Durch das große Feuer - Alice Winn - E-Book

Durch das große Feuer E-Book

Alice Winn

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Beschreibung

Gewinner Jugendliteraturpreis 2024 Eine unvergessliche Liebesgeschichte und ein mitreißender Pageturner. Gewinner des Waterstones Debut Prize for Fiction und des Debut Book of the Year bei den British Book Awards Für die englischen Eliteschüler Henry Gaunt und Sidney Ellwood ist der Krieg noch sehr weit weg. Nur über die wöchentlichen Meldungen in ihrer Schülerzeitung erfahren sie von den jungen Männern, die im Kampf an der Front ihr Leben lassen, und feiern sie als Helden. Doch Gaunt ist viel mehr beschäftigt mit der heimlichen Anziehung, die er für seinen charmanten Freund Ellwood empfindet, ohne zu ahnen, dass auch dieser Gefühle für ihn hegt. Als sich die beiden schließlich nacheinander bei der britischen Armee melden, holt die Realität sie schnell ein – und verändert das Leben und die Freundschaft der beiden Männer auf unvorhersehbare Weise. »Wer dieses Buch nicht liest, verpasst was.« Bonnie Garmus, Autorin von Eine Frage der Chemie »Der Inbegriff eines Pageturners.« Sunday Times »Eine außergewöhnliche Liebesgeschichte. Wann kamen mir Romanfiguren das letzte Mal so real vor, so liebenswert, so lebendig? Alice Winn haucht vertrauter Geschichte neues Leben ein und führt uns in diesem großartigen Debüt die ganze Bandbreite menschlichen Lebens vor Augen.« Garth Greenwell, Autor von REINHEIT und WAS ZU DIR GEHÖRT »Durch das große Feuer ist ein großartiges Buch – mitreißend und überwältigend, klug und gefühlvoll, mit Anklängen an Wiedersehen mit Brideshead und Abbitte. Ich liebe es!« Lev Grossman

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Seitenzahl: 542

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Das Buch

England, 1914: Die Eliteschüler Henry Gaunt und Sidney Ellwood führen ein behütetes Internatsleben auf dem Land. Die Ereignisse des Ersten Weltkrieges scheinen noch sehr weit weg. Dabei führt Gaunt bereits seinen ganz privaten Kampf. Er verzehrt sich heimlich nach seinem charmanten Freund Ellwood, fürchtet aber die Konsequenzen einer solchen verbotenen Liebe. Dann müssen beide an die Front ...

Die Autorin

ALICE WINN wuchs in Paris auf und wurde in britischen Internaten erzogen. Sie studierte Englische Literatur an der Oxford University und lebt heute in Brooklyn, wo sie mit ihrer Oscar-nominierten Drehbuchpartnerin (Dallas Buyers Club) für das Kino schreibt. Durch das große Feuer ist ihr Debütroman.

ALICE WINN

DURCH

DAS

GROSSE

FEUER

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

Die Originalausgabe »In Memoriam« erschien 2023 bei Knopf, New York.

Die Übersetzung von Kapitel 1–16 besorgte Ursula Wulfekamp, von Kapitel 17–46 Benjamin Mildner.

ISBN 978-3-96161-162-1

© 2023 Alice Winn

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © Anna Teasdale. All Rights Reserved 2022 / Bridgeman Images

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
I
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
II
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
III
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
Danksagungen
Historische Anmerkungen

FÜR MEINE ELTERN

I

1. kapitel

Ellwood war ein präfekt, deswegen hatte er in dem Jahr ein famoses Zimmer, eines, durch dessen Fenster man auf einen merkwürdigen Dachvorsprung gelangte. Ständig kletterte er irgendwo herum, wo er nichts zu suchen hatte. Wer aber den Ausguck auf dem Dach am meisten liebte, war Gaunt. Es gefiel ihm, die Jungs bei ihren Stippvisiten in der Fletcher Hall zu beobachten, wo sie Kekse stibitzten, zu verfolgen, wie Präfekte über den Rasen im Hof schlenderten, wie der Orgelmeister die Kapelle verließ. Es beruhigte ihn zu sehen, dass die Schule auch ohne ihn ihren geordneten Gang weiterging, und zu wissen, dass er darüber erhaben war.

Ellwood saß auch gern auf dem Dach. Er formte seine Hände zu einem Gewehr und feuerte auf alle, die unten vorbeigingen.

»Verdammter Fritz! Den hab ich ins Auge getroffen. Bring das dem Kaiser nach Hause!«

Gaunt, der die Sommer meist in München verbracht hatte, schloss sich diesen Kriegsspielen eher nicht an.

Er balancierte den Preshutian beim Umblättern auf den Knien und las den letzten In Memoriam. Sieben der neun Gefallenen hatte er gekannt. Der längste Nachruf war Clarence Roseveare gewidmet, dem ältesten Bruder eines von Ellwoods vielen Freunden. Zur Würdigung von Gaunts Freund – und Feind – Cuthbert-Smith hatte ein magerer Absatz genügt. Beide Jungs waren, so versicherte ihn der Preshutian, eines heldenhaften Todes gestorben. Wie jeder andere Schüler von Preshute, der bislang im Krieg gefallen war.

»Peng!«, machte Ellwood leise neben ihm. »Auf Wiedersehen!« Das sagte er auf Deutsch.

Gaunt zog heftig an seiner Zigarette und faltete die Zeitung zusammen.

»Über Roseveare haben sie ein ganzes Stück mehr zu sagen als über Cuthbert-Smith, was?«

Ellwoods Gewehr wurde wieder zu Händen. Die Finger geschickt, langgliedrig, tintenverschmiert.

»Ja.« Gedankenverloren fasste er sich ans Haar. Es war dunkel und widerspenstig. Er glättete es immer mit Pomade und strich es nach hinten, lebte aber in der ständigen Angst, eine aufsässige Strähne könnte sich lösen und die falsche Art Aufmerksamkeit auf ihn lenken. »Ja, das fand ich auch etwas schäbig.«

»Ein Bauchschuss!« Unwillkürlich wanderte Gaunts Hand zu seinem eigenen Bauch. Er stellte sich vor, wie er von einem Stück Metall gestreift und aufgerissen würde. Unschön.

»Roseveare nimmt das mit seinem Bruder ziemlich mit«, sagte Ellwood. »Die drei Roseveares standen sich sehr nah.«

»Im Speisesaal kam er mir eigentlich vor wie immer.«

»Er ist keiner, der viel Aufhebens macht«, sagte Ellwood und runzelte die Stirn. Er griff nach Gaunts Zigarette und vermied dabei gewissenhaft, dessen Hand zu berühren. So körperlich Ellwoods Beziehung zu seinen anderen Freunden auch war, Gaunt berührte er so gut wie nie, wenn sie sich nicht gerade zum Spaß prügelten. Gaunt wäre lieber gestorben, als Ellwood zu erkennen zu geben, wie viel ihm das ausmachte.

Ellwood zog einmal und gab Gaunt dann die Zigarette zurück.

»Was wohl in meinem In Memoriam stehen würde?«, sinnierte er.

»›Eitler Geck stirbt bei tragischem Schirmunglück. Ermittlungen anhängig.‹«

»Nein«, widersprach Ellwood. »Nein. Ich glaube, eher etwas wie ›Heute hat die englische Literatur ihren hellsten Stern verloren …‹« Er grinste zu Gaunt hinüber, doch Gaunt erwiderte das Lächeln nicht. Seine Hand lag noch auf seinem Bauch, als würden seine Eingeweide wie bei Cuthbert-Smith hervorquellen, wenn er die Hand entfernte. Ihm entging nicht, dass Ellwood das bemerkte.

»Weißt du, ich würde deins schreiben«, sagte Ellwood leise.

»Wahrscheinlich ausschließlich in Versen.«

»Natürlich. Wie Tennyson für Arthur Hallam.«

Ellwood verglich sich häufig mit Tennyson und Gaunt mit dessen bestem Freund, und meist fand Gaunt den Gedanken ganz reizvoll, außer, wenn er sich überlegte, dass Arthur Hallam mit zweiundzwanzig gestorben war und Tennyson die nächsten siebzehn Jahre mit dem Verfassen von Trauergedichten verbracht hatte. Dann fand Gaunt die Vorstellung etwas morbid, als wünschte Ellwood sich seinen Tod, damit er etwas habe, worüber er schreiben könne.

Einmal hatte Gaunt Cuthbert-Smith sein Knie in den Magen gerammt. Inwieweit fühlte sich eine Kugel anders an als ein Tritt?

»Deine Schwester fand Cuthbert-Smith eigentlich ganz gut aussehend«, sagte Ellwood. »Das hat sie mir letzten Sommer bei Lady Asquith erzählt.«

»Ach ja?«, fragte Gaunt ohne sonderliche Begeisterung. »Wahnsinnig nett von ihr, sich dir so anzuvertrauen.«

»Maud ist klasse«, sagte Ellwood und stand abrupt auf. »Fabelhaftes Mädchen.« Unter seinen Füßen zerbröckelte eine Schieferplatte, die Bruchstücke fielen drei Stockwerke tief nach unten.

»Verdammt, Elly, hör auf!« Gaunt klammerte sich an die Fensterbrüstung. Grinsend kletterte Ellwood ins Zimmer zurück.

»Komm rein, da draußen ist es nass«, sagte er.

Rasch zog Gaunt noch mal an seiner Zigarette und warf sie dann in ein Regenrohr. Ellwood fläzte auf dem Sofa, schlug die Beine aber hastig unter, als Gaunt sich dazusetzte.

»Du konntest Cuthbert-Smith nicht ausstehen«, sagte Ellwood.

»Ja. Tja, das wird mir fehlen.«

Ellwood lachte.

»Du wirst jemand anderen finden, den du nicht leiden kannst. Das tust du doch immer.«

»Zweifelsohne«, pflichtete Gaunt ihm bei. Aber darum ging es nicht. Er hatte gehässige Gedichte über Cuthbert-Smith geschrieben, und Cuthbert-Smith hatte (Gaunt war sich ziemlich sicher, dass er es gewesen war) »Henry Gaunt ist ein deutscher SPION« auf die Wände der Bibliotheksgarderobe geschmiert. Dafür hatte Gaunt ihm einen Fausthieb versetzt, aber in den Bauch hätte er ihm nicht geschossen.

»Irgendwie glaube ich, dass er im nächsten Trimester wieder hier sein wird, selbstgefällig und voller Märchen von der Front«, sagte Ellwood nachdenklich.

»Vielleicht kommt keiner von ihnen wieder.«

»Mit einer derart defätistischen Einstellung verlieren wir den Krieg.« Ellwood neigte den Kopf zur Seite. »Henry, der gute alte Cuthbert-Smith war ein Idiot. Wahrscheinlich ist er schnurstracks in die Kugel hineingelaufen. Wenn wir an der Front sind, wird es ganz anders sein.«

»Ich rücke nicht ein.«

Ellwood schlang die Arme um die Knie und starrte Gaunt an.

»Quatsch«, sagte er.

»Ich bin nicht grundsätzlich gegen Krieg«, widersprach Gaunt. »Nur gegen diesen. ›Deutscher Militarismus‹ – als würden wir unser Empire nicht mit militärischer Gewalt zusammenhalten! Warum sollte ich auf mich schießen lassen, bloß weil ein österreichischer Erzherzog von einem aufgebrachten Serben ermordet wurde?«

»Aber Belgien …«

»Jaja, belgische Gräueltaten«, sagte Gaunt. Darüber hatten sie schon mehrmals gesprochen. Sie hatten sogar eine Debatte darüber abgehalten, und Ellwood hatte ihn geschlagen, 596 Stimmen zu vier. Ellwood hätte jede Debatte gewonnen, das ganze Internat liebte ihn.

»Aber du musst dich verpflichten«, sagte Ellwood. »Sofern überhaupt noch Krieg ist, wenn wir fertig sind mit der Schule.«

»Warum? Weil du dich verpflichtest?«

Ellwood machte ein finsteres Gesicht und schaute weg.

»Du wirst kämpfen, Gaunt«, sagte er.

»Ach ja?«

»Du kämpfst doch immer. Gegen alle.« Ellwood rieb die kleine flache Stelle an seiner Nase. Das tat er häufig. Gaunt fragte sich, ob es Ellwood störte, dass er ihn dort geboxt hatte. Sie hatten sich nur einmal geprügelt. Und es war nicht Gaunt, der damit angefangen hatte.

»Mit dir nicht«, widersprach er.

»›γνῶθι σεαυτόν‹«, zitierte Ellwood.

»Ich kenne mich durchaus selbst«, sagte Gaunt und schlug mit einem Kissen nach Ellwood, damit der verstummte, und einen Moment brachte keiner von ihnen ein Wort heraus, weil Ellwood sich krümmte vor kreischendem Lachen, während Gaunt mit ihm rang, um ihn vom Sofa zu stoßen. Gaunt hatte Kraft, aber Ellwood war schneller, er glitt durch Gaunts Arme und landete, hilflos vor Lachen, am Boden. Gaunt ließ den Kopf über den Sofarand hängen, und sie pressten Stirn an Stirn.

»Meinst du diese Art zu kämpfen?«, fragte Gaunt, als sie wieder zu Luft gekommen waren. »Die Deutschen zu Tode ringen?«

Ellwood hörte auf zu lachen, bewegte den Kopf aber nicht. Einen Moment blieben sie so, Stirn an Stirn, bis Ellwood sich bewegte und das Gesicht auf Gaunts Arm legte.

Bei der Berührung spannten sich alle Muskeln in Gaunts Körper an. Ellwoods Atem war heiß. Das erinnerte Gaunt an seinen Hund von zu Hause, Trooper. Womöglich deshalb zauste er Ellwood das Haar, suchte nach Strähnen, die der Pomade entkommen waren. Er hatte Ellwood seit Jahren nicht mehr übers Haar gestrichen, seit der ersten Klasse nicht, als sie mit dreizehn nach Preshute gekommen waren und er Ellwood immer wieder als weinendes Häufchen Elend zusammengekauert unter seinem Schreibtisch gefunden hatte.

Aber jetzt waren sie in der Upper Sixth, dem letzten Schuljahr, und berührten sich fast nie.

Ellwood hielt ganz still.

»Du bist wie mein Hund«, sagte Gaunt, weil irgendetwas schwer im Raum hing.

Ellwood riss sich los.

»Zu freundlich.«

»Das ist nett gemeint. Ich mag Hunde.«

»Ah ja. Soll ich dir etwas apportieren? Allmählich komme ich mit Zeitungen ganz gut zurecht, auch wenn meine Zähne immer noch ein paar Spuren hinterlassen.«

»Sei nicht albern.«

Ellwood lachte etwas unglücklich.

»Weißt du, ich bin auch traurig wegen Roseveare und Cuthbert-Smith«, sagte er.

»Natürlich.« Gaunt nickte. »Und Straker. Weißt du noch, wie ihr beide die Jüngeren am Stuhl festgebunden und die ganze Nacht auf sie eingeprügelt habt?«

Ellwood hatte seit Jahren niemanden mehr tyrannisiert, aber Gaunt wusste, dass er sich immer noch schämte wegen seiner Neigung zu unkontrollierbarer Gewalt, die immer wieder mit ihm durchging. Erst im vergangenen Trimester hatte Gaunt ihn wegen eines verlorenen Cricket-Matches vor Wut weinen sehen. Gaunt hatte das letzte Mal mit neun geweint.

»Straker und ich waren viel weniger gemein, als die Jungs in der Klasse über uns damals zu uns gewesen sind«, wehrte Ellwood sich. Er war rot geworden. »Charlie Pritchard hat mit Platzpatronen auf uns geschossen.«

Gaunt feixte. Er stichelte nur, weil er das Gefühl hatte, sich eine Blöße gegeben zu haben, als er Ellwood übers Haar strich. Das machte Ellwood bei anderen Jungs allerdings ständig, redete er sich zu. Ja, sagte eine Stimme in ihm, aber nie bei ihm.

»Aber befreundet war ich mit Straker trotzdem nicht«, sagte Ellwood. »Er war ein Unmensch.«

»Das sind deine ganzen Freunde, Ellwood.«

»Ich bin das alles leid.« Ellwood stand auf. »Komm, gehen wir raus.«

Während des Silentiums durften sie die Zimmer eigentlich nicht verlassen, deswegen mussten sie sich vorsichtig aus dem Cemetery House hinausstehlen. Sie schlichen über die hintere Treppe am Studierzimmer vorbei, wo ihr Hausvorsteher Mr Hammick einen Jungen aus der Shell wegen Petzens tadelte. (Preshute war ein Internat jüngeren Datums und verwendete mit Begeisterung die Bezeichnungen älterer, namhafterer Institutionen: Shell für die erste Klasse, Remove für die zweite, Hundreds für die dritte, gefolgt von der Lower und der Upper Sixth.)

»Das tun nur niedrige, ehrlose Menschen, Gosset. Möchtest du niedrig und ehrlos sein?«

»Nein, Sir«, wisperte der bedauernswerte Gosset.

»Armer Kerl«, sagte Ellwood, als sie die rückwärtige Haustür hinter sich ins Schloss zogen. Sie gingen über den Kiesweg zum Friedhof, dem das Cemetery House seinen Namen verdankte. »Die in der Shell sind ausgesprochen ekelhaft zu ihm, und nur, weil er allen am ersten Tag erzählt hat, dass er ein Herzog ist.«

»Und? Stimmt es?«, fragte Gaunt. Beim Gehen fuhr er mit den Fingerspitzen über die Oberkante der Grabsteine.

»Ja, schon. Aber solche Sachen muss man die anderen doch allein herausfinden lassen. Das ist so, als würde ich mich vorstellen mit den Worten: ›Guten Tag, ich bin Sidney Ellwood, ich sehe umwerfend gut aus.‹ Es steht mir nicht zu, das zu sagen.«

»Wenn du jetzt möchtest, dass ich dir deine Eitelkeit bestätige …«

»Nicht im Traum würde ich das«, sagte Ellwood und machte einen kleinen Hüpfer. »Ich habe seit rund drei Monaten kein Kompliment mehr von dir bekommen. Das weiß ich genau, weil ich jedes aufschreibe und die Liste in einer Schublade aufbewahre.«

»Eitler Geck.«

»Also, die Sache ist doch die, Gosset wird von der restlichen Klasse nach Strich und Faden schikaniert, und er tut mir wahnsinnig leid.«

Sie näherten sich der verfallenen alten Abtei am unteren Ende des Friedhofs. Mit der Dämmerung wurde es kühler und feuchter. Das Blau des Himmels verdunkelte sich, ihre Rockschöße flatterten im Wind. Gaunt schlang die Arme um sich. An Winterabenden hing in Preshute etwas Erwartungsvolles in der Luft. Vielleicht lag das an dem Kontrast zwischen den massigen Bergen hinter dem Internat, dem schwarzen Wald, den windgepeitschten Wiesen, allesamt ruhig und still, und dem krachenden Lärm der Jungs, wenn man ins Haus zurückkam. Wie sie so über die verlassenen Felder gingen, könnten sie ebenso gut die einzigen Überlebenden sein. Ellwood war auf einem hochherrschaftlichen Landsitz in East Sussex aufgewachsen, Gaunt aber in London. Stille hatte eindeutig ihren Zauber.

»Hör mal«, sagte Ellwood. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. »Kannst du dir, wenn du ganz leise bist, nicht genau vorstellen, wie die Römer hier die Kelten verdreschen?«

Sie blieben stehen.

Gaunt konnte sich über die Stille hinaus gar nichts vorstellen.

»Glaubst du an Zauber?«, fragte er. Ellwood schwieg, und zwar so lange, dass Gaunt bei jedem anderen die Frage womöglich wiederholt hätte.

»Ich glaube an Schönheit«, antwortete Ellwood schließlich.

»Ja«, bestätigte Gaunt mit Nachdruck. »Ich auch.« Er überlegte, wie es wohl wäre, jemand wie Ellwood zu sein, der zur Schönheit seiner Umgebung beitrug anstatt sie zu verunstalten.

»Das hier ist doch auf seine Art alles zauberhaft«, sagte Ellwood im Weitergehen. »Cricket und die Jagd und im Sommer nachmittags Eis auf dem Rasen. England ist zauberhaft.«

Gaunt ahnte, was Ellwood als Nächstes sagen würde.

»Deswegen müssen wir dafür kämpfen.«

Ellwoods England war tatsächlich zauberhaft, dachte Gaunt, während er den Brennnesseln auswich. Aber das war nicht England. Gaunt war einmal im East End gewesen, seine Mutter hatte ihn mitgenommen, um Suppe und Brot an irische Weber zu verteilen. Dort hatte es weder Cricket noch Jagden noch Eis gegeben. Aber Ellwood interessierte sich nicht für das Hässliche, während Gaunt – womöglich Mauds wegen, die Bernard Shaw und Bertrand Russell las und in ihren Briefen verrückte Sachen über die Kolonien schrieb – vermutete, dass das Hässliche zu wichtig war, um ignoriert zu werden.

»Erinnerst du dich an den Peloponnesischen Krieg?«, fragte Gaunt.

Ellwood lachte heiser.

»Also ehrlich, Gaunt, ich weiß wirklich nicht, warum ich mich mit dir abgebe. Wir lassen das Silentium doch eigens ausfallen, um nicht an Thukydides denken zu müssen.«

»Athen war die größte Macht Europas, vielleicht sogar der ganzen Welt. Dort gab es Demokratie, Kunst, herausragende Architektur. Aber Sparta war fast genauso mächtig. Nicht ganz so mächtig, aber nah dran. Und Sparta war militärisch gerüstet.«

»Gaunt, ist das eine Parabel? Bist du Jesus?«

»Und deswegen sind die Athener gegen Sparta in den Krieg gezogen.«

»Und haben verloren«, sagte Ellwood und versetzte einem morschen Baumstamm einen Tritt.

»Ja.«

Ellwood schwieg sehr lange.

»Wir verlieren nicht«, sagte er schließlich. »Wir sind das größte Empire, das es je gegeben hat.«

Sie waren in der Hundreds, als sie sich zum ersten Mal gemeinsam betranken. Gaunt war sechzehn, Ellwood fünfzehn. Pritchard hatte seinen älteren Bruder irgendwie – »unter außerordentlichem persönlichem Einsatz«, wie er dunkel andeutete – überredet, ihm fünf Flaschen billigen Whiskys zu geben. Pritchard, West, Roseveare, Ellwood und Gaunt schlossen sich ins oberste Bad im Cemetery House ein. Ellwood hatte, wie Gaunt später herausfand, darauf bestanden, Pritchard seine Flasche abzukaufen. Er hatte tödlich Angst davor, für geizig gehalten zu werden.

West spuckte seinen ersten Schluck ins Waschbecken. Er war eine unbeholfene, unglückselige Sorte Mensch mit großen Ohren: dumm im Unterricht, mittelmäßig bei Mannschaftsspielen, ein fröhlicher Versager.

»Gütiger Gott! Das Zeug ist ja widerwärtig!«, sagte er. Seine Krawatte saß schief. Das tat sie immer, ganz egal, wie oft er wegen Liederlichkeit bestraft wurde.

»Trink einfach weiter«, riet Roseveare, der lässig am Boden lag. Mit einem kurzen Blick stellte Gaunt zu seiner Irritation fest, dass er selbst in leicht verwahrlostem Zustand noch makellos aussah. Er war der Jüngste der drei vollkommenen Roseveare-Brüder, von denen jeder noch musterhafter war als der andere, und gut aussehend auf eine sorglose, distinguierte Art, die Gaunt ihm verargte.

»Mir schmeckt er ganz gut«, sagte Ellwood und drehte die Flasche, um das Etikett zu betrachten. »Ich könnte mich daran gewöhnen. Es regt den Geist an. Byron war angeblich auch der Meinung.«

»Das Zeug würde selbst den Weingeist anregen«, sagte Gaunt.

»Das war jetzt fast geistreich, Gaunt«, sagte Roseveare ermutigend. »Du machst dich.«

Gaunt trank einen Schluck. Der Geschmack sagte ihm nicht recht zu, aber der Alkohol gab ihm ein Gefühl von Leichtigkeit, als würden die anderen ihn nicht anschauen. Oder vielleicht auch, als störte es ihn nicht, wenn sie es taten. Er legte sich in die Wanne, allen Blicken entzogen, und drückte die Flasche an die Brust.

»Lord Byron war ein Sodomit«, sagte West mit der Aura eines Menschen, der ein bedeutsames Staatsgeheimnis verkündet.

Gaunt schloss die Augen.

»Das hat mein Vater gesagt«, fuhr West fort. »Er hat gesagt, man hätte ihn erschießen müssen.«

»Dein Vater findet, dass jedermann erschossen gehört«, meinte Roseveare.

»Nicht jedermann«, widersprach West.

»Na, sehen wir mal.« Pritchett zählte an den Fingern auf. Er hockte auf der Zisterne und umklammerte mit den Knien West, der auf dem Toilettendeckel saß. »Da wären die Homosexuellen, die Katholiken, die Iren und alle, die keine Hunde mögen.«

Pritchard sah unauffällig aus, und häufig wurde er tatsächlich übersehen, weil Charlie Pritchard ein Sportler war und Archie Pritchard ein Gelehrter, während Bertie Pritchard – den die Älteren gemeinhin »Mini« nannten, was er nicht leiden konnte – noch nicht wusste, wozu er taugte. Nach Gaunts Ansicht nicht zu viel, aber Ellwood mochte ihn.

»Du hast die Armen vergessen«, warf Ellwood ein und stieg zu Gaunt in die Wanne. »Die gewöhnlichen Sterblichen.« Er ließ sich mit dem Gesicht zu Gaunt zwischen dessen Beinen nieder.

»Und natürlich die Juden«, ergänzte Pritchard. »Die darf man nicht vergessen. Pech für dich, Ellwood.«

»Ich gehöre der Church of England an«, sagte Ellwood freundlich.

»Was meinst du, West?«, fragte Pritchard. »Genügt dem Squire eine Bekehrung?«

»Hört mal …«, setzte West an.

»Ellwood, bist du eigentlich beschnitten?«, erkundigte sich Pritchard.

Ellwood lächelte leichthin, als störe ihn die Frage nach seinem jüdischen Glauben nicht im Geringsten.

»Sollen wir das von Wests Vater untersuchen lassen?«, fragte er.

Er war nicht beschnitten, wie Gaunt wusste. Das war ihm früher schon aufgefallen, in den Duschen. Aus diesem Grund schwieg er.

»Ist er nicht«, sagte Roseveare. »Auch wenn das nichts zur Sache tut. Wests Vater ist da sehr strikt. Ich fürchte, Ellwood muss von der Bühne des Lebens abtreten.«

»Also …«, sagte West.

»O weh«, unterbrach Ellwood, lächelte traurig und lehnte sich in der Badewanne zurück. »Dabei gab es noch so viel, was ich tun wollte! Trotzdem – wie heißt gleich das Zitat von Euripides, das mir da durch den Kopf geht, Gaunt – über den Tod?«

»Πάσιν ημίν κατθανείν οφείλεται«, sagte Gaunt.

»Genau. ›Der Tod ist über alle Sterblichen verhängt.‹ Wenn ich schon tragisch jung sterben muss, dann warum nicht für Wests Vater?«

»Schon gut, schon gut«, sagte West, »Ich habe ja nie behauptet, dass ich seiner Meinung bin.« Er stützte das Kinn auf Pritchards Knie, um Ellwood in der Badewanne besser sehen zu können.

»Nein, nein, lass dich von mir nicht abhalten«, sagte Ellwood. »Etwas Blutvergießen ist genau das, was dieses Land braucht. Ich bin auf der Seite deines Vaters. Jedermann abschlachten, warum nicht?«

»Hör auf, den armen West so aufzuziehen, dafür ist er nicht intelligent genug«, sagte Pritchard in einem Ton, als wäre er selbst ein allgemein anerkannter Weiser.

»Ich bin mehr als intelligent!«, fuhr West auf.

»Übrigens, Pritchard«, sagte Ellwood, »was genau musstest du für deinen Bruder eigentlich tun, um uns mit diesem exzellenten Fusel zu versorgen?«

»Das ist unsagbar«, erwiderte Pritchard kopfschüttelnd. »Nur so viel – ihr seid mir alle einiges an Zuckerzeug schuldig.«

»Er musste Pritchard Major vor der versammelten Upper Sixth die Schuhe ablecken«, sagte West. Pritchard zog ihn an den Haaren. »Au! Hör auf!«

»Das habe ich dir im Vertrauen gesagt!«

»Hast du ihm wirklich die Schuhe abgeleckt? Welche?« fragte Ellwood.

»Was heißt ›welche‹? Das tut doch überhaupt nichts zur Sache!«

»Doch, da ist schon was dran«, befand West. »Ich hätte nichts dagegen, an einem Schnürsenkel rumzuknabbern, wenn es der Ausgehschuh wäre.«

»Ja, unter Niveau darf man sich nicht begeben«, stimmte Roseveare zu.

»Also gut, dann gebt mir meinen Whisky wieder. Für den finde ich dankbarere Abnehmer.«

Grinsend drückte Ellwood ein Bein gegen Gaunts, als Pritchard West die Flasche zu entwinden versuchte. Gaunt drückte die Wange an das kühle Porzellan und lächelte zurück.

Zwei Stunden später war Gaunt immer noch lediglich angeheitert, während Ellwood sturzbetrunken war. Er drehte sich in der Wanne um und lehnte sich an Gaunts Brust, eine Hand auf Gaunts Oberschenkel, in der anderen die Flasche. Gaunt konzentrierte sich ausschließlich auf die Wärme von Ellwoods Rücken an seiner Brust, die grazile Hand, die lässig auf seinem Schenkel lag.

Gaunt wich mit den Hüften ein winziges Stück zurück. Eine Schutzmaßnahme.

»Ein Cousin zweiten Grades von mir war auf der Titanic«, erzählte Roseveare gerade. Es war das Jahr 1913, und die Titanic war ein häufig und fasziniert erörtertes Thema. Roseveare und Pritchard lagen auf dem Boden. West hatte sich unbeholfen ins Waschbecken manövriert und pfiff An der schönen blauen Donau, wie bereits seit einer Dreiviertelstunde.

Ellwoods Kopf sank auf Gaunts Schulter.

»Was ist?«, fragte Gaunt.

»Was soll sein?«

»Du bist gerade ganz trübsinnig geworden.«

Ellwood zögerte, ehe er antwortete.

»Maitland«, sagte er dann leise. »Du weißt ja, Ende des Jahres geht er weg.«

Gaunt war froh, dass Ellwood sein Gesicht nicht sehen konnte, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er damit anstellen sollte.

Die ganze Shell und Remove hindurch war Ellwood ständig in John Maitlands Zimmer gerufen worden, »um die Mannschaften der unteren Jahrgänge zu besprechen«. Maitland spielte beim Fußball rechts außen in der Startmannschaft und wurde deshalb von der gesamten Schule vergöttert, vom hochmütigsten Lehrer bis zum bedeutungslosesten Neuzugang. Er konnte tun und lassen, was er wollte. Nicht, dass das je so unverhohlen gesagt worden wäre – was die Jungen miteinander in der Dunkelheit anstellten, war nur akzeptabel, solange es im Verborgenen blieb. Das war unausgesprochen, unsichtbar und, das Entscheidende, nicht von Dauer. Für Gaunt bestand keinerlei Zweifel, dass sowohl Maitland als auch Ellwood ihre Unreife ablegen und, sobald sie Oxford oder Cambridge verließen, achtbare junge Frauen heiraten würden.

Aber in der Zwischenzeit waren sie besondere Freunde.

»Ich mag ihn sehr«, sagte Ellwood.

Pritchard und Roseveare unterhielten sich immer noch über die Titanic.

»Ich würde mich schämen, so etwas zu überleben«, sagte Pritchard.

»Ziemlich unmännlich«, meinte Roseveare.

»Aber …«, fuhr Ellwood fort, »… nicht so wie …« Seine Stimme erstarb.

»Meine Schwester?«, schlug Gaunt vor. Ellwood lachte unwirsch.

»Ja, Gaunt, deine Schwester«, sagte er.

Unvermittelt setzte Roseveare sich auf und beäugte sie.

»Ihr zwei habt es euch da in der Wanne ja sehr gemütlich gemacht.«

Gaunt versuchte, Ellwood von sich wegzuschieben, aber Ellwood rührte sich nicht.

»Reiz ihn nicht, Roseveare, sonst will er mir nicht mehr als Kissen dienen«, sagte er.

Roseveare lachte.

»Du bist der Einzige, der sich trauen würde, Gaunt als Kissen zu benutzen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Gaunt und ballte automatisch die Hände zur Faust.

»Nur, dass du jedem anderen, der das versuchen würde, eine Tracht Prügel verabreichen würdest«, sagte Roseveare.

»Wenn du nicht aufhörst, deine Nase ungebeten in Sachen reinzustecken, bekommst gleich du eine Tracht Prügel«, sagte Gaunt.

Ellwood beruhigte ihn mit einem kleinen Lachen, Gaunt löste die Fäuste.

»Worüber unterhaltet ihr euch überhaupt?«, wollte Roseveare wissen.

»Mädels«, erklärte Ellwood.

»Hmm. Dann redet mal weiter«, sagte Roseveare und ließ sich wieder auf die Ellbogen fallen.

»Stell dir vor, du wärst auf einem sinkenden Schiff«, fuhr Pritchard fort, als hätte Roseveare das Gespräch nie unterbrochen. »Würdest du nicht lieber untergehen als zu überleben in dem Wissen, dass du ein mieser kleiner Feigling warst?«

»Aber natürlich«, sagte Roseveare. »Das würde doch jeder.«

»Wie sich wohl die Mädchen aufgeführt haben, als das Schiff gesunken ist?«, fragte Pritchard.

»Haben vermutlich verzweifelt nach tröstenden Armen gesucht«, sagte Roseveare. Pritchard lachte lüstern.

Gaunt beugte sich vor zu Ellwoods Ohr, bis er es fast mit den Lippen berührte, damit keiner ihn hören konnte.

»Maitland geht es bestimmt genauso«, sagte er. »Du vertreibst dir doch nur die Zeit, bis du Maud heiraten kannst, oder?«

Ellwood seufzte.

»Ja, wahrscheinlich.« Er presste die Stirn gegen Gaunts Hals. Gaunt umklammerte den Rand der Wanne. »Es tut mir leid. Ich weiß, es ist dir unangenehm, wenn ich über ihn rede.«

Das stimmte. Nach allem, was Ellwood ihm von Maitland erzählt hatte, und nach dem, was Gaunt selbst sehen konnte, war Maitland der Inbegriff eines Renaissance-Fürsten. Er sah gut aus, hatte Talent und war brillant, aber trotzdem wollte Ellwood ihn nicht. Und wenn Ellwoods Zuneigung selbst zu Mailand nicht von Dauer war …!

Ellwood war anderen gegenüber sehr freigebig mit seiner Aufmerksamkeit, aber Gaunt kam das nie als ein Ausdruck seiner wahren Gefühle vor. Ellwood wollte einfach geliebt werden.

»Das stimmt nicht«, sagte er unbehaglich.

»Doch, das stimmt schon. Ich spüre doch, wie du dich gerade verspannst«, sagte Ellwood. »Als würdest du jederzeit damit rechnen, dass ich dich schlage.«

»Ich habe nichts dagegen, wenn mir deinetwegen unbehaglich wird, Elly«, sagte Gaunt leise. Ellwood drehte den Kopf auf Gaunts Schulter so, dass er ihn ansehen konnte. Die Lider waren ihm schwer vom Alkohol, aber die Irides sahen aus wie immer. Strahlend braun. Gaunt verspürte den trunkenen – oder dummen – oder mutigen Impuls, den Kopf nach vorne zu neigen.

Er gab ihm nicht nach.

Ellwoods Hand krümmte sich um Gaunts Oberschenkel, sodass ein quälender Schauer durch sein ganzes Bein jagte. Sie trennte nur wenige Zentimeter geladene Luft. Gaunt war froh, dass er schon vorher daran gedacht hatte, die Hüften ein Stück zurückzuziehen. Nicht auszudenken, wenn Ellwood spüren würde, was der feste Griff seiner Finger bei ihm auslöste.

»Ich möchte nur …«, begann Gaunt. Ellwood schloss die Augen. »… dein Freund sein.«

Ellwood senkte den Kopf.

»Ich habe zu viel getrunken«, sagte er.

»Bett?«, schlug Gaunt vor.

Ellwood lachte trocken, verstimmt.

»Machst du mich an, Gaunt?«

Gaunt wurde rot.

»Selbstverständlich nicht«, antwortete er.

»Selbstverständlich nicht«, wiederholte Ellwood. Vorsichtig stieg er aus der Wanne und wäre fast auf Pritchard getreten. »Gehabt euch wohl, Jungs, ich habe eine Verabredung mit dem Federball, die möchte ich nicht verpassen.«

Im Dezember 1914, vier Monate nach der Kriegserklärung, wurde Gaunt achtzehn. Am Morgen drängten die Jungs, angeführt von Ellwood, in sein Zimmer und wickelten ihn in seine Wolldecke. Als Bündel verpackt, trugen sie ihn in die hohe Eingangshalle, griffen sich die vier Enden der Decke und warfen ihn achtzehn Mal in die Luft.

»Und noch einmal für Glück!«, rief Ellwood, und grinsend schlang Gaunt die Arme noch fester um sich. Die Jungen senkten ihn bis fast auf den Boden ab, riefen einstimmig »Neunzehn!« und schleuderten ihn so hoch, dass er die Arme ausstrecken musste, um nicht gegen die Decke zu prallen.

Mr Hammick lächelte nachsichtig, als sie wieder nach oben marschierten.

»Nur ein Jahr noch, dann kannst du einrücken, Gaunt!«, piepste er. Gaunt lächelte unbehaglich.

»He, Gaunto, was hast du eigentlich unter deiner Nachtwäsche versteckt?«, fragte West und schlang einen Arm um ihn. »Ziegelsteinschwer warst du.«

»Du bist wirklich ein klobiger Klotz«, sagte Pritchard.

»Hat sich beinahe ins nächste Stockwerk durchgeboxt«, meinte Roseveare.

»Der Nächste, der mich einen Klotz nennt, bekommt eine Tracht Prügel«, drohte Gaunt.

»Huuuuhh!«, schrien alle schrill und spöttisch.

»Alles Gute zum Geburtstag, alter Knabe«, sagte Ellwood leise.

Während des Mittagessens erschienen Gaunts Mutter und seine Schwester. Er berichtete Ellwood gerade von einem interessanten Abschnitt, den er bei Thukydides gefunden hatte (Ellwood tat nur so, als hasste er den Unterricht), da schnippte West eine Gabel voll Erbsen auf ihn. Oder er versuchte es zumindest – die meisten trafen Pritchard, der sie sich seufzend aus dem Haar schüttelte, einen Ausdruck gequälter Resignation im Gesicht.

»›Tschuldige, ’tschuldige!«, sagte West. »Gaunt, ist das nicht deine Mutter?«

Gaunt hatte nicht mit Besuch gerechnet. Abends würde die Schule einen Pfundkuchen spendieren, und er wusste, dass Ellwood ihm etwas schenken würde – das genügte ihm. Es war immer merkwürdig, Eltern im Internat zu sehen, ähnlich einem Fuchs, den man in einer Großstadt entdeckt.

»Wer ist das Mädchen? Hast du die ganze Zeit eine Schwester versteckt?«, erkundigte sich West.

»Eine Zwillingsschwester«, sagte Ellwood hinterhältig.

»Unmöglich. Sie ist nämlich hübsch«, sagte West. Gaunt versetzte ihm eine Kopfnuss und lief in den Vorhof, dicht gefolgt von Ellwood.

»Henry!«, sagte Maud, und dann leiser: »Sidney.«

Ellwood wartete, bis Gaunt Maud umarmt hatte, ehe er ihr antwortete.

»Guten Tag, Maud«, sagte er. »Bist du geschrumpft?«

Maud lachte. Ellwood brachte sie immer zum Lachen. Wenn er in den Ferien zu ihnen zu Besuch kam, trieb er sich oft im Garten herum und wollte sie zum Schäkern provozieren. Es gelang ihm nie – Maud war nicht der kokette Typ –, aber Gaunt merkte, dass es ihr gefiel.

»Er ist richtig albern«, hatte sie einmal liebevoll gesagt.

»Meinst du«, hatte Gaunt gesagt, dem das wie eine gründliche Fehleinschätzung vorkam, so, als würde man über Napoleon sagen, er sei spaßig.

»Im Grunde sind ihm natürlich alle Menschen gleichgültig«, hatte Maud ergänzt, und das traf Gaunt so schwer, dass er keine Antwort geben konnte. So erging es ihm immer, wenn seine Schwester Dinge sagte, die neu und zutreffend und schrecklich waren.

»Nein, Sidney, ich bin nicht geschrumpft«, erwiderte sie jetzt. »Du bist gewachsen, und du hoffst auf ein Kompliment.«

»Willst du mir keins machen?«, fragte Ellwood grinsend. Maud schüttelte nur lachend den Kopf.

»Alles Gute zum Geburtstag, Heinrich«, sagte Gaunts Mutter. Im Vorbeigehen wandten sich mehrere Jungen wegen ihres deutschen Akzents zu ihnen um.

»Gehen wir rein, ja?«, schlug Gaunt vor. Er brauchte nicht noch Öl auf die Gerüchte zu gießen, er sei ein deutscher Spion. Schlimm genug, dass er mit zweitem Vornamen Wilhelm hieß.

»Ich überlasse euch gern mein Zimmer«, sagte Ellwood.

»Danke«, sagte Gaunt. Er hatte ohnehin vorgehabt, in Ellwoods Zimmer zu gehen, ob mit oder ohne Aufforderung.

Er nahm den Arm seiner Mutter. Maud und Ellwood gingen vor, ohne sich zu berühren. Maud lachte über alles, was Ellwood sagte, und einmal hüpfte Ellwood selbstzufrieden.

Er begleitete sie zum Cemetery House und führte sie durch den prachtvollen Haupteingang, den die wenigsten Jungs je benutzten, und von dort weiter zu seinem Zimmer.

»Schön«, sagte Maud und betrachtete die Bilder, die Ellwood in der Stadt erstanden hatte.

»Das Zimmer ist famos«, sagte Ellwood. »Der Gedanke, dass im nächsten Jahr jemand anderes es bekommt, gefällt mir gar nicht. Was hältst du von dem Bild, Maud? Es ist schlecht gemalt, aber es erinnert mich an die Seeschlacht bei Abukir, deswegen musste ich es einfach kaufen.«

»Es gefällt mir gut«, sagte Maud. »Für Nelson hatte ich schon immer eine Schwäche.«

»Fang bei Ellwood bloß nicht mit Nelson an«, warnte Gaunt.

Ellwood ließ sich gegen die Wand fallen und drückte seine Hände auf eine imaginäre Wunde in der Brust.

»Küssen Sie mich, Hardy!«, rief er.

»Lach nicht«, sagte Gaunt zu Maud. »Du spornst ihn nur noch mehr an. Verschwinde, Elly, wir brauchen keine Unterhaltung.«

»Na, also gut«, sagte Elly. Er verbeugte sich leicht vor Gaunts Mutter und warf Maud ein Lächeln zu. »Großartig, Sie beide zu sehen. Lass dir so lange Zeit, wie du magst, Henry, ich werde eine Ewigkeit weg sein.«

Gaunt nickte, und Ellwood verließ das Zimmer.

Gaunts Mutter und Schwester setzten sich auf das Sofa, Gaunt lehnte sich ans Fensterbrett, das Gesicht zu ihnen gewandt.

»Wie geht es euch?«

Seine Mutter brach in Tränen aus. Gaunt wühlte in seiner Fracktasche nach einem Taschentuch und war sehr froh, als Maud ihm mit ihrem zuvorkam. Er hatte mit seinem vormittags Pritchards Nasenbluten gestillt, nachdem Master Larchmont ihm ein Buch ins Gesicht geschmissen hatte. (Pritchard hatte es verdient.)

Er tat, als suche er weiter nach dem Taschentuch, bis das Schluchzen seiner Mutter allmählich erstarb.

»Ach Heinrich, es ist schrecklich, ganz schrecklich … Dein Onkel Leopold …« Eine erneute Weinattacke ließ seine Mutter verstummen.

Gaunt betrachtete angelegentlich seine Nägel.

»Onkel Leopold wird vorgeworfen, für die Deutschen spioniert zu haben«, sagte Maud.

Gaunt schaute auf. Maud beobachtete ihn unverwandt und streichelte währenddessen ihrer Mutter den Rücken.

»Und? Stimmt es?«, fragte er an Maud gewandt.

»Natürlich nicht!«, fuhr seine Mutter auf, und Maud redete beruhigend auf sie ein.

»Hör bitte auf zu weinen, Mutter«, sagte Gaunt. »Das findet sich alles.«

»Vater glaubt, dass es sich im Sand verlaufen wird, aber heute Morgen hat jemand einen Ziegelstein durchs Fenster in den Salon geworfen«, erklärte Maud. »Und die Hälfte des Personals hat gekündigt.«

Gaunt juckte es regelrecht in den Fingern, sich eine Zigarette anzuzünden, aber er wollte seine Mutter und Schwester nicht beleidigen, indem er in ihrer Gegenwart rauchte.

»Das geht vorüber«, sagte er. »In drei Wochen erinnert sich kein Mensch mehr daran.«

Maud warf ihm einen ungläubigen Blick zu, aber seine Mutter putzte sich die Nase und setzte sich auf.

»Dein Vater wird in der Bank deswegen schon schief angesehen … Du musst dich freiwillig verpflichten, Heinrich. Wenn unser Sohn an der Front steht, wird niemand mehr wagen zu behaupten, wir wären keine Patrioten.«

Gaunt blinzelte, dann hatte er seine Miene wieder unter Kontrolle.

»Ich bin noch nicht neunzehn«, sagte er neutral.

»Als würde es darauf ankommen! Du bist einen Meter neunzig groß!«

»Ich gehe nach Oxford und studiere Altphilologie.«

Seine Mutter erhob sich. Gaunt richtete sich auf.

»Möchtest du, dass Maud als alte Jungfer stirbt?«, fragte sie. Maud protestierte leise vom Sofa aus.

»Der Krieg ist in ein paar Monaten vorbei. Bis Maud heiratet, ist er schon längst wieder vergessen.«

»Feigheit vergessen die Menschen nie!«, zischte seine Mutter so heftig, dass Gaunt wieder blinzelte. Dann lächelte er.

»Und du, Maud? Möchtest du, dass ich deinen Heiratsaussichten zuliebe sterbe?«

Maud wandte den Blick ab. Schuldbewusst, hatte er den Eindruck.

Am Tag der Kriegserklärung waren sie zusammen in London auf einer Gartenparty gewesen. Mehrere deutsche Adelige hatten bei den Erdbeeren mit Sahne zusammengestanden.

»Habe ich die patriotische Pflicht, einen von ihnen mit der Gabel zu erstechen?«, hatte Ellwood gefragt.

»Also bitte«, hatte Maud wütend gesagt. »Sei nicht so despektierlich, verstehst du denn nicht …«

Sie war verschwunden, ehe sie den Satz beendete, und Ellwood hatte Gaunt belustigt angesehen und gepfiffen. Aber Gaunt hatte es nicht lustig gefunden.

»Es ist erschreckend, solchem Hass ausgesetzt zu sein«, sagte Maud jetzt.

Gaunt kehrte zum Fenster zurück. Im Innenhof saß Ellwood auf Roseveares Schultern, Pritchard saß auf Wests, und so gingen sie mit langen Linealen, gezückt wie Säbel bei einem Angriff der Kavallerie, aufeinander los.

Fragen und Zagen war nicht ihr Gebot

Wanken und Schwanken brachte den Tod

Gehorsam war ihr einzig Gebot.

Und vorwärts hinein ins Todestal

Ritten die Sechshundert.

Wie jeder englische Schuljunge kannte er Tennysons »Attacke der Leichten Brigade« auswendig. Wenn Ellwood zu müde war, um interessant zu sein, pflegte er mit sonorer Stimme das ganze Gedicht zu rezitieren.

»Der Krieg ist unsinnig«, sagte Gaunt.

»Vater sagt, dass er nicht lang dauern wird«, meinte Maud. »Bis du an die Front kommst, ist er wahrscheinlich schon zu Ende.«

Er fragte sich, ob sie das wirklich glaubte. Sie las den New Statesman. Wären da nicht die Gräueltaten in Belgien, hätte sie den Krieg womöglich aus Gewissensgründen abgelehnt.

»Du musst dich verpflichten, bevor es zu spät ist«, drängte seine Mutter. »Wenn du erst gegen Ende des Kriegs an die Front gehst, sagen die Leute, dass du eigentlich gar nicht kämpfen wolltest.«

Gaunt ballte die Fäuste und klopfte leise auf das Fensterbrett.

»Ich möchte mal sehen, dass die sich verpflichten!«, ereiferte sich Gaunt und marschierte auf der Fox’s Bridge hin und her. Ellwood saß im Schneidersitz auf der steinernen Brüstung.

»Ich würde sterben, wenn mir jemand eine weiße Feder geben würde«, sagte er.

Gaunt war in die Stadt gegangen, um sich von dem druckfrischen Pfundschein in seiner Tasche ein Paar neue Boxhandschuhe zu kaufen. Vor dem Schaufenster von Wyndham & Bolt war er stehen geblieben und hatte gerade überlegt, ob er stattdessen nicht doch lieber einen eleganten neuen Hockeyschläger erstehen sollte, als zwei junge Frauen auf ihn zutraten. Sie waren elegant und trugen schicke Hüte in der neuesten Mode. Die Hübschere der beiden sprach ihn an.

»Warum sind Sie nicht an der Front?«, fragte sie.

Passanten hielten inne, um seine Antwort zu hören.

»Ich bin noch nicht neunzehn.«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick.

»Das sagen sie alle«, meinte die weniger Hübsche und reichte ihm eine weiße Feder. Gaunt starrte sie an.

»Für einen tapferen Soldaten«, sagte die Hübschere mit einem gehässigen Lachen. Gaunt war unfähig, sich von der Stelle zu bewegen. Wie angewurzelt stand er da, sein Magen brannte, seine Haut prickelte unter den verächtlichen Blicken der Menschen, die ihn umstanden. Als der Frau klar wurde, dass er die weiße Feder nicht nehmen würde, steckte sie sie ihm ins Knopfloch.

»… eine Schande«, brummte jemand. »So ein gestandenes Mannsbild …!«

»Wären sie Männer gewesen, dann hätten sie sich nie getraut, das zu sagen«, sagte Ellwood. »Du hättest ihnen die Zähne eingeschlagen.«

»Ich konnte überhaupt nichts tun.«

Wie versteinert war er sich vorgekommen, gelähmt vor Schande. Es tat nichts zur Sache, dass der Krieg dem Empire seiner Ansicht nach schaden würde, dass er aus Prinzip dagegen war. So verächtlich, wie er angestarrt wurde, wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Es war, als wäre er höchstpersönlich der Feind.

Der Bach floss laut plätschernd zwischen ihnen, es war ein schöner Tag. Schwer, sich vorzustellen, dass in Frankreich Männer mit Maschinengewehren aufeinander schossen.

»Ich bin kein Feigling«, sagte er. Das hatte nachdrücklich sein sollen, doch es klang eher wie eine Frage.

Ellwood sprang von der Brüstung.

»Henry.«

Gaunt hob den Blick, Ellwood legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er erstarrte und kämpfte sofort gegen den Impuls an, sich zu entziehen – irgendwie erdete ihn die Berührung. In der Stadt war er sich vorgekommen, als habe er eine ansteckende Krankheit. Ellwoods glänzende braune Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Natürlich bist du kein Feigling.«

»Vielleicht doch«, widersprach Gaunt mit einem kleinen Lachen. »Es ist nur – Ernst und Otto.«

Ellwood kannte die Münchner Cousins. Im Sommer vor dem Krieg war er zu Besuch dort gewesen. Sie hatten sich gemeinsam mit einem von Mönchen gebrauten Bier betrunken und bayerische Lieder gesungen. Gaunt fragte sich, inwieweit sein hochgesinnter Pazifismus mit der schlichten Angst zu tun hatte, seine Cousins töten zu müssen. Er stellte sich vor, Ernst mit einem Bajonett zu erstechen, eine Granate auf Otto zu schleudern.

»Du hast keine Angst vorm Sterben, Henry, du hast nur etwas dagegen, jemanden zu töten. Das ist nicht Feigheit.«

Gaunt nickte kurz. Er hatte getrunken, und es fiel ihm schwer, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als auf Ellwoods Hand auf seiner Schulter. Sie hatten sich nicht mehr berührt, seit dem Tag, als sie von Cuthbert-Smiths Tod erfahren hatten. Nicht, dass Gaunt im Geist Strichlisten über derlei führte.

Es fiel ihm schwer, mit seinem Geist überhaupt etwas zu tun. Er starrte Ellwood nur gierig an, sah, wie seine langen, schwarzen Wimpern sich leicht auffächerten, bemerkte, dass das Weiß in seinen Augen fast zu weiß war. Ellwood hatte die verrücktesten Lippen, die er je gesehen hatte, ein richtiger Amorbogen, als hätte eine Frau ihn mit Lippenstift aufgemalt.

Ellwoods andere Hand wanderte langsam, zaghaft zu Gaunts Kinn. Gaunt widerstand der Versuchung, sich hineinzuschmiegen, aber seine Augen schlossen sich flatternd.

»Henry«, sagte Ellwood so leise, dass Gaunt sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen (nur deswegen beugte er sich vor: um ihn zu verstehen), und dann stupste er mit der Nase an Gaunts. Gaunts Lippen zitterten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er neigte den Kopf zur Seite, fort von Ellwoods Lippen, sodass Ellwood sie auf Gaunts Wange drückte.

Am liebsten hätte Gaunt geschrien. Die Brücke sollte unter unserem Gewicht zusammenbrechen, dachte er. Ich verliere den Verstand. Er dachte an den Ziegelstein, der zu Hause durchs Fenster in den Salon geflogen war, an die Worte »Henry Gaunt ist ein deutscher SPION«, die immer noch auf die Wand in der Garderobe geschmiert waren, so frisch wie die Inschrift auf Cuthbert-Smiths Grab. Er dachte daran, wie George Burgoyne hinter Ellwoods Rücken über ihn lästerte: »Wir wissen doch alle, was Ellwood macht, wenn er Jungs zu sich bestellt, um mit ihnen die Cricketteams der unteren Jahrgänge zu besprechen …«

Ellwood verschliss andere Menschen. Hatte er sie einmal gehabt, wollte er sie nicht mehr.

Er dachte daran, wie Ellwood sich, vollständig bekleidet, in der leeren Badewanne an ihn gelehnt hatte.

»Du vertreibst dir doch nur die Zeit, bis du Maud heiraten kannst, oder?«

»Ja, wahrscheinlich.«

Die weiße Feder steckte in seiner Tasche, und Ellwoods Hände waren in seinem Haar. Er konnte nicht denken. Seine Haut brannte lichterloh, vor Scham und vor etwas anderem, etwas, das er nicht erkennen wollte, und plötzlich hielt er es nicht mehr aus. Abrupt wandte er sich von Ellwood ab und kramte nach seinem Zigarettenetui.

Ellwoods Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten.

»Alles in Ordnung?«

Gaunt nickte. Er war überzeugt, dass er sich absolut lächerlich gemacht hatte.

»Zigarette?« Er bot ihm eine an. Seine Hände zitterten. Ellwood nahm sie und beugte sich vor, damit Gaunt ihm Feuer geben konnte. Die Zündholzflamme warf einen flackernden Schatten auf Ellwoods fein ziseliertes Gesicht.

»Henry.« Rauch strömte in zarten Fäden aus seinem Mund. »Ist bei dir alles in Ordnung?«

»Mir fehlt nichts.«

»Ja, ich weiß, dass dir nichts fehlt. Aber geht es dir denn auch gut?«

»Himmel, Ellwood, jetzt hör schon auf!« Die Worte kamen ihm schärfer als beabsichtigt über die Lippen. Ellwood versuchte zu lächeln, was ihm nicht ganz gelang. Er sog seine Zigarette förmlich zum Mund. Irgendwie sah die Art, wie Ellwood rauchte, immer sehr französisch aus. Das bewirkte, dass Gaunt seine eigene nicht mehr wollte. Er schnippte sie in den Bach und ging davon. Ellwood lief ihm nach.

»Wieso die Eile?«

Gaunt antwortete nicht.

»Henry, hör …«

Gaunt blieb stehen.

»Ja?«, fragte er. Ellwood sah unglücklich aus. Es tat ihm gut, dafür verantwortlich zu sein. Sollte doch ausnahmsweise einmal Ellwood etwas empfinden. Gaunt hatte die Empfindungen satt.

»Habe ich …« Ellwood senkte den Blick angesichts von Gaunts wütendem Starren. »Habe ich dich beleidigt?«

»Natürlich nicht«, antwortete er barsch.

»Wart auf mich«, bat Ellwood, denn Gaunt ging schon wieder weiter, marschierte an dem Teich mit den bösartigen Schwänen vorbei.

»Pass auf, ich habe noch ziemlich viel Hausarbeiten zu machen, ja?«

»Henry, es tut mir leid, ich hätte das nicht tun dürfen.«

In München hatte Henry sich einmal an Ellwoods Bein gelehnt und festgestellt, dass Ellwood steif war. Welchen Standard Ellwood sonst auch haben mochte, Gaunt wusste, dass er sich bisweilen versucht fühlte, wegen der Ungezwungenheit ihres Umgangs und weil es praktisch wäre, sich gegenseitig zu benützen. Und vielleicht hätte Gaunt damals gehandelt, hätte sich auf einer bayerischen Wiese auf eine seelenlose Fummelei eingelassen, etwas, woran man sich erinnern könnte, wenn sie erst einmal von der Schule abgegangen sein würden und ihre Abnormalität abgestreift hätten. Womöglich hätte er es auch getan, wenn er davon ausgegangen wäre, dass Ellwood sich je daran hätte erinnern wollen. Aber nie klang Ellwood abschätziger, als wenn er von Jungen sprach, die er zuvor anscheinend sehr gern gemocht hatte.

»Vergiss es«, sagte Gaunt. »Es macht nichts.«

»Ich wollte dich nicht beleidigen.«

Gaunt blieb stehen und sah zu Ellwood, der sich auf die Lippen biss. Er zwang sich zu einem Lächeln. Er verhielt sich irrational, schlimmer noch, er war unfreundlich.

»Es war sehr anständig von dir, mich aufheitern zu wollen, Elly. Es tut mir leid, dass ich so schlechter Laune bin.«

»Henry …«

»Ich glaube, ich sollte lieber allein sein, bis ich weniger widerwärtig bin«, sagte Gaunt. Er begegnete Ellwoods Blick nicht. Dafür war er zu betrunken.

»Na gut«, sagte Ellwood unglücklich.

Gaunt nickte und ging mit großen Schritten davon. Er spürte Ellwoods Blick auf seinem Hinterkopf. Er marschierte an der Abtei vorbei durch den Friedhof, zum Schultor hinaus und in die Stadt.

Es war Spätnachmittag an einem Samstag, doch die Rekrutierungsstelle hatte noch geöffnet. Nur ein Mann saß dort, ein Uniformierter mit einem beeindruckenden Schnurrbart im Stil von Lord Kitchener.

»Ich möchte mich melden«, sagte Gaunt.

»Großartig! Genau die Art Mann, die wir brauchen! In der Schule sind Sie noch? Wie alt?«

Was hätte er in einem zusätzlichen Jahr tun können? Er und Ellwood wollten den Canterbury Trail gehen. Sie hatten die Route bereits geplant, die Gasthäuser, in denen sie absteigen würden, die Orte, an denen sie lagern wollten. Ein kleines Zelt, das sie teilen würden.

»Neunzehn«, sagte er.

»Prächtig. Wenn Sie hier unterzeichnen möchten, dann kümmern wir uns um alles andere.«

Gaunt zögerte nicht, bevor er unterschrieb, auch wenn er das Gefühl hatte, als würde ihm sein Name entrissen. In ihm brodelte eine Unruhe, wie er sie auch im Boxring empfand, den Willen, auszuteilen und einzustecken, den Drang, zu zerstören und verderben, und nichts anderes würde ihm genügen. Er würde kein deutscher Pazifist sein, kein Weichling. Er konnte nichts dafür, dass er deutsch war, er konnte offenbar auch nichts für das, was immer er empfand, wenn Ellwood sich an ihn lehnte.

Aber er war sehr wohl in der Lage, Menschen zu töten.

2. kapitel

Gaunt kam nicht zum abendessen, das es samstags immer im Cemetery House gab. Pritchard setzte sich, ließ aber einen Platz neben sich auf der Bank frei.

»Wo bleibt Gaunt der Gefräßige?« fragte er und griff sich Ellwoods Brötchen.

»Gib das sofort zurück, du Barbar.«

Pritchard fuhr mit der Zunge über das Brötchen und reichte es Ellwood zurück.

»Ich weiß nicht, er kommt eben zu spät«, sagte Ellwood und schnitt die Stelle, die Pritchard abgeleckt hatte, sorgsam ab.

West beugte sich über den Tisch und landete dabei mit dem Ellbogen in der Butter.

»Ach …! Nicht schon wieder.« Betroffen wischte er mit seinem dreckigen Taschentuch das Jackett ab. »Unser Riesenvielfraß? Fehlt ihm etwas?«

»Zwei Frauen haben ihm in der Stadt eine weiße Feder gegeben«, sagte Ellwood. Pritchard und West tauschten einen Blick.

»Armer Kerl«, sagte Pritchard.

»Eine weiße Feder?«, fragte Burgoyne laut von weiter unten am Tisch. Burgoyne klang selbstgefällig und aufdringlich, wie immer, wenn er den Mund öffnete.

»Halt die Klappe, Burgoyne«, sagte Ellwood.

»Wurde aber auch Zeit, dass jemand Gaunt eine Feder gibt. Seine Meinung zum Krieg ist eine einzige Schande.«

»Ausgesprochen mutig von dir, das zu sagen, wenn er gerade nicht hier ist, um dir eins auf die Nase zu geben«, sagte Pritchard.

»Vor dem Schläger habe ich keine Angst.«

Das kann auch nur Burgoyne, Gaunt als Schläger zu bezeichnen, dachte Ellwood. Burgoyne war ein schikanöser Snob, dem Gaunt mehr als einmal eine Lektion erteilt hatte.

»Behauptet Burgoyne gerade wieder mal, dass wir ihn misshandeln?«, fragte Roseveare vom anderen Tisch. »Halt die Luft an, Schweinchen Schlau, oder wir zeigen dir, was ein Schläger ist.«

Empört wollte Burgoyne etwas erwidern, aber West kippte ihm den Inhalt seiner Teetasse in den Schoß.

»Au! Du hast mich verbrannt!«, schrie Burgoyne.

»Hast du dir in die Hose gemacht, Georgie?«, fragte Pritchard mit besorgter Miene. »Da solltest du wohl besser mal zum Onkel Doktor gehen, das passiert dir doch immer wieder.«

»Ihr seid Unmenschen, ihr alle zusammen«, sagte Burgoyne und stand ungelenk auf. »Ihr seid das, woran das System der Public Schools krankt.«

Ellwood legte den Kopf auf Pritchards Schulter, beide brachen vor Lachen schier zusammen.

»Guter heiliger Gott«, sagte Pritchard, während Burgoyne aus dem Saal stürmte. »Er nimmt aber auch alles wirklich so furchtbar ernst!«

»Wir sollten uns wieder mal sein Zimmer vornehmen«, sagte West. »Neulich habe ich bei ihm nach einem Spickzettel für Aischylos gesucht und festgestellt, dass ein paar seiner Möbel doch tatsächlich noch heil und ganz sind!«

»Potztausend! Bei dem entsetzlichen Missstand können wir es unmöglich belassen«, sagte Ellwood.

»Der arme Kerl«, meinte Pritchard, der ein weiches Herz hatte. »Sollen wir ihn nicht mal eine Woche lang in Ruhe lassen? Es ist nicht seine Schuld, dass er bei Spielen hoffnungslos versagt.«

»Doch, das ist es verdammt noch mal schon«, widersprach West. »Er bemüht sich ja nicht mal!«

Sie aßen ihr Butterbrot und tranken ihren Kakao. Gaunt war immer noch nicht erschienen, als Mr Hammick sich erhob.

»Jungs, ich habe heute Abend eine wunderbare Nachricht, die euch alle mit Stolz erfüllen wird. Unser ureigener Henry Gaunt hat sich zum Einsatz gemeldet. Er wird Offizier bei den Royal Kennet Fusiliers, drittes Bataillon, und ich kann mit großer Zuversicht behaupten, dass er unserem Cemetery House zur Ehre gereichen wird!«

Der ganze Saal brach in Jubel aus.

»Der wackere alte Gaunt! Wer hätte das gedacht!«

Mr Hammick grinste vor Stolz.

»Warum hast du nichts gesagt, Ellwood?«, erkundigte sich West. »Unglaublich, dass er sich einfach so meldet, ohne jemandem etwas davon zu sagen! Ein richtiger Held.«

»Ich wusste nichts davon«, gestand Ellwood mit einem kleinen Lächeln. Pritchard warf ihm einen mitfühlenden Blick zu.

»Wahrscheinlich wollte er dich überraschen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Ellwood.

»Jede Wette, er wird dir ein paar klasse Briefe schreiben«, meinte West.

»Ich wünschte, ich könnte mich auch verpflichten«, sagte Ellwood. »Aber meine Mutter hat mir das Versprechen abgenommen zu warten, bis ich mit der Schule fertig bin.«

»Meine auch«, sagte Pritchard. »Mütter verstehen einfach nichts vom Krieg.«

Ellwood war der Mund so trocken, dass die letzten Bissen seines Brots wie Klebstoff schmeckten. Er kaute schweigend, während Pritchard und West sich über die Royal Kennet Fusiliers stritten.

»Die waren in Poitiers.«

»Mach dich nicht lächerlich. Im Hundertjährigen Krieg gab es noch keine Gewehre.«

»Doch, gab es schon, gegen Ende!«

»Nein, sie hatten Kanonen, keine Gewehre.«

»Wenn du denkst, dass ich dir einfach so glaube, du Quatschnase …«

»Hör mal, du Volltrottel, die Füsiliere können unmöglich vor der Renaissance gegründet worden sein, weil die Armee davor feudal organisiert war …«

»So, jetzt reicht’s. Wir regeln das unter Männern. In zehn Minuten unten bei den Schwänen.«

»Den Schwänen? Bist du verrückt? Die können einem den Arm brechen!«

Natürlich war Ellwood stolz auf Gaunt. Ihm war klar, dass Mut Angst bedingte, und deswegen war Gaunt der Einzige von ihnen, der tatsächlich das Zeug zum Helden hatte. Ellwood und alle anderen Jungen der Startmannschaft waren so versessen aufs Kämpfen, dass es für sie überhaupt keines Muts bedurfte, sich zu verpflichten.

Aber er hatte sich immer vorgestellt, dass sie gemeinsam einrücken würden. Dass sie mit all ihren Freunden zu einem der Regimenter der Public Schools kommen und mit einem Lied auf den Lippen, das glänzende Gewehr geschultert, in den Krieg ziehen würden. Kavallerie-Attacken und schmucke Uniformen.

Er sehnte sich danach, Gaunt das Leben zu retten.

Er legte die Hand leicht auf seinen Mund. Hatte sich so Gaunts Haut angefühlt? Nein, die war rauer gewesen. Seit Jahren wünschte er sich, diese Wangen zu küssen, und dann war der Moment so schnell vergangen, er konnte kaum glauben, dass es wirklich dazu gekommen war.

Er wusste, dass es die Umarmung auf der Fox’s Bridge gewesen war, die Gaunt dazu getrieben hatte, sich zu verpflichten.

Ich sollte für die Rekrutierungsstelle arbeiten, dachte er spöttisch. Die erstaunliche Pazifismus-Medizin! Eine Umarmung, und Kriegsdienstverweigerer flüchten an die Front!

Es überraschte ihn nicht. Gaunt ergriff immer die Flucht, wenn ihre Freundschaft komplizierter zu werden drohte. Das stand unbehaglich und unausgesprochen zwischen ihnen. Ellwood war in Gaunt verliebt. Gaunt war der Inbegriff von Anstand und Konvention.

Das war nie deutlicher geworden als nach dem unerfreulichen Zwischenfall mit zwei älteren Jungen, Sandys und Caruthers. Sie wurden zusammen erwischt. Niemand wusste Näheres. Niemand stellte Fragen. Eines Tags waren sie sang- und klanglos auf Nimmerwiedersehen mitsamt ihrer Reisetruhen und Übernachtungskoffer im Nachmittagszug verschwunden. Sie hatten die Kardinalsünde begangen und sich erwischen lassen.

»Du musst doch erleichtert sein«, sagte Ellwood zu Gaunt, obwohl er sich der Gefühle Gaunts alles andere als sicher war. Das war er nie.

Gaunt sah von seiner Griechisch-Übersetzung nicht auf. Eine hellbraune Strähne war ihm in die Augen gefallen.

»Weshalb?«, fragte er.

»Das weißt du genau. Er hat dich immer drangsaliert.«

»Ein Trottel, sich so erwischen zu lassen. Ausgerechnet kurz vor seinem Ringkampf gegen Pritchards Bruder!«, warf Cuthbert-Smith ein.

»Ich hatte mich schon darauf gefreut«, sagte Gaunt und blätterte eine Heftseite um. »Sandys ist ein Idiot.«

Doch, Gaunt hielt Ellwood für einen Idioten, ohne Zweifel. Auch wenn er die Augen geschlossen hatte, als Ellwood auf der Fox’s Bridge sein Gesicht berührt hatte, er hatte es vorgereckt, als wollte er geküsst werden … Aber Ellwood wusste aus Erfahrung, wie leicht er sich einreden konnte, dass Gaunt sich insgeheim nach ihm sehnte. Die Theorie entbehrte jeder Grundlage. Es hatte zu viele vertane Gelegenheiten gegeben. Zu viele Male, als Ellwood es ihm beinahe gesagt hätte und Gaunt irgendeine Bemerkung über Frauen und Ehe gemacht hatte.

Aber sie hatten nichts getan, was Freunde nicht auch tun durften. Er hatte sich nicht ganz bloßgestellt. Sicher, der leichte Kuss auf die Wange war sehr intim gewesen (bei der Erinnerung wurde ihm ganz heiß im Gesicht), aber immer noch im Bereich von Zuneigungsbezeugungen unter Männern. Wenn Tennyson siebzehn Jahre lang Gedichte über Arthur Hallam schreiben durfte, dann durfte Ellwood ganz bestimmt seinem besten Freund zum Trost einen Kuss auf die Wange geben. Auch wenn Gaunt eindeutig entsetzt gewesen war, schließlich war er zum Militär geflüchtet.

Ellwood lächelte, scherzte sich durch den Rest des Abendessens und verbarg seine Schuldgefühle.

Es war dunkel, als sie sich draußen versammelten, um Pritchards und Wests Prügelei zu verfolgen, der die angriffslustigen Schwäne bald ein Ende bereiteten. »Rückzug! Rückzug!«, riefen die Jungs, als die Schwäne sie attackieren wollten, und sie verzogen sich in den Wald und spielten stattdessen Krieg.

In den Weihnachtsferien kam Pritchard für eine Woche zu Besuch. Er war nur ein unzureichender Ersatz für Gaunt – seine Augen wurden ganz glasig, wenn Ellwood über einen anderen Dichter als Kipling sprach. Trotzdem, er war immer gut gelaunt und überraschte bisweilen mit Momenten von erstaunlicher Scharfsicht. Vor Gaunts Urteil hielt er nicht stand, natürlich nicht, Gaunt bezeichnete ihn als dumm und als grausam gegenüber West. Aber Ellwood wusste, dass Pritchard es mit West nie weiter trieb, als der es vertrug, er wusste, wie fein austariert die Freundschaft der beiden war.

Thornycroft Manor war voll von den Gästen, die Ellwoods Mutter eingeladen hatte: elegante Frauen und die Männer, die nach ihnen verlangten. Am Esstisch kokettierten die Frauen ein wenig mit Pritchard und Ellwood.

»Du stehst deiner Mutter sehr nah«, bemerkte Pritchard eines Abends.

Eigentlich war es zu nass, um aufs Dach zu gehen, aber Ellwood hatte darauf bestanden. Wäre Gaunt da (und Gaunt hätte auch wirklich da sein sollen), hätten sie ebenfalls auf dem Dach gesessen. Von allen Dächern, die Ellwood sich auserkoren hatte, liebte er insbesondere das von Thornycroft. Manchmal saß er bereits morgens dort und gab sich der merkwürdigen ländlichen Glückseligkeit hin, dem tief verwurzelten, seelenerwärmenden Gefühl, dass England ihm gehörte und er England. Das empfand er so stark, als hätten seine Vorfahren seit tausend Jahren dort gelebt. Vielleicht empfand er es umso stärker, weil das nicht der Fall war.

Er und Pritchard hockten unbequem auf dem abschüssigen Fenstersims, ihre Schuhe schabten an den glatten, nassen Ziegeln.

»Sie ist eine gute alte Haut«, sagte Ellwood. Es regnete zwar nicht, aber in der Luft hing ein dichter, feuchter Nebel, der ihre Zigaretten aufweichte.

»Sie ist nicht besonders mütterlich.«

»Das stimmt«, erwiderte Ellwood. »Sie sagt immer, wir wären beide fünfundzwanzig im Kopf. Deswegen verstehen wir uns so gut.«

»Ich wünschte, meine Mutter würde an Weihnachten Dutzende schöne Frauen der besseren Gesellschaft einladen.« Pritchard seufzte.

»Ich bemerke sie kaum«, sagte Ellwood.

Pritchard sah ihn prüfend von der Seite an.

»Immer noch nichts gehört von Gaunt?«, fragte er.

Ellwood gab es auf, seine feuchte Zigarette zu Ende zu rauchen.

»Kein Wort«, sagte er.

»Ihr habt euch auch früher schon gestritten«, meinte Pritchard.

»Eigentlich haben wir gar nicht gestritten.«

»Gaunt ist ein Rätsel«, sagte Pritchard. »Er wäre der fantastischste Rugbyspieler, wenn er es nur einmal versuchen würde.«

»Er kann Rugby nicht leiden«, erklärte Ellwood.

»Er kann nichts leiden«, sagte Pritchard. »Außer Griechisch und dich.«

Ellwood lachte. Er hatte nie offen mit Pritchard darüber gesprochen, aber auf die eine oder andere Art hatte der es verstanden.

»Da bin ich mir nicht so sicher, Bertie.« Ellwood lehnte sich an den Fensterrahmen und atmete die kalte Luft ein. »Ich habe einen Onkel, der ist Colonel. Über den kann ich Gaunts Adresse irgendwie herausfinden.«

»Das renkt sich von selbst ein, sobald ihr beide an der Front seid«, sagte Pritchard.

»Da hast du recht, natürlich«, stimmte Ellwood zu. »Dann wird alles viel einfacher.«

Mittwoch, 13. Januar 1915

Cemetery House

Preshute College

Lieber Gaunt,

gerade erst ist es mir gelungen, deine Adresse herauszufinden. Wie läuft es mit der Ausbildung? Ein paar andere Jungs haben sich auch gemeldet, unter anderem der gute alte Gosset. Mr Hammick war wütend. Er musste bei der Armee anrufen und ihn zurückholen – er war schon auf halbem Weg nach Frankreich! Unglaublich, dass sie ihn genommen haben, er sieht doch gerade mal aus wie acht. Trotzdem, es hat ihm bei den Jüngeren unglaublich viel Respekt eingetragen, und er sagt, dass er sich einfach solange melden wird, bis er im Feld steht.

Das auf der Fox’s Bridge tut mir leid.

Sei doch so nett, schreib zurück und erlös mich von meinem Leiden.

Herzlich grüßt dich

Ellwood

Dienstag, 26. Januar 1915

Randall’s Farm

Leatherhead

Lieber Ellwood,

die Ausbildung ist anstrengend, aber ziemlich idyllisch. Die Männer sind unglaublich klein. Ich habe gehört, dass die vorgeschriebene Mindestgröße ganze ein Meter sechzig beträgt und dass in Teilen von London die Hälfte der Männer nicht einmal die erreicht. Da bekomme ich regelrecht Schuldgefühle, als hätte ich ihnen gewaltsam sechs Zoll gestohlen. Vielleicht stimmt es ja auch. Sie sind erstaunlich nett zueinander. Wenn einer nicht mitkommt, rufen die anderen ihm etwas Ermutigendes zu – keine Spur von Schikane untereinander. Einen größeren Unterschied zum Verhalten der Jungs auf Public Schools kann man sich gar nicht vorstellen.

Bald geht’s an die Front, wann genau, steht noch nicht fest. Ich lasse hören, sobald ich mehr erfahre.

Herzliche Grüße

Gaunt

Erstaunlich, wie viel weniger herzlich »Herzliche Grüße« klang als »Herzlich grüßt dich«.

Montag, 1. Februar 1915

Cemetery House

Preshute College

Lieber Gaunt,

die Kadettenausbildung ist jetzt neuerdings fünfmal die Woche, weswegen kaum Zeit für Mannschaftsspiele bleibt, aber das stört niemanden im Geringsten. Wir veranstalten unglaubliche Wettkämpfe im Ausheben von Schützengräben. Das ist ein Mordsspaß, nur Burgoyne jammert, das sei unter seiner Würde.

Über die In Memoriams reden wir nicht, aber ich weiß, allen graut davor, einen drögen Nachruf zu bekommen. Erinnerst du dich an Dods? Er ist kürzlich gefallen, und das haben sie über ihn geschrieben: »Lieut. Dods ging uns immer voraus und war selbst am ersten dort, wo die Schlacht am heftigsten tobte. Ich sehe ihn jetzt noch vor mir, Revolver in der einen, Schwert in der anderen Hand. Er kann eigenhändig für mindestens sechs Deutsche geradestehen und motivierte uns zum Einsatz unseres Lebens. Er war erst seit einem halben Jahr dabei und kaum mehr als ein Junge, doch einen wackereren Offizier hat die britische Armee nicht gesehen.«

Kannst du dir etwas Grandioseres vorstellen? Ich wünschte, die Kavallerie käme mehr zum Einsatz. Ich würde mir wie Napoleon vorkommen, den Fritz auf einem Streitross angreifen, »sabring the gunners there!«