Durch das Land der Skipetaren - Karl May - E-Book + Hörbuch

Durch das Land der Skipetaren E-Book und Hörbuch

Karl May

4,5

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Beschreibung

Überarbeitete Ausgabe in Neuer Deutscher Rechtschreibung Auf dem Balkan folgen Kara Ben Nemsi und seine Gefährten den Spuren der Verbrecher. Dabei begegnen sie den gefürchteten »Aladschy«, gelangen zur »Schluchthütte«, die ihnen zur Falle werden soll, und erleben eine dramatische sowie lustige Episode im »Turm der alten Mutter«. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 733

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Zeit:15 Std. 32 min

Sprecher:Peter Sodann
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Karl May

Durch das Land der Skipetaren

Karl May

Durch das Land der Skipetaren

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024 EV: Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 1892 1. Auflage, ISBN 978-3-954187-25-6

null-papier.de/355

Inhaltsverzeichnis

Karl May und die Ori­gi­na­le

Zum Buch

Ent­larvt

Die bei­den Alad­schy

Ein He­kim

In der Schlucht­hüt­te

Der Mi­ri­dit

Im Tur­me der al­ten Mut­ter

In Was­sers­not

Ein Nach­wort

Karl May bei Null Pa­pier

Durch die Wüs­te

Durchs wil­de Kur­dis­tan

Von Bag­dad nach Stam­bul

In den Schluch­ten des Bal­kan

Durch das Land der Ski­pe­ta­ren

Der Schut

Karl May und die Ori­gi­na­le

Will­kom­men in der Welt von Karl May: Ein klas­si­sches Erbe neu prä­sen­tiert

Lie­be Le­se­rin, lie­ber Le­ser

In der Welt der li­te­ra­ri­schen Klas­si­ker gibt es we­ni­ge Na­men, die so sehr mit Aben­teu­er und fer­nen Län­dern ver­bun­den sind wie Karl May. Mit sei­nen fes­seln­den Er­zäh­lun­gen aus dem Wil­den Wes­ten und dem Ori­ent hat Karl May nicht nur Ge­ne­ra­tio­nen von Le­sern be­geis­tert, son­dern auch eine li­te­ra­ri­sche Land­schaft ge­schaf­fen, die bis heu­te nach­hallt. Sei­ne Fi­gu­ren, ins­be­son­de­re Win­ne­tou und Old Shat­ter­hand, sind mehr als nur Cha­rak­tere auf dem Pa­pier – sie sind Sym­bo­le für Mut, Freund­schaft und die Su­che nach Ge­rech­tig­keit.

Als Ein­zel­ver­le­ger habe ich es mir zur Auf­ga­be ge­macht, Karl Mays Wer­ke in ih­rer reins­ten und au­then­tischs­ten Form zu prä­sen­tie­ren. Ich ar­bei­te mit den Erst­ver­öf­fent­li­chun­gen sei­ner Wer­ke, um si­cher­zu­stel­len, dass der ur­sprüng­li­che Cha­rak­ter und Stil von Mays Schrif­ten so treu wie mög­lich er­hal­ten bleibt. Mein Ziel ist es, die­se klas­si­schen Tex­te so zu über­ar­bei­ten, dass sie die Qua­li­tät und den Geist der Ori­gi­nal­aus­ga­ben wi­der­spie­geln, wäh­rend sie gleich­zei­tig den heu­ti­gen Le­se­ge­wohn­hei­ten an­ge­passt sind.

Will­kom­men zu­rück zu den Wur­zeln von Karl Mays li­te­ra­ri­schem Erbe, prä­sen­tiert mit ei­nem tie­fen Re­spekt für sei­ne Ar­beit und ei­nem Auge für die Be­dürf­nis­se des heu­ti­gen Le­sers.

Treue zu den Erst­ver­öf­fent­li­chun­gen

Bei der Über­ar­bei­tung der Tex­te lege ich größ­ten Wert dar­auf, Karl Mays ori­gi­na­le Er­zähl­stim­me zu be­wah­ren. Ich ver­mei­de es, in­halt­li­che Än­de­run­gen vor­zu­neh­men oder mo­der­ne In­ter­pre­ta­tio­nen ein­zu­fü­gen, die vom ur­sprüng­li­chen Geist der Ge­schich­ten ab­wei­chen könn­ten. Statt­des­sen kon­zen­trie­re ich mich dar­auf, sprach­li­che Glät­tun­gen durch­zu­füh­ren, wo es not­wen­dig ist, um die Les­bar­keit zu ver­bes­sern und gleich­zei­tig die Authen­ti­zi­tät zu wah­ren.

Bar­rie­re­frei­heit und Zu­gäng­lich­keit

Es ist mir wich­tig, dass Karl Mays Wer­ke von al­len ge­nos­sen wer­den kön­nen. Da­her ge­stal­te ich die E-Books so, dass sie mit ver­schie­de­nen Tech­no­lo­gi­en zur Un­ter­stüt­zung des Le­sens kom­pa­ti­bel sind, um si­cher­zu­stel­len, dass auch Men­schen mit Seh­be­hin­de­run­gen oder an­de­ren Ein­schrän­kun­gen Zu­gang ha­ben.

Beglei­ten Sie mich auf die­ser Rei­se zu­rück zu den Wur­zeln

Ich lade Sie ein, Karl Mays Welt durch die­se neu­en Edi­tio­nen wie­der­zuent­de­cken, die so­wohl die Tie­fe als auch das Aben­teu­er sei­ner Ge­schich­ten mit ei­ner Fri­sche und Klar­heit prä­sen­tie­ren, die Sie viel­leicht noch nicht er­lebt ha­ben. Tau­chen Sie ein in die klas­si­schen Er­zäh­lun­gen, die Karl May zu ei­nem der meist­ge­le­se­nen Au­to­ren sei­ner Zeit mach­ten.

May und sei­ne Zeit

May war und ist ei­ner der er­folg­reichs­ten Schrift­stel­ler deut­scher Spra­che. Ge­ne­ra­tio­nen von Le­ser ha­ben ihn für sich ent­deckt, egal, wie stark und aus wel­chen Grün­den er im­mer wie­der von Tu­gend­wäch­tern oder be­sorg­ten El­tern in die li­te­ra­ri­sche Schmud­de­le­cke ge­drängt wur­de.

Es gibt wohl kei­nen Deut­schen, der sei­ne Fi­gu­ren nicht kennt: Win­ne­tou oder Had­schi Ha­lef Omar, Old Shat­ter­hand oder Kara Ben Nem­si. Vie­le wer­den so­gar die Na­men der Pfer­de oder der Waf­fen der Pro­tago­nis­ten ken­nen. Nicht zu­letzt die far­ben­präch­ti­gen Fil­me der 1960er Jah­re ha­ben Mays Fi­gu­ren auch eine ki­ne­ma­to­gra­fi­sche Un­ters­terb­lich­keit ver­passt – soll­te das je­mals not­wen­dig ge­we­sen sein. Und wo sonst hät­te ein Fran­zo­se einen ame­ri­ka­ni­schen Urein­woh­ner, ein Ame­ri­ka­ner einen deut­schen Aben­teu­rer und ein Ber­li­ner einen Ori­en­ta­len spie­len kön­nen?

Zu ei­ner Zeit, als es noch kei­nen or­ga­ni­sier­ten Mas­sen­tou­ris­mus und kein In­ter­net gab, brach­te May dem Le­ser die wei­te Welt bis vor die Haus­tür oder un­ter die ver­ber­gen­de Bett­de­cke. Sei­ne Tex­te präg­ten, ob ge­recht­fer­tigt oder nicht, die Vor­stel­lung des Wil­den Wes­tens und des Ori­ents für Ge­ne­ra­tio­nen.

Am bes­ten, Sie, lie­ber Le­ser, lie­be Le­se­rin, füh­len sich ein­fach nur gut un­ter­hal­ten.

In die­sem Sin­ne Ihr Jür­gen Schul­ze, Neuss

Karl May

Zum Buch

Auf dem Bal­kan fol­gen Kara Ben Nem­si und sei­ne Ge­fähr­ten den Spu­ren der Ver­bre­cher. Da­bei be­geg­nen sie den ge­fürch­te­ten »Alad­schy«, ge­lan­gen zur »Schlucht­hüt­te«, die ih­nen zur Fal­le wer­den soll, und er­le­ben eine dra­ma­ti­sche so­wie lus­ti­ge Epi­so­de im »Turm der al­ten Mut­ter«.

Ent­larvt

Die Däm­me­rung war be­reits ein­ge­tre­ten. Auf dem Weg zum Ge­richts­ge­bäu­de stan­den vie­le Men­schen. Sie hat­ten im Hof kei­nen Platz mehr ge­fun­den und sich hier auf­ge­stellt, um uns we­nigs­tens kom­men zu se­hen.

Als wir den Hof be­tra­ten, wur­de das Tor hin­ter uns ver­schlos­sen. Das war für uns kein gu­tes Zei­chen. Der Mü­ba­rek hat­te sei­nen Ein­fluss gel­tend ge­macht und zwar nicht ohne Er­folg, wie es schi­en.

Wir konn­ten kaum durch die Men­ge bis an den Platz des Ver­hörs ge­lan­gen. Wo vor­her nur ein Stuhl ge­stan­den hat­te, war jetzt noch eine lan­ge Bank auf­ge­stellt. Der Ap­pa­rat zur Bas­ton­na­de lag noch an der­sel­ben Stel­le.

Man hat­te Öl in Ge­fäße ge­gos­sen, Werg hin­ein ge­tan und das­sel­be an­ge­zün­det. Die­se Flam­men lie­ßen al­les in ei­nem aben­teu­er­li­chen Licht er­schei­nen.

Die Her­ren vom Ge­richt be­fan­den sich im In­nern des Hau­ses. Un­se­re An­kunft wur­de ih­nen ge­mel­det. Die Kha­was­sen pos­tier­ten sich so um uns, dass sie den Weg zum Tor ver­sperr­ten. Da das­sel­be ver­schlos­sen war, ließ sich die­ses Ver­hal­ten der Po­li­zis­ten dop­pelt be­denk­lich für uns deu­ten.

Laut­lo­se Stil­le herrsch­te rund­um. Jetzt er­schie­nen die fünf Her­ren, und so­fort zo­gen die Kha­was­sen blank.

»O Al­lah!« sag­te Ha­lef. »Wie wird es uns er­ge­hen, Sih­di! Ich zit­te­re vor Angst.«

»Ich eben­falls.«

»Soll ich die­sen dum­men Men­schen, die da glau­ben, uns mit ih­ren Sä­beln ban­ge zu ma­chen, mei­ne Peit­sche schme­cken las­sen?«

»Kei­ne Dumm­heit! Du warst heu­te schon ein­mal vor­ei­lig und trägst die Schuld, dass wir uns über­haupt hier be­fin­den.«

Die fünf Rich­ter hat­ten Platz ge­nom­men: der Kadi Ba­scha auf dem Stuhl und die an­de­ren auf der Bank. Eine Frau dräng­te sich aus der Men­ge her­bei und nahm hin­ter dem Naïb1 Stel­lung. Ich er­kann­te No­hu­da, die Erb­se, wel­che ih­rer Schön­heit mit Ei­se­no­cker nach­half. Der Stell­ver­tre­ter war also wohl ihr glück­li­cher Ehe­mann. Er hat­te sehr nichts­sa­gen­de Ge­sichts­zü­ge.

Ne­ben dem Kadi Ba­scha saß der Mü­ba­rek. Er hat­te ein Pa­pier quer über das Knie ge­legt. Zwi­schen ihm und sei­nem Nach­barn stand ein klei­ner Topf. Da eine Gän­se­fe­der in dem­sel­ben steck­te, so ver­mu­te­te ich, dass er die Tin­te ent­hal­te.

Der Kadi Ba­scha wa­ckel­te mit dem Kopf und räus­per­te sich auf­fäl­lig. Dies war das Zei­chen, dass die Ver­hand­lung be­gin­nen soll­te. Er be­gann mit krä­hen­der, weit­hin schal­len­der Stim­me:

»Im Na­men des Pro­phe­ten und im Na­men des Pa­disch­ah, dem Al­lah tau­send Jah­re ver­lei­hen wol­le! Wir ha­ben die­se Kasa zu­sam­men­be­ru­fen, um über zwei Ver­bre­chen zu ur­tei­len, wel­che sich heu­te in un­se­rer Stadt und in de­ren Nähe er­eig­net ha­ben. Se­lim, tritt vor! Du bist der An­klä­ger. Er­zäh­le nun, was mit Dir ge­sche­hen ist.«

Der Kha­waß trat in die Nähe sei­nes Herrn und er­zähl­te. Was wir zu hö­ren be­ka­men, war ge­ra­de­zu lä­cher­lich. Er hat­te sich in der an­ge­streng­tes­ten amt­li­chen Tä­tig­keit be­fun­den und war von uns mör­de­risch über­fal­len wor­den. Nur durch Uner­schro­cken­heit und durch die tap­fers­te Ge­gen­wehr war es ihm ge­lun­gen, sein Le­ben zu ret­ten, sag­te er.

Als er ge­en­det hat­te, frag­te ihn der Kadi:

»Und wel­cher ist es, der Dich schlug?«

»Die­ser hier ist es,« ant­wor­te­te er, auf Ha­lef deu­tend.

»So ken­nen wir nun ihn und sei­ne Tat und wer­den zur Be­ra­tung schrei­ten.«

Er be­gann mit sei­nen Bei­sit­zern zu flüs­tern, und er­klär­te nach ei­ner Wei­le mit lau­ter Stim­me:

»Die Kasa hat be­schlos­sen, dass der Ver­bre­cher auf jede Fuß­soh­le vier­zig Hie­be er­hal­ten und dann vier vol­le Wo­chen ein­ge­sperrt wer­den soll. Das ver­kün­di­gen wir im Na­men des Pa­disch­ah. Al­lah seg­ne ihn!«

Ha­lefs Hand fuhr an den Griff sei­ner Peit­sche. Ich muss­te mir Mühe ge­ben, nicht laut auf­zu­la­chen.

»Jetzt kommt das zwei­te Ver­bre­chen,« ver­kün­de­te der Be­am­te. »Ma­wu­n­ad­schi, tritt vor, und er­zäh­le!«

Der Fähr­mann ge­horch­te die­ser Auf­for­de­rung. Er hat­te je­den­falls mehr Angst als ich. Aber ehe er sei­nen Be­richt be­gin­nen konn­te, wand­te ich mich in sehr höf­li­chem Ton an den Kadi Ba­scha:

»Willst Du viel­leicht die Gna­de ha­ben, Dich ein­mal zu er­he­ben?«

Er stand ah­nungs­los von sei­nem Stuhl auf. Ich schob ihn zur Sei­te und setz­te mich nie­der.

»Ich dan­ke Dir,« sag­te ich. »Es ziemt dem Nied­ri­gen, dem Ho­hen Ehr­er­bie­tung zu er­wei­sen. Du hast ganz recht ge­tan.«

Jam­mer­scha­de, dass es un­mög­lich ist, sein Ge­sicht zu be­schrei­ben. Der Kopf ge­riet in ein ge­fähr­li­ches Pen­deln. Er woll­te re­den, brach­te aber vor Ent­set­zen kein Wort her­vor. Da­rum streck­te er, um we­nigs­tens durch die Pan­to­mi­me sei­ne Ent­rüs­tung aus­zu­drücken, die dür­ren Arme aus und schlug die Hän­de über dem wa­ckeln­den Kopf zu­sam­men.

Kein Mensch sag­te ein Wort. Kein Kha­waß rühr­te sich. Man war­te­te auf den Zor­nes­aus­bruch des Ge­bie­ters. Die­ser fand glück­li­cher­wei­se die Spra­che wie­der. Er brach in eine Rei­he un­be­schreib­li­cher In­ter­jek­tio­nen aus und schrie mich dann an:

»Was fällt Dir ein! Wie kannst Du eine sol­che Un­ver­schämt­heit be­ge­hen und –– ––«

»Had­schi Ha­lef Omar!« un­ter­brach ich ihn laut. »Nimm Dei­ne Peit­sche. Den­je­ni­gen, wel­cher noch ein ein­zi­ges un­höf­li­ches Wort zu mir sagt, be­schenkst Du mit Hie­ben, bis ihm die Haut zer­platzt; mag er sein, wer er will!«

Der klei­ne Had­schi hat­te so­fort die Peit­sche in der Hand.

»Emir, ich ge­hor­che,« sag­te er ent­schlos­sen. »Gib mir nur einen Wink.«

Es fehl­te lei­der die Be­leuch­tung, sonst hät­te man er­staun­te Ge­sich­ter se­hen kön­nen. Der Kadi Ba­scha wuss­te of­fen­bar gar nicht, wie er sich ver­hal­ten soll­te. Da flüs­ter­te ihm der Mü­ba­rek ei­ni­ge Wor­te zu, wor­auf er den Kha­was­sen be­fahl:

»Nehmt ihn ge­fan­gen! Schafft ihn in den Kel­ler!«

Er deu­te­te auf mich.

Die Po­li­zis­ten tra­ten her­bei, mit blan­ken Sä­beln in den Hän­den.

»Zu­rück!« rief ich ih­nen zu. »Wer mich an­rührt, den schie­ße ich nie­der!«

Ich hielt ih­nen die bei­den Re­vol­ver ent­ge­gen, und im nächs­ten Au­gen­blick sah ich kei­nen ein­zi­gen Kha­waß mehr. Sie hat­ten sich in das Pub­li­kum ver­lo­ren.

»Was er­regt dei­nen Zorn?« frag­te ich den Ko­dscha. »Wa­rum stehst du? Wa­rum setzt du dich nicht? Lass den Mü­ba­rek auf­ste­hen und setz dich auf sei­nen Platz.«

Jetzt ging ein Ge­mur­mel durch die Men­ge. Dass ich den Ko­dscha be­lei­dig­te, hat­te ih­nen noch im Be­reich der Mög­lich­keit ge­le­gen; aber dass ich nun auch den Hei­li­gen an­griff, das war denn doch zu viel ge­wagt. Man be­gann zu mur­ren.

Das gab dem Ko­dscha eine be­deu­ten­de Ener­gie. Er rief mir zor­nig zu:

»Mensch, sei du, wer du willst, aber für eine sol­che Frech­heit wer­de ich dich auf das Al­ler­strengs­te be­stra­fen. Der Mü­ba­rek ist ein Hei­li­ger, ein Lieb­ling Al­lahs, ein Wun­der­tä­ter. Wenn er will, kann er Feu­er vom Him­mel auf dich fal­len las­sen!«

»Schweig, Ko­dscha Ba­scha! Wenn du re­den willst, so hal­te eine klü­ge­re Rede. Der Mü­ba­rek ist we­der ein Hei­li­ger, noch ein Wun­der­tä­ter. Er ist viel­mehr ein Ver­bre­cher, ein Schwind­ler und Bö­se­wicht!«

Da wur­den im Pub­li­kum dro­hen­de Stim­men laut. Noch lau­ter aber wur­de die Stim­me des Mü­ba­rek selbst. Er hat­te sich er­ho­ben, streck­te die Hand ge­gen mich aus und rief:

»Er ist ein Gi­aur, ein un­gläu­bi­ger Hund. Ich ver­flu­che ihn. Möge sich die Höl­le un­ter ihm öff­nen und die Ver­damm­nis ihn ver­schlin­gen. Die bö­sen Geis­ter wer­den –– ––«

Wei­ter kam er nicht. Mein klei­ner Had­schi hat­te aus­ge­holt und ihm mit der Peit­sche einen sol­chen Jagd­hieb ver­setzt, dass der alte Sün­der sich un­ter­brach und einen mäch­ti­gen Luft­sprung mach­te.

Das war ein ge­wal­ti­ges Wa­g­nis, wie sich so­gleich zeig­te. Nach ei­nem Au­gen­blick dro­hen­der Stil­le schall­ten von al­len Sei­ten Schreie des Zor­nes im Pub­li­kum. Die Hin­te­ren dräng­ten nach vorn. Die Sa­che konn­te ver­häng­nis­voll wer­den. Da trat ich schnell an die Sei­te des Mü­ba­rek und rief, so laut ich konn­te:

»Ra­hat; sü­küt –– Ruhe, seid still! Ich wer­de euch be­wei­sen, dass ich recht habe. Ha­lef, hole die Flam­me her! –– –– Seht her, ihr Leu­te, wer der Mü­ba­rek ist, und wie er euch täuscht! Seht ihr die­se Krücken?«

Ich nahm den Schur­ken mit der rech­ten Hand beim Ge­nick und press­te ihm den dün­nen Hals zu­sam­men. Mit der lin­ken riss ich ihm den Kaftan aus­ein­an­der. Rich­tig, da hing an je­der Sei­te eine Krücke. Bei­de wa­ren mit Ge­len­ken ver­se­hen und konn­ten zu­sam­men­ge­schla­gen wer­den.

Bei die­ser Ge­le­gen­heit sah ich, dass die In­nen­sei­te des Kaft­ans an­ders ge­färbt war, als die Au­ßen­sei­te. Das Klei­dungs­stück hat­te vie­le Ta­schen. Ich griff in die ers­te bes­te und fühl­te einen haa­ri­gen Ge­gen­stand. Ich zog ihn her­aus. Es war eine Perücke, ganz ge­nau das wir­re, strup­pi­ge Haar, wie ich es bei dem Bett­ler ge­se­hen hat­te.

Der Kerl war so er­schro­cken, dass er alle Ge­gen­wehr ver­gaß. Jetzt aber stieß er Hil­fe­ru­fe aus und schlug mit den Ar­men um sich.

»Osco, Omar, hal­tet ihn! Greift aber tüch­tig zu! Wenn es ihm auch weh tut!«

Die bei­den Ge­nann­ten pack­ten ihn, so­dass ich nun bei­de Hän­de frei be­kam. Da Ha­lef das eine Öl­ge­fäß her­bei­ge­holt hat­te, wur­de un­se­re in­ter­essan­te Grup­pe hell er­leuch­tet, so­dass die An­we­sen­den al­les deut­lich se­hen konn­ten. Sie ver­hiel­ten sich ru­hig.

»Die­ser Mensch, den ihr für einen Hei­li­gen hal­tet,« fuhr ich fort, »ist ein Ver­bün­de­ter des Schut oder wohl gar der Schut selbst. Sei­ne Woh­nung ist der Auf­ent­halt von Die­ben und Räu­bern, wie ich euch nach­her be­wei­sen wer­de. Er schleicht in al­ler­lei Ver­klei­dun­gen im Lan­de um­her, um Ge­le­gen­heit zu Ver­bre­chen aus­zu­kund­schaf­ten. Er und der Bett­ler Sa­kat sind eine und die­sel­be Per­son. Hier hat er sich die Krücken un­ter den Ach­seln an­ge­bun­den. Wenn sie beim Ge­hen an­ein­an­der stie­ßen, habt ihr ge­glaubt, dass sei­ne Ge­bei­ne klap­pern. Hier ist die Per­rücke, wel­che er als Krüp­pel trug.«

Ich leer­te nach und nach sei­ne Ta­schen, be­trach­te­te die ein­zel­nen Ge­gen­stän­de und er­klär­te de­ren Ge­brauch, in­dem ich fort­fuhr:

»Hier ist eine Büch­se mit Far­ben­mehl, wel­ches dazu diente, sei­nem Ge­sicht schnell eine an­de­re Far­be zu ge­ben. Da ist der Lap­pen, mit wel­chem er sich die Far­be rasch wie­der ab­wi­schen konn­te. Jetzt seht ihr eine Fla­sche, noch halb voll von Was­ser, je­den­falls um sich auch an Or­ten, wo kein Was­ser vor­han­den war, nach Be­dürf­nis rei­ni­gen zu kön­nen. Und nun seht ihr –– ja, was ist denn das? Das sind zwei klei­ne Nesf el kür­re el zamk.2 Er hat sie sich in die Ba­cken ge­steckt, wenn er den Bett­ler ma­chen woll­te. Das Ge­sicht war dann di­cker als vor­her. Seht ihr die ver­schie­de­ne Fär­bung des Kaftan? Als Bett­ler zog er ihn aus, dreh­te die dunkle Sei­te nach au­ßen und schlang ihn um den Leib. Dann sah das Ge­wand aus wie ein al­tes Tuch. Habt ihr je­mals den Mü­ba­rek und den Bett­ler bei­sam­men ge­se­hen? Ge­wiss nicht. Das war ja ganz un­mög­lich, da bei­de nur eine Per­son wa­ren. Und hat sich nicht der Mü­ba­rek grad zu der Zeit zum ers­ten Mal se­hen las­sen, in wel­cher auch der Bett­ler in die­se Ge­gend kam?«

Die­se letz­ten Ar­gu­men­te schie­nen über­zeu­gend zu sein, denn ich hör­te von al­len Sei­ten Aus­ru­fe ver­wun­der­ter Zu­stim­mung er­schal­len.

Jetzt zog ich ein klei­nes Päck­chen aus der Ta­sche. In einen al­ten Lum­pen ge­wi­ckelt, er­schi­en ein Arm­band von al­ten ve­ne­tia­ni­schen Gold­ze­chi­nen. Bei ei­ni­gen der Mün­zen war die Prä­gung gut er­hal­ten. Ich sah beim Schein der Flam­me auf dem Avers das Bild des hei­li­gen Mar­kus, wel­cher dem Do­gen die Kreu­zes­fah­ne reicht, und auf dem Re­vers das Bild ei­nes an­de­ren, mir un­be­kann­ten Hei­li­gen, von Ster­nen und der In­schrift um­ge­ben: Sit tibi, Chris­te, da­tus, quem tu re­gis, iste du­ca­tus.

»Hier ist ein Bi­le­zik von zwölf gol­de­nen Mün­zen, in einen Lap­pen ge­wi­ckelt,« fuhr ich fort. »Wer weiß, wo er es ge­stoh­len hat! Wenn ihr nach­forscht, wird sich die Be­sit­ze­rin viel­leicht fin­den las­sen.«

»On iki zik­ke­ler –– zwölf Mün­zen?« rief eine Frau­en­stim­me hin­ter mir. »Zeig her! Mir ist ein sol­ches Arm­band in vo­ri­ger Wo­che aus dem Kas­ten ge­stoh­len wor­den.«

No­hu­da, die ›Erb­se‹, war die Spre­che­rin. Sie trat her­bei, nahm mir das Arm­band aus der Hand und be­trach­te­te es.

»Al­lah!« rief sie. »Es ist das mei­ni­ge. Es ist ein al­tes Erb­stück mei­ner müt­ter­li­chen Vor­fah­ren. Schau her und über­zeu­ge Dich, dass es mir wirk­lich ge­hört!«

Sie gab es ih­rem Mann.

»Bei Al­lah, es ist das Dei­ni­ge!« stimm­te die­ser bei.

»So be­sin­ne Dich, No­hu­da, ob der Mü­ba­rek zur be­tref­fen­den Zeit bei Dir ge­we­sen ist,« sag­te ich.

»Der Mü­ba­rek nicht, aber der Krüp­pel. Er wur­de her­ein ge­ru­fen, um ein Es­sen zu emp­fan­gen. Ich hat­te mei­nen Schmuck auf dem Ti­sche lie­gen und leg­te ihn in den Kas­ten zu­rück. Das hat er ge­se­hen. Als ich nach ei­ni­gen Ta­gen zu­fäl­lig nach­schau­te, war das Arm­band weg.«

»So kennst Du nun den Dieb.«

»Er ist’s. Er hat es, es ist er­wie­sen. O Du Spitz­bu­be! Ich krat­ze Dir die Au­gen aus! Ich wer­de –– ––«

»Still jetzt!« un­ter­brach ich sie in der Be­fürch­tung, dass der Fluss ih­rer Rede, ein­mal in Über­schwem­mung ge­tre­ten, nicht so leicht und bald ver­sie­chen wer­de. »Be­hal­te das Band und lass den Dieb be­stra­fen. Ihr seht jetzt, welch einen Men­schen Ihr ver­ehrt habt. Und die­ser Räu­ber ist so­gar zum Basch Kia­tib er­nannt wor­den und hat über an­de­re mit zu Ge­richt ge­ses­sen. Mich hat er in die Höl­le ver­flucht, und bald hät­te ich mir sei­net­we­gen den Zorn die­ser bra­ven Ver­samm­lung zu­ge­zo­gen. Ich ver­lan­ge, dass er an ei­nem si­che­ren Ort ein­ge­sperrt wer­de, von wel­chem kein Ent­kom­men mög­lich ist, und dass dem Ma­kredsch von Sa­lo­ni­ki An­zei­ge er­stat­tet wer­de.«

Man stimm­te mir nicht nur bei, son­dern es lie­ßen sich zahl­rei­che Rufe hö­ren:

»Prü­gelt ihn vor­her! Gebt ihm die Bas­ton­na­de! Zer­schlagt ihm die Fuß­soh­len!«

»Sa­py­ty­n–iz ona bo­ju­nu –– dreht ihm den Hals um!« ei­fer­te die ›Erb­se‹ vol­ler Grimm über den an ihr ver­üb­ten Dieb­stahl.

Der Mü­ba­rek hat­te bis jetzt nichts ge­sagt. Nun aber schrie er:

»Glaubt ihm nicht! Er ist ein Gi­aur. Er ist der Dieb. Er hat mir das Arm­band so­eben in die Ta­sche ge­steckt. Er –– –– waï’ waï’!«

Er un­ter­brach sich mit die­sem Aus­ruf des Schmer­zes, weil ihm Ha­le­f’s Peit­sche auf den Rücken knall­te.

»War­te, Schur­ke!« rief der Had­schi. »Ich will es Dir auf den Rücken schrei­ben, dass wir erst heu­te in die­se Ge­gend ge­kom­men sind. Wie kann die­ser Emir das Band ge­stoh­len ha­ben? Üb­ri­gens ist so ein be­rühm­ter Ef­fen­di kein Dieb. Hier hast Du die Be­glau­bi­gung da­für.«

Er maß ihm noch ei­ni­ge so kräf­ti­ge Hie­be über, dass der Ge­trof­fe­ne laut auf­brüll­te.

»Afe­rim, afe­rim –– bra­vo, bra­vo!« rie­fen die­sel­ben Leu­te, wel­che mir noch vor we­ni­gen Au­gen­bli­cken ge­fähr­lich wer­den woll­ten.

Der Ko­dscha Ba­scha wuss­te nicht, was er tun und sa­gen soll­te. Er ließ mich ma­chen. Er hat­te aber schleu­nigst die Ge­le­gen­heit er­grif­fen, sich wie­der auf dem Amts­stuhl nie­der zu set­zen. So war doch sei­ne Ehre ge­wahrt.

Sei­ne Bei­sit­zer ver­hiel­ten sich schweig­sam. Sie moch­ten eine Art Be­klem­mung füh­len. Die Kha­was­sen er­kann­ten, dass mei­ne Ak­ti­en zu stei­gen be­gan­nen, und in der Voraus­set­zung, dass ich mich in Fol­ge des­sen in gu­ter Lau­ne be­fin­den und ih­nen nicht mehr ge­fähr­lich sein wür­de, ka­men sie –– Ei­ner nach dem an­de­ren –– wie­der her­bei.

»Bin­det den Kerl!« be­fahl ich ih­nen. »Fes­selt ihm die Hän­de!«

Sie ge­horch­ten au­gen­blick­lich, und kei­ner der an­we­sen­den Jus­tiz­be­am­ten er­hob Ein­spruch ge­gen mei­ne Ei­gen­mäch­tig­keit.

Der Mü­ba­rek sah wohl ein, dass es für ihn ge­ra­ten sei, sich zu fü­gen. Er ließ sich bin­den, ohne Wi­der­stand zu leis­ten, und setz­te sich dann auf sei­nen Platz, wo er in sich zu­sam­mensank. Die Bei­sit­zer stan­den schnell von ih­ren Sit­zen auf. Sie woll­ten nicht die­sel­be Bank mit ei­nem Ver­bre­cher tei­len.

»Und nun zu­rück zu Dei­nem Rich­ter­spruch,« sag­te ich zu dem Ko­dscha Ba­scha. »Kennst Du die Ge­set­ze Dei­nes Lan­des?«

»Na­tür­lich muss ich sie ken­nen,« ant­wor­te­te er. »Ich habe ja in der Mek­teb i mil­ki­jeh3 stu­diert.«

»Das glau­be ich nicht.«

»Wa­rum nicht?« frag­te er be­lei­digt. »Ich ken­ne das gan­ze Scher­i­at,4 wel­ches auf dem Ku­ran be­ruht, auf der Sun­na und auf den Ent­schei­dun­gen der vier ers­ten Ka­li­fen.«

»Kennst Du auch das Mül­te­ka el bu­her, wel­ches Euer Zi­vil– und Cri­mi­nal­ge­setz­buch ist?«

»Ich ken­ne es; es ist vom Scheik Ibra­him Ha­le­bi ver­fasst.«

»Wenn Du die­se Ver­ord­nun­gen wirk­lich kennst, warum han­delst Du denn nicht nach ih­nen?«

»Ich habe mich stets und auch heu­te streng nach ih­nen ge­rich­tet.«

»Das ist nicht wahr. Es steht ge­schrie­ben, dass der Rich­ter selbst dem schlimms­ten Ver­bre­cher, be­vor er ihm das Ur­teil spricht, das Sya­net5 ge­stat­ten muss. Ihr aber habt mei­nen Freund und Beglei­ter ver­ur­teilt, ohne ihn ein ein­zi­ges Wort sa­gen zu las­sen. Euer Ur­teil gilt also nichts. Auch müs­sen bei der Ver­hand­lung alle An­ge­klag­ten und Zeu­gen voll­zäh­lig bei­sam­men sein; das war aber kei­nes­wegs der Fall.«

»Es sind ja alle da!«

»Nein. Es fehlt Iba­rek, der Her­bergs­va­ter. Wo be­fin­det er sich?«

Der Rich­ter wa­ckel­te ver­le­gen mit dem Kopf, stand dann auf und ant­wor­te­te:

»Ich wer­de ihn ho­len.«

Er woll­te fort­ge­hen; ich aber ahn­te, was mit Iba­rek ge­sche­hen war, und hielt den Ba­scha am Arm zu­rück, in­dem ich den Kha­was­sen ge­bot:

»Holt Iba­rek! Bringt ihn aber ge­nau in dem­sel­ben Zu­stand her­bei, in wel­chem er sich jetzt be­fin­det!«

Zwei von ih­nen ent­fern­ten sich und führ­ten nach kur­z­er Zeit den Wirt her­bei. Die Hän­de wa­ren ihm auf den Rücken ge­bun­den.

»Was ist das? Was hat der Mann be­gan­gen, dass man ihn bin­det?« frag­te ich. »Wer hat den Be­fehl dazu ge­ge­ben?«

Der Ba­scha warf den Kopf her­über und hin­über und ant­wor­te­te:

»Der Mü­ba­rek woll­te es so ha­ben.«

»So hat also der Ko­dscha Ba­scha das zu tun, was der Basch Kia­tib be­fiehlt? Und doch sagst Du, Du hät­test die Ge­set­ze stu­diert! Dann ist es frei­lich kein Wun­der, wenn in Dei­nem Be­zir­ke die ärgs­ten Spitz­bu­ben für Hei­li­ge ge­hal­ten wer­den.«

»Ich war in mei­nem Recht,« ver­tei­dig­te er sich klein­laut.

»Das kannst Du mir nicht be­wei­sen.«

»Oh doch! Euch habe ich nicht ar­re­tie­ren las­sen, weil Ihr fremd seid. Die­ser Her­bergs­va­ter aber ist ein Be­woh­ner un­se­rer Ge­gend. Er steht un­ter mei­ner Ge­walt.«

»Und Du meinst, dass es Dir er­laubt ist, die­se Ge­walt zu miss­brau­chen? Da ste­hen ei­ni­ge Hun­dert Dei­ner Un­ter­ge­be­nen. Meinst Du, dass Du mit ih­nen ma­chen kannst, was Dir be­liebt? Vi­el­leicht hast Du es bis­her ge­tan; aber sie wer­den sich das heu­ti­ge Vor­komm­nis mer­ken und in Zu­kunft Ge­rech­tig­keit ver­lan­gen. Iba­rek ist be­stoh­len wor­den. Er kam zu Dir, um Dich um Hil­fe zu bit­ten. An­statt sie ihm zu ge­wäh­ren, hast Du ihn fes­seln und ein­sper­ren las­sen. Wie willst Du die­se Un­ge­rech­tig­keit ver­ant­wor­ten? Ich ver­lan­ge, dass Du ihm au­gen­blick­lich die Fes­seln löst.«

»Die Kha­was­sen ha­ben es zu tun.«

»Nein, Du selbst wirst es tun als Süh­ne für Dei­ne Un­ge­rech­tig­keit.«

Das war ihm denn doch zu viel. Er fuhr mich zor­nig an:

»Wer bist Du denn ei­gent­lich, dass Du hier ge­bie­test, als ob Du un­ser Ma­kredsch oder Bilad i Kam­se Mol­la­ta­ri seist?«

»Sie­he hier mei­ne Pa­pie­re!«

Ich gab ihm die drei Päs­se hin. Als er das Tes­ker­eh, das Buyu­rul­di und so­gar den Fer­man er­blick­te, kniff er er­schro­cken die klei­nen Triefau­gen zu­sam­men, und sein Kopf pen­del­te wie das Me­tro­nom des be­rühm­ten Re­gens­bur­gers Jo­hann Ne­po­muk Mälzl.

»Herr, Du stehst ja im Schat­ten des Groß­herrn!« rief er aus.

»So sor­ge da­für, dass ich einen Teil die­ses Schat­tens auf Dich wer­fe!«

»Ich wer­de tun, was Du be­gehrst.«

Er trat zu Iba­rek und lös­te ihm den Strick.

»Bist Du nun zu­frie­den?« frag­te er.

»Einst­wei­len, ja. Es wird noch mehr von Dir ver­langt. Dein Kha­waß Se­lim hat Dir grund­fal­schen Be­richt er­stat­tet. Das Zu­sam­men­tref­fen war ganz an­ders, als er er­zähl­te. Der Mü­ba­rek wird ihm ein­ge­ge­ben ha­ben, wie er zu sa­gen habe, um uns so viel wie mög­lich zu scha­den.«

»Das glau­be ich nicht.«

»Ich aber glau­be es, denn er hat den Fähr­mann auch ver­lei­tet, ein falsches Zeug­nis ge­gen mich ab­zu­le­gen.«

»Ist das wahr?«

Die­se Fra­ge war an den Fähr­mann ge­rich­tet, wel­cher jetzt glaub­te, dass der Mü­ba­rek ihm nun nicht mehr scha­den kön­ne, und in­fol­ge­des­sen furcht­los er­zähl­te, wie er von ihm in­stru­iert wor­den sei.

»Du siehst,« sag­te ich zu dem Ba­scha, »dass ich die­sem Mann kei­nes­wegs nach dem Le­ben ge­trach­tet habe. Ich sah, dass er den Spi­on des Al­ten mach­te, und nahm ihn mit mir, um nach der An­ge­le­gen­heit zu for­schen. Das ist al­les. Wenn Du mich da­für be­stra­fen willst, so bin ich be­reit, mei­ne Ver­tei­di­gung an­zu­tre­ten.«

»Herr, von ei­ner Be­stra­fung kann kei­ne Rede sein, Du hast kei­nen Feh­ler be­gan­gen.«

»So kann auch mein Beglei­ter nicht we­gen des Kha­was­sen be­straft wer­den, denn nicht er, son­dern ein ganz an­de­rer trägt die Schuld an dem Vor­komm­nis.«

»Wer ist der an­de­re?«

»Du selbst bist es.«

»Ich? Wie so?«

»Als Iba­rek be­stoh­len wur­de, kam er zu Dir, um An­zei­ge zu ma­chen. Was hast Du ge­tan, um Dei­ne Pf­licht zu er­fül­len?«

»Al­les, was ich konn­te.«

»So? Was war das?«

»Ich habe Se­lim den Auf­trag ge­ge­ben, er sol­le nach­sin­nen, was zu tun sei.«

»Die an­de­ren Kha­was­sen hast Du nicht da­mit be­traut?«

»Nein; denn das war über­flüs­sig. Sie hät­ten ja doch nichts ent­deckt.«

»So müs­sen Dei­ne Po­li­zis­ten große Dumm­köp­fe sein, weil Du gleich von vorn­her­ein weißt, dass sie kei­nen Er­folg ha­ben wer­den. Die Tat ist hier ge­sche­hen. Wa­rum aber hast Du denn die­sen Se­lim, wel­cher sich erst seit ganz Kur­zem hier be­fin­det, mit der Sa­che be­traut?«

»Weil er der Klügs­te ist.«

»Ich den­ke, Du hast einen ganz an­de­ren Grund.«

»Herr, wel­chen an­de­ren Grund soll­te ich ha­ben?«

»Ein gu­ter Be­am­ter setzt alle He­bel an, den Tä­ter ei­nes sol­chen Ver­bre­chens zu ent­de­cken. Du aber hast es ver­schwie­gen und dem einen, wel­chem Du es mit­teil­test, hast Du fast eine gan­ze Wo­che Zeit ge­ge­ben, sich die Sa­che zu über­le­gen. Das hat den An­schein, als ob Du wünsch­test, dass die Die­be ent­kom­men mö­gen.«

»Ef­fen­di! Was denkst Du von mir?«

»Mei­ne An­sicht rich­tet sich ganz ge­nau nach Dei­nem Ver­hal­ten. Nichts lag nä­her, als dass Du hier in Ostrom­dscha nach den Tä­tern su­chen ließest.«

»Sie sind ja nach Doi­ran ge­rit­ten!«

»Das zu glau­ben, muss man sehr be­fan­gen sein. Kein Dieb wird sa­gen, wo­hin er sich wen­den will. So viel musst Du als al­ter Ehli ilmi scheraat6 doch wis­sen. Wie nun, wenn ich ent­de­cke, dass Du ein Freund die­ser Ver­bre­cher bist?«

Er be­gann fürch­ter­lich mit dem Kopf zu wa­ckeln, je­den­falls vor Be­stür­zung.

»Herr, ich weiß nicht, was ich dazu sa­gen soll!« rief er aus.

»Sage lie­ber gar nichts, denn mei­ne Mei­nung bleibt doch gänz­lich un­ver­än­dert. Wenn Du Dich der Sa­che in der Art an­ge­nom­men hät­test, wie es Dei­ne Pf­licht war, so wä­ren die Die­be längst ent­deckt.«

»Glaubst Du, dass sie frei­wil­lig kom­men, um sich mir zu mel­den?«

»Nein; aber ich glau­be, dass sie sich hier in Ostrom­dscha be­fin­den.«

»Un­mög­lich! Es sind in kei­nem Ko­nak drei Rei­ter ab­ge­stie­gen.«

»Das wird ih­nen auch nicht ein­fal­len. Sie wer­den sich nicht so nahe am Tat­ort öf­fent­lich zei­gen. Sie ha­ben sich ver­steckt.«

»Soll ich wis­sen, bei wem?«

»Wa­rum nicht? Ich bin ein Frem­der und weiß es doch.«

»Was! Du weißt es?«

»Ja, ganz ge­nau.«

»So musst Du all­wis­send sein.«

»Nein; ich habe aber ge­lernt, nach­zu­den­ken. Sol­che Ha­lun­ken wer­den sich nur bei gleich schlech­ten Sub­jek­ten ver­ste­cken. Wer aber ist das schlech­tes­te Sub­jekt in Ostrom­dscha?«

»Meinst Du den Mü­ba­rek?«

»Du hast’s er­ra­ten.«

»Bei ihm sol­len sie sein?«

»Je­den­falls.«

»Da irrst Du Dich.«

»Ich irre mich so we­nig, dass ich be­reit bin, mit Dir zu wet­ten. Wenn Du die Die­be fan­gen willst, so musst Du hin­auf zur Rui­ne ge­hen.«

Er blick­te zu dem Mü­ba­rek hin­über, und die­ser er­wi­der­te den Blick. Es war mir ganz so, als ob die­se bei­den doch in ei­nem Ein­ver­neh­men stän­den.

»Der Weg wäre ver­geb­lich, Herr,« sag­te er.

»Ich bin vom Ge­gen­teil über­zeugt und sage dir, dass wir nicht nur die Die­be, son­dern auch die ge­stoh­le­nen Ge­gen­stän­de fin­den wür­den. Da­rum for­de­re ich dich auf, mir mit dei­nen Kha­was­sen zu fol­gen.«

»Du scherzt doch?«

»Nein, es ist mein Ernst.«

»In die­ser Dun­kel­heit?«

»Fürch­test du dich?«

»Nein; aber sol­che Men­schen sind ge­fähr­lich. Sind sie wirk­lich oben, so wer­den sie sich ver­tei­di­gen. War­te lie­ber, bis es mor­gen Tag ge­wor­den ist.«

»Bis da­hin könn­ten sie ent­kom­men sein. Es hat üb­ri­gens den An­schein, dass es hier Leu­te gibt, wel­che die Die­be war­nen wür­den.«

»Das wird nie­mand tun. Ich selbst wer­de da­für sor­gen, dass kein Mensch sich in die­ser Nacht der Rui­ne nä­hern kann.«

»Sor­ge lie­ber da­für, dass wir schnell auf­bre­chen kön­nen, und gib Be­fehl, dass La­ter­nen mit­ge­nom­men wer­den.«

»Herr, lass ab von die­sem Be­gin­nen!«

»Nein! Wenn du dei­ne Pf­licht nicht tun willst, so blei­be da­heim. Ich wer­de Leu­te fin­den, wel­che des Am­tes ei­nes Ko­dscha Ba­scha wür­di­ger sind.«

Das zog. Er wa­ckel­te zwar noch im­mer höchst be­denk­lich mit dem Kopf, sag­te aber doch:

»Du darfst mich nicht ver­ken­nen. Ich bin nur auf dein ei­ge­nes Wohl be­dacht und wün­sche nicht, dass du dich in Ge­fahr be­gibst.«

»Küm­me­re dich nicht um mich! Mein Wohl wah­re ich selbst.«

»Neh­men wir den Mü­ba­rek mit?«

»Ja. Er wird uns füh­ren.«

»So er­lau­be, dass ich für Be­leuch­tung und auch für Waf­fen sor­ge.«

Er be­gab sich in das Haus.

Vie­le der an­we­sen­den Leu­te eil­ten fort; ich ver­mu­te­te, um La­ter­nen oder et­was Ähn­li­ches zu ho­len und uns zu be­glei­ten. Iba­rek hat­te die­ser Ver­hand­lung still zu­ge­hört. Jetzt frag­te er mich:

»Ef­fen­di, glaubst du wirk­lich, dass wir die drei Spitz­bu­ben fan­gen?«

»Ganz ge­wiss.«

»Und dass ich mein Ei­gen­tum zu­rück­er­hal­te?«

»Ich bin über­zeugt da­von.«

»Herr, ich kann dich nicht be­grei­fen! Es scheint, dass du al­les weißt. Ich gehe na­tür­lich mit Freu­den hin­auf zu der Rui­ne.«

»Was sagst du nun zu dem Ein­sied­ler? Du hast ihn ge­prie­sen, ob­gleich du ihn fürch­te­test. Und als du von ihm sprachst, ahn­te ich be­reits, dass er ein großer Ha­lun­ke sei. Die Die­be dei­nes Ei­gen­tums be­fin­den sich bei ihm.«

Der Ba­scha kehr­te bald zu­rück. Er brach­te ei­ni­ge alte La­ter­nen, meh­re­re Fa­ckeln und eine An­zahl von Kien­spä­nen. An­de­re Leu­te ka­men mit ähn­li­chen Be­leuch­tungs­ge­gen­stän­den her­bei, und dann setz­te sich der Zug in Be­we­gung.

Ein nächt­li­cher Zug zu der Rui­ne hin­auf, um Die­be ein­zu­fan­gen, das war noch nie­mals da ge­we­sen; das war den Leu­ten eine Lust. Da­rum wan­der­te fast die gan­ze Be­völ­ke­rung des Or­tes hin­ter uns her.

Da ich we­der dem Ko­dscha Ba­scha noch sei­nen Kha­was­sen recht trau­te, muss­ten Osco und Omar den Mü­ba­rek be­wa­chen. Sie hat­ten ihn zwi­schen sich ge­nom­men.

Voran schrit­ten ei­ni­ge Kha­was­sen. Dann kam der Ba­scha mit den Her­ren sei­nes Ge­rich­tes, hin­ter die­sen der Mü­ba­rek mit sei­nen bei­den Wäch­tern, dann ich mit Ha­lef und den bei­den ver­schwä­ger­ten Wier­ten, und hin­ter uns drein tum­mel­te sich das Al­ter und die Ju­gend von Ostrom­dscha.

Es war lus­tig, zu hö­ren, wel­che Mei­nun­gen ge­äu­ßert wur­den, auch über un­se­re Per­so­nen. Der eine mein­te, ich sei ein groß­herr­li­cher Prinz, und der an­de­re hielt mich für einen per­si­schen Baysa­deh.7 Ein Drit­ter schwur, ich sei ein in­di­scher Si­hir­baz,8 und ein Vier­ter schrie über­laut, dass ich ein Kron­prinz aus Mos­kau sei und ge­kom­men wäre, um das Land für Russ­land zu er­obern.

Je nä­her wir der Rui­ne ka­men, de­sto stil­ler wur­den die Leu­te. Sie sa­hen doch ein, dass man vor­sich­tig sein müs­se, wenn man Spitz­bu­ben fan­gen wol­le.

Da, wo der Wald be­gann, blie­ben vie­le zu­rück. Das wa­ren die Furcht­sa­men. Sie ver­si­cher­ten aber doch hoch und teu­er, dass sie sich nur dar­um hier pos­tier­ten, da­mit die Die­be an die­ser Stel­le nicht durch­kom­men könn­ten, falls es ih­nen ge­lin­gen soll­te, oben zu ent­flie­hen.

Als wir dann die Lich­tung er­reich­ten, herrsch­te die Ruhe des Gra­bes auf der­sel­ben. Die Hel­den fühl­ten sich be­klom­men. Die Spitz­bu­ben konn­ten ja je­den Au­gen­blick er­schei­nen, konn­ten hin­ter je­dem Baum ste­cken. Man trat so lei­se wie mög­lich auf, um sie ja nicht zu ver­scheu­chen und –– –– um ja nicht etwa der­je­ni­ge oder die­je­ni­ge zu sein, der oder die mit ih­nen in Kampf kom­men wer­de. Denn Frau­en wa­ren auch da­bei.

Die­se ge­spann­te Stil­le er­litt frei­lich ein­mal eine kur­ze Un­ter­bre­chung. Ein schril­ler Schrei er­scholl aus ei­ner weib­li­chen Keh­le. Als ich an die Stel­le kam, fand ich, dass No­hu­da, die ›Erb­se‹, so un­glück­lich ge­we­sen war, sich in der kal­ten Quel­le zu bet­ten, an wel­cher ich die But­ter­blu­me ge­fun­den hat­te. Sie saß im Was­ser und hielt ih­rem ge­lieb­ten Ge­richts­bei­sit­zer eine mehr als halb­lau­te Rede, de­ren In­halt drin­gend wün­schen ließ, dass sie die­sel­be in sehr lei­sem Ton ge­hal­ten hät­te. Sie woll­te sich nicht her­aus­zie­hen las­sen, denn sie wer­de sich er­käl­ten, wenn sie durch­nässt in der küh­len Abend­luft ein­her­ge­hen müs­se, und nur, als ich ihr er­klär­te, dass das Was­ser noch käl­ter als die Luft sei, mein­te sie:

»Ef­fen­di, dei­nem Rat wer­de ich fol­gen. Du weißt das al­les bes­ser als an­de­re Leu­te oder gar als mein Mann, der mich gra­den­wegs in die­ses Loch hin­ein­ge­führt hat.«

Ich zog sie her­aus. Glück­li­cher­wei­se stand das Was­ser kaum einen Fuß hoch. Ob es in der Fol­ge ih­rer durch Ei­se­no­cker ver­jüng­ten Schön­heit schäd­lich ge­wor­den ist, weiß ich lei­der nicht.

Der Mü­ba­rek stand mit Omar und Osco an der Türe sei­ner Hüt­te. Er ver­lang­te, hin­ein­ge­las­sen zu wer­den. Da er sich aber mit Che­mie ab­gab und in al­ler­lei ver­meint­li­chen Zau­ber­küns­ten be­wan­dert war, so trau­te ich ihm nicht. Er konn­te ja ir­gend eine Vor­rich­tung an­ge­bracht ha­ben, wel­che für den Fall ei­ner plötz­li­chen Ver­haf­tung be­rech­net war.

»Was willst du drin tun?« frag­te ich.

Er ant­wor­te­te mir nicht. Der gute Mann schi­en gar nichts mehr von mir wis­sen zu wol­len.

»Wenn du nicht ant­wor­test, so darfst du auch nicht er­war­ten, dass dein Wunsch er­füllt wer­de.«

Jetzt ant­wor­te­te er:

»Ich habe Tie­re drin, die ge­füt­tert wer­den müs­sen, da­mit sie nicht ver­hun­gern.«

»Ich wer­de sie mor­gen früh füt­tern. Dei­ne Hei­mat ist von nun an das Ge­fäng­nis. Doch bin ich be­reit, dir dei­nen Wunsch zu er­fül­len, falls du mir ei­ni­ge Fra­gen wahr­heits­ge­mäß be­ant­wor­test.«

»Dann fra­ge!«

»Hast du Be­such?«

»Nein.«

»Be­wohnt au­ßer dir je­mand die Hüt­te oder die Rui­ne?«

»Nein.«

»Weißt du nicht, ob je­mand in der Hüt­te an­we­send ist?«

»Es ist nie­mand da. Ich müss­te es wis­sen.«

»Kennst du einen Mann na­mens Ma­nach el Bar­scha?«

»Nein.«

»Oder einen an­de­ren na­mens Ba­rud el Ama­sat?«

»Auch nicht.«

»Und doch be­haup­ten die­se Leu­te, dass sie dich sehr gut ken­nen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Dass du von mei­ner An­kunft heu­te be­nach­rich­tigt hast.«

»Das ist eine Lüge!«

»Und dass du da­für sor­gen woll­test, dass ich ein­ge­sperrt wer­de. Dann wollt ihr kom­men und mich er­mor­den.«

Er ant­wor­te­te nicht so­fort. Dass ich dies al­les wuss­te, kam ihm je­den­falls nicht ganz ge­heu­er vor. Es moch­te die Ah­nung in ihm auf­däm­mern, dass er heu­te Abend hier nicht al­les so vor­fin­den wür­de, wie er es ver­las­sen hat­te. Ich hör­te, wie er schluck­te und schluck­te, als ob er ir­gen­det­was hin­un­ter zu wür­gen habe; dann ant­wor­te­te er:

»Herr, ich weiß nicht, was du re­dest und was du von mir willst. Ich ken­ne die Na­men nicht, die du mir ge­nannt hast, und habe nichts mit Leu­ten zu tun, die so zu sein schei­nen, wie die­je­ni­gen, von de­nen du sprichst.«

»So weißt du wohl auch nicht, dass zwei Brü­der kom­men wol­len, um euch zu mel­den, dass ich in Men­lik er­mor­det wor­den sei?«

»O Al­lah, ich weiß kein Wort, kei­ne Sil­be da­von!«

»Du bist so un­wis­send, dass dei­ne Un­kennt­nis mich er­barmt, und aus die­sem Er­bar­men will ich dir zei­gen, wel­che ge­fähr­li­chen Leu­te sich in dei­ner Nähe be­fin­den. Komm!«

Ich nahm ihn beim Arm und führ­te ihn fort. Auf mei­nen Wink schritt Ha­lef mit der Fa­ckel vor­an, um zu leuch­ten. Die zu der Kasa ge­hö­ri­gen Her­ren folg­ten, auch Osco, Omar und die bei­den Wier­te. Die an­de­ren muss­ten zu­rück­blei­ben, da im In­nern der Rui­ne nicht so viel Raum vor­han­den war.

Was muss­te in dem Mü­ba­rek vor­ge­hen, als er jetzt be­merk­te, mit wel­cher Si­cher­heit wir bei­de den Weg ver­folg­ten, von dem er ge­glaubt hat­te, dass er für je­den Frem­den ein Ge­heim­nis sei!

Als Ha­lef den Epheu zu­rück­schob, hör­te ich, dass der Alte einen Fluch aus­stieß, den er nicht ganz zu un­ter­drücken ver­moch­te.

»Was? Pfer­de?« frag­te der Ko­dscha Ba­scha, als wir in die Ab­tei­lung ge­lang­ten, die als Stall be­nutzt wur­de.

Da es Nacht war, mach­ten uns die Tie­re ein we­nig zu schaf­fen. Sie wa­ren nicht an­ge­bun­den und scheu­ten vor den Lich­tern und vor den frem­den Per­so­nen.

»Wo Pfer­de sind, müs­sen auch Men­schen sein, de­nen sie ge­hö­ren«, sag­te Ha­lef. »Komm hier her­aus, so wer­den wir sie fin­den.«

Die drei Ge­fes­sel­ten la­gen ganz ge­nau noch so da, wie wir sie ver­las­sen hat­ten.

Es wur­de zu­nächst kein Wort ge­sagt. Ich band mit Ha­lefs Hil­fe die Drei los, aber nur so weit, dass sie den Ge­brauch der Füße wie­der er­hiel­ten und auf­ste­hen konn­ten.

»Ma­nach el Bar­scha, kennst du die­sen Mann?« frag­te ich, auf den Mü­ba­rek zei­gend.

»Al­lah ver­dam­me dich!« ant­wor­te­te er.

»Ba­rud el Ama­sat, kennst du ihn?«

»Stür­ze von der Brücke des To­des in die ewi­ge Ver­damm­nis hin­ab!«

Da wand­te ich mich an den Ge­fäng­nis­auf­se­her:

»Du hast nur die eine Tat be­gan­gen, dass du die­sen Ge­fan­ge­nen be­freit hast. Die Stra­fe die­ser bei­den wird eine schwe­re sein; die dei­ne aber wird viel leich­ter aus­fal­len, zu­mal wenn du zeigst, dass du kein hals­star­ri­ger Sün­der bist. Sage mir die Wahr­heit! Kennst du die­sen Mann?«

»Ja«, ant­wor­te­te er, nach­dem er ei­ni­ge Au­gen­bli­cke lang mit sich zu Rate ge­gan­gen war.

»Wer ist er?«

»Der alte Mü­ba­rek.«

»Du kennst auch sei­nen wirk­li­chen Na­men?«

»Nein.«

»Er und dei­ne bei­den Ge­fähr­ten ken­nen sich auch ge­gen­sei­tig?«

»Ja. Ma­nach el Bar­scha ist sehr oft bei ihm ge­we­sen.«

»Ich soll­te in Men­lik er­mor­det wer­den?«

»Ja.«

»Und heu­te wur­de der­sel­be Be­schluss ge­fasst? Man woll­te mich im Ge­fäng­nis tö­ten?«

»So ist es.«

»Und nun noch eins. Wäh­rend du mit Iba­rek und sei­nen Leu­ten Kar­te spiel­test, ha­ben die bei­den an­de­ren ihn be­stoh­len.«

»Ich nicht, son­dern sie wa­ren es.«

»Schon gut! Du bist eben­so da­bei be­tei­ligt, wie sie; denn du hast durch dei­ne Kunst­stücke dazu bei­ge­tra­gen, dass der Dieb­stahl ge­lang. Ich habe ge­nug ge­hört.«

Und mich an den Ko­dscha Ba­scha wen­dend, frag­te ich:

»Nun, habe ich nicht Recht ge­habt? Sind die Die­be nicht hier in der Rui­ne?«

»Herr, du hat­test sie be­reits ge­fun­den, als du mit mir von ih­nen sprachst.«

»Al­ler­dings! Aber dass ich sie so recht­zei­tig, so schnell ge­fun­den habe, das mag dir ein Be­weis sein, wie leicht es für dich ge­we­sen wäre, dei­ne Pf­licht zu tun. Die­se drei Men­schen wer­den ins Ge­fäng­nis ge­führt und gut be­wacht. Gleich mor­gen früh wirst du dem Ma­kredsch den Be­richt sen­den, dem ich auch den mei­nen bei­le­gen wer­de. Er wird dann be­stim­men, was ge­sche­hen soll. Iba­rek, sieh hier auf den Bo­den nie­der. Ich glau­be, das sind die Ge­gen­stän­de, die dir ge­stoh­len wor­den sind.«

Der In­halt der Ta­schen der drei Ge­fan­ge­nen war von uns in drei Häuf­chen nie­der­ge­legt wor­den. Iba­rek freu­te sich kö­nig­lich, dass er sein Ei­gen­tum wie­der sah. Er woll­te es an sich neh­men; da aber sag­te der Ko­dscha Ba­scha:

»Halt! So schnell geht das nicht. Alle die­se Ge­gen­stän­de muss ich mit mir neh­men. Sie ha­ben als Be­weis bei der Ver­hand­lung zu die­nen und bei der Be­stim­mung des Straf­ma­ßes als Richt­schnur.«

Ich kann­te die Ge­pflo­gen­heit die­ser Leu­te. Wer weiß, ob Iba­rek je­mals et­was wie­der­be­kom­men hät­te! Da­rum ant­wor­te­te ich an sei­ner Stel­le:

»Das ist nicht nö­tig. Ich selbst wer­de ein Ver­zeich­nis die­ser Ge­gen­stän­de an­fer­ti­gen und sie auch auf ih­ren Wert ta­xie­ren. Die­ses Ver­zeich­nis leis­tet dir ganz die­sel­ben Diens­te, wie die Sa­chen selbst.«

»Herr, du bist kein Be­am­ter!«

»Herr, ich habe Ih­nen heu­te er­wie­sen, dass ich ein bes­se­rer Be­am­ter sein wür­de, als Sie! Wenn Sie mei­nen Vor­schlag von sich wei­sen, so wer­de ich dem Ma­kredsch viel aus­führ­li­cher schrei­ben, als Ih­nen lieb sein kann. Also schwei­gen Sie! Das liegt in Ihrem ei­ge­nen In­ter­es­se.«

Ich sah es ihm an, dass er mir mit ei­ner Grob­heit ant­wor­ten woll­te; aber er hielt sie doch zu­rück. Er muss­te sich sa­gen, dass dies nur zu sei­nem Scha­den sein wür­de. Aber er er­hob nun gleich an­de­re An­sprü­che:

»So mag er sei­ne Sa­chen be­hal­ten; aber al­les Üb­ri­ge, was sie bei sich ge­habt ha­ben, kon­fis­zie­re ich.«

Er woll­te sich bücken, um die Geld­beu­tel und an­de­ren Ge­gen­stän­de auf­zu­he­ben.

»Halt!« sag­te ich. »Die­se Sa­chen sind be­reits kon­fis­ziert.«

»Von wem?«

»Von mir.«

»Ha­ben Sie das Recht dazu?«

»Ge­wiss! Ich wer­de auch über sie ein Ver­zeich­nis aus­stel­len, wo­bei Sie ja als Zeu­ge die­nen kön­nen, dass ich nichts un­ter­schla­ge. Dann sen­de ich bei­des, die Lis­te und die Sa­chen, dem Ma­kredsch zu.«

»Das ge­hört al­les in mei­ne Hän­de!«

»Sie sol­len auch zu Ihrem Recht kom­men. Kon­fis­zie­ren Sie die Pfer­de, und was zu ih­nen ge­hört, so ha­ben Sie Ihren Wil­len. Das an­de­re aber ge­hört mir. Ha­lef, ste­cke al­les ein!«

Der klei­ne Had­schi war so schnell bei der Hand, dass in der Zeit von drei Se­kun­den al­les in sei­ner Ta­sche ver­schwun­den war.

»Chyr­syz!«9 brumm­te der Mü­ba­rek.

Der Lohn wur­de ihm auf der Stel­le. Ha­lefs Peit­sche gab ihm eine über­aus deut­li­che und auch sehr fühl­ba­re Ant­wort.

Jetzt wur­den die Ge­fan­ge­nen durch die Rui­ne hin­aus auf die Lich­tung trans­por­tiert. Dort stand das neu­gie­ri­ge Pub­li­kum, wel­ches sich her­bei dräng­te, um sich die Drei zu be­trach­ten.

Iba­rek er­zähl­te mit lau­ter Stim­me, dass er glück­lich zu sei­nem Ei­gen­tum ge­langt sei. Er war des Lo­bes voll.

Nun nah­men die Kha­was­sen die vier Ar­re­stan­ten in die Mit­te und setz­ten sich mit ih­nen in Be­we­gung. Die Men­ge folg­te, das ge­lun­ge­ne Aben­teu­er be­spre­chend. Der Ab­zug wur­de viel lau­ter be­werk­stel­ligt, als der Auf­marsch.

Auch die Her­ren von der Ob­rig­keit schlos­sen sich dem Zug an. Ich blieb mit Ha­lef zu­rück. Er hat­te mir einen Wink ge­ge­ben.

»Sih­di, ich habe noch die hal­be Fa­ckel,« sag­te er; »sie ist zwar ver­löscht, aber wir kön­nen sie ja wie­der an­bren­nen. Wol­len wir uns nicht die Hüt­te des Al­ten an­se­hen?«

»Ja, wir wol­len es we­nigs­tens ver­su­chen.«

»Ha­ben Sie den Schlüs­sel noch? Ich habe ge­se­hen, dass Sie ihn ein­steck­ten, als Sie dem Schur­ken in der Ge­richts­ver­hand­lung die Ta­schen leer­ten.«

»Ich habe ihn noch, weiß aber nicht, ob es der Hüt­ten­schlüs­sel ist.«

»Er wird es schon sein. Wel­che Schlüs­sel soll­te der Alte sonst noch ha­ben!«

Wir war­te­ten, bis die an­de­ren sämt­lich ver­schwun­den wa­ren, und schlos­sen dann die Tür auf. Mit Hil­fe ei­nes Zünd­hol­zes und ei­nes Stückes Pa­pier wur­de die Fa­ckel wie­der in Brand ge­steckt, dann be­tra­ten wir das Ge­bäu­de.

Das arm­se­li­ge Ge­bäu­de lehn­te, wie be­reits er­wähnt, an ei­ner Mau­er. Es schi­en, von au­ßen be­trach­tet, nur einen ein­zi­gen klei­nen Raum zu ent­hal­ten; aber als wir uns jetzt im In­nern be­fan­den, sa­hen wir, dass meh­re­re Stu­ben hin­ter­ein­an­der la­gen. Die in­ne­ren Räu­me ge­hör­ten zu dem al­ten Schloss, und die Hüt­te war in schlau­er Wei­se an die Öff­nung ge­setzt wor­den.

Die vor­de­re Stu­be war fast leer. Man sah es ihr an, dass sie nur dazu diente, Be­su­che ab­zu­fer­ti­gen.

Als wir das zwei­te Ge­lass be­tre­ten woll­ten, be­merk­te ich meh­re­re Fä­den, wel­che oben, un­ten und in der Mit­te quer über den Ein­gang lie­fen. Ich be­rühr­te den einen vor­sich­tig mit dem Griff mei­ner Peit­sche, und so­fort er­tön­te das Kra­chen ei­nes Schus­ses. Kat­zen mi­au­ten, ein Hund bell­te, Ra­ben krächz­ten und al­ler­lei an­de­re Stim­men wur­den hör­bar.

»O Al­lah!« lach­te Ha­lef. »Wir be­fin­den uns wahr­schein­lich in der Ar­che des Erz­va­ters Noah. Aber, Sih­di, ich schla­ge vor, dass wir nicht wei­ter ein­drin­gen. War­ten wir lie­ber, bis es Tag ist.«

Ich stimm­te sehr gern bei. Wenn ich dem al­ten Mü­ba­rek auch kei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­chen phy­si­ka­li­schen Kennt­nis­se zu­trau­te, so konn­ten die sei­ni­gen doch voll­stän­dig aus­ge­reicht ha­ben, ir­gend einen wir­kungs­vol­len Ap­pa­rat zum Un­schäd­lich­ma­chen frem­der Ein­dring­lin­ge zu er­fin­den. Wir schlos­sen also wie­der zu und lösch­ten die Fa­ckel aus.

Eben als wir den Heim­weg an­tre­ten woll­ten, kam eine weib­li­che Ge­stalt auf uns zu ge­huscht. Ich er­kann­te ihr Ge­sicht nicht. Sie aber er­griff mei­ne Hand und drück­te, be­vor ich es zu hin­dern ver­moch­te, ihre Lip­pen dar­auf.

»Ich sah beim Schei­ne der Fa­ckel, dass Sie es sind, Ef­fen­di, und muss Ih­nen noch­mals dan­ken.«

Es war Ne­bat­ja, die Pflan­zen­su­che­rin.

»Was tun Sie hier oben?« frag­te ich sie. »Wa­ren Sie be­reits da, als wir die Ge­fan­ge­nen hol­ten?«

»Nein. Es ist kei­ne Freu­de für mein Herz, sol­che un­glück­li­che Men­schen zu se­hen. Aber ich war im Hof des Ko­dscha Ba­scha, als Sie ver­ur­teilt wer­den soll­ten. Herr, Sie wa­ren tap­fer, aber Sie ha­ben sich auch einen bö­sen Feind er­wor­ben.«

»Wen? Den Mü­ba­rek?«

»Den mei­ne ich nicht, ob­gleich auch er Sie hasst. Ich mei­ne den Ko­dscha Ba­scha.«

»Ich glau­be wohl, dass er mir nicht sei­ne be­son­de­re Lie­be schen­ken wird; aber als Feind brau­che ich ihn nicht zu fürch­ten.«

»Ich bit­te Sie den­noch, sei­en Sie vor­sich­tig!«

»Ist er ein so schlim­mer Gast?«

»Ja. Er ist die Ob­rig­keit, aber im Stil­len un­ter­stützt er die Leu­te des Schut.«

»Ah! Wo­her wis­sen Sie das?«

»Er war oft des Nachts hier oben bei dem Mü­ba­rek.«

»Ha­ben Sie sich nicht ge­täuscht?«

»Nein. Ich habe ihn beim Mond­schein sehr deut­lich ge­se­hen, und ich habe ihn in dunk­ler Nacht an der Stim­me er­kannt.«

»Hm! Sind Sie so oft hier oben ge­we­sen?«

»Oft, trotz­dem es mir vom Mü­ba­rek ver­bo­ten wor­den ist. Ich lie­be die Nacht. Sie ist die Freun­din des Men­schen. Sie lässt ihn mit sei­nem Gott al­lein und dul­det nicht, dass er im Ge­bet ge­stört wird. Auch gibt es Pflan­zen, die man nur des Nachts su­chen darf.«

»Wirk­lich?«

»Ja. Wie es Pflan­zen gibt, die nur nachts duf­ten, gibt es auch sol­che, die nur nachts wa­chen; tags­über schla­fen sie. Und hier oben gibt es sol­che Nacht­ge­fähr­tin­nen, bei de­nen ich dann sit­ze, um mit ih­nen zu spre­chen und auf ihre Ant­wort zu lau­schen. In letz­ter Zeit war mir das schwer ge­macht. Heu­te je­doch hast du mei­nen Feind ent­larvt; er be­fin­det sich in Ge­fan­gen­schaft, und des­halb bin ich gleich her­auf­ge­gan­gen, um mir um Mit­ter­nacht einen Kö­nig zu ho­len.«

»Ei­nen Kö­nig? Ist das auch eine Pflan­ze?«

»Ja. Kennst du sie nicht?«

»Nein.«

»Sie ist ein Kö­nig, denn wenn sie stirbt, stirbt das gan­ze Volk mit ihr.«

Ich hat­te hier ein sehr ei­gen­ar­ti­ges und tief an­ge­leg­tes Frau­en­herz vor mir. Die­se Frau muss­te im Schweiß ih­rer Ar­beit für ihre Fa­mi­lie sor­gen und fand doch noch Zeit, nachts stun­den­lang mit den Pflan­zen zu ver­keh­ren, mit ih­nen zu spre­chen und die Ge­heim­nis­se ih­res Da­seins zu er­lau­schen.

»Wie heißt die­se Pflan­ze?« frag­te ich neu­gie­rig.

»Es ist die Hadsch Marr­jam. Scha­de, dass du sie nicht kennst!«

»Ich ken­ne sie; aber ich wuss­te nicht, dass sie einen Kö­nig hat.«

»Nur we­ni­ge Men­schen wis­sen es, und un­ter die­sen We­ni­gen ist sel­ten ei­ner so glück­lich, einen Kö­nig zu fin­den. Man muss die Hadsch Marr­jam sehr lie­ben und ihre Art und Wei­se ge­nau ken­nen; dann fin­det man den Kö­nig. Das Volk wächst ger­ne an un­frucht­ba­ren Stel­len, an Ber­gen, Fel­sen­brü­chen und öden Hal­den. Es steht stets in ei­nem Kreis, der oft klein, oft auch groß ist, und ge­nau in der Mit­te die­ses Krei­ses steht der Kö­nig.«

Das war mir frei­lich neu. Hadsch Marr­jam be­deu­tet ›Kreuz Ma­ri­ens‹, und ge­nau die­sel­be Pflan­ze wächst auch in Deutsch­land und wird im Volks­mund Ma­ri­en­kreuz­dis­tel ge­nannt. Wie selt­sam, dass der Name so­wohl im Erz­ge­bir­ge als auch im Ba­bu­na- oder Plasch­ka­witza­ge­bir­ge in der Tür­kei gleich klingt!

Die Frau fuhr in ih­rem Lieb­lings­the­ma fort:

»Die­se Dis­tel ist sehr dürr und sprö­de; sie wird nicht hoch und hat einen dün­nen Stän­gel; aber der Kö­nig ist breit und wird je­des Jahr brei­ter. Sein Stän­gel ist so dünn wie eine Mes­ser­klin­ge; aber er kann so breit wie zwei Hän­de wer­den und trägt oben einen lan­gen, schma­len Dis­tel­kopf, auf des­sen dunklem Grund eine hel­le Zick­zack­schlan­ge ge­zeich­net ist. Die­se Schlan­ge leuch­tet nachts.«

»Ist das wahr?«

»Ich be­lü­ge dich nicht, Herr. Ich habe es oft ge­se­hen und wer­de es auch heu­te wie­der se­hen. Wenn man den Dis­tel­kö­nig ent­fernt, ge­hen alle sei­ne Un­ter­ta­nen ein. Nach ei­nem Mo­nat sind sie tot. An­sons­ten wer­den sie sehr alt. Der Kö­nig, den ich heu­te hole, ist wohl ge­gen zehn Jah­re alt.«

»Aber wenn du ihn holst, geht doch sein Volk ein!«

»Oh nein! Ein neu­er, jun­ger Kö­nig ist ge­wach­sen; da­her kann man den Al­ten ent­fer­nen. Das muss am Sonn­tag nach dem Neu­mond ge­sche­hen, am hei­li­gen Tag der Chris­ten, de­ren Him­mels­kö­ni­gin Marr­jam ist. An die­sem Tag leuch­tet der Kö­nig am schöns­ten; er leuch­tet so­gar noch ei­ni­ge Näch­te, nach­dem er ab­ge­schnit­ten wur­de. Dann hat er sei­ne bes­te Kraft. Heu­te ist der ers­te Sonn­tag nach Neu­mond; des­halb hole ich mir den Kö­nig in die­ser Nacht. Wenn du Zeit hät­test, könn­test du ihn leuch­ten se­hen.«

»Ich wür­de mit dir ge­hen, denn ich in­ter­es­sie­re mich sehr für sol­che Na­tur­ge­heim­nis­se; aber ich muss lei­der in die Stadt hin­ab.«

»Dann brin­ge ich ihn dir mor­gen Abend; da leuch­tet er auch noch.«

»Ich weiß nicht, ob ich dann noch in Ostrom­dscha sein wer­de.«

»Herr, willst du so schnell fort?«

»Ja. Ich bin nicht hier­her­ge­kom­men, um lan­ge zu ver­wei­len, und mei­ne Zeit ist be­grenzt. Aber sag mal, wel­chen Kräf­ten schreibt man dem Dis­tel­kö­nig zu?«

»Die ge­wöhn­li­che Hadsch Marr­jam heilt, wenn man sie als Tee trinkt, die Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se, so­fern sie nicht zu weit fort­ge­schrit­ten ist. Die Dis­tel ent­hält einen Stoff, der die win­zi­gen Krank­heits­er­re­ger tö­tet, die sich in der Lun­ge be­fin­den. Vom Kö­nig je­doch sagt man, dass er die Lun­gen­tu­ber­ku­lo­se­kran­ken so­gar vom Tod zu­rück­ho­len könn­te.«

»Hast du das aus­pro­biert?«

»Nein; ich glau­be dar­an, denn der Schöp­fer ist all­mäch­tig und kann, wenn er will, auch den kleins­ten Pflan­zen große Kraft ver­lei­hen.«

»Dann komm mor­gen zu mir und zei­ge mir den Kö­nig, falls ich noch hier bin. Weißt du, wo ich woh­ne?«

»Ich habe es ge­hört. Gute Nacht, Ef­fen­di!«

»Viel Glück mit dem Kö­nig, Ne­bat­ja!«

Sie ging.

»Sih­di, glaubst du an den Dis­tel­kö­nig?« frag­te mich Ha­lef, als wir wei­ter­gin­gen.

»Ich be­zweifle es nicht.«

»Ich habe noch nie ge­hört, dass Pflan­zen ihre Herr­scher ha­ben.«

»Wenn sie mir die­sen Herr­scher der Hadsch Marr­jam bringt, wirst auch du ihn se­hen.«

Heu­te ahn­te ich nicht, dass ich bald mein Le­ben dem Dis­tel­kö­nig zu ver­dan­ken hät­te. Dass die Pflan­zen­su­che­rin heu­te we­gen ihm hier oben war, soll­te sich als großes Glück er­wei­sen. Üb­ri­gens ist der Dis­tel­kö­nig kei­ne Fa­bel­ge­stalt. Ich habe zwi­schen Schei­ben­berg und Schwar­zen­berg im säch­si­schen Erz­ge­bir­ge auf ei­ner kah­len, ab­ge­holz­ten An­hö­he ein Volk von Ma­ri­en­kreuz­dis­teln ge­fun­den und bin vol­le vier Tage dort ge­blie­ben, um nach dem Kö­nig zu su­chen.

Das Ge­län­de, auf dem sich die Dis­teln aus­ge­brei­tet hat­ten, bil­de­te tat­säch­lich einen ziem­lich re­gel­mä­ßi­gen Kreis. Ich um­run­de­te den Um­fang und ging dann ver­schie­de­ne Ra­di­en zur Mit­te hin ab, je­doch lan­ge Zeit ohne Er­folg. Schließ­lich fand ich den Ge­such­ten an ei­nem Punkt, an dem ich oft vor­bei­ge­kom­men war, ohne den Kö­nig zu se­hen, da er von ei­nem Bü­schel dich­tem, tro­ckenem Schme­el­gras um­ge­ben war. Er ent­sprach ge­nau der Be­schrei­bung von Ne­bat­ja; ich schnitt ihn ab und be­sit­ze ihn noch heu­te. Als ich nach etwa vier Mo­na­ten wie­der nach An­na­berg kam, mach­te ich trotz Zeit­man­gel und Neu­gier­de einen Fuß­marsch zum Fund­ort – die Un­ter­ta­nen wa­ren ein­ge­gan­gen.

Die­sen Be­weis von der Wahr­heit der Be­schrei­bung Ne­bat­jas hat­te ich frei­lich hier in Ostrom­dscha noch lan­ge nicht; aber den­noch glaub­te ich ihr. Der große Linné er­zählt ja mit schö­ner Aner­ken­nung, dass er sei­ne bes­ten Fun­de und Beo­b­ach­tun­gen in Fol­ge von Win­ken ge­macht habe, wel­che er von ein­fa­chen, oft noch we­ni­ger als ein­fa­chen Men­schen er­hielt. Das Kind des Vol­kes hat einen lie­be­vol­le­ren Blick für die Heim­lich­kei­ten der Na­tur, als der so­ge­nann­te be­vor­zug­te Mensch.

Im Ort an­ge­kom­men, be­ga­ben wir uns zu dem Ko­dscha Ba­scha, bei wel­chem ich das Ver­zeich­nis an­fer­tig­te. Sei­ne klei­nen Au­gen fun­kel­ten, als wir den In­halt der drei Geld­beu­tel zähl­ten. Er frag­te noch­mals an, ob ich ihm die Ab­sen­dung nicht über­las­sen woll­te, aber ich be­stand dar­auf, dass ich das selbst be­sor­gen wer­de. Es soll­te sich sehr bald zei­gen, dass ich dar­an wohl­ge­tan hat­te. Aber er drang dar­auf, je­den­falls um mich zu är­gern, dass die Beu­tel ver­sie­gelt und mit sei­nem Pet­schaft ge­stem­pelt wer­den muss­ten. Ich wei­ger­te mich na­tür­lich kei­nen Au­gen­blick.

Dann ließ ich mir die Ge­fan­ge­nen zei­gen. Sie be­fan­den sich in ei­nem kel­ler­ar­ti­gen Raum und wa­ren ge­bun­den.

Ich sag­te ihm, dass dies eine un­nüt­ze Quä­le­rei sei; er aber mein­te, dass man mit sol­chen Bur­schen gar nicht streng ge­nug ver­fah­ren kön­ne, und er wer­de wäh­rend der Nacht so­gar einen sei­ner Knech­te als Wäch­ter vor die Türe stel­len.

Ich fühl­te mich also über die Si­cher­heit der Ge­fan­ge­nen ganz be­ru­higt und dach­te wirk­lich nicht, dass er sie jetzt nur des­halb ge­bun­den habe, weil zu er­war­ten war, dass ich kom­men wer­de, um nach ih­nen zu se­hen.

Von hier aus be­gab ich mich in den Ko­nak, wo jetzt das ver­spä­te­te Abend­mahl ein­ge­nom­men wur­de. Wir sa­ßen in dem­sel­ben Zim­mer wie am Mit­tag bei­sam­men. Es ging recht leb­haft her, denn die Er­eig­nis­se des Ta­ges ga­ben ge­nug Stoff zu ei­nem leb­haf­ten Ge­dan­ken­aus­tausch, und so war Mit­ter­nacht längst vor­über, als wir uns zur Ruhe leg­ten.

Ich be­kam die Ehren­stu­be an­ge­wie­sen, in wel­che ich auf ei­ner Stie­ge ge­lang­te. Da zwei Bet­ten da stan­den, nahm ich den klei­nen Had­schi zu mir. Ich wuss­te, wie wohl ihm ein sol­cher Freund­schaft­s­er­weis tat.

Mei­ne Uhr zeig­te we­nig über zwei, als wir uns an­schick­ten, uns der Klei­der zu ent­le­di­gen. Da poch­te es un­ten an das jetzt ver­rie­gel­te Tor. Ich öff­ne­te den La­den und blick­te hin­aus. Es stand je­mand am Tor; ich konn­te aber nicht er­ken­nen, wer es war.

»Kim dir – wer ist da?« frag­te ich.

»O, das ist Dei­ne Stim­me,« ant­wor­te­te ein weib­li­cher Mund. »Nicht wahr, Du bist der frem­de Ef­fen­di?«

»Ja. Und Du bist die Pflan­zen­su­che­rin?«

»Ja, Herr. Komm her­ab! Ich habe Dir Et­was zu sa­gen.«

»Ist’s not­wen­dig?«

»Ge­wiss.«

»Wer­de ich wie­der schla­fen ge­hen kön­nen?«

»So­gleich wohl nicht.«

»War­te! Ich kom­me.«

Eine Mi­nu­te spä­ter stand ich mit Ha­lef un­ten bei ihr.

»Ef­fen­di,« sag­te sie, »weißt Du, was ge­sche­hen ist – oder halt, so viel Zeit hast Du wohl noch: sie­he da mei­nen Kö­nig der Hadsch Marr­jam!«

Sie gab ihn mir in die Hand, eine sta­che­li­ge Dis­tel von zwei­mal Hand­brei­te, aber wirk­lich so dünn, wie eine Mes­ser­klin­ge. Die hel­le Zick­zack­schlan­ge oben auf der lan­gen, schma­len Kro­ne war trotz der Dun­kel­heit sehr deut­lich zu er­ken­nen. Sie ›leuch­te­te‹ zwar nicht, aber sie hat­te einen ziem­lich be­deu­ten­den Glanz, fast wie phos­pho­res­zie­rend.

»Glaubst Du mir nun?« frag­te sie.

»Ich habe an Dei­nen Wor­ten gar nicht ge­zwei­felt. Hier ist’s zu dun­kel; ich wer­de Dich früh be­su­chen, um mir die Dis­tel bei Ta­ges­licht ge­nau zu be­trach­ten. Aber nun sage, was Du mir mit­zu­tei­len hast.«

»Et­was sehr Schlim­mes: die Ge­fan­ge­nen sind ent­flo­hen.«

»Was? Wirk­lich?«

»Ja, sie sind ent­flo­hen.«

»Wo­her weißt Du es?«

»Ich habe es ge­se­hen; ja so­gar ge­hört, was sie spra­chen.«

»Wo denn?«

»Dro­ben auf dem Berg, an der Hüt­te des Mü­ba­rek.«

»Sih­di!« sag­te Ha­lef. »Da müs­sen wir fort, au­gen­blick­lich fort, hin­auf auf den Berg. Wir schie­ßen sie nie­der, sonst geht es uns an das Le­ben.«

»War­te! Wir müs­sen erst al­les wis­sen. Sage uns, Ne­bat­ja, wie vie­le ih­rer wa­ren.«

»Die drei Frem­den, der Mü­ba­rek und der Ko­dscha Ba­scha.«

»Was? Der Ko­dscha Ba­scha war da­bei?«

»Ja; er selbst hat sie her­aus­ge­las­sen und von dem Mü­ba­rek fünf­tau­send Pias­ter da­für er­hal­ten.«

»Weißt Du das ge­wiss?«

»Ich habe es deut­lich ge­hört.«

»So er­zäh­le, aber al­les doch nur kurz! Wir ha­ben kei­ne Zeit zu ver­lie­ren.«

»Ich hat­te den Dis­tel­kö­nig ge­holt und woll­te zu­rück­keh­ren – über die Lich­tung. Da sah ich vier Män­ner kom­men, in der Rich­tung aus der Stadt. Ich woll­te mich nicht se­hen las­sen und husch­te in die Ecke, wel­che die Hüt­te mit der Mau­er bil­det, an die sie stößt. Die vier Män­ner woll­ten in die Hüt­te tre­ten, wel­che aber ver­schlos­sen war. Drei von ih­nen kann­te ich nicht; der Vier­te aber war der Mü­ba­rek. Sie spra­chen da­von, dass der Rich­ter sie nun frei ge­las­sen habe und gleich kom­men wer­de, um sich fünf­tau­send Pias­ter da­für zu ho­len. Wenn sie ihn be­zahlt hät­ten, woll­ten sie fort; aber rä­chen müss­ten sie sich an Euch. Der eine sag­te, Du wür­dest je­den­falls nach Ra­do­wich und Is­tib rei­ten. Un­ter­wegs soll­ten Euch da die Alad­schy an­fal­len.«

»Wer sind die Alad­schy?«

»Ich weiß es nicht. Dann kam der Ko­dscha Ba­scha. Weil nie­mand den Schlüs­sel hat­te, tra­ten sie die Türe mit den Fü­ßen ein. Es wur­de Licht ge­macht und ein La­den ge­öff­net, gleich da, wo ich ver­steckt war. Aus dem La­den ka­men Vö­gel, Fle­der­mäu­se und an­de­re Tie­re her­aus, wel­che der Mü­ba­rek frei ließ. Da fürch­te­te ich mich und floh und rann­te so schnell wie mög­lich nach der Stadt und zu Dir. Das ist es, was ich Dir zu sa­gen habe.«

»Ich dan­ke Dir, Ne­bat­ja; mor­gen sollst Du Dei­ne Be­loh­nung da­für ha­ben. Geh jetzt heim! Ich habe nicht län­ger Zeit.«

Nun kehr­te ich in das Haus zu­rück. Zu we­cken brauch­te ich nie­man­den. Dass man mir ge­klopft hat­te, war ein si­che­res Zei­chen ge­we­sen, es sei et­was vor­ge­fal­len. Nach kaum zwei Mi­nu­ten wa­ren wir be­waff­net und un­ter­wegs: Ha­lef, Osco, Omar und ich. Die bei­den Wär­ter hat­ten die Stadt alar­mie­ren wol­len, ich aber hat­te es ih­nen ver­bo­ten; denn die Flücht­lin­ge hät­ten den Lärm hö­ren müs­sen und wä­ren durch den­sel­ben ge­warnt wor­den. Ich be­auf­trag­te die Wär­ter, im Stil­len noch ei­ni­ge tap­fe­re Män­ner zu ho­len und mit ih­nen die nach Ra­do­wich füh­ren­de Stra­ße zu be­set­zen. So muss­ten ih­nen die Flücht­lin­ge auf alle Fäl­le in die Hän­de lau­fen, wenn es uns nicht vor­her ge­lang, sie un­schäd­lich zu ma­chen.

Wir vier eil­ten zu­nächst den Berg­pfad em­por; dann aber, als wir den Wald er­reich­ten, wa­ren wir ge­zwun­gen, lang­sa­mer zu ge­hen. Da das Ter­rain nicht of­fen war, muss­ten wir uns in Acht neh­men, nicht zu stür­zen. Der Weg ging steil bergan, und der Bo­den war zwi­schen den Bäu­men mit Stei­nen be­sät, da das her­ab­strö­men­de Re­gen­was­ser all­mäh­lich die wei­che­ren Erd­be­stand­tei­le weg­ge­wa­schen hat­te.

Da war es mir, als ob ich vor uns einen schar­fen, spit­zen Men­schen­laut ver­neh­me, wie wenn je­mand im Schre­cken ein ho­hes, kur­z­es ›I‹ aus­stößt. Dann hör­te ich einen dump­fen Schall, wie wenn je­mand stürzt.

»Halt!« flüs­ter­te ich den an­de­ren zu. »Es ist ein Mensch da vor uns. Bleibt ste­hen und ver­hal­tet euch ganz ru­hig.«

Nach we­ni­gen Au­gen­bli­cken nä­her­ten sich uns lang­sa­me Schrit­te. Sie wa­ren un­re­gel­mä­ßig, denn der Mann setz­te den einen Fuß lang­sa­mer und auch lei­ser vor­wärts als den an­de­ren. Er hin­k­te. Vi­el­leicht hat­te er sich bei dem Fall ver­letzt.

Jetzt war er ganz nahe vor mir. Die Nacht war nicht hell, und hier zwi­schen und un­ter den Bäu­men la­ger­te nun gar eine di­cke Fins­ter­nis. Da­rum ließ mich mehr der In­stinkt als das Auge eine lan­ge dün­ne Ge­stalt er­ken­nen, ganz ähn­lich der­je­ni­gen des Ko­dscha Ba­scha.

Ich fass­te ihn bei der Brust.

»Du! Halt und schweig!« ge­bot ich ihm mit un­ter­drück­ter Stim­me.

»Ia Al­lah!« rief er er­schro­cken.

»Sei still, sonst schla­ge ich dich nie­der.«

»Wer bist du?« frag­te er.

»Kennst du mich nicht?«

»Ah, du bist der Frem­de! Was willst du hier?«

Vi­el­leicht hör­te er es an mei­ner Stim­me, viel­leicht auch war mei­ne Ge­stalt bes­ser zu er­ken­nen als die sei­ni­ge – er wuss­te, wen er vor sich hat­te.

»Und du, wer bist du?« frag­te ich. »Wohl gar der Ko­dscha Ba­scha, wel­cher die Ge­fan­ge­nen frei­ge­las­sen hat!«

»Ej müd­schi­zat! O Wun­der!« schrie er laut. »Er weiß es!«

Er mach­te einen Sei­ten­sprung, um sich zu be­frei­en. Ich hielt zwar fest, da ich wohl einen Flucht­ver­such er­war­tet hat­te; aber sein al­ter, mor­scher Kaftan hielt nicht so fest wie ich. Ein Riss, und ich hat­te ein Stück des Zeu­ges in der Hand, und der Mann sprang un­ter die Bäu­me hin­ein, wo eine Ver­fol­gung ganz nutz­los ge­we­sen wäre. Da­bei schrie er aus Lei­bes­kräf­ten:

»Ha­j­de, sa–usch ku­li­be­den, cho­ria­dscha, tscha­puk – fort, fort aus der Hüt­te, rasch, schnell!«

»O Sih­di, was bist du für ein Bu­da­la!« sag­te Ha­lef. »Hast den Kerl schon beim Schopf und lässt ihn doch wie­der los! Wenn ich das ge­tan hät­te, so –«

»Still!« un­ter­brach ich ihn. »Zu Vor­wür­fen ha­ben wir jetzt kei­ne Zeit. Wir müs­sen schnell zur Hüt­te, denn sein War­nungs­ruf lässt ver­mu­ten, dass sie dort sind.«

Da er­schall­te von oben her­ab ein fra­gen­der Ruf:

»Nit­schün, ne deji – warum, aus wel­chem Grund?«

»Ja­band­schylar, ed­sch­ne­bi­ler! Katschyn, koschyn, syt­schryn – die Frem­den, die Frem­den! Flieht, lauft, springt!« ant­wor­te­te der Flüch­ten­de von der Sei­te her.

Jetzt be­flei­ßig­ten wir uns na­tür­lich der größt­mög­li­chen Eile; aber der holp­ri­ge Weg hielt uns doch zu sehr auf. Wir wa­ren nur we­ni­ge Schrit­te weit fort­ge­kom­men, da tat es eben einen Krach: wir sa­hen einen Feu­er­strahl em­por­schie­ßen, dann wur­de es für ei­ni­ge Au­gen­bli­cke wie­der dun­kel.

»Sih­di, bir top fi­schenk­ler ile – Herr, das war eine Ka­no­ne mit Ra­ke­ten!« mein­te Ha­lef, in­dem er hin­ter mir her keuch­te. »O Al­lah, es brennt so­gar noch!«

Wir sa­hen jetzt zwi­schen den Baum­stäm­men hin­durch einen Feu­er­schein, und als wir dann den frei­en Platz er­reich­ten, lag die Hüt­te vor uns, über und über bren­nend. Und von dort her rief eine Stim­me:

»Dort kom­men sie! Seht ihr sie? Gebt Feu­er!«

Wir wa­ren vom Flam­men­schein hell er­leuch­tet und bo­ten also ein sehr si­che­res Ziel.

»Zu­rück!« rief ich und tat zu glei­cher Zeit einen Sprung, der mich hin­ter den nächs­ten Baum brach­te.

Die an­de­ren folg­ten au­gen­blick­lich mei­nem Bei­spiel, und just noch zur rech­ten Zeit, denn es krach­ten drei Schüs­se auf uns, von de­nen aber kei­ner traf.

Noch im Sprung hat­te ich das Ge­wehr em­por­ge­mom­men. Der Auf­blitz der Schüs­se muss­te mir die Stel­le ver­ra­ten, an wel­cher sich die Ha­lun­ken be­fan­den. Ich drück­te kei­ne Se­kun­de spä­ter ab als sie und hat­te ge­trof­fen, denn eine Stim­me schrie:

»Ej fe­la­ket, bre ha! Ja­ralan­my­schim! – O Un­glück, zu Hil­fe! Ich bin ver­wun­det!«

»Drauf und dran!« rief der tap­fe­re klei­ne Had­schi Ha­lef Omar, in­dem er hin­ter sei­nem Baum her­vor­sprang.

»Halt!« warn­te ich, ihn am Arm er­fas­send. »Sie ha­ben viel­leicht zwei Läu­fe.«

»Mö­gen sie hun­dert ha­ben, die Schur­ken, ich haue sie nie­der!«

Er riss sich los, dreh­te sein Ge­wehr um und sprang über den hell er­leuch­te­ten Platz. Da blieb uns nichts an­de­res üb­rig, als ihm zu fol­gen. Es war zwar sehr ge­fähr­lich, aber glück­li­cher­wei­se war da drü­ben kein Dop­pel­ge­wehr vor­han­den, und zum Wie­der­la­den hat­ten sie auch kei­ne Zeit ge­habt. Wir ge­lang­ten mit hei­ler Haut zu dem Fel­sen, an wel­chem die Schüs­se ge­fal­len wa­ren; doch war dies auch der ein­zi­ge Er­folg, den uns der un­vor­sich­ti­ge Sturm­lauf ein­brach­te. Es be­fand sich nie­mand mehr da.

»Sih­di, wo sind sie?« frag­te Ha­lef. »Hast du eine Ah­nung da­von?«

»Wo sie sind? Nein! Aber wie sie sind, das weiß ich sehr ge­nau.«

»Nun, wie denn?«

»Ge­schei­ter als wir, vor al­len Din­gen ge­schei­ter als Du.«

»Willst Du mich schon wie­der ta­deln?«

»Du ver­dienst es. Wir hät­ten sie ganz si­cher er­grif­fen, wenn Du nicht aus­ge­bro­chen wä­rest.«

»Auf wel­che Wei­se denn?«