass etwas nicht stimmte.“
„Wer war zu diesem Zeitpunkt alles auf der Bühne?“
„Emilia, Desdemona, Jago und Cassio, wie gesagt. Ja, und der Souffleur war auch einer der ersten, der sich über Salvatore gebeugt hat. Er ist aus seinem Kabäuschen hervorgekrochen, als Jakob Salvatore zu Hilfe eilte. Die längst erwürgte Desdemona hat dann ,Vorhang, Vorhang‘ gekreischt. Als der Vorhang endlich heruntergelassen wurde, ist verhaltener Applaus aus den hinteren Reihen und oberen Rängen erklungen. Die Leute schienen nicht mitbekommen zu haben, dass sich auf der Bühne gerade ein echtes Drama abgespielt hatte.“
„Und Theodore Kramer?“
„Oh, den habe ich vergessen. Er ist hinter den Kulissen hervorgekommen, als der ganz Wirbel ausbrach. Mein Gott, Gustav, es war schrecklich! Der Verdacht fiel auf meinen armen Jakob, der sich ja als Erster um den verwundeten Otello gekümmert hatte. Er hat mir geschworen, dass er den Dolch nicht berührt hatte.“
„Du hast Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen?“, fragte Gustav.
„Ich war bei ihm, als die Polizei eingetroffen ist.“
Gustav entkam ein Grinsen. Auch Vera konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Beide konnten sich lebhaft vorstellen, wie die temperamentvolle Marie Luise auf die Bühne gestürmt war und sich von keinem Bühnenarbeiter oder sonst jemandem abhalten hatte lassen, ihrem Schützling beizustehen.
„Ich habe Jakob so gut es ging getröstet und versprochen, ihm den besten Anwalt der Stadt zu besorgen. Der arme Junge war völlig aufgelöst. Alle sind über ihn hergefallen, selbst die Cerruti hat ihn beschuldigt. Es hat ein totales Chaos geherrscht, sowohl auf als auch hinter der Bühne. Jeder hat jeden angeschrien. Und irgendsoein Wichtigtuer hat es sogar gewagt, mich anzugreifen. Er hat meinen Arm gepackt und versucht, mich wegzubringen. Dem habe ich es gegeben! Erst dein Freund, Polizei-Oberkommissär Kasper, der bald darauf erschienen ist, hat mich dazu überreden können, die Oper zu verlassen.“
„Rudi kann manchmal sehr überzeugend sein“, warf Vera von Karoly lächelnd ein.
„Du musst unbedingt mit ihm reden und ihm klarmachen, dass Jakob nicht der Täter ist“, sagte Marie Luise.
„Ja, ich glaube, das werde ich wohl müssen.“ Gustav sah seine Halbschwester belustigt an.
„Das ist nicht witzig, Gustav! Es handelt sich um eine echte Tragödie! Vera, ich bitte Sie, helfen Sie mir, bringen Sie meinen Bruder zur Vernunft. Dieser Fall wird großes Aufsehen erregen, nicht nur in Wien. Du könntest weltberühmt werden, wenn du ihn löst, lieber Gustav!“
„Ja, ja, ich habe es begriffen. Aber ich möchte vorher mit Rudi allein reden. Wenn es genügend Beweise gibt, dass dein Jakob Salvatore Valentino auf dem Gewissen hat, kann ich nichts für ihn tun. Ich bin kein Anwalt, sondern Privatdetektiv.“
„Von mir aus rede mit dem Polizei-Oberkommissär so lange, wie du willst. Ich kann dir allerdings jetzt schon sagen, dass er den falschen Mann verdächtigt. – Übrigens wohnen alle Sänger im Sacher. Ich bin dort heute Abend mit Jakob verabredet.“
„Ich dachte, Rudi hat ihn verhaftet?“
„Noch nicht, aber er wird ihn sicher festnehmen, wenn du ihm nicht beistehst. Würdest du heute Abend ins Sacher mitkommen? Nur, um Jakob kennenzulernen. Vielleicht würde sich dabei das eine oder andere Gespräch mit den übrigen Mitwirkenden ergeben. Ich bin überzeugt, du könntest bei derlei informellen Gesprächen viel mehr in Erfahrung bringen als die Polizei mit ihren derben Verhörmethoden.“
Vera von Karoly, die an ihre verheerende finanzielle Situation dachte, warf Gustav einen auffordernden Blick zu.
Geplagt von schlechtem Gewissen wegen seiner wochenlangen Untätigkeit, willigte er schließlich ein, den Fall zu übernehmen.
Marie Luise sprang auf, umarmte ihren Halbbruder, verabschiedete sich höflich von seiner Tante und winkte Josefa leutselig zu.
Sie verließ die k.k. Hofstallungen genauso stürmisch, wie sie sie betreten hatte.
„Was soll ich bloß tun?“ Gustav sah seine Tante leicht verzweifelt an.
„Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper aufsuchen“, sagte sie.
Gustav von Karoly nahm einen Fiaker zur Polizeidirektion am Schottenring.
Er hoffte, seinen besten Freund aus Jugendtagen, Polizei-Oberkommissär Rudi Kasper, in seinem Büro anzutreffen.
Wie immer, wenn er Rudi in diesen kalten, furchterregenden Gemäuern besuchte, kam er sich vor wie ein armer Delinquent. Er wies sich beim Portier unten aus und schlich mit gesenktem Haupt die breite Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem sich Rudis Büro befand.
Die beiden Freunde hielten sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. „Habe ich es mir doch gedacht, dass du heute antanzen wirst, nachdem ich dein Schwesterherz gestern Abend mit Müh und Not aus der Hofoper entfernen habe können. Hat sie sich über mich beklagt?“
„Keineswegs. Sie macht sich nur große Sorgen um ihren Schützling Jakob Doma.“
„Zu Recht! Er ist tatsächlich unser Hauptverdächtiger im Mordfall Salvatore Valentino. Wir behalten auch Maria Cerruti im Auge. Sie hat die Desdemona gesungen und seit kurzem ein Verhältnis mit Valentino gehabt. Früher war sie mit Jakob Doma zusammen. Eine der üblichen Dreiecksgeschichten, Mord aus Eifersucht, vermutlich. Wahrscheinlich werden wir diesen Fall rasch aufklären.“
„Ich hoffe, du irrst dich nicht.“
Gustavs Grinsen schien Rudi zu ärgern.
„Halt dich da raus, Gustl. Du bist nicht in bester Form, kugelst seit Wochen im Bett herum. Willst du jetzt auf einmal wieder den großen Detektiv spielen, um deiner vornehmen Verwandtschaft zu beweisen, dass du ihrer würdig bist?“
„Das Psychologisieren solltest du mir überlassen. Du hältst doch nichts von der neuen Methode des Doktor Freud …“
„Touché“, sagte Rudi lachend und bot Gustav einen Kaffee an.
Gustav sagte nicht Nein.
„Erzähl, was du bisher herausgefunden hast“, bat er seinen Freund.
„Statt eines Theaterdolchs hat sich der angeblich sehr temperamentvolle Salvatore Valentino einen echten Dolch ins Herz gestoßen. An dieser Wunde wäre er nicht gestorben, hat der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Abendrot gemeint. Jemand muss also ein zweites Mal mit voller Wucht zugestochen haben. Wir verwenden, wie du weißt, die neuesten Methoden, die von Scotland Yard entwickelt wurden. Mit Hilfe dieser Daktyloskopie, einem Fingerabdruckverfahren, kann man anhand der Papillarkörper der Haut die Identität von Personen eindeutig feststellen.“
„Fantastisch! Dann werdet ihr den Mörder ja bald überführen können.“
„Ganz so einfach wird es nicht werden. Aufgrund von Zeugenaussagen wissen wir, dass fast alle Verdächtigen den Dolch zumindest berührt haben. Es werden sich demnach jede Menge Fingerabdrücke auf der Waffe befinden. Auch die von der berühmten Cerruti.“
„Oh mein Gott“, rief Gustav aus.
„Deswegen muss sie ja nicht die Mörderin sein. Sie hat beteuert, dass sie den Dolch aus seinem Herzen ziehen wollte. Und der Souffleur hat gesagt, dass er ihr zu Hilfe gekommen sei.“
„Warum sollte ausgerechnet ein Souffleur Salvatore den Todesstoß versetzt haben? Er hat bestimmt am allerwenigsten Grund gehabt, den berühmten Mann umzubringen.“
„Es ist zu früh, um all die verwirrenden Beziehungen zwischen den Akteuren zu durchschauen.“
„Also ein sehr komplizierter Fall“, murmelte Gustav.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts, ich führe in letzter Zeit öfter Selbstgespräche.“
„Du weißt, wohin das führen kann.“
„Zu meiner geliebten Dorothea. Wenn sie mich schon als Mann nicht will, als Patient wird mich die zukünftige Frau Doktor sicher nicht abweisen.“
„Hör auf zu spinnen, Gustl, sonst lass ich dich gleich einliefern.“
Sehr nachdenklich verließ Gustav von Karoly kurz darauf die Polizeidirektion und schlenderte quer durch die Wiener Innenstadt Richtung k.k. Hofstallungen.
Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Vögel zwitscherten, und am Straßenrand streckten die ersten Frühlingsblumen neugierig ihre Köpfe aus dem kalten Boden.
Gustav nahm weder das Vogelgezwitscher noch die Schneeglöckchen wahr. Er dachte über Rudis Worte nach. Bald schweiften seine Gedanken ab zu seiner Halbschwester Marie Luise und seinem Vater Graf Batheny.
Gustav haderte nach wie vor mit seinem Schicksal als illegitimer Sohn des Grafen. Er mochte seine jüngere Halbschwester, gestand sich aber ein, dass er eifersüchtig auf sie war. Er hatte auch eine zweite Halbschwester. Diese lebte mit ihrer Familie in Bad Ischl und Gustav kannte sie kaum. Wenn mein Vater damals meine Mutter geheiratet hätte, als sie mit mir schwanger war, hätte ich keine Schwestern, dachte er, sondern wäre der einzig geliebte Sohn meines Vaters. Und meine Mutter wäre vielleicht auch nicht krank geworden, und Vera und ich hätten uns nicht all die Jahre so abplagen müssen, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Gustavs Großvater, Albert von Karoly, war Stallübergeher beim Kaiser gewesen und solange er lebte, hatte es der Familie Karoly an nichts gemangelt. Außerdem hatte seine Mutter Gisela als Operettensängerin ein fixes Engagement im Theater an der Wien gehabt und ebenfalls gut verdient. Nach dem Tod von Albert von Karoly war es rasch bergab gegangen. Giselle, wie sie genannt wurde, erkrankte ein paar Jahre danach an Brustkrebs. Obwohl Graf Batheny seine kranke Geliebte finanziell unterstützte, ging der Rest des Vermögens der Karolys für Behandlungen und Medikamente drauf. Weder Giselle noch ihre jüngere Schwester Vera und schon gar nicht Gustav hatten je Sparen gelernt. Sie lebten alle drei über ihre Verhältnisse. Als kein Geld mehr da war, versetzten sie fast all ihren beweglichen Besitz im Pfandl. Erst als der letzte Pelzmantel und das letzte Goldkollier seiner Mutter unter den Hammer gewandert waren, mussten Vera und Gustav sich nach Arbeit umsehen.
Veras Artikel für diverse Zeitschriften brachten nicht viel ein. Die Dissertationen, die sie für faule oder unfähige Studenten schrieb, waren lukrativer. Doch erst, als Gustav Honorare als Privatdetektiv heimbrachte, konnten sie sich wieder einen ihrem Stand halbwegs angemessenen Lebensstil leisten. Deshalb war ihm klar, dass er sich nicht länger der Schwermut hingeben konnte. Er musste den Auftrag seiner Halbschwester, den Mörder von Salvatore Valentino zu finden, übernehmen, obwohl er es mehr als peinlich fand, von Marie Luise bezahlt zu werden. Andererseits war Marie Luises Geld ja eigentlich das Geld ihres gemeinsamen Vaters. Und Gustav hatte sowieso nie ganz verstanden, warum sich seine Tante so sehr dagegen gewehrt hatte, nach Giselles Tod finanzielle Hilfe von Graf Batheny anzunehmen. Schließlich war Gustav sein einziger Sohn. Zudem hatte der Graf ihm letzte Weihnachten versprochen, ihn demnächst anzuerkennen und ihm den Grafentitel zu vererben.
Als Gustav, Marie Luise und Rudi am Abend im Hotel Sacher hinter der Hofoper eintrafen, waren bereits alle Verdächtigen im Speisesaal versammelt.
Marie Luise war nicht gerade erfreut darüber, dass ihr Bruder seinen Freund mitgebracht hatte. Doch Gustav hatte auf der Anwesenheit des Polizei-Oberkommissärs bestanden.
Rudi hielt sich im Hintergrund, ließ Gustav Konversation mit den Künstlern betreiben und sprach kräftig dem ausgezeichneten Weißwein zu. Hin und wieder drückte er durch ein Nicken oder Augenzwinkern sein stillschweigendes Einverständnis mit den Fragen seines Freundes aus.
Zwischen den beiden saß Alma Lang, die zweite Sopranistin und beste Freundin von Maria Cerruti. Gustav fand sie durchaus attraktiv, schielte dennoch öfter hinüber zu Maria Cerruti, die ihm schräg gegenübersaß.
Alma Lang war witzig und sehr charmant. Sie begann bald nicht nur mit Rudi zu schäkern, sondern warf auch Gustav freundliche Blicke zu und bemühte sich, ihn in eine Konversation zu verwickeln. Erst, als sie Rudi gegenüber so nebenbei bemerkte, dass wohl Jakob Doma seine geliebte Maria nach Salvatores Tod wieder zurückzugewinnen könne, schenkte ihr Gustav etwas mehr Aufmerksamkeit.
Jakob saß zwischen Marie Luise und Maria Cerruti. Er redete die ganze Zeit auf Marie Luise ein. Gustav hatte jedenfalls nicht den Eindruck, dass er sich um die Cerruti besonders bemühte.
Neben Maria Cerruti saß der große Impresario. Zwar war er nicht groß, sondern eher klein gewachsen, galt jedoch momentan als renommiertester Impresario der ganzen Opernwelt, das hatte Gustav in der Neuen Freien Presse gelesen.
Theodore Kramer hatte langes graues Haar, ein hageres Gesicht und eine richtige Adlernase. Laut Marie Luise verdankten Maria Cerruti, der verstorbene Salvatore Valentino sowie Jakob einzig und allein diesem Mann ihre Karriere.
Gustav fand ihn weniger beeindruckend. Theodore Kramer sah weder gut aus noch wirkte er besonders eloquent, im Gegenteil, er war eher still und unauffällig. Gustav konnte sich nicht vorstellen, dass die wunderschöne Cerruti mit diesem unscheinbaren Männchen ein Verhältnis hatte oder gehabt hatte.
Er überließ Alma seinem Freund Rudi und hörte den Sängern, die ihm gegenübersaßen, zu.
Jakob Doma schien sehr aufgeregt zu sein, er redete ununterbrochen. Schließlich wandte er sich direkt an den Polizei-Oberkommissär und erteilte ihm gute Ratschläge, was die Ermittlungen betraf. Jakob hatte sich anscheinend Gedanken gemacht, wer der Täter gewesen sein könnte und behauptete, dass fast alle in dem Wirbel Gelegenheit gehabt hatten, Salvatore den Todesstoß zu versetzen.
„Es ist alles so schnell gegangen, und es war ziemlich finster auf der Bühne. Der Vorhang ist sofort heruntergelassen worden …“
Gustav begann sich zu amüsieren, als er Rudis Gesichtsausdruck sah. Rudi konnte es absolut nicht leiden, wenn ihm jemand sagte, was er zu tun habe. Er wusste selbst am besten, welche Vorgangsweise die effizienteste war. Bevor Rudi den feurigen Kroaten in die Schranken wies, wurde es am Ende der langen Tafel unangenehm laut. Der Souffleur Bruno Penzo hatte begonnen, über den jüdischen Hofoperndirektor Gustav Mahler herzuziehen, behauptete, dieser hätte die Ermittlungen der Polizei vor Ort behindert.
Theodore Kramer widersprach ihm vehement.
Bruno Penzo ignorierte seine Worte und fuhr mit seinen antisemitischen Äußerungen fort, wechselte vom Deutschen ins Italienische, anscheinend beherrschte er beide Sprachen perfekt, soweit Gustav das beurteilen konnte.
Alma Lang flüsterte ihm ins Ohr, dass Bruno einen italienischen Vater und eine österreichische Mutter habe.
Theodore Kramer bereitete den Schimpftiraden schließlich ein Ende. „Gehen Sie nach Hause, Bruno, und schlafen Sie Ihren Rausch aus“, herrschte er den Souffleur an. „Salvatore hat Recht gehabt, Sie gehören nicht hierher. Ich werde dafür sorgen, dass Salvatores Wunsch, Sie aus der Wiener Hofoper zu entfernen, posthum erfüllt wird. Sie können sich jetzt schon um eine neue Stelle umsehen!“
Überrascht über die energischen Worte des sonst so stillen Mannes, blickte Gustav Alma an.
„Theodore ist ein mächtiger Mann“, sagte sie lächelnd.
Der Hauptgang wurde serviert: Tafelspitz mit Semmelkren und Apfelmus.
Bruno Penzo verließ den Speisesaal des Hotel Sacher mit gesenktem Haupt und hängenden Schultern.
Zu fortgeschrittener Stunde ließ sich Gustav von Alma Lang in ein Gespräch verwickeln.
Sie erwähnte beiläufig, dass sie mit Salvatore Valentino zusammen gewesen sei, und beteuerte, dass sie kein Problem damit gehabt habe, als er und Maria sich ineinander verliebten, denn ihre Beziehung mit Salvatore wäre damals bereits ziemlich am Ende gewesen.
„Für Jakob war es viel schwieriger als für mich zu akzeptieren, dass Maria und Salvatore ein Paar wurden. Er liebt sie noch immer, fürchte ich.“
„War Maria Cerruti in den letzten Jahren nicht mit Theodore Kramer zusammen?“
Alma lachte. Der kleine Spalt zwischen ihren oberen Eckzähnen ließ sie sehr kindlich aussehen.
„Theodore und Maria – das ist ein eigenes Kapitel. Er hat sie geliebt, und sie hat ihn benützt. Was hat sich dieses kleine hässliche Männchen erwartet? Dass ihn meine schöne Freundin ehrlich und aufrichtig liebt?“, kicherte sie. „Selbstverständlich ist er für uns alle als Impresario überaus wichtig. Verstehen Sie mich also nicht falsch, auch ich bin ihm überaus dankbar, dass er mich unter Vertrag genommen hat, aber als Mann, oder besser gesagt als Liebhaber, ist er völlig uninteressant“, sagte sie kichernd. Ihre grünen Augen waren stark gerötet. Sie schien etwas beschwipst zu sein.
Gustav und Rudi verließen die illustre Gesellschaft gleich nach dem Dessert. Gemeinsam schlenderten sie die Ringstraße entlang, Richtung k.k. Hofstallungen.
„Endlich kann man wieder durchatmen“, sagte Gustav. „Der Winter hat heuer viel zu lang gedauert.“
„Wie Herr Graf meinen“, spöttelte Rudi. „Aber ich muss zugeben, mit einem zukünftigen Grafen reden solche Leute halt lieber als mit einem einfachen Polizei-Oberkommissär. Aber sie lügen alle wie gedruckt. Ich bin überzeugt davon, dass jeder von diesen grandiosen Opernsängern Dreck am Stecken hat. Am liebsten würde ich sie alle einsperren lassen.“ –
„Die Wiener würden dich lynchen.“
„Ich hab die Theaterbesessenheit unserer Leute nie verstanden. Glaubst du, dass sie anderswo diese Opernsänger und Schauspieler ebenso fanatisch verehren wie bei uns in Wien?“
Gustav schüttelte den Kopf. „Du hast schon recht, die Begeisterung grenzt an Götzenanbetung.“
„Im Grunde sind diese Künstler arme Schweine. Sie sind ständig auf der Suche nach einflussreichen und finanziell potenten Mäzenen. Oder glaubst du im Ernst, dass zum Beispiel Jakob Doma aufrichtig in deine Schwester verliebt ist?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Die Comtesse würde alles für ihn tun?“
„Keine Ahnung, vielleicht, vielleicht auch nicht, da musst du sie selber fragen.“
„Dabei sind Tenöre doch keine gestandenen Mannsbilder. Aussehen tun sie meisten, als wären sie vom anderen Ufer. Und wie die sich anziehen, echt komisch. Hast du den einen mit der roten Hose gesehen, der den Souffleur in die Wüste geschickt hat?“
„Du meinst Theodore Kramer? Das ist kein Sänger, sondern ein Impresario. Und seine Hose war dunkelrot, beinahe schwarz, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Na ja, ist halt ein Itaker.“
„Hast du was gegen die Italiener?“
„Nein, ich bitte dich, woher denn! Sie sind anders als wir …“
„Lebenslustiger und charmanter, nicht wahr, du alter Griesgram?“ Gustav boxte seinen Freund in die Seite.
„Aua! Spinnst du? Wenn du boxen willst, tob dich im Club aus.“
Gustav hatte in dem einen Jahr, das er an der London School of Economics verbracht hatte, Boxen gelernt und diesen Sport nach seiner Rückkehr in die Kaiserstadt nicht aufgegeben. Rudi hatte ihn zum Polizeisportverein gebracht, und dort boxte er nun einmal in der Woche gegen seinen Freund oder andere Polizeibeamte seiner Gewichtsklasse.
In letzter Zeit hatte er sich jedoch kaum blicken lassen. Er hatte sich auf seine angeschlagene Gesundheit herausgeredet, dabei hatte es ihm einfach an Animo gefehlt.
„Morgen schau ich in der Halle vorbei.“
„Ich nehm dich beim Wort. Nicht, dass du mich versetzt, so wie letzte Woche.“
„Versprochen! Es wird Zeit, dass ich wieder in Form komme.“
„Das glaube ich auch“, murmelte Rudi kaum hörbar.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts, nichts. – Sag mal, glaubst du, diese Diven sind wirklich so freizügig, wie es heute den Anschein gehabt hat?“
„Man sagt ihnen zumindest nach, dass sie häufig ihre Partner wechseln, aber ich bin in dieser Hinsicht vorbelastet, wie du weißt.“
„Tut mir leid. Ich habe nicht an deine Frau Mama gedacht.“
„Schwamm drüber. Außerdem ist ja was dran an dem Getratsche.“
„Dieses Theater- und Opernvolk führt jedenfalls einen etwas unsteteren Lebenswandel als ihr Publikum und wird vielleicht deshalb so von den Leuten beneidet und gleichzeitig angehimmelt.“
„Wer weiß, ob das überhaupt stimmt, wenn ich daran denke, was ich gerade in den Schriften von diesem Seelenarzt Doktor Freud gelesen habe …“
„Kein Wunder, dass du so trübsinnig bist. Was liest du denn immer so ein makabres Zeug.“
„Von wegen makaber. Du solltest ihn auch einmal lesen. Man erfährt viel über sich selbst und lernt seine Mitmenschen besser verstehen …“
„Erzähl mir das ein anderes Mal. Ich interessiere mich momentan mehr für die großen Sänger.“
„Eher für die Sängerinnen, nehme ich an.“
Einerseits freute sich Rudi, seinen Freund heute ausnahmsweise bei halbwegs guter Laune zu sehen, andererseits gingen ihm Gustavs ironische Bemerkungen ein bisschen auf die Nerven.
„Maria Cerruti scheint mir beileibe kein Unschuldslamm zu sein.“
„Traust du ihr einen Mord zu?“
„Ich traue jedem einen Mord zu. Deine Schwester Marie Luise hat angedeutet, dass Salvatore Valentino aus Eifersucht umgebracht worden sein könnte. Angeblich war er ein richtiger Gigolo.“
„Mag sein, aber wer bringt schon einen Gigolo um? Du hast vorhin selbst gesagt, dass diese Künstler einen freieren Umgang miteinander pflegen.“
„Fest steht jedenfalls, dass die Cerruti ihrer Freundin Alma den großen Tenor ausgespannt hat.“
„Das würde bedeuten, dass Alma Salvatore auf dem Gewissen hat?“
„Nicht unbedingt, denn Alma Lang scheint mir eine leichtfertige Person zu sein. Ein Verbrechen aus Leidenschaft traue ich ihr eigentlich nicht zu. Der Kroate ist und bleibt mein Hauptverdächtiger. Er hatte gleich mehrere Gründe, auf Salvatore eifersüchtig zu sein. Nicht nur wegen seiner Liebe zu Maria, sondern auch, weil Salvatore immer die Hauptrollen bekommen hat und er mit seinen achtunddreißig Jahren nach wie vor in seinem Schatten gestanden ist.“
„Hattest du heute Abend den Eindruck, dass er die Cerruti immer noch liebt?“, fragte Gustav.
„Das war nicht zu übersehen. Allein, wie er sie die ganze Zeit angesehen hat. Allerdings ist mir aufgefallen, dass die Cerruti ihn eher wie einen kleinen Bruder behandelt“, sagte Rudi.
„Das erinnert mich an Dorothea. Obwohl sie viele Jahre jünger ist als ich, fühle ich mich in ihrer Gegenwart oft wie ein dummer kleiner Bub.“
„Ich weiß, was du meinst. So geht es mir ständig in Gegenwart deiner Tante“, sagte Rudi.
„Vera ist aber einige Jahre älter als du. Genaugenommen zwölf Jahre, oder?“
„Na und?“, fauchte Rudi seinen Freund an. „Was hat außerdem deine Tante mit diesem ganzen Pallawatsch zu tun?“