Durch die Wiese -  - E-Book

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Beschreibung

Ohne Insekten wäre unser Leben nicht nur ärmer, es wäre gar nicht möglich: Rainer Maria Rilke, Wilhelm Busch, Marlen Haushofer, Tomas Tranströmer, Franz Kafka, Maurice Maeterlinck, Lewis Carroll, Maria Sibylla Merian, Vladimir Nabokov und viele weitere Autor:innen begeistern mit Gedichten, Essays und Erzählungen über die faszinierende heimische Insektenwelt. Sie summen, schwirren, krabbeln, fliegen, brummen, flattern oder kriechen – Insekten halten nicht nur unser Ökosystem aufrecht, zwischen Schönheit und Vergänglichkeit, Ekel und Nutzen, der friedlichen Natur oder dem emsigen Treiben im Ameisenbau sind sie auch Inspirationsquelle vielzähliger Künstler:innen und Autor:innen. Als Bestäuber unserer Pflanzen, als Nahrungsquelle oder als Schädlingsbekämpfung tragen sie einen wichtigen Teil zur Vielfalt der Natur bei. »Durch die Wiese« versammelt historische wie aktuelle literarische Texte und nimmt die heimische Insektenwelt genau unter die Lupe. So formuliert die Anthologie ein eindrucksvolles Plädoyer für den Erhalt der Insektenvielfalt.

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Seitenzahl: 205

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Herausgegeben von Florian Huber

DURCH DIE WIESE

Insekten und Spinnentiere unter der literarischen Lupe

Herausgegeben von Florian Huber

DURCH DIE WIESE

Insekten und Spinnentiere unter der literarischen Lupe

Czernin Verlag, Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Huber, Florian (Hg.): Durch die Wiese. Insekten und Spinnentiere unter der literarischen Lupe / Florian Huber

Wien: Czernin Verlag 2025

ISBN: 978-3-7076-0843-4

Die ursprüngliche Rechtschreibung der einzelnen Beiträge wurde beibehalten.

Der Verlag dankt den Rechteinhabern für die Genehmigung zum Abdruck. Sollten darüber hinaus nachweislich Rechteansprüche bestehen, bitten wir um Mitteilung.

© 2025 Czernin Verlags GmbH, Kupkagasse 4, 1080 Wien, Österreich

[email protected]

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: Finidr, Český Těšín

ISBN Print: 978-3-7076-0843-4

ISBN E-Book: 978-3-7076-0844-1

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Abbas Kiarostami (1940–2016)

Die Arbeitsbienen

Trödeln

Mitten im Frühlingstag

Maria Sibylla Merian (1647–1717)

Eines Tages begab ich mich weit in die Wildnishinaus und fand unter anderem einen Baum, den die Eingeborenen Mispelbaum nennen. Dieser Baum wächst sehr hoch. Die Frucht hat in der Mitte ein weißes Gewächs, das wie ein Herz geformt ist, mit schwarzen Samen darauf (die die Menschen als Mispel essen). Darunter sind zwei dicke blutrote und hinter denselben noch fünf grünliche, lieblich anzusehende Blätter.

Hier fand ich diese gelbe Raupe, die über den ganzen Körper rosa Streifen hatte. Ihr Kopf war braun, und auf jedem Glied waren vier schwarze Stacheln. Die Füße waren ebenfalls rosa. Diese Raupe nahm ich mit nach Hause, und sie verwandelte sich gar schnell in eine hell holzfarbene Puppe, wie eine hier unten auf dem Holz dieses Baumes liegt. Vierzehn Tage danach, gegen Ende Januar 1700, schlüpfte daraus ein wunderschöner Tagfalter. Er sieht aus wie poliertes Silber mit dem schönsten Ultramarin überzogen, grün und purpurfarben, ja unbeschreiblich schön. Seine Schönheit ist mit keinem Pinsel wiederzugeben. Die Unterseite ist braun mit grünlichen Flecken. Auf jedem Flügel sind drei runde orange-gelbe Kreise von schwarzen Kreisen umgeben und diese wiederum von grünlichen. Die Enden der Flügel sind orange-gelb und mit schwarzen und weißen Streifen verziert.

Die Blätter dieses Baumes ähneln ziemlich dem Mespilus Americana alni vel Coryli foliis fructu mucaginoso, der im ersten Teil des Amsterdamer Gartens beschrieben wurde. Ob es der gleiche ist, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, da die Beschreibung dort sehr spärlich ist.

Fredrik Sjöberg (*1958)

Es gab einmal einen riesigen Baum,von allen Städten ausgerechnet im kleinen südschwedischen Ronneby, den bereits Linné seinerzeit in seinen Schriften als den Fliegenbaum erwähnt hat. Ja, er hieß schon lange vor ihm so. Seine Geschichte erklärt, warum wir manchen Fliegen immer nur hinterherjagen, ohne sie jemals zu sehen: die Fabelwesen, wie die Kenner sie mit einem Fachbegriff nennen, der so lächerlich ist wie das Gebrabbel des Verliebten, wenn es aus dem Zusammenhang gerissen wird.

Wir sprechen jetzt also über jene fast schon sagenumwobenen Schwebfliegen – groß und schön –, deren Larven ihre Tage in wassergefüllten Hohlräumen hoch oben in den Kronen der Bäume verbringen. Man kann sein ganzes Leben nach ihnen suchen, so selten bekommt man sie zu Gesicht.

Der Fliegenbaum war einer der größten Bäume aller Zeiten in Schweden, eine Schwarzpappel mit Ahnen aus dem Mittelalter; bis ins Jahr 1884 hinein lebte sie als eine graugrüne Kumuluswolke neben dem Rathaus am Ufer des Ronnebyån. Der Stamm hatte einen Umfang von elf Metern, der dickste Ast von gut und gerne fünf. Ein Ölfass hat einen Umfang von ungefähr zwei. Man kann es sich lebhaft vorstellen. So unfassbar groß war dieser Baum, dass die Einwohner Ronnebys sich seiner rühmten, als wäre er eine Sehenswürdigkeit von orientalischen Dimensionen, etwas, das man abbildet und anschließend auf Ansichtskarten in alle Himmelsrichtungen verschickt. Kein Mensch im Umkreis vieler Pfarreien war im Unklaren darüber, dass dieser riesige Baum der Fliegenbaum hieß. Er war ein komplettes Ökosystem. Irgendwo mitten in dieser Eruption aus Ästen und Laub, gefüllt mit ganzen Dohlenschwärmen, gab es beispielsweise eine Astgabel, auf deren Grund man etwas fand, das man als eine Quelle bezeichnen könnte. In ihr wimmelte es mit Sicherheit von den Larven dieser Fabelwesen, obwohl der Baum nicht deshalb seinen Namen erhielt, sondern weil sich seine weite Krone jeden Herbst, vor allem nach Sommern mit viel Regen, buchstäblich in eine Wolke verwandelte – aus schwärmenden Blattläusen. Offensichtlich lebten eine oder mehrere Arten Pflanzengallen bildender Blattläuse in dem Baum, soweit man sich erinnert in kleinen Wülsten im Blattstiel, und da die Erscheinung so außerirdisch groß war und die Läuse so kosmisch zahlreich, wurde das Ganze über Jahrhunderte hinweg zu einem sich alljährlich wiederholenden Spektakel, ungewöhnlich und verrückt genug, um Ansichtskarten darüber zu schreiben.

Leider brach bei einem Platzregen im Jahre 1882 ein Ast ab, woraufhin irgendein unkultivierter städtischer Beamter sich in den Kopf setzte, der Baum stünde der Entwicklung im Weg – welcher, ist unklar. Gleichzeitig verbreitete sich in der näheren Umgebung das Gerücht, der Stamm sei bis ins Mark hinein derart morsch, dass dieses Wrack fortmüsse. So sollte es sein. Die längsten Sägen wurden geschliffen. Einen schwachen Trost in der gesunden Farbe der Schadenfreude kann man darin finden, dass man sich in Bezug auf die Fäulnis jedenfalls gründlich geirrt hatte. Der Stamm erwies sich als kerngesund und als nichts, was man mal kurz in einer Kaffeepause fällt. Es ging einfach nicht. Der Fliegenbaum widerstand allem.

Außer Dynamit. So endete die Geschichte schließlich. Man sprengte den Fliegenbaum mit Dynamit. Der Entwicklung zuliebe. Ach ja.

Es gibt eine Reihe von Insekten, die in ihrer Lebensweise so geheimnistuerisch sind, dass man pro Jahrhundert nur einige wenige Exemplare sieht, und es ist gut möglich, dass die eine oder andere Schwebfliege zu dieser Kategorie gehört. Eine andere Möglichkeit könnte sein, dass es sie hier nicht mehr gibt, weil die wirklich sagenhaften Bäume verschwunden oder zumindest seltener geworden sind.

Lewis Carroll (1832–1898)

Alice und die Raupesahen sich eine Zeitlang schweigend an; endlich nahm die Raupe die Wasserpfeife aus dem Mund und sprach Alice mit müder, schleppender Stimme an. »Wer bist denn du?« sagte sie.

Als Anfang für eine Unterhaltung war das nicht ermutigend. Alice erwiderte recht zaghaft: »Ich – ich weiß es selbst kaum, nach alldem – das heißt, wer ich war, heute früh beim Aufstehen, das weiß ich schon, aber ich muß seither wohl mehrere Male vertauscht worden sein.«

»Wie meinst du das?« fragte die Raupe streng. »Erkläre dich!« »Ich fürchte, ich kann mich nicht erklären«, sagte Alice, »denn ich bin gar nicht ich, sehen Sie.«

»Ich sehe es nicht«, sagte die Raupe.

»Leider kann ich es nicht besser ausdrücken«, antwortete Alice sehr höflich, »denn erstens begreife ich es selbst nicht; und außerdem ist es sehr verwirrend, an einem Tag so viele verschiedene Größen zu haben.«

»Gar nicht«, sagte die Raupe.

»Nun, vielleicht haben Sie diese Erfahrung noch nicht gemacht«, sagte Alice.

»Aber wenn Sie sich einmal verpuppen – und das tun Sie ja eines Tages, wie Sie wissen – und danach zu einem Schmetterling werden, das wird doch gewiß auch für Sie etwas sonderbar sein, oder nicht?«

»Keineswegs«, sagte die Raupe.

»Nun, vielleicht empfinden Sie da anders«, sagte Alice; »ich weiß nur: für mich wäre das sehr sonderbar.«

»Für dich!« sagte die Raupe. »Wer bist denn du?«

Emmanuelle Pagano (*1969)

Das lauwarme Wasser

Unser Arzt hat gelächelt. Es ist ein Tier, bestimmt ein Ohrkneifer oder eine Schabe. Natürlich krabbeln sie hinein, die Ohrkneifer. Ich dachte, das seien Legenden. Aber nein. Alle kleinen Tiere tun das. Es ist ein lächerlicher Unfall.

Es zappelt und schmerzt. Er hat einen hübschen Namen, der Schmerz, Otalgie. Das Tier findet den Ausgang nicht, und ich werde verrückt. Hartnäckig trippelt es über das Trommelfell. Kann nicht zurück.

Er hat gesagt, ich soll nach Hause gehen und lauwarmes Mineralwasser in den Gehörgang träufeln, um das Insekt zu verscheuchen, soll ganz ruhig bleiben. Er fügt hinzu, und wenn es nicht klappt, dann kommen Sie wieder her.

Der Empfang am Wochenende. Er macht sich kein Bild. Die Organisation dieses idiotischen Treffens, und dazu die Otalgie, dass, wenn es anhält, ich irre, ja, irre werd ich, so sehr fügt es mir Schmerz zu, beweglichen Schmerz.

Ganz ruhig, sagt sie, nicht bewegen, ich schaffe es nicht, es hineinzugießen, beruhigen Sie sich, es fließt Ihnen gleich in den Nacken.

Hugh Raffles (*1958)

Vor vielen Jahrenfand ich für den Sommer Arbeit in der Küche eines Restaurants außerhalb von London. Eines frühen Morgens, während meiner ersten Woche, zog mich der Geschäftsführer vor eine weiße Tür am anderen Ende eines engen offenen Hinterhofs. Er öffnete das Vorhängeschloss und wir standen und warteten, bis unsere Augen sich an das Dunkel im Innern gewöhnt hatten. Eine enge Vorratskammer zeichnete sich langsam vor uns ab, mit gestapelten Vorräten: Ölkanister und Dosengemüse, Mehlsäcke.

Der Boden war aus geflecktem Weiß und erst nach einigen Augenblicken nahm ich nicht ohne Grauen wahr, warum wir auf der Schwelle wie an der Küste eines Meeres standen, schweigend unter einem düsteren Himmel. Niemand anderes wird das machen wollen, sagte der Geschäftsführer. Sie werden einen Besen brauchen, und diese Flaschen mit Bleichmittel.

Wie bei vielen abstoßenden Aufgaben setzt der Ekel, sobald der anfängliche Schock mit Aufnahme der Arbeit nachgelassen hat, einen eigentümlichen Eifer frei. Zum Teil ist es der Wunsch, schnell fertig zu werden. Zum Teil blockiert das bloße Tun das Nachdenken und erzeugt eine Art Trunkenheit, einen Schwindel, der über alle Zweifel erhaben ist.

Ich watete hinein. Tausende, Zehntausende von Maden, »fingerlange Maden«, weiße Maden, die sich auf dem Boden krümmten, glänzend und feucht. Nach einer Stunde war alles vorbei: der Raum sauber, der Boden gescheuert, und ich hatte das gemacht.

William H. Gass (1924–2017)

Orden der Insekten

Wir hatten an dem Haus sicher nichts zu beklagen, schließlich hatten wir das vorherige mehr als satt gehabt, wir hatten aber noch nicht lange darin gewohnt, als ich jeden Morgen die Leiber von Käfern einer großen schwarzen Art erblickte, die als Flecken auf dem Teppich am Treppenfuß lagen; ganz zufällig, so, wie Würmer nach einem Regen auf der Straße sterben müssen; als ich sie zum ersten Mal erblickte, sahen sie aus wie Knäuel dunkler Wolle oder wie Dreckkrumen von den Schuhen der Kinder, oder manchmal, wenn die Vorhänge zugezogen waren, flößten sie mir wie Tintenflekken oder tiefe Brandspuren Schrecken ein, denn ich war von dem dicken Teppich ganz früh eingeschüchtert worden und war in der ersten Woche mit dem Wunsch darübergelaufen, meine nackten Füße möchten meine Schuhe verschlucken. Die Panzer waren gewöhnlich zerbrochen. Beine und andere Körperteile, die ich nicht identifizieren konnte, lagen verstreut neben ihnen wie abgeblätterter Rost. Gelegentlich fand ich sie auf dem Rücken liegend, ihre geriffelte Unterseite sah orangefarben aus, während neben ihnen Schmierspuren von dunkelbraunem Pulver lagen, die mit dem Staubsauger sorgsam weggesaugt werden mußten. Wir glaubten, unsere Katze habe sie getötet. Nachts war sie damals oft krank – das war für sie ungewöhnlich –, und wir konnten uns keinen anderen Grund denken. So, auf dem Rücken liegend, sahen sie sogar im Tod rührend aus.

Ich konnte mir nicht vorstellen, woher die Käfer gekommen waren. Ich selber bin peinlich genau. Das Haus war sauber, die Geschirrschränke dicht verschlossen und ordentlich, und wir haben nie einen gesehen, der lebte. Das vorherige Haus hatten die flachen braunen struppigen Küchenschaben befallen, alle nur aus Drahtigkeit und Geschwindigkeit bestehend, und diese hatten wir ja denn doch gesehen, wie sie, vom Küchenlicht erschreckt, durch die Scheuerleisten und die Bodenritzen hereinsickerten; und in der Speisekammer hatte ich beinahe meine Hand um eine geschlossen, ehe sie floh und ihren Schatten auf das Stärkemehl warf wie ein Bild des Alarms, der meine Hand gepackt hatte.

Tot, auf den Rücken gedreht, waren ihre drei Beinpaare fein hochgezogen und scheu über ihre Mägen gefaltet. Wenn sie liefen, so nehme ich an, wurden ihre Vorderbeine nach vorn gestoßen und dann eingebogen, um den Körper nachzuziehen. Ich frage mich noch immer, ob sie hochsprangen. Mehr als einmal habe ich gesehen, wie unsere Katze eine ihrer Klauen unter eine Flügeldecke schob und einen in die Luft warf, dann kauerte sie ruhig, während das Insekt herunterfiel, tat so, als springe sie nach ihm hoch – aber es war bei Tageslicht; der Käfer war tot; sie war nicht mehr eigentlich interessiert; und sie lief augenblicklich weg. Anstelle ihres Hüpfens steht nur dieses Bild. Sogar wenn ich tatsächlich sähe, wie die beiden hinteren Beinpaare heraussprängen, wie sie es hätten tun müssen, wenn einer hochsprang, so meine ich doch, ich würde das Ergebnis unwirklich und mechanisch finden, einen armseligen Versuch, gemessen an dem plötzlich aufschießenden Halsüberkopfflug, den die Tatze unserer Katze veranstaltete. Ich meine, ich könnte es nachschlagen, aber es ist kein Lehrfach für Frauen ... Käfer.

Zunächst reagierte ich wie erforderlich, beugte mich über sie, fragte mich, was zum Teufel; doch bevor es mir einfiel, zog ich meine Hand zurück, und mich schauderte. Bösartiges, häßliches, gepanzertes Zeug: sie benützten ihre Schatten, um groß auszusehen. Der Apparat saugte sie ein, während ich in eine andere Richtung blickte. Ich erinnere mich an die plötzliche Spannung des Schreckens, die mich ergriff, als ich einen durch den Schlauch rasseln hörte. Ich war natürlich erleichtert, daß sie tot waren, denn ich hätte nie einen töten können, und wenn sie lebend in den Staubbeutel des Staubsaugers geknallt wären, dann, glaube ich, hätte ich die Alpträume wiederbekommen, die ich hatte, als mein Mann gegen die roten Ameisen in der Küche kämpfte. Die ganze Nacht lag ich wach und dachte an die Ameisen, noch lebendig im Bauch des Apparates, und als ich auf den Morgen hin endlich einschlief, befand ich mich selber in dem entsetzlichen elastischen Tunnel der Saugdüse, wo ich sie vor mir hörte: Hunderte Körper, die im Dreck raschelten.

Ich sehe ihre Spezies nie als eine lebendige vor mir, sondern als eine, die ausschließlich aus den Kadavern auf unserem Teppich gebildet ist, alle die neuen Toten werden im Fortgang einer geheimnisvollen Gattungsspur erzeugt – vielleicht durch diesen Staub, in dem sie manchmal liegen –, werden durch die Luft getragen, festigen sich über Nacht und bilden sich spontan, von einem Körper ausgehend zum nächsten, so wie es vor dem Einbruch des wissenschaftlichen Zeitalters die Maden taten. Ich besitze ein einziges Buch über Insekten, ein kleines überholtes Handbuch auf Französisch, das mir ein guter Freund im Scherz gab – wegen meines Gartens, wegen der Eigentümlichkeit der Bildtafeln, dem Spaß, mit dem man in so eleganter Sprache über Würmer lesen konnte –, und mein Käfer sieht sich dort auf seinem Bild, wie er den Stengel einer Orchidee hochklettert. Unter dem Bild steht sein Name: Periplaneta orientalis L. Ces répugnants insectes ne sont que trop communs dans les cuisines des vieilles habitations des villes, dans les magasins, entrepôts, boulangeries, brasseries, restaurants, dans la cale des navires etc., so fängt der Text an. Dennoch sind sie für mich eine neue Erfahrung, und ich glaube, daß ich jetzt dafür dankbar bin.

Das Bild brauchte mir nicht zu zeigen, daß es davon zwei Sorten gab, den erwachsenen und die Nymphe, denn zu der Zeit hatte ich schon die Leichen beider gesehen. Nymphe. Du lieber Himmel, was wir für Namen gebrauchen. Die eine war dunkel, hingekauert, häßlich, schlau. Die andere, schlanker, hatte harte, futteralartige Flügel, die wie eine weitere Schale über ihren Rücken gezogen waren, und man konnte feine verwobene Linien sehen, die wie fossile Gaze um sie gesponnen waren. Die Nymphe war von reicher goldener Farbe, zwischen den Körpersegmenten wurde sie dunkel wie Mahagoni. Beide hatten Beine, die unter einer Lupe wie Rosenstiele aussahen, und die der Nymphe waren bei gutem Licht so durchsichtig, daß man meinte, man sehe ihre Nerven zusammenfließen und wie eine verästelte Ritze bis an die äußerste Spitze jeder Klaue laufen.

Bei Berührung sind ihre Beine in die angezogene Stellung zurückgefallen, und je mehr ich sie anschaue, umso weniger glaube ich meinen Augen. Die Verworfenheit in diesen Käfern ist herrlich. Ich besitze eine Sammlung, die ich jetzt in Schachteln für Schreibmaschinenfarbbänder aufbewahre, und obgleich ihre Körper mit der Zeit austrocknen und ihr inneres Fleisch zerfällt, bleiben ihre äußeren Züge bestehen, so wie sie, glaube ich, im Leben bestanden, eine ägyptische Entschlossenheit, denn ihre Panzerplatten sind stark, und der Tod muß Knochen brechen, um hineinzukommen. Nun da die schwere Seele gegangen ist, ist ihre Hülle leicht.

Ich vermute, daß wir, wenn wir mit unseren Knochen so vertraut wären wie mit unserer Haut, Tote nie begraben, sondern sie in ihren Zimmern wie in einem Schrein aufbewahren würden, sie so arrangierten, wie wir sie bei einem Besuch vorfänden; und unsere Feinde, wenn wir ihre Körper von den Schlachtfeldern stehlen könnten, würden so, wie sie starben, ins Museum gestellt werden, der Stahl noch immer beredt in ihren Flanken steckend, ihre Metallhelme schief, die Zehenschützer an ihren Schuhen ungetragen, und Freund und Feind wären so wundersam historisch, daß wir in hundert Jahren die Kiefer noch zur immer selben Rede geöffnet vorfänden und alle Teile, mit denen wir unser Leben verbrachten, so schräggeneigt, wie sie immer waren – Brustkasten. Kragen. Schädel –, noch immer so wiederholungssüchtig, noch immer trotzig, engelsleicht, noch immer unseres Gedenkens, unserer Zuneigung würdig. Was heißt es eigentlich, wenn man sagt, das Leben verlasse sie, nachdem die Katze durch die Flügeldecke hindurchgebissen und das Fleisch innen zerwühlt habe? Zu unserem Unglück, so möchte ich klagen, sind unsere Knochen geheim, kommen erst zum Schluß an die Oberfläche, so müssen wir lieben, was zugrunde geht: die Muskeln und das Wässerige und die Fette.

Zwei Spitzen wie Dolche vom Hinterteil ausgestreckt. Ich vermute, ich werde ihre Funktion nie kennen. Diese Art von Wissen regt mein Interesse nicht an. Zunächst einmal mußte ich meine Augen auf Nahaufnahme einstellen, und wie ich es jetzt sehe, waren die ganze Änderung, der neuerliche Wechsel meines Lebens die Folge davon, daß ich endlich einer Sache überhaupt nahe kam. Es war ein selbstkasteiender Akt, so erinnere ich mich, eine Strafe, die ich mir selber auferlegte für die schlechtgelaunten Worte, die ich meinen Kindern mitten in der Nacht zuschrie. Ich fühlte instinktiv, daß die Insekten ansteckend und ihre eigene Krankheit waren, deshalb hielt ich mir, als ich niederkniete, ein Taschentuch über die untere Hälfte des Gesichtes ... sah nur Grauen ... wandte mich ab, mir war schlecht, ich bedeckte die Augen ... aber für den Rest des Tages suchte mich die schlimmste denkbare Wut heim: unbestimmt, grübelnd, schuldig und beschämt.

Daraufhin kam ich ihnen oft nahe; sagen wir zunächst einmal, um die Unterschiede zu der goldenen Nymphe herauszufinden; fuhr ihnen mit einem gefärbten Nagel, den ich mir lange hatte wachsen lassen, zwischen die Kinnteile, beobachtete die Bewegung der Kiefer, die Stengel der Antennen, den totenschädelförmigen Kopf, die das Abdomen umfahrenden Linien, und fand in der Positur des Panzers, sogar wenn ich ihn mit dem Finger berührte, eine Intensität wie jene in dem Starren von Gauguins Eingeborenenaugen. Die dunklen Panzer glitzerten. Sie sind wunderbar geformt; sogar die Knöpfe der zusammengesetzten Augen zeigen eine geometrische Genauigkeit, die stärker ist als mein früheres Grauen. Es ist nicht möglich, einer solchen Ordnung gegenüber Ekel zu empfinden. Und trotzdem, kam mir wieder in den Sinn, eine Küchenschabe ... und du, eine Frau.

Ich bin nicht länger Herrin meiner Phantasie. Ich vermute, sie kamen aus der Kanalisation oder bei den Gas- und Wasserzählern heraus. Vielleicht wollten sie auf den Teppich losgehen. Auch Grillen ernähren sich, soweit ich unterrichtet bin, von Wolle. Ich blieb jeweils bei meinem Mann liegen ... ganz steif ... und wartete, bis alles im Haus still war, bis er in Schlaf fiel, und dann packte mich jedesmal das Drama ihres Vorbeiziehens und nahm mich so vollkommen gefangen, daß ich, als ich endlich schlief, ohne den leisesten Verlust an Lebendigkeit oder Kontinuität einfach nur von einem Traum in den anderen glitt. Obschon sie nie lebten, kamen sie mit Einstichen daher; ihre Körper bildeten sich aus kleinen Spiralwindungen kupferfarbenen Staubes, den ich in der Dunkelheit am Treppenfuß unmöglich gesehen haben konnte; und sie waren tot und lagen mit dem Bauch nach oben, als sie Gestalt annahmen, genau in diesem Augenblick nämlich sprang unsere Katze, selber in der Dunkelheit unsichtbar, nach vorn und schlug ihre Pfoten über der wahren Seele der Küchenschabe zusammen; eine Seele, so statisch und intensiv, so unsterblich eingerichtet, fühlte ich, während ich abgepanzert in unserem Bett lag, das Innere nach außen gekehrt, meinen Verstand verscheuchend, daß es dieselbe war wie die finstere Seele der Welt selbst – und es war dieses wunderbare und tief erschreckende Gefühl, das mich endlich packte, mich neben meinem Mann steif werden ließ wie ein Pfahl, meinen Träumen sein Gebot aufzwang.

Das Wetter trieb sie herauf, denke ich ... Feuchtigkeit in den Rohrleitungen des Hauses. Der erste, auf den ich stieß, sah aus, als wäre er in Japan fabriziert worden; zerbrochen, ein Bein unter den Körper geknickt wie ein metallener Sattelgurt; Uhrwerk nicht mehr aufgezogen. Er schepperte auch im Hohlraum des Staubsaugerrohrs wie Metall; hell, wie ein Haufen Stecknadeln. Das feine Gerassel ließ mich erschauern. Naja, ich sehe immer vor mir, was ich fürchte. Was immer meine Augen erfassen, wird in ein drohendes Objekt verwandelt: Dreck oder Flecken oder Brandspuren, oder wenn nicht diese, dann Spielzeuge mit unreparierbaren Metallteilen. Keine Ängste, vor denen man sich fürchten müßte. Die gewöhnlichen Ängste des Alltagslebens. Gesunde Ängste. Weibliche, eheliche, mütterliche: die Kinder mögen mit einem Schulterzucken auf den armen krüppeligen Wicht zeigen und mit einer Stimme sprechen, die er hört; die Katze hat wieder Flöhe, sie werden aufs Sofa überspringen; das eigene Gesicht sieht verschmiert aus, es ist wegen der Hitze; brennt die Kochflamme unter den Bohnen? die unerklärliche Krankheit der Waschmaschine kann wieder auftreten, sie rumpelt bei »Spülen« und rasselt bei »Waschen«: Gott, es ist schon elf; wer von euch hat eine Galosche verloren? Also beugte ich mich mitten in den Kümmernissen unseres gewöhnlichen Lebens unschuldig und ungenügend gerüstet über den Käfer, der sich aufgelöst hatte. Ich will mich noch einmal an den Schock erinnern ... Meine Hand wäre mit derselben Geschwindigkeit vor einer Brandstelle geflohen; der Tod oder die Verstümmelung eines beliebigen anderen hätten mich genauso geschwächt; und ich hätte aus einer Reihe von Gründen kalt bleiben können, zum Beispiel weil ich fühlte, wie sich meine eigene mörderische Krankheit in mir bewegte: aber niemand hätte den Ekel erzeugen können, den das halbbeleuchtete Erkennen schuf, eine Reaktion meines ganzen Wesens, die dem Erkennen vorauseilte und mich wie eine Spinne zum Rückzug trieb.

Ich habe gesagt, ich sei unschuldig gewesen. Nun, ich war es nicht. Unschuldig. Mein Gott, die Namen, die wir gebrauchen. Mit was an Lebendigem leben wir überhaupt noch, ohne daß wir es gezähmt haben – Leute wie ich? –, sogar unsere Zimmerpflanzen atmen nur mit unserer Erlaubnis. Immerzu hatte ich Angst vor dem, was es war – etwas Häßliches und Giftiges, Tödliches und Schreckliches –, das einfache Insekt, schlimmer und wilder als Feuer –, und ich würde meine Arme lieber mitten in eine Flamme strecken als in die Dunkelheit eines feuchten und spinnwebüberzogenen Loches. Aber das Auge hört nie auf, sich zu ändern. Wenn ich meine Sammlung jetzt ansehe, so beobachte ich nicht länger Küchenschaben, sondern anmutige Ordnung, Ganzheit und Göttlichkeit ... Mein Taschentuch war dieses Mal unnötig ... Ach du mein Mann, sie sind eine furchtbare Krankheit.

Die finstere Seele der Welt ... ein Ausdruck, über den ich lachen sollte. Die Schale der Schabe machte mich krank. Und mein Mundwerk ist aufgebrochen. Ich liege still, höre hin, aber da ist nichts zu hören. Unsere Katze liegt still. Zwischen ihren Pfoten gehen sie vom Leben zur Unsterblichkeit über.

Bin ich jetzt dankbar, daß mein Schrecken einen anderen Gegenstand hat? Von Zeit zu Zeit denke ich so, aber ich fühle mich, als wäre mir eine Art östliches Geheimnis in Obhut gegeben, einem furchtbaren Gott geweiht, und ich bin voll der Empfindung meiner Wertlosigkeit und des Lehms, woraus mein Gefäß gemacht ist. So seltsam. Die Nähmaschine ist es doch, die die furchtbare Kralle hat. Ich lebe in einem Gestreu von Wohnblocks und Kinderstimmen. Die täglichen Verrichtungen sind meine Uhr, und die Zeit wird jeden zweiten Moment unterbrochen. Ich hatte immer geglaubt, Liebe wisse nichts von Ordnung, und das Leben selber sei Getümmel und Konfusion. Lasset uns hüpfen, lasset uns brüllen! Ich bin gehüpft, und zu meiner Schande habe ich schwer gekämpft. Aber dieser Käfer, den ich in meiner Hand halte und von dem ich weiß, daß er tot ist, er ist schön, und in seinem Entwurf liegt eine grimmige Freude, neben welcher jede andere winzig aussieht, denn seine Freude ist die Freude von Stein, und er lebt in seinem Grab wie ein Löwe.

Ich weiß nicht, was erstaunlicher ist: eine solche Ordnung in einer Schabe oder solche Ideen in einer Frau.

Ich konnte meinen Blickwinkel nicht ändern, so infiziert war er, und mit unerschrockener Leidenschaft nahm ich ihr Studium auf. Ich wählte Spinnen aus und gab ihnen eine Heimstatt; empfing Würmer jeder Art zu Gast; war großzügig zu Baumheuschrecken und Netzflüglern, zu Blattläusen, Ameisen und verschiedenen Maden; hegte und pflegte