Durchschlag am Gotthard - Alexander Grass - E-Book

Durchschlag am Gotthard E-Book

Alexander Grass

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Beschreibung

Der Gotthard-Strassentunnel war ein Kind der Autobahneuphorie. Eröffnet wurde er allerdings zu einer Zeit, als man die ungebremste Zunahme des Strassenverkehrs bereits kritisch sah. 1994 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung die Alpeninitiative an, die den Schwerverkehr am Gotthard begrenzen sollte. Im Gegensatz zu den zwei Eisenbahntunnels sind die Entstehung und der Bau des Strassentunnels nie umfassend gewürdigt worden. Alexander Grass holt dies vierzig Jahre nach der Eröffnung nach. Er recherchierte dafür in Archiven von Bund, Kantonen und Unternehmen, aber auch in jenen der SUVA, der SBB und der Gewerkschaften. Themen sind etwa der 45 Jahre dauernde Planungsprozess voller Utopien und Kontroversen, die Technik, die Kostenkrisen während des Baus, die Arbeitsbedingungen der Mineure sowie die SBB, die ihre Cashcow am Gotthard verloren hat. Zuletzt beschreibt das Buch die kulturelle Debatte, die den Tunnelbau begleitete und den politischen Prozess zur zweiten Röhre, deren Bau 2021 in Angriff genommen wird.

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IMPRESSUM

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild Im Gotthard-Strassentunnel, 20.5.1980. © Walter Scheidegger, Ambrì

Lektorat Stephanie Mohler Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz Naima Schalcher mit Janina Mosimann, Zürich

Bildbearbeitung Benjamin Roffler Hier und Jetzt

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-509-1ISBN E-Book 978-3-03919-977-8

E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweizwww.hierundjetzt.ch

INHALT

VORWORTvon Heinz Ehrbar

IZÜGELKARTON 102

II45 JAHRE PLANUNG

III14 VARIANTEN UND EIN PROJEKT

IVARBEITSGEMEINSCHAFT GOTTHARD-STRASSENTUNNEL NORD

VDER TUNNELFOTOGRAF

VICONSORZIO GOTTARDO SUD

VIITOO BIG TO FAIL

VIIIVERTRAGSKULTUR

IXTUNNEL – KANTINE – BARACKE

XMEDIENBERICHTERSTATTUNG UND KULTUR

XIDIE SBB – CASHCOW AM GOTTHARD

XIIDIE ZWEITE RÖHRE

Anhang

VORWORT

Die Schweizer Geschichte ist untrennbar mit dem Gotthard verbunden. Der Gotthard, das zentrale Gebiet im Herzen der Alpen, in welchem Reuss, Rhein, Rhone und Tessin entspringen – eine Alpenregion, welche zu römischen Zeiten ein unüberwindbares Hindernis war. Erst um das Jahr 1230 bezwang die Urner Bevölkerung mit dem Bau der Teufelsbrücke und der Twärrenbrücke entlang der Felswand am südlichen Ausgang der Schöllenenschlucht das unwegsame Massiv ein erstes Mal. Verschiedene Sagen und Mythen halten uns diese Zeit immer noch lebendig vor Augen. Der neue Verkehrsweg und insbesondere die Kontrolle über dessen Bewirtschaftung waren eine grosse, treibende Kraft bei der Entstehung der Eidgenossenschaft. Der Gotthard hat die Schweiz schon immer geprägt, in der Vergangenheit wie auch heute.

Weitere Meilensteine folgten mit dem Bau der ersten steinernen Teufelsbrücke (1585), dem Bau des ersten Verkehrstunnels in den Alpen, dem Urner Loch (1708), der zweiten steinernen Teufelsbrücke und der neuen Linienführung in der Tremola (1830), dem Bau des Eisenbahntunnels (1872–1882), dem Ausbau der Passstrasse in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts und schliesslich mit dem Bau der Autobahnverbindung und dem Strassentunnel (1970–1980). Ab 1996 erfolgte der Bau des seit 2016 in Betrieb stehenden Basistunnels, welcher dazu beitragen soll, dass der vom Strassentunnel angezogene Güterverkehr wieder auf die Schiene zurückverlagert werden kann.

Diese lange Geschichte der Verkehrsinfrastrukturbauten am Gotthard ist von vielen Ereignissen geprägt, welche stark unterschiedlich dokumentiert sind. Die Legende von der Teufelsbrücke gehört zur Grundausbildung in der Primarschule. Auch der Bau des Eisenbahntunnels durch Louis Favre ist sehr gut dokumentiert. Zum Bau des Gotthard-Basistunnels und zum Projekt AlpTransit wurde manches publiziert, sodass sich Lehre und Forschung darauf abstützen können. Andere Ausbauetappen sind aber nur einem an der Technikgeschichte interessierten Publikum zugänglich, obwohl es auch daraus viele Erkenntnisse gäbe – gerade für heutige Projekte. So war zum Beispiel das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer dem Zeitgeist folgend entweder kooperativ (Urner Loch) oder aber konfrontativ (Gotthard-Eisenbahntunnel). Wo stehen wir heute?

Zum Bau des Gotthard-Strassentunnels gibt es keine leicht einsehbaren Quellen. Die Grundlagendokumente wurden der Öffentlichkeit nie in einer systematischen Form zugänglich gemacht. Der für das Projekt AlpTransit Gotthard äusserst wichtige Erkenntnisgewinn aus der Ausführung des Strassentunnelprojekts beruhte ausschliesslich auf mündlichen Überlieferungen. Umso mehr ist der enorme Aufwand des Autors Alexander Grass zu schätzen, der sich in die unterschiedlichsten Archive begeben hat, Tausende von Seiten aus Protokollen, Verträgen und Schriftverkehr analysiert, aber auch viele Gespräche mit Beteiligten, Verantwortlichen und Zeitzeugen geführt hat. Die Spannungsfelder und die Tatsache, dass man sich oft nah am Abgrund bewegte, werden offen, ehrlich und dank der vielen Quellen nachvollziehbar dargelegt.

Mit dem vorliegenden Buch ist ein spannender Beitrag entstanden, welcher eine der grössten Lücken in der Technikgeschichte des Verkehrsinfrastrukturbaus am Gotthard schliesst. Dafür gebührt Alexander Grass ein grosser Dank. Mögen die Erkenntnisse aus dieser Publikation dazu beitragen, dass das partnerschaftliche Miteinander bei komplexen Projekten kein Lippenbekenntnis bleibt, sondern weiterentwickelt und täglich umgesetzt wird – zum Wohle des Bauherrn, der Unternehmer und Planerinnen und letztendlich auch des Steuerzahlers. Dazu braucht es aber neben dem fachlichen Können auch das persönliche Wollen und das Dürfen seitens der betroffenen Organisationen. Alexander Grass zeigt deutlich auf, dass der wichtigste Erfolgsfaktor für den erfolgreichen Tunnelbau weiterhin der Mensch ist. Auf allen Stufen gilt: die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben.

Heinz Ehrbar ist dipl. Bauingenieur ETH. Von 1981 bis 1996 war er bei der Elektrowatt Ingenieurunternehmung AG (EWI) verantwortlicher Projektleiter beim Bau von Wasserkraftwerken, von 1996 bis 2014 übte er verschiedene Funktionen beim Bau des Gotthard-Basistunnels aus: zuerst als Projektleiter bei der EWI, dann bei der Erstellergesellschaft AlpTransit Gotthard AG als stellvertretender Leiter Tunnel- und Trasseebau und als Abschnittsleiter Sedrun und ab 2006 als Leiter Tunnel- und Trasseebau Gotthard sowie als Mitglied der Geschäftsleitung. Seit 2012 ist er Inhaber eines Beratungsunternehmens im Tunnel- und Untertagebau. 2013 wurde er zudem bei der DB Netz AG Leiter des Managements Grossprojekte, von 2017 bis 2019 war er bei der Deutschen Bahn Leiter des Competence Centers Grossprojekte 4.0. Seit 2017 wirkt Heinz Ehrbar als Executive in Residence an der ETH Zürich.

IZügelkarton 102

«Hier meine Hinweise. Freundliche Grüsse.» So endete eine Mail aus dem Zentralsekretariat der Gewerkschaft Unia. Wo liegen die Akten der Gewerkschaft Bau und Holz, die einst für den Gotthard-Strassentunnel zuständig gewesen ist – das war meine Frage. Die Antwort: Sie liegen im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich, im Staatsarchiv Uri in Altdorf und bei der Fondazione Piero e Marco Pellegrini e Guglielmo Canevascini im Kanton Tessin.

Viele dieser Akten sind nicht erschlossen, sondern lediglich in Kartonschachteln verpackt. Zum Beispiel Zügelkarton 102: Dossier zu Baustellenbesichtigungen und -fragen, 1977–1993. Der Staatsarchivar des Kantons Uri sieht nach, er findet Position 102 und schreibt: «Dort sind auch die Unterlagen zu den Baustellenbesichtigungen erwähnt. Die Unterlagen konnte ich jedoch nicht finden, obwohl das Dossier 102 vorhanden ist.» Die Berichte von den Baustellenbesuchen sind verschollen. Erhalten sind Unterlagen zur gewerkschaftlichen Arbeit auf den Gotthard-Grossbaustellen. So begann meine Suche nach Zeitzeugnissen und Dokumenten zum Bau des Strassentunnels.

Neben den Gewerkschaftsakten sind auch die Protokolle der Baukommission erhalten; Planer und Ingenieure verfassten zahlreiche Schriften. Die Kantone Uri und Tessin waren als Bauherren beteiligt, der Bund hatte die Oberaufsicht inne. So entstanden zahlreiche Korrespondenzen zwischen den vier Parteien Bauherrschaft, Amt für Strassen- und Flussbau in Bern und Bundesrat. Der Bau des Gotthard-Strassentunnels beschäftigte eine ganze Generation von Politikern und Planern; Kulturschaffende setzten sich auseinander mit dem Tunnelbau, mit dem ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde in der Beziehungsgeschichte zwischen dem Tessin und den Landesteilen nördlich des Gotthards.

Im Bundesarchiv in Bern liegen über 180 Dossiers zum Bau des Gotthard-Strassentunnels, jedes von ihnen hat bis zu 1000 Seiten. Dazu kommen Bestände im Staatsarchiv Uri, im Archivio di Stato del Cantone Ticino und im Zürcher Sozialarchiv. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) hält Akten über den Arbeitsschutz auf der Baustelle, im Archiv der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ist die Auseinandersetzung der SBB mit der Lastwagenkonkurrenz am Gotthard dokumentiert. Dazu kommen Hunderte von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, Denkschriften, Studien, Parlamentsprotokolle und Berichte von Behörden.

Und es gibt Funde in privaten Archiven: Etwa die Fotos und Dokumente von Walter Scheidegger, dem ehemaligen Bauführer im Südkonsortium, der nach dem Abschluss der Baustelle in der Leventina geblieben ist. Oder den Nachlass von Ezio Censi. Er war Sektionschef beim Ufficio strade nazionali del Cantone Ticino in Bellinzona und ab 1967 örtlicher Bauleiter des Bauloses Süd. Seine Persönlichkeit beeindruckte über die Baustelle hinaus. In seinem ehemaligen Familiensitz befindet sich noch sein Büro mit zahlreichen Schriften – an der Wand hängt noch immer ein drei Meter langer Bauplan, auf dem Censi Tag für Tag den Baufortschritt eingetragen hat. Seine Familie hütet dieses Archiv und zahlreiche Erinnerungen.

Lückenhafte Archive

Trotz der grossen Zahl an Archivdokumenten bleiben blinde Flecken. Akten sind dann erhalten geblieben, wenn eine Institution involviert gewesen ist, die ihre Unterlagen nach Projektende aufbewahrt hat. Das trifft zu bei Behörden in Bundesbern oder im Kanton Uri, nur selten aber bei Firmen, die am Projekt beteiligt waren.

Schriftstücke entstanden dann, wenn politische, rechtliche und finanzielle Konflikte ausgetragen wurden, zum Beispiel bei der Kosten- und Terminkrise im nördlichen Baulos. Viel weniger Unterlagen sind vom Südlos erhalten, wo die Konflikte weniger waren. Mit Interviews sowie mit Akten aus dem Archiv der Baufirma Walo Bertschinger versuchte ich, diese Lücke zu schliessen. Nur wenige Dokumente schildern Arbeitsbedingungen und den Baustellenalltag. In Gesprächen mit am Bau beteiligten Personen konnte ich Erinnerungen festhalten; dazu kommen Reportagen, Radio- und Fernsehbeiträge aus den 1970er-Jahren. Zur Rolle der Frauen beim Bau des Gotthard-Strassentunnels ist keine einzige Unterlage erhalten. Auf der Liste der Gewerkschaftsmitglieder steht keine einzige Frau, in den Sitzungsprotokollen und Schriftwechseln werden ausschliesslich Männer erwähnt. Dieses Thema harrt noch der Recherche.

Der Gotthard ist eine spröde Verkehrs- und Energielandschaft. Er ist auch ein Ort der Erinnerung: an die Vespafahrt zwischen den eiskalten Schneemauern hindurch, an kochende Motorkühler, an Familienmitglieder, die bei der Bergfahrt aus dem Auto aussteigen mussten, weil der Motor die Last nicht schaffte. Es ging um etwas Abenteuer, um Freiheit. Die Massenmotorisierung, der Autobahnbau und damit auch der Bau des Gotthard-Strassentunnels bewirkten eine tiefgreifende Umwälzung. Sie erfasste Gesellschaft, Raumplanung, Volkswirtschaft und Kultur, und sie ist vergleichbar mit jener Revolution, die der Eisenbahnbau bewirkt hatte.

Der Gotthard-Strassentunnel war zu seiner Zeit der längste Strassentunnel der Welt. 2015, also vor der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels, befuhren ihn 36 800 Personen pro Tag. Beim Bahntunnel waren es viermal weniger, nämlich 8900.1 Im gleichen Jahr wurden 8 691 000 Tonnen Güter durch den Strassentunnel befördert, im Bahntunnel waren es 15 251 000 Tonnen.2 Der Gotthard-Strassentunnel ist eines der wichtigsten Infrastrukturbauwerke der Schweiz.

«Swiss open world’s longest road tunnel» – sogar die New York Times thematisierte im September 1980 die Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels auf ihrer Titelseite. Doch im Gegensatz zum Basistunnel von 2016 und zum Eisenbahntunnel von 1882 wurde die Geschichte des Strassentunnelbaus am Gotthard in den Jahren 1970 bis 1980 kaum aufgearbeitet. Mit einer Ausnahme3 fehlen Gesamtdarstellungen von Planung und Bau des Gotthard-Strassentunnels, von politischen, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zum Baubeginn erschien ein Band, in dem das Projekt vorgestellt wurde.4 Zum Durchschlag des Sicherheitsstollens wurde eine Broschüre publiziert, 5 im Umfeld der Eröffnung erschienen ein Baustellentagebuch6 und ein Porträt des Tunnels.7 In der Fachpresse gab es zahlreiche technische Berichte. Die Autoren waren Vertreter der auftraggebenden staatlichen Behörden einerseits und solche der auftragnehmenden Konsortien und Ingenieurbüros andererseits. Mehrere Studien untersuchten die Verkehrsentwicklung nach der Eröffnung des Tunnels.8 Und schliesslich war der Gotthard-Strassentunnel immer wieder ein Aspekt in Büchern zu übergreifenden Gotthardthemen wie Verkehrspolitik, Volkswirtschaft oder Geschichte.9

Die Inbetriebnahme des Tunnels wurde zum nationalen Fernsehspektakel. «Beginn und Vollendung dieses Tunnels fallen in unterschiedliche Epochen schweizerischer Strassenbaupolitik», sagte Bundesrat Hans Hürlimann in seiner Ansprache, 10 «unbestrittene Dynamik hat anderen Erwägungen, Skepsis und Vorbehalten gegenüber Fortschritt und Verkehr Platz gemacht.» Hürlimann dachte dabei an die Hoffnung auf Freiheit und Aufschwung, die den Autobahnbau anfänglich begleitet hatte. Doch bei seiner Eröffnung wurde der Strassentunnel zum Symbol für Autolärm, Gestank und Staus in den Alpentälern. Er wurde zum Schauplatz einer veränderten Verkehrs- und Umweltpolitik. Der Gotthard-Strassentunnel entstand in einer Zeit des Übergangs, er steht für diese Zeitenwende.

II45 Jahre Planung

Der erste Anlauf 1935

Der Kartonumschlag des Buches glänzt bräunlich und ist etwas abgegriffen. «ASTA» steht da in grossen Lettern – «Auto-Strassen-Tunnel durch die Alpen». Ein einziges Exemplar ist in der Bibliothek der Architekturakademie in Mendrisio erhalten. Die Schrift ist 41 Seiten lang und datiert vom 15. März 1935, nach dem Ersten und noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Es ist das erste Projekt zum Bau eines Gotthard-Strassentunnels.1 Verfasser waren der 1905 geborene ETH-Bauingenieur Eduard Gruner und sein Bruder Georg Gruner. Die grossen Handelswege hätten ohne Zweifel zu den wichtigsten Faktoren in der Entwicklung der Kultur gehört, schrieben sie: «Heute noch verdankt die Schweiz ihre wirtschaftliche Stellung als zentraler Verkehrsplatz unseres Kontinents weitgehend dem St. Gotthardübergang.» Die nördlichen und südlichen Nachbarländer hätten grosse Strassennetze bis an die Schweizer Grenzen gebaut. Diese Netze müssten nun zusammengeschlossen werden. Im Alpenraum bestünden die Brenner-Route, die von Frankreich und Italien propagierte Mont-Blanc-Route und die Gotthardroute durch die Schweiz. Es liege im volkswirtschaftlichen Interesse der Schweiz, dem Automobilverkehr einen ganzjährigen Alpenübergang zu bauen. Sonst drohe die Schweiz umfahren zu werden. Die Passstrassen in der Schweiz seien nur während dreier Monate im Jahr sicher befahrbar. Der Autoverlad am Gotthard bringe einen Zeitverlust von drei Stunden und koste 32.60 Franken für den Transport eines Autos mit Fahrgästen. Die einzige befriedigende Lösung sei der Bau eines Strassentunnels.

Die Gebrüder Gruner schlugen einen 15,1 Kilometer langen Strassentunnel zwischen Göschenen und Airolo vor. Sie planten sechs Ventilationsschächte, berechneten Saug- und Druckventilatoren, die sie auf eine Spitzenlast von 150 Fahrzeugen pro Stunde auslegten. Die Tunneleingangsstation in Göschenen sollte eine Tankstelle mit Reparaturwerkstätte und Garagen enthalten. Die Autoren veranschlagten für den Bau achtzig Millionen Franken. «Die jährliche Lohnsumme für Angestellte, Arbeiter und Hilfspersonal beträgt inkl. 6 % für Versicherung und 10 % für soziale Hilfe aufgerundet ca. 200 000 Franken.» Der Tunnel sollte durch eine private, eventuell halbstaatliche Gesellschaft betrieben werden, die ihr Kapital durch Tunnelgebühren von zwanzig Franken pro Fahrzeug verzinsen und amortisieren könnte. Eduard Gruner argumentierte mit dem ausserordentlich starken Wachstum des Strassenverkehrs. 1910 gab es in der Schweiz 7249 Motorfahrzeuge, 1930 waren es schon 17 Mal mehr, 124 676 nämlich. Gruner rechnete nach zwanzig Betriebsjahren mit 319 400 Fahrzeugen pro Jahr im Tunnel. Ein unbekannter Leser des Dokuments notierte neben Gruners Zahlen mit Rotstift: «vermutlich eine Null zu viel!». Der Kritiker hatte sich getäuscht. 2017 fuhren 6 469 291 Fahrzeuge durch den Strassentunnel.

Erstes Gotthard-Strassentunnelprojekt von Eduard und Georg Gruner im Jahr 1935: «Perspektivische Darstellung einer Tunneleingangsstation» mit Tankstelle, Werkstatt, Sonnenterrasse und Raststätte.

Doch damals, im Jahr 1939, gab es noch kaum Verkehrszahlen, auch nicht am Gotthard. Die Bahn verlud im Jahr 19379324 Wagen, das seien neun Mal weniger Fahrzeuge als von den Gebrüder Gruner angenommen, stellte ein Kritiker des Projekts fest.2 «Auch die Autoverkehrs-Bäume wachsen nicht in den Himmel, ja sogar: ihre Wachstums-Intensität nimmt derart ab, dass wir uns einem Sättigungspunkt nähern.» Der Sport- und Tourenwagenfahrer wolle immer neue Strecken nehmen, wolle über Pässe fahren und nicht durch Tunnel. Auch anderswo in den Schweizer Alpen entstanden Strassentunnelpläne. 1937 stellte das Ingenieurbüro Simmen & Hunger das erste Strassentunnelprojekt am San Bernardino vor.3 Gemäss einem Vorschlag von 1936 sollte einer der beiden Simplon-Bahntunnels für Autos geöffnet werden. Die Befürworter eines Mont-Blanc-Tunnels hofften auf 100 000 Wagen im Jahr, am Simplon sprach man von 150 000 zahlenden Autolenkern.4

Der Bundesrat dachte bei seiner Strassenplanung aber nicht an Verkehrszahlen, sondern an Arbeitslose. Der Ausbau der Alpenstrassen sollte Arbeitsplätze bieten für die notleidende Bergbevölkerung.5 Von den 105 000 Arbeitslosen im Jahr 1936 entfielen 50000 auf das Baugewerbe, und auch dieses wollte der Bundesrat mit Strassenbauprojekten stützen. Darum wurde die Gotthardstrasse 1936 ausgebaut – die Kosten beliefen sich auf zehn Millionen Franken auf der Tessiner Seite und auf fünf Millionen im Kanton Uri.

Der zweite Anlauf 1938

Paul Hosch veröffentlichte 1938 das zweite Gotthard-Strassentunnelprojekt. «Der Gotthard Auto Tunnel, seine einfachste Lösung» lautete der Titel seiner sechzig Seiten langen Studie, die nicht nur in deutscher und französischer, sondern auch in italienischer und englischer Sprache publiziert wurde. «Die starke Betonung der Achse Rom–Berlin und die für die Schweiz wichtige Frage, Gotthard oder Brenner, stellt eine baldige Lösung deutlich in den Vordergrund. Obwohl jeder Alpenpaß zu seiner Untertunnelung ruft, steht der Gotthard an erster Stelle. Die gleichen Ueberlegungen, die seinerzeit zum Ausbau seines Saumpfades zur Straße und später zum Bau der Gotthardbahn und des Gotthardtunnels geführt haben, gelten heute immer noch und erst recht wieder. Er ist und bleibt der zentralste und daher wichtigste Alpenübergang.»6

Der Bau von Verkehrstunnels biete keine Schwierigkeiten mehr, einzig das in den Autoabgasen enthaltene Kohlenmonoxid sei gefährlich. Das Besondere an Hoschs Projekt: Der Bahntunnel sollte als Frischluftkanal dienen. «Die Einbeziehung des bestehenden Bahntunnels ist das Geheimnis der bedeutend kürzeren Erstellungszeit und Einsparung von rund der Hälfte der Erstellungskosten.» Der sofortige Bau des Strassentunnels sei eine nationale Pflicht: «Seiner Durchführung steht keine technische Schwierigkeit, aber die gewaltige Macht unserer Bahnen entgegen. […] Die Furcht, in die Belange der Schweizerischen Bundesbahnen einzugreifen, muß überwunden werden; sie gehören uns.» Bis im Jahr 1941 könne der Autotunnel eröffnet werden. Die Baukosten betrügen 48 Millionen Franken. Dank einer Durchfahrtsgebühr von 20  Franken werde der Tunnel zu einem Geschäft. Ein Risiko gebe es nicht. Jedes Zögern sei unbegründet. Hoschs Entwurf fand keine Zustimmung, nicht einmal bei Vertretern des Strassenverkehrs. Die Automobil-Revue nannte Hosch in einem Leitartikel einen «Reissbrett-Phantasten».7

Der dritte Anlauf 1938

Den dritten Anlauf zum Bau eines Strassentunnels unternahm der Tessiner Staatsrat.8 Getrieben von einer wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Krise, richtete er am 5. Dezember 1938 ein Forderungspaket an den Bundesrat. In den «Nuove rivendicazioni ticinesi» verlangte die Tessiner Kantonsregierung mehr Subventionen für die Landwirtschaft, Massnahmen zur Förderung der italienischen Landessprache, die Senkung der Bergtarife der Gotthardbahn, aber auch den Bau einer wintersicheren Strassenverbindung am Gotthard. Eine Autobahn Berlin–Rom sei im Gespräch. Der Gotthard laufe Gefahr, an Bedeutung zu verlieren gegenüber der Brenner-Strecke und dem Mont-Blanc-Autotunnel; er müsse ausgebaut werden, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz bestehen zu können. Die Tessiner Kantonsregierung forderte eine ganzjährig offenstehende Strassenverbindung, einen Autotunnel also.

Dank des schnellen und preisgünstigen Autotransports solle die Tessiner Industrie wachsen können, gleichzeitig werde die Abhängigkeit des Kantons vom Tourismus kleiner. Die Tessiner Kantonsregierung legte vier Projekte vor, mit denen die besonders lawinengefährdete Tremolaschlucht untertunnelt werden sollte.9 Die Tunnels sollten zwischen 3175 und 3900 Meter lang werden, das Südportal aller Varianten war beim Rifugio di Tremola auf 1688 Meter über Meer geplant, gut 500 Höhenmeter über Airolo. Die nördlichen Tunnelportale waren an der Nordseite des Gotthardpasses vorgesehen, sie sollten auf 1925 bis 2040 Meter über Meer liegen.

Vier Tunnelvarianten aus den Tessiner «Nuove rivendicazioni ticinesi» von 1938.

Die Antwort des eidgenössischen Oberbauinspektorats vom 21. Juni 1939 war kurz.10 Ein Basistunnel Göschenen–Airolo scheide von vornherein aus, weil er volkswirtschaftlich nicht gerechtfertigt werden könne. Ein höher gelegener, kürzerer Scheiteltunnel könne nur erwogen werden, wenn die Schöllenenschlucht und die Tremola verkehrssicher seien. «Die unwirtliche Schöllenenschlucht ist Lawinen und Schneeverwehungen in besonderem Masse ausgesetzt.» Und die Tremola sei ein ausgesprochenes Schneeloch, das im Winter nicht zu bewältigen sei. So seien dort Felsgalerien nötig, die durchprojektiert werden müssten. «Die Kosten dieser Massnahme und jene des alsdann noch für die Unterfahrung der Passhöhe erforderlichen Scheiteltunnels werden in Vergleich zu setzen sein mit den Kosten, welche für eine gleichwertige Verbesserung der Transportmöglichkeiten von Automobilen durch den Gotthardtunnel der Bundesbahnen aufzuwenden wären.»

1939 begann der Zweite Weltkrieg, und die Tunneldiskussionen gerieten in Vergessenheit. Erst im Dezember 1943 kam die offizielle Antwort des Bundesrats auf die Tessiner Forderungen, die fünf Jahre zuvor an ihn gerichtet worden waren.11 Was die Gotthardstrasse anbetreffe, so käme eine finanzielle Beteiligung des Bundes nur in Zusammenhang mit dem Ausbau der Alpenstrassen infrage. Die entsprechenden Kredite seien aber nicht nur ausgeschöpft, sondern bei Weitem überzogen worden.

Der vierte Anlauf 1948

Drei Jahre nach Kriegsende folgte Anlauf Nummer vier zum Bau eines Strassentunnels. «Ein gigantisches Zukunftsprojekt» titelte die Schweizerische allgemeine Volkszeitung.12 Der Tunnel solle ein Beweis sein für eine unabhängige, tatkräftige Schweiz: Eine Skizze zeigte stromlinienförmige Züge und moderne Limousinen, die durch einen gemeinsamen Tunnel rasten. Es sei an der Zeit, die neuen Pläne Eduard Gruners (des Autors des ersten Strassentunnelprojekts am Gotthard) endlich dem Schweizervolk bekanntzugeben, hiess es da. «Wir dürfen nicht einfach zuwarten, bis, ähnlich wie beim ersten Tunnelbau, die Anregung zu einer Weiterentwicklung aus dem Ausland zu uns kommt, indem irgendein internationaler oder amerikanischer Konzern ein neues europäisches Verkehrsnetz legt und uns dabei die Gotthardroute als Spezialaufgabe zuweist.»

Seit seinem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) habe Gruner all seine überschüssige Zeit dem Gotthardproblem gewidmet. Ein fünfzig Kilometer langer Basistunnel, ein zwei- oder gar dreistöckiger Doppeltunnel für Bahn und Strasse – das war Gruners neues Projekt.13 Die Schweizerische allgemeine Volkszeitung kommentierte: «Die von Eduard Gruner geplante Kunstbaute dürfen wir uns somit nicht als Selbstzweck denken, sondern als das vitalste Werkzeug unserer Volkswirtschaft, wodurch auch die schweizerische Staatsraison für kommende Jahrhunderte auf neuer Basis gefestigt wäre.»

Der fünfte und sechste Anlauf 1953

An Ostern 1953 verteilte das Initiativkomitee Pro Gotthard in Andermatt ein Flugblatt. Bürger aus dem Urserental und das Baudepartement des Kantons Tessin hätten ein «Sofort-Aktionskomitee Pro Gotthard» gegründet, hiess es darauf. Alle Verkehrsinteressenten und Strassenbenützer sollten die Aktion mit ihrer Unterschrift unterstützen. Die zentralen Forderungen waren der Bau von Lawinenschutzgalerien in der Schöllenenschlucht, um die Strasse dort wintersicher zu machen, und der Bau eines Gotthard-Strassentunnels. Man nehme Fühlung auf mit schweizerischen, italienischen, französischen, belgischen und weiteren Automobilklubs, hiess es auf dem Flugblatt.14 Im Tessiner Staatsratspräsidenten Nello Celio fand man einen begeisterten Mitkämpfer, der später Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und Bundesrat werden sollte.

Im August 1953 folgte der sechste Anlauf zum Bau eines Strassentunnels: In einem Brief vom 19. August an die Baudirektionen von sieben Kantonen schrieb Nello Celio, dass er seit 1951 das Problem eines Gotthard-Strassentunnels prüfe.15 Er habe Herrn Dr. h. c. Arnold Kaech, der über eine ausgedehnte Erfahrung im Tunnelbau verfüge, beauftragt, ein Vorprojekt auszuarbeiten. An einer Sitzung sagte Celio, angesichts der Bedeutung des Alpenübergangs dürfe die Initiative nicht den Banken überlassen werden. Die Verladeeinrichtungen der SBB seien ungenügend, Flaschenhälse müssten verschwinden, hiess es an der Sitzung. Die Bedeutung des Verkehrs zwischen Zürich und Mailand sei ausserordentlich. Arnold Kaech, Ehrendoktor der ETH und Erbauer zahlreicher Wasserkraftanlagen, schrieb in seiner Studie, dass Autocars und Lastwagen an den steilen Streckenabschnitten und in engen Kurven den Verkehr behinderten.16 Lange Strecken seien verstopft und die Unfallgefahr steige. «Bei einer weitern Zunahme des Verkehrs werden diese Verhältnisse untragbar. Sie können nur in Ordnung gebracht werden, wenn die Autocars und Lastwagen von der Passstrecke weggenommen und durch einen Tunnel geführt werden.»

Kaech untersuchte zwanzig Tunnelvarianten im Alpenbogen von Chamonix bis Maloja. Die zentrale Lage und auch die direkte Verbindung zwischen den wirtschaftlichen Zentren in Norditalien und im Schweizer Mittelland sprachen in seiner Analyse für den Gotthard. Zugleich erschienen die baulichen Schwierigkeiten und die geologischen Verhältnisse dort einigermassen günstig. Drei Varianten stellte Kaech zur Wahl: einen Scheiteltunnel Mätteli–Motto Bartola, einen Mitteltunnel Hospental–Motto Bartola und einen Basistunnel Göschenen–Airolo. Nach komplexen Berechnungen unter Einbezug von Tunnelgebühren, Anlagekosten, Verkehrszahlen und Wintersperren erschien der 9750 Meter lange Mitteltunnel zwischen Hospental und Motto Bartola als die wirtschaftlichste Variante. Eine Frequenz von 160 000 Fahrzeugen im Jahr genüge, um einen Bruttoertrag von sechs Prozent zu erzielen (für das Jahr 1960 prognostizierte Kaech einen Tunnelverkehr von 113 000 bis 160 000 Fahrzeugen).17 Der tiefliegende Tunnel von Göschenen nach Airolo erschien Kaech aber als nicht wirtschaftlich.

Wenn schon ein Strassentunnel, dann von Göschenen nach Airolo, so die Antwort eines Kritikers in den Luzerner Neusten Nachrichten auf die Tessiner Tunnelpläne: «Die Situation ist doch die, daß die Schöllenen bei einer einigermaßen normalen Witterung im Winter nicht offengehalten werden kann. Versuche wurden schon zu verschiedenen Malen unternommen, unseres Wissens scheiterten sie, da sich die Natur immer stärker erwiesen hat als der Mensch. Die größten Maschinen nützen nämlich nichts, wenn der Schnee so dicht fällt, daß die Straße hinter der Schneeschleuder vorweg wieder zugeschneit wird, wenn die Winterstürme toben und Mensch und Material gefährden. Im besten Falle wäre der Materialverschleiß so enorm, daß er sich nicht lohnen würde. Somit käme doch für einen Autotunnel nur die Basis Göschenen–Airolo in Betracht.»18

Das Urner Wochenblatt warnte vor der Tunnelangst: Kaechs Mitteltunnel wäre der längste Autotunnel der Welt, um ein Mehrfaches länger als andere Autotunnel in New York, Antwerpen oder Liverpool. Der Tunnel sei eng und niedrig. Sogar Lokomotivführer müssten erst in vielen Probefahrten «Gotthard-Tunnel-tauglich» werden. «Es ist eine Beanspruchung des ganzen Nervensystems von nicht zu unterschätzender Stärke und erfordert ein gesundes Herz. […] Im zweiten, dritten Kilometer verliert [der Chauffeur] vollkommen das Geborgenheitsgefühl, auch bei bester Lüftung wird’s ihm zu eng, ist er nicht ganz herz- und nervensicher, wird’s ihm im sechsten, siebenten Kilometer trümmlig.»19

Dazu kamen regionale Widerstände. Die Ostschweizer setzten auf den Tunnel durch den San Bernardino und waren gegen den Gotthard. Die Ostschweizer Kantonsregierungen forderten in einer gemeinsamen Eingabe an die Landesregierung die teilweise Erfüllung des aus der Zeit des Gotthardbahnbaus herrührenden Ostalpenbahn-Versprechens.20 Im Eisenbahngesetz von 1872 sei der Ostschweiz eine Alpenbahn versprochen worden. Das Versprechen sei nie eingelöst worden. Gefordert wurde die unbedingte Priorität für einen ganzjährig befahrbaren Alpenstrassentunnel, der die Ostschweiz mit dem Tessin verbinde.

Die Westschweiz gab dem Simplon und dem Grossen St. Bernhard den Vorzug. Und es wurde an den Vorschlag des ETH-Ingenieurs Albert Coudrey aus Martigny erinnert, der eine neue Strecke westlich des Gotthards vorschlug: Ein Tunnel unter dem Grimselpass solle die Kantone Bern und Wallis verbinden, von dort solle ein zweiter Tunnel ins Tessiner Bedrettotal führen, wo ein dritter Tunnel ins Maggiatal und die offene Strecke nach Locarno folgen sollten.21

Die SBB bekämpften den Strassentunnel, hatten sie doch während sieben Monaten im Jahr ein Transportmonopol inne am Gotthard. Die Kreisdirektion II der SBB schlug einen zweiten einspurigen Gotthard-Bahntunnel vor, der dem Autotransport dienen sollte und dank dessen neu 220 Fahrzeuge pro Stunde durch den Gotthard befördert werden könnten. Am Ende scheiterte Kaechs Projekt an der Ablehnung in Bundesbern und wurde ad acta gelegt.22

Strassenbau ohne nationale Koordination

Italien und Deutschland waren die Pioniere im europäischen Autobahnbau ab 1950. In Deutschland wuchs das Autobahnnetz zwischen 1960 und 1980 von 2700 Kilometer Länge auf 9200, in Italien von 1000 Kilometer Länge auf 5900.23 Preisgünstige Automodelle wie der Fiat 500, der VW Käfer oder der Citroën 2CV wurden zu Symbolen der Massenmotorisierung. Im Jahr 1950 unterzeichneten fünf Staaten eine Erklärung zum Bau eines europäischen Fernverkehr-Strassennetzes. Sieben weitere Länder schlossen sich an, doch die Schweiz blieb abseits – der Strassenbau war Sache der Kantone. Die Schweizer Debatte war geprägt von regionalen und kantonalen Interessen.

«Gotthard offen» titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zu Ostern 1954.24 Die Schneefräse «Peter» habe sich mit ihren 160 Pferdestärken zum Pass hochgearbeitet. Die Gotthardstrasse sei nun durchwegs sechs Meter breit: «Ihre Oberfläche besteht zum Teil aus Granitpflaster und in den zuletzt vollendeten Stücken zum Teil aus Beton. Sogar auf dieser Höhe hat sich der Beton bewährt. Der Ausbau der Straße zwischen Airolo und der Urner Grenze kostete etwa sieben Millionen Franken, wovon 65 bis 70 Prozent als Alpenstraßenbeitrag vom Bund getragen wurden.» Der Bau eines ganzjährig offenen Strassentunnels sei aber noch Zukunftsmusik. «Der regionale Wettbewerb um die Sicherstellung der ganzjährigen Nord-Süd-Verbindung auf der Straße ist in voller Entwicklung begriffen. […] Freilich wird über kurz oder lang eine ordnende Hand dem Ausbruch einer helvetischen Konfusion vorbeugen müssen, und es wird erforderlich sein, von höherer Warte die Anwartschaften zu wägen und Entscheide zu treffen.»

In Italien beschloss das Parlament mit deutlicher Mehrheit den Bau des Mont-Blanc-Strassentunnels. Ein grosser Teil des europäischen Tourismus werde damit von der Schweiz abgeleitet, befürchtete Die Tat25, das sei eine Gefahr für Wirtschaft und Fremdenverkehr: «Allerdings, diese Gefahr besteht auch ohne den Mont Blanc-Tunnel. Die Schuld daran trägt zur Hauptsache unser mangelndes Straßensystem. Zwar sind wir naiverweise oft stolz darauf, daß in der Schweiz auch die Nebenstraßen gut und sauber ausgebaut sind. Wir übersehen dabei, daß wir das schlechteste Netz von Hauptdurchgangsstraßen haben, welches wohl in Europa zu finden ist. Zum Ausbau unseres Hauptstraßennetzes gehört neben einer Ost-West-Achse eine großzügige Nord-Süd-Achse. Diese ist ohne einen Durchstich durch die Alpenkette nicht denkbar.»

Während die NZZ und Die Tat eine übergeordnete Strassenplanung anmahnten, prangerte Die Weltwoche im Juni 1954 die Strassenbaupolitik am Gotthard an: «ein europäischer Verkehrsskandal».26 Der Schweiz drohe die internationale Verkehrsisolierung. Am schlimmsten seien die Verhältnisse am Gotthardpass. Zu Ostern, wenn die Passstrasse noch Wintersperre habe, betrage die Wartezeit an den Rampen zum Autoverlad sechs bis zehn Stunden. Jeder elfte Schweizer besitze ein Motorfahrzeug, rechnete Die Weltwoche vor, die Schweiz sei das am stärksten motorisierte Land Europas. Dazu kämen 1,3 Millionen ausländische Fahrzeuge, die pro Jahr in die Schweiz führen. «Ganz allgemein stehen wir mit dem Ausbau unseres Hauptstrassennetzes im Rückstand. Unsere Nachbarstaaten, namentlich Frankreich, Deutschland und Italien verfügen über ein vorzüglich ausgebautes Netz von Hauptstrassen und von Autobahnen. Bei uns dagegen herrscht im Strassenwesen ein ausgesprochenes Chaos. Die auf diesem Gebiet souveränen Kantone bauen weitgehend ohne gegenseitige Koordination.»

Am 30. Juni 1954 verfassten elf kantonale Baudirektoren eine Resolution: «Die in Luzern versammelten kantonalen und kommunalen Vertreter der zentralschweizerischen Kantone und des Kantons Tessin sind angesichts der ausländischen Bestrebungen auf Umfahrung der Schweiz der einhelligen Auffassung, dass die Schaffung einer ganzjährig befahrbaren Gotthardstrasse in absehbarer Zeit ein unbedingtes und im Interesse des ganzen Landes liegendes Erfordernis darstellt.» 200 000 Stimmbürger unterschrieben 1956 dann die Volksinitiative «Für die Verbesserung des Strassennetzes» – eine vor der Einführung des Frauenstimmrechts sensationelle Zahl. Lanciert worden war die Initiative vom Automobil Club und vom Touring Club der Schweiz.27 Der Bundesrat nahm das Anliegen in einem Gegenvorschlag auf: Bau von Autobahnen von Ost nach West und von Nord nach Süd. Zuständig sei der Bund. Alle Parteien und wichtigen Organisationen gaben die Ja-Parole aus. Am 6. Juli 1958 wurde die Volksinitiative angenommen. 85 Prozent betrug der nationale Ja-Stimmenanteil, 94 Prozent waren es im Tessin, 80 Prozent im Kanton Uri.

Die Schweiz als (noch) autoverkehrsarme Insel zwischen Italien, Frankreich und Deutschland, 1965.

Europastrasse am Gotthard

Bruno Legobbe, Präsident des Vereins Pro Leventina, organisierte im Dezember 1957 in Faido eine Konferenz. Dort hiess es: Das Gotthardproblem, das bisher als Problem eines Freizeitverkehrs innerhalb der auf die Schweiz beschränkten Strassenplanung gesehen worden war, sei nun eine Frage von volkswirtschaftlicher und europäischer Bedeutung. «San Gottardo strada d’Europa»28 lautete der programmatische Titel einer Tessiner Publikation, also «Europastrasse Gotthard». Rund um die Zentralalpen lebten 140 Millionen Menschen, der Fahrzeugpark sei dort auf 10 Millionen Motorfahrzeuge stark angewachsen, und mit ihm auch der Tourismus. Italien war damals Europas Hauptreiseziel. Siebzig Prozent der Gäste reisten mit dem Auto an. 1956 empfing Italien 8,8 Millionen Autotouristen, und die meisten, nämlich 3,2 Millionen, wählten den Weg durch die Schweiz. Die Tourismusindustrie in Italien und im Tessin war also angewiesen auf gute Verbindungen. Genauso war es mit der übrigen Wirtschaft, die sich dank guter Strassenverbindungen einen Anschluss an das Wirtschaftswunder im Norden erhoffte. Der Strassenbau sei das Schlüsselproblem des Kantons Tessin.

Im Juli 1958 berichtete die NZZ: «Saurier der Straße schoben sich ‹einzelsprungweise› jede Kehre mehrmals ‹ansägend›, mühsam voran, die Kolonnen in beiden Fahrrichtungen weithin stauend und stark an den Nerven nicht nur der Carinsassen, sondern aller betroffenen Fahrer reißend. Es ist offenkundig, daß dieses einst mit Recht gefeierte Straßenstück dem heutigen Verkehr nicht mehr gewachsen ist.»29 Am 9. August 1959 seien in Airolo 7120 Motorfahrzeuge gezählt worden, rechnete der Luzerner Ständerat Christian Clavadetscher in seiner Interpellation im Juni 1960 vor.30 Das sei jetzt schon mehr als der für eine dreispurige Autobahn zulässige Verkehr. Und 1962 würden die deutsche Autobahn und mit ihr gewaltige Verkehrsströme Basel erreicht haben. Clavadetscher forderte einen Ausbau der Gotthardstrecke oder einen Strassentunnel.

Das Nein der Kommission für Strassenplanung

Bereits im Herbst 1954 hatte der Bundesrat eine Kommission für Strassenplanung eingesetzt. Sie sollte den Bau von Autobahnen und Tunnels durch die Alpen prüfen. Im Juli 1956 entschied sich die Planungskommission für den Bau des Tunnels durch den San Bernardino und gegen einen Gotthard-Strassentunnel. Michael Ackermann hat in seiner Dissertation die Arbeit dieser Kommission dokumentiert.31 Nach harter Kritik des Automobil Clubs der Schweiz habe das Oberbauinspektorat ein informelles Vernehmlassungsverfahren durchgeführt. «Die positiven Stellungnahmen zum Gotthard-Tunnel wurden vom Oberbauinspektorat nicht zur Kenntnis genommen, man beharrte auf der Position, dass mehr Alpentunnels wirtschaftlich nicht begründet werden könnten», schreibt Ackermann und vertritt die These, dass die Ablehnung des Gotthard-Strassentunnels durch Oberbauinspektor Robert Ruckli politische Gründe gehabt habe: Solange das Nationalstrassennetz nicht rechtskräftig beschlossen worden war, wollte er dieses Paket nicht mit einem Gotthard-Strassentunnel überladen. Ruckli war von 1957 bis 1972 Direktor des Oberbauinspektorats beziehungsweise des Eidgenössischen Amts für Strassen- und Flussbau (EASF). Er galt als «Vater des schweizerischen Autobahnbaus» und war Vorsitzender der Studiengruppe Gotthardtunnel. «Der Gotthard-Tunnel hätte die Kosten so weit erhöht, dass die Zustimmung der Verkehrsverbände und Kantone unsicher geworden wäre», meint Ackermann.

Die Kommission für Strassenplanung erarbeitete in fünf Bänden eine ausführliche statistische Analyse der Verkehrsflüsse in der Schweiz, legte Ausbaustandards für Strassen fest und schlug den Bau eines Autobahnnetzes in der Schweiz vor. Sie erklärte im Abschlussbericht von 1959: Der von den SBB projektierte Ausbau des Verladedienstes am Gotthard genüge.32 In der Botschaft vom 5. Februar 1960 über die Planung des Nationalstrassennetzes übernahm der Bundesrat diese Argumentation: «Der von den Schweizerischen Bundesbahnen projektierte bauliche und betriebliche Ausbau des Verladedienstes am Gotthard (ohne Erstellung des zweiten Bahntunnels) wird dieser Winterverbindung eine Kapazität verleihen, die für die Bewältigung des bis 1980 vorausgesagten Strassenverkehrs auch in Spitzenzeiten genügt.»33 Nur am San Bernardino solle ein Strassentunnel erstellt werden, schrieb der Bundesrat. Man wolle die Erfahrungen, die beim Bau des San-Bernardino-Tunnels gemacht würden, abwarten. Die technischen Schwierigkeiten am Gotthard würden unterschätzt. Ein 15 Kilometer langer Tunnel stelle ein Wagnis dar, das nicht ohne Not eingegangen werden solle. So wurde von Basel bis Chiasso kein Nord-Süd-Strassenkorridor gebaut. Von Basel bis Egerkingen sollte es eine Autobahn geben, von da nach Luzern eine Autostrasse, bis Stans dann wieder eine vierspurige Autobahn, bis Altdorf wieder eine Autostrasse und ab dort eine Strasse dritter Klasse. Im Süden sah es nicht anders aus.

Zu tiefe Verkehrsprognosen

Vor den Toren des Tessins war die Autobahn zwischen Mailand und Como schon seit 1924 in Betrieb. Der erste Abschnitt der Autostrada del Sole von Mailand bis Neapel, dieses Symbol für Aufschwung und nationale Einigung in Italien, wurde 1958 eröffnet. Umso schmerzlicher wurde der Rückstand im Tessiner Autobahnbau empfunden; er erschien als Stückwerk. 1970 wurde die Strecke von Chiasso bis Lugano Süd in Betrieb genommen, die Strecke bis zum Ceneri sowie die Umfahrung Bellinzonas waren im Bau. Andere Teilstücke sollten zu einer zweispurigen Autostrasse ausgebaut werden. Angesichts der konjunkturellen Überhitzung verschob der Bundesrat 1965 den Baubeginn in der Leventina. Der Bau der Ceneri-Strecke wurde 1984 fertiggestellt.

Trotz aller wissenschaftlichen Sorgfalt schätzte die Strassenplanungskommission das tatsächliche Verkehrsaufkommen viel zu tief ein. Die wichtigste Grösse bei den Prognosen war die Zahl der in der Schweiz immatrikulierten Motorfahrzeuge. Aus ihr wurde das Verkehrsaufkommen abgeleitet – je mehr Fahrzeuge, desto mehr Verkehr. Die Anzahl der Motorfahrzeuge ihrerseits ergab sich aus der Bevölkerungszahl und aus dem Motorisierungsgrad, aus der Anzahl Motorfahrzeuge pro 1000 Einwohnern also. Dieser Motorisierungsgrad wiederum war abhängig vom Wohlstand der Bevölkerung. Doch der Motorisierungsgrad wuchs bei Weitem schneller als die Reallöhne es taten. 1950 betrug er 54 Prozent. 1960 war er drei Mal höher als 1950 – die Reallöhne indes waren im gleichen Zeitraum aber nur um 20 Prozent gestiegen. Auch in den kommenden Jahrzehnten wuchs der Motorisierungsgrad wesentlich schneller als das Einkommen. Die Planungskommission korrigierte zwar den Motorisierungsgrad nach den zu tief liegenden Prognosen aus früheren Jahren noch einmal nach oben und schätzte, dass es im Jahr 1980 in der Schweiz 800 000 Personenwagen geben werde. Tatsächlich wurden es fast drei Mal mehr, über 2,2 Millionen nämlich.34

Doch das Verkehrswachstum an den Alpenübergängen war noch stärker, denn zusammen mit dem wachsenden Wohlstand versprachen die Autofahrten in den Süden Freiheit, Abenteuer und Lebensfreude. Und ebenfalls stark unterschätzt worden war die Zunahme des internationalen Verkehrs. 1953 kamen 6 Prozent aller Automobile aus dem Ausland. 1960 waren es schon 30 Prozent. 2015 54 Prozent.35

Massenmotorisierung und Zeitgeist

Die Autos waren nicht nur erschwinglicher und zuverlässiger geworden. Dank des massiv ausgebauten Strassennetzes erschien das Auto als bequemer und schneller als der öffentliche Verkehr, und die Autofahrt entsprach auch dem Zeitgeist. Das Automobil war das eigentliche Schlüsselprodukt des Wirtschaftswachstums. Die Auswirkung der Massenmotorisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft war enorm, wie Oliver Washington erläutert: «Die Individualisierung wurde anfänglich vor allem in der Freizeit verwirklicht und beide zusammen fanden ihren ursprünglichen materiellen Ausdruck im Automobil. Dieses wurde zum wichtigsten Statussymbol und zentralen Identifikationsobjekt, das Freiheit und sozialen Aufstieg zugleich verkörperte, und damit zur eigentlichen Grundlage des neuen individualisierten Lebensstils, der automobilisierten Individualisierung.»36

Dank des Finanzierungsmodus (drei Fünftel des Treibstoffzollertrags sollten zur Finanzierung der Nationalstrassen verwendet werden) war für den Autobahnbau stets genug und auch immer mehr Geld vorhanden. 1960 brachten die Treibstoffzölle einen Ertrag von 74 Millionen Franken; 1970 waren es 647 Millionen und 1980 1502 Millionen.37 Die Autobahnen wurden gut und besser, damit wurde auch der Strassenverkehr attraktiver, es wurden mehr Autos gekauft, die ihrerseits über die Treibstoffzölle wiederum neue Einnahmen generierten. So drehte sich die Spirale aus Finanzierung, Autobahnbau und mehr Verkehr. Washington schreibt: «Bau und Finanzierung des Nationalstrassennetzes sind wohl das beste Beispiel für die vom Bund während den fünfziger und sechziger Jahren praktizierte bedarfsorientierte Infrastrukturpolitik: Auf eine Nachfragesteigerung wurde in der Regel mit einer Angebotsausweitung reagiert. Dieses Prinzip ist beim Nationalstrassenbau so zu sagen automatisiert.»38

Im August 1959 entsandte das Giornale del Popolo einen Berichterstatter an den Gotthardpass.39 Eine endlose Kolonne sei unterwegs gewesen, als zwei Wagen ineinanderstiessen. Innerhalb von einer Stunde sei ein Stau von mehr als zwölf Kilometern Länge entstanden. Zu keinem Zeitpunkt seien weniger als 500 Autos pro Stunde unterwegs gewesen. Die Spitzenwerte betrügen 900 Fahrzeuge und mehr. Gemäss Reglement müsse eine Strasse, über die in einem Jahr während mehr als dreissig Stunden 600 Fahrzeuge rollten, zur Strasse erster Klasse ausgebaut werden. Das gelte in der ganzen Schweiz, nicht aber am Gotthard.

Tessiner Strassenbaupläne

Aus den Tessiner Wahlen von 1959 waren eine neue, verjüngte Kantonsregierung und auch ein jüngeres Parlament hervorgegangen, die eine Wende in der kantonalen Politik bewirkten. Zu dieser neuen Generation von Politikern im Tessiner Staatsrat zählte FDP-Staatsrat Franco Zorzi. Er war von 1959 bis 1964 im Amt und ein wichtiger Fürsprecher des Autobahnbaus sowie des Gotthard-Strassentunnels im Tessin. Das entsprechende Gesetz auf eidgenössischer Ebene war noch gar nicht in Kraft getreten, als bei der Tessiner Baudirektion in Bellinzona schon am 7. Juli 1959 ein eigenes Nationalstrassenbüro eröffnet wurde, das Ufficio strade nazionali. Es verfügte über einen gewissen Handlungsspielraum und erarbeitete Pläne für die Autobahnprojekte im Tessin.40

Kurz vor der Veröffentlichung des Schlussberichts der Strassenbaukommission wandte sich die Tessiner Kantonsregierung am 30. Juni 1959 mit einem Memorandum vergeblich an den Bundesrat: Mit der Strassenbaupolitik müsse mehr denn je jenes Problem angegangen werden, das die Tessiner Kantonsregierungen seit Bestehen des Kantons beschäftige – die Isolation, welche die Entwicklung des Kantons hemme. Es müsse eine Verkehrsader geschaffen werden, die den europäischen Verkehr aufnehmen und eine schnelle Nord-Süd-Verbindung gewähren könne. Am 10. September 1959 unterstützte der Tessiner Grossrat die Demarchen in Bundesbern einstimmig.41

National- und Ständerat legten im Juni 1960 das Nationalstrassennetz fest. Der Bau des San-Bernardino-Tunnels und der gleichzeitige Verzicht auf jenen am Gotthard mobilisierten die Tessiner Politik. Damit werde das im Tessin ungeliebte SBB-Monopol am Gotthard geschützt.42 Kaum je war das Tessin politisch so geeint wie nun in der Strassenbaupolitik. Der Strassentunnel wurde zum Zentrum der politischen Debatte, erschien als jener Befreiungsschlag, der das Tessin von allen Problemen erlösen könnte.43 Der Bundesrat habe in keiner Weise Rücksicht genommen auf die lebenswichtigen Interessen des Tessins, schrieb der Tessiner Staatsrat. Das Tessin werde sofort das Studium eines neuen Tunnelprojekts anpacken.44 Damit werde dem SBB-Monopol am Gotthard der Kampf angesagt. Endlich beuge sich das Tessin nicht mehr angesichts des Unverständnisses in Bundesbern und angesichts der andauernden Ungerechtigkeit, die den Kanton in eine schädliche und erniedrigende Isolation führe, kommentierte Il Dovere.

Der Tunnel werde eine sichere Quelle für Wirtschaftswachstum und Wohlstand sein, und so werde das Tessin Anschluss finden an das Wachstum der europäischen Wirtschaft, meinte Franco Zorzi.45 An Kundgebungen und Veranstaltungen warb er für den Strassentunnel. In der NZZ trat er 1960 Argumenten eines Strassentunnelkritikers entgegen, der zugleich ein hoher SBB-Beamter gewesen war, jenen SBB, die aus Tessiner Sicht mit hohen Monopoltarifen der Wirtschaft schadeten: «Die heutige Diskussion um den Straßentunnel am Gotthard erinnert zuweilen in fataler Art, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, an die Auseinandersetzungen vor mehr als hundert Jahren», schrieb Zorzi, «wer sich damit zufrieden gibt, technische Bedenken zu äußern und zur Vorsicht zu mahnen, der handelt nicht, sondern er trägt nur dazu bei, das Bestehende zu verewigen. Wir andern hingegen verschließen unsere Augen nicht vor dem, was sich heute in der Welt und in Europa begibt, und erkennen die Gefahr der Trägheit, Tatenlosigkeit und bürokratischen Schwerfälligkeit. Wir leben in einer Zeit sich überstürzender Entwicklungen vor allem auf dem Gebiete der Technik, und was uns anbetrifft, so teilen wir die Meinung der Wirtschaftssachverständigen, die uns lehren, daß unweigerlich ins Hintertreffen gerät, wer sich als unfähig erweist, mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Schritt zu halten. Es ist unerläßlich, daß die Schweiz sich dieser Einsicht vor allem auf dem Gebiete des Verkehrs und der Straßenbaupolitik nicht verschließt, wenn sie des Vorzugs ihrer zentralen Lage in Europa nicht verlustig gehen will.»46

Bei einem «Variantenkrieg» konkurrenzierten sich im Kanton Uri die Tunnelprojekte Göschenen–Airolo und jene vom Urserental ins Tessin.47 Die Bevölkerung des Urserentals wünschte sich eine Tunnelverbindung zwischen dem Urserental und Airolo. Das Urserental befürchtete, sonst von der wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten zu werden. Es gehe gar um die Existenz der drei Urschner Dörfer. «Die Urner stehen wie ein Mann für den grosszügigen Ausbau am Gotthard» titelten die Luzerner Neusten Nachrichten ihren Bericht über eine Bürgerversammlung in Altdorf.48