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Das Tessin ist ebenso spröde Transitlandschaft wie eine der schönsten Regionen Europas. Es liegt peripher am Südrand der Schweiz, ist aber auch Teil des Metropolitanraums Mailand/Lombardei. Offenheit und Abgrenzung bestimmten den Kanton seit Jahrhunderten. «Grenzland Tessin» beschreibt die wichtigsten Entwicklungen von 1945 bis heute. Ob in Wirtschaft, Verkehrsinfrastruktur, Politik oder Kultur – prägend waren atemberaubende Fortschritte wie auch Missverständnisse und verpasste Chancen. Der Autor beleuchtet den Kanton von innen und zeigt die wechselhafte Beziehungsgeschichte zum Rest der Schweiz. Entstanden ist ein facettenreiches Buch, das von weit mehr erzählt als vom Sehnsuchtsort mit Palmen unter südlicher Sonne. Das unterstreichen die Fotos des renommierten Tessiner Fotografen Alberto Flammer.
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Seitenzahl: 338
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Alexander Grass
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Geleitwort
Einleitung
I Am 1. August
II Dalle stalle alle stelle
III Im European Business District
IV Eisenbahnen, Kraftwerke, Strassentunnel
V Der Monte Ceneri
Jenseits der Sonnenstube Alberto Flammer
VI Sprache und Kultur
VII Identität
VIII Bern ist weit weg
IX Die Zauberformel
X Weltoffenes Tessin
Tessiner Bundesräte
Zeittafel
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur und Quellen
Dank
Autor
Über das Tessin gibt es unzählige Publikationen – und selbst heute noch viele Vorurteile und Mythen. Dazu gehören Klischeevorstellungen vom Tessin als der Sonnenstube der Schweiz oder als Garten von Europa. Das vorliegende Buch ist etwas ganz Besonderes: Es beschäftigt sich mit der Seele des Tessins. Minutiös dokumentiert Alexander Grass kultur- und wirtschaftspolitische Aspekte und führt den Beweis, dass das Tessin viel mehr bietet als Landschaft, Sonne und Wärme. Dabei hat er bei der Erarbeitung seines Manuskripts mit vielen Tessiner Persönlichkeiten gesprochen, die mit ihren Projekten und ihrer Hartnäckigkeit dafür gesorgt haben, dass das Tessin in Bern nicht vergessen wurde.
Charakterisiert durch die italienische Sprache, von der nördlichen Schweiz auch getrennt durch Gotthard und Lukmanier, geprägt durch dynamisch-pulsierende Zentren wie durch urtümliche Täler mit steilen Bergflanken, sahen sich die Tessinerinnen und Tessiner im Verlauf der Geschichte mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Auswanderung und Armut sind Schlüsselbegriffe. Bei der Lektüre des Buches wird einem bewusst, wie wichtig Transportwege und Handelsverbindungen für den Wohlstand sind. Die Gotthardbahn hat das Tessin im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus der Armut in die Moderne geführt. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die Stromproduktion. In den meisten relevanten Wettbewerbsrankings figurieren zu Recht die Infrastrukturen eines Landes als wichtige Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung.
Seit ihrer Gründung vor mehr als hundert Jahren pflegt die Ulrico Hoepli-Stiftung mit dem Tessin eine sehr freundschaftliche und auch privilegierte Beziehung. Dies bezeugt nicht nur die Vielzahl von Projektunterstützungen. Es waren auch zwei Tessiner Bundesräte, welche die Stiftung während Jahrzehnten präsidierten: Nello Celio und Flavio Cotti. Als aktuelle Präsidentin freut es mich ganz besonders, dass die Ulrico Hoepli-Stiftung dieses Buch initiieren durfte.
Doris Leuthard
Ehemalige Bundesrätin und Vorsteherin des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements sowie des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
Oft wird gesagt: Die Geschichte der Schweiz sei die Summe der Geschichten von 26 Kantonen. Gleichzeitig ist sie aber eine Beziehungsgeschichte der Landesteile und Kantone. Welcher Kanton kann sich schon aus sich selbst heraus und nur mit lokalen Ressourcen entwickeln? Für die Abhängigkeit von der restlichen Schweiz ist das Tessin ein Musterbeispiel.
Das Tessin war einst Untertanenland der Eidgenossen. Wie der moderne Kanton aus der Unterdrückung und Rückständigkeit herausgewachsen ist und wie eine neue Beziehung zur Schweiz entstehen konnte, das ist eine der ganz grossen Erzählungen im Tessin. Die Gotthardbahn führte das Tessin aus der Armut. Die Bahn wurde zwar vom Tessin gefordert, beschlossen und finanziert wurde sie aber in und von Zürich, Bern, Italien und Deutschland. Auch der Bau der gewaltigen Wasserkraftwerke im mausarmen Tessin war nur dank den Deutschschweizer Partnerwerken und deren Kapital möglich. Die Gotthardautobahn veränderte das Tessin erneut, bezahlt wurde sie grösstenteils vom Bund (zu 97 % im Kanton Uri und zu 92 % im Tessin). Das Tessiner Wirtschaftswunder war möglich dank des Kapitals aus Italien und dank der Investitionen, die über den Gotthard flossen. Die Bodenspekulation, die damit verbundene Verschandelung der Landschaft und der Zweitwohnungsbau wurden in der italienischsprachigen Schweiz als Verlust der Heimat empfunden. Die Furcht vor der Germanisierung prägte jahrzehntelang die Debatte.
Das Tessin hat eine Sprachgrenze im Norden und eine politische Grenze im Süden. Es ist eine spröde Transitlandschaft und einer der schönsten Orte Europas zugleich. Eine Region, die geprägt ist von Offenheit und Abgrenzung. Eine Volkswirtschaft, die ohne die Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien zum Stillstand käme. Aus italienischer Sicht ist das Tessin kulturelle Peripherie, von Bern aus gesehen eine Randregion. Auch wenn sich das Tessin selbst gerne als Brücke zwischen Nord und Süd sieht, so findet es sich oft in einer unangenehmen Randlage wieder. Es hat echte Partner und falsche Freunde.
«Grenzland Tessin» schildert die Beziehungsgeschichte der Landesteile aus Tessiner Sicht. So wenig beachtet diese Liaison ist, so bewegt und voller Episoden ist sie. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – es beleuchtet ausgewählte Themenfelder, Aspekte, die das Tessin mit Italien und mit den Landesteilen nördlich des Gotthards verbinden, aber auch wichtige Entwicklungen, die der Kanton in der Nachkriegszeit durchlaufen hat.
Tito Tettamanti ist ein bürgerlicher Intellektueller und ein Kapitalist. Er provozierte einst mit der Meinung, dass die Geschichte des Kantons Tessin erst 1945 begonnen habe – weil der Kanton damals aus der Armut herausfand.1 In wenigen Jahren habe sich das Tessin von einer geschlossenen bäuerlichen zu einer nach aussen gerichteten Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. Nirgendwo in der Schweiz war der Wandel so radikal und so schnell wie im Tessin. Oft sei die Bedeutung jener Umwälzungen, die den Umbau des Tessins zu einer Dienstleistungswirtschaft bewirkt haben, nicht verstanden worden. So entstand die Idee, die Entwicklung des Kantons seit 1945 hier darzustellen.
Der Ausbau der Infrastrukturen prägte die gesellschaftliche und die wirtschaftliche Entwicklung weit mehr als so manches politische Konzept. Die Verkehrsfrage sei die Kernfrage, die über die Entwicklung von Staaten entscheide – das schrieb bereits der Historiker Joseph Jung.2 Und er zeigte auch auf, wie der Aufbau von Infrastrukturen die moderne Schweiz ermöglichte. Das Tessin ist dafür ein Paradebeispiel. Der Bau von Eisenbahnen und Strassen, die Nutzung der Wasserkraft sowie der Aufstieg des Bankenplatzes und der Universität haben die Tessiner Wirtschaft und die Tessiner Gesellschaft umgepflügt. Den Menschen, die das moderne Tessin geschaffen haben, ist dieses Buch gewidmet.
Das Wetter war garstig, doch das Publikum zahlreich. Es war das heisseste Jahr seit Messbeginn, doch jetzt, am 1. August 2011, trug alt Bundesrat Christoph Blocher einen dicken Mantel mit Schal. Hunderte hörten ihm im geschützten Festzelt am Gotthardpass oben zu: «Man ist hier nahe den Wolken, nahe dem Himmel, nahe bei Gott. […] Wie ein Klotz liegt dieser Granit mitten in Europa, ein Bollwerk, eine ewige Provokation gegenüber der Umtriebigkeit von Regierungen und Verwaltungen. Das Symbol der freien Schweiz inmitten Europas!»1
Der Gotthard also als Symbol der freien Schweiz. Der unbezwingbare Gotthard, an dem es kein Wischiwaschi und keinen Rückzug gebe. Auch Jean-Pascal Delamuraz sprach am Gotthard. Es war am 1. August 1989, wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, und Delamuraz war Bundespräsident.2 Warum er vom Gotthard aus spreche? Weil es ohne den Gotthard die Schweiz nicht gäbe. «Ohne Gotthard wären die Waldstätte ein in sich geschlossenes, der Armut ausgeliefertes und dadurch verletzliches Land geblieben. Der Gotthard hat das Tor aufgetan. Durch ihn kamen Güter, Menschen und Ideen in unsere Täler. Er hat den Horizont geöffnet. […] Die Schweiz existiert, sie ist sich selbst, stark und unabhängig in dem Mass, als sie sich öffnet – geistig, wirtschaftlich, politisch, wissenschaftlich, menschlich.» Die Schweiz müsse sich verteidigen können – aber einigeln dürfe sie sich nicht. Die Schweiz werde sich mit voller Kraft für den Bau des grossen Europas einsetzen. Die Schweiz sei durch und durch europäisch.
Millionen Menschen nutzen die Völkerstrassen am Gotthard – ausländische Arbeiter haben die Tunnel erbaut. So ist der Gotthard. Und so ist das Tessin.
Der Nationalfeiertag ist ein guter Tag, um die Befindlichkeit des Tessins zu erkunden. Wie an tausend anderen Orten in der Schweiz gibt es Schweizerpsalm und Feuerwerk, zu laute Musik, frittierten Fisch und gegrilltes Fleisch. Die Reden zum 1. August sind im Tessin aber von einer Ernsthaftigkeit, die sonst oft fehlt. Zum Beispiel bei Mauro Frischknecht.3 1945 geboren und Architekt von Beruf, war er als Mitglied der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) zwanzig Jahre lang Gemeindepräsident von Agno bei Lugano. Frischknechts Ansprachen am 1. August waren keine leere Rhetorik, die Vorbereitung war ernsthaft, das Resultat nicht banal: Das Vertrauen in den politischen und wirtschaftlichen Apparat sinke. Den Parteien seien die Visionen abhandengekommen. Das politische Geschäft sei eines mit der Angst. Die Lokalpolitik und «die da oben in Bern» würden immer weiter auseinanderdriften. Die Schweiz sei ein Land, in dem alle fordern und keiner zahlen will, in dem der Generationenvertrag ausgehebelt wird. Aus der Willensnation, in der Gesunde für Kranke zahlen, diejenigen mit Arbeit für diejenigen ohne, die Städte für das Land, werde ein Nebeneinander von betriebswirtschaftlichen Risiken. Frischknecht fordert eine neue Ethik im Umgang mit dem Staat. Will, dass die Symptome der inneren Auflösung erkannt werden. So spricht Frischknecht, und dass diese Stimme aus dem Tessin kommt, ist kein Zufall.
Das Tessin hat die Form eines Keils mit einer Sprachgrenze entlang der Alpen im Norden und einer politisch-wirtschaftlichen zu Italien im Süden. Die Grenze ist das zentrale politische Thema im Tessin. Die Grenze – das heisst, die Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Das Thema beinhaltet auch Italien und damit ebenso die Europäische Union (EU). Norman Gobbi ist Staatsrat der Lega dei Ticinesi. Eine seiner Reden zum 1. August hielt er im Jahr 2019 in Melide.4
Im Swissminiatur in Melide gibt es einen Stockalperpalast zu bewundern, ein Jungfraujoch, den Rheinhafen in Basel und das Bundeshaus. Eine Modelleisenbahn kurvt durch das Gelände, und wenn der Hauskater im Eisenbahntunnel Mittagsschlaf hält, dann wird das unausweichliche Modellbahnunglück zum Spektakel. Der Direktor von Swissminiatur war Dominique Vuignier, seine Walliser Vorfahren waren Söldner und Bauern. Die Mehrheit der Angestellten im Freilichtmuseum ist Schweizer, doch gibt es auch Asiatinnen, Türkinnen, Litauer, Polen, Schwedinnen, Südamerikaner und Italiener. Das geht nicht ohne Respekt und Toleranz. In Melide wurde 1848 jener Damm erbaut, der nicht nur zwei Teile des Kantons Tessin verbindet, sondern auch eine Schlüsselstelle ist im Nord-Süd-Verkehr.
Doch Norman Gobbi sagte es deutlich: Heute müsse man sich trennender Elemente bewusst werden, den Nutzen für die Schweiz unterscheiden von Gefahren und Risiken. Gobbi meinte damit das Rahmenabkommen, das der Bundesrat (erfolglos) mit der EU verhandelte. Die EU sei arrogant, sagte Gobbi. Der Föderalismus, die Autonomie von Kantonen und Gemeinden, gehöre zu den Besonderheiten der Schweiz. Man müsse Herr bleiben im eigenen Haus, und darum sei das Rahmenabkommen abzulehnen. In der kantonalen Politik stehen die Zeichen auf Abgrenzung, und Gobbis Partei, die Lega dei Ticinesi, steht dafür wie keine andere.
Im Tessin lässt es sich besser als anderswo über Anspruch und Realität der Willensnation Schweiz nachdenken. Die Landesteile driften auseinander. Der nationale Zusammenhalt ist Thema in der Sprachenfrage, beim Gotthard-Strassentunnel, beim Verhältnis zum Nachbarland Italien, bei der Vertretung des italienischsprachigen Landesteils in politischen Spitzenpositionen. Das Gefühl, in Bern nicht verstanden zu werden, gehört zum politischen Standardrepertoire und bringt Stimmen im Tessiner Wählermarkt.
So ist es mit dem Tessin wie mit dem Gotthard: Es gibt Stoff her für Mythen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Das Tessin nennt sich nicht nur Kanton, sondern auch Republik. Der Patriotismus im Tessin ist besonders ausgeprägt, eine offizielle Tessiner Hymne gibt es aber nicht. Dafür gibt es den «Canto della terra», er ist Teil des Singspiels «Sacra Terra del Ticino» von Gian Battista Mantegazzi, das im Mai 1939 im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung an der Landesausstellung in Zürich erstmals aufgeführt wurde. Die Tschechoslowakei war besetzt, Deutschland bereitete sich auf den Weltkrieg vor, Adolf Hitler und Benito Mussolini schlossen ihre Allianz im Stahlpakt. Die Furcht vor der Besetzung des Tessins durch italienische Faschisten wuchs.
Vier Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erzählt das Tessiner Singspiel von der Freiheit der Berge, vom Schmerz der Emigranten, von der Arbeit der Steinhauer, Strohflechter, Fischer, Feldarbeiter und Schlosser. Es besingt die Volksfeste im Tessin, die Kirchenglocken, die Blumen und den Wein. Der Grundton ist ganz und gar nicht heldenhaft, der Takt ist langsam, die Melodie ist sanft wie bei einem Kirchenlied. Der «Canto» taugt nicht für Truppenaufmärsche. Auch die anderen inoffiziellen Tessiner Hymnen tun es nicht. Sie werden spätabends in der Osteria oder in Berghütten gesungen. Sie sind Ausdruck eines Stücks Geschichte, das bis heute Menschen bewegt.
Da ist das Auswandererlied «America»: Gesegnet sei Christoph Kolumbus, der Amerika entdeckte, das Amerika, wo Tessiner Arbeit finden, heisst es im Text. Das Lied beschreibt die Schiffsüberfahrt nach Amerika. Und dann folgt in dieser Hymne des Maggiatals: Mit dem Fleiss unserer Emigranten wurden Länder und Städte gegründet.
Im Muggiotal besingt die «Bricolla» die Welt der Schmuggler: Fünf Brüder waren wir, heisst es in diesem Lied. Auf und ab und ab und auf führten die Wege der Lastenträger, immer auf der Hut vor der Grenzwacht. Fünf Brüder verurteilt zum Schmugglerdasein. Ein heimliches Geschäft, das als ehrenhaft galt. Mit den Generationen aber schwindet die Verbundenheit mit diesen Geschichten. Was einst unbestrittener Teil der Tessiner Identität war, gerät in Vergessenheit.
Mit 2800 Quadratkilometern Fläche gehört das Tessin zu den fünf grössten Kantonen der Schweiz. Zu achtzig Prozent ist es mit Gebirge bedeckt. Gemessen an der Einwohnerzahl, an den 346 000 Menschen, die hier leben, ist das Tessin der achtgrösste Schweizer Kanton. Zusammen mit den Südbündner Tälern bildet es eine der vier Sprachregionen, die italienischsprachige Schweiz. Nur siebzig Kilometer von Lugano entfernt liegt die Zwei-Millionen-Metropole Mailand; die ans Tessin angrenzenden Regionen Lombardei und Piemont zählen über 14 Millionen Einwohner, viel mehr als die ganze Schweiz. In Genf, in Basel oder in der Ostschweiz ist das ausländische Hinterland geprägt von Kleinstädten. Mailand und die Lombardei dagegen zählen zu den stärksten und konkurrenzfähigsten Wirtschaftsregionen ganz Europas. Das gibt es nirgendwo sonst in der Schweiz.
So ist das Tessin eine Doppelwelt. Manchmal sind die Dörfer in den Tälern mit Feriengästen überfüllt, meist sind sie aber menschenleer. Hier der Süden der Schweiz mit Palmen, Bergen und seinem Licht. Dort die Tessiner Arbeitswelt.
Ingenieur Paolo Regazzoni war nicht nur der Vorsteher des Kantonalen Labors für Hygiene – er muss auch ein gründlicher Schaffer gewesen sein. Regazzoni suchte im Jahr 1950 mit seinen Leuten 21 387 Haushalte auf und erfasste deren Zustand. Die Fragestellung: Wie sieht es aus mit dem hygienischen Zustand der Behausungen im ländlichen Tessin? Eine riesige Aufgabe, die in Hinblick auf mögliche Bundessubventionen angepackt wurde. Heute liest sich Regazzonis Bericht wie eine Röntgenaufnahme der sozialen Verhältnisse im Tessin der 1950er-Jahre:1 Der Kanton habe zwar gigantische Anstrengungen zur Verbesserung des Strassennetzes unternommen. Doch die Gemeindestrassen seien allzu oft aus gestampfter Erde und staubig. Bei Regen würden sie zu Schlamm, zu einer Brutstätte von Bakterien und Infektionskrankheiten. Neun Zehntel aller Wohnungen hatten weder Dusche noch Bad. In 174 von 246 Gemeinden gab es keine Kanalisation, und nur in jeder zehnten Gemeinde existierte eine Abfallentsorgung. Häufig befanden sich Ställe für Schweine, Hühner und andere Tiere in nächster Nähe zu den Wohnungen.
Gemeinde für Gemeinde wurde die Belegung der Schlafzimmer aufgelistet, Zimmer, die eigentlich eher Kammern waren, meist mit tiefen Decken, schlechtem Licht und manchmal feucht. Am häufigsten waren die Zweizimmerwohnungen, in denen meistens sechs Personen untergebracht waren. Eine typische Dreizimmerwohnung war mit acht Personen besetzt. In neun Prozent aller Fälle war der Zustand der Küche oder der Schlafräume unannehmbar. Die Zustände seien erbärmlich, betroffen seien kinderreiche Familien in baufälligen Häusern. Es seien Fälle von Promiskuität zwischen Mensch und Tier aufgetreten, Verhältnisse, die auch den bescheidensten Ansprüchen eines gesunden Zusammenlebens nicht entsprächen.
Katastrophale Zustände sollen in Rovio geherrscht haben, wo eine von Tuberkulose betroffene Familie in trostlosen und ungesunden Verhältnissen lebte. In Tenero wohnte eine Person in einem Zimmer, einem Elendsquartier, das lediglich mit einem Strohsack und Lumpen ausgestattet war. Eine Blechdose diente als WC. «Es schienen also fortdauernd primitive und erniedrigende Lebensverhältnisse zu bestehen, welche die Gesundheit der Bevölkerung gefährdeten», schrieb Raffaello Ceschi, der 2013 verstorbene, meistgelesene Historiker und einer der wichtigsten Intellektuellen im Tessin.2 Und das zu einer Zeit, als das Wirtschaftswunder bereits eingesetzt hatte. Die Welt in den Tessiner Alpentälern sollte sich in den kommenden Jahrzehnten stärker verändern als in den Jahrhunderten zuvor. Diejenigen, die noch über das alte, landwirtschaftlich geprägte Tessin reden können, werden immer weniger. Sie erzählen von einer untergegangenen Zeit.
Ezio Coppini aus Cimalmotto im Maggiatal zum Beispiel. So etwas wie Kindheit hat es in seinem Leben nicht gegeben: «Der Tag begann immer mit demselben Satz meines Vaters: ‹Raus aus dem Bett, sonst sind die Kühe weg.› Mit unseren Nagelschuhen mussten wir raus, als es noch finster war. Drinnen gab es nur Kerzenlicht, das in der Zugluft heftig flackerte und kaum Helligkeit brachte. Oft standen wir noch früher auf, weckten die Kühe, und legten uns auf ihr noch warmes Stroh. So kalt war es.»3
Bruna Martinelli hat ihre Lebensgeschichte in zwanzig Schulheften festgehalten: «Arbeiten, keine Zeit verschwenden, Gehorsam, Sparsamkeit. Das wurde von den Frauen verlangt. Die Männer waren erst im Militär, dann waren sie Tagelöhner im Unterland. So ist die Geschichte der Monti und Alpen eine Frauengeschichte.» Und: «Die schrecklichste, die totale Ungleichheit: das war die der alleinstehenden Frauen. Eine alleinstehende Frau zählte nichts. Das war die grösste Ungerechtigkeit. Sie zählte oft weniger als ein Tier im Stall. Die Leute waren hart. Sie waren nicht sanftmütig. Sie waren hart. Alle waren hart. Ich weiss nicht, woher das rührte. Vom Leben, das sie hart gemacht hat? Sie hatten kein Mitleid mit anderen. Besonders nicht mit den Schwächsten.»4 Bruna Martinelli schrieb das alles nieder, um Zeugnis abzulegen – ihr Tagebuch ist in deutscher und italienischer Sprache erschienen.5
Bruna Monaci führte ein Restaurant im Pecciatal. Sie wuchs in einer zwölfköpfigen Familie auf. Einmal im Jahr bezahlte der Vater die Rechnung im Dorfladen, es waren 800 Franken. «Schon nach 1920 hatte sich vieles geändert. Doch 1950 machte es ‹bumm› und unsere Welt war eine andere.» Wie eine ferne Auswirkung des Wirtschaftswunders kam der Steinbruch ins Tal. «Er brachte Geld. 100, 180 Franken Lohn im Monat – das war viel Geld damals. Man kaufte sich erst ein Fahrrad, mit mehr Geld dann das Motorrad, ein Puch. Am Ende ein Auto, oft war das ein Fiat 500.»6
Esterina Roberti war Wirtin in der Trattoria delle Alpi im Bedrettotal. Der Pfarrer war der einzige Mann, der zur Winterzeit im Tal lebte. «Die anderen waren als Marronibrater in Frankreich, in Lyon. Den im Tal gebliebenen Frauen blieb die Stallarbeit.» Roberti erzählte, wie das erste Grammofon mit nur einer Schallplatte ins Tal kam. Der Pfarrer drohte, jene Häuser nicht zu segnen, in denen getanzt worden war.
Seit dem Jahr 1900 war die Tessiner Landwirtschaft geprägt gewesen von einem Niedergang, einem Prozess, der nördlich der Alpen schon 100 Jahre früher eingesetzt hatte. Im Tessin diente die Landwirtschaft, die auf dem in kleine Stücke verzettelten Grundbesitz betrieben wurde, in erster Linie der Selbstversorgung. Die Mechanisierung war wegen der steilen Berghänge kaum möglich, eine Modernisierung der Betriebe erschien auch angesichts des Kapitalmangels und der wegziehenden jüngeren Generation sinnlos.
Trotz der hohen Subventionstätigkeit gelang es der Landwirtschaftspolitik nicht, die Landflucht zu bremsen. Die Produktivität in der Tessiner Berglandwirtschaft stagnierte, und zugleich versprachen die Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor bessere Löhne, sie waren prestigeträchtiger und verbunden mit der Hoffnung auf den Anschluss an einen modernen Lebensstandard. Es waren die Frauen, die der Landwirtschaft zuerst den Rücken kehrten – sie fanden Arbeitsplätze im Gastgewerbe, in der Hotellerie oder in den Fabriken.
Der frühere Tessiner Bundesrat Giuseppe Lepori schrieb 1966: «Eine so fühlbare und schnelle Verminderung der Bedeutung der Landwirtschaft erweckt berechtigte Befürchtungen. Sie ist nicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein Viertel der Fläche des Kantons unproduktiv ist und die klimatischen Verhältnisse mit den heftigen, gewitterartigen Regenfällen und den oft erbarmungslosen Trockenzeiten nicht immer eine rationelle Bewirtschaftung des Bodens ermöglichten; sie liegt auch nicht an der übertriebenen Zerstückelung des Ackerlandes, der Schwierigkeit, die Erzeugnisse abzusetzen oder an den Preisen, die selten lohnende Gewinne bringen; sie hat vielmehr im wesentlichen psychologische Gründe: sei es den Skeptizismus der Jugend der Landwirtschaft gegenüber, sei es die Abwertung der Arbeit des Bauern, die ärmlich, unsicher und mühsam erscheint und bei weitem nicht das Einkommen und die Freizeit abwirft, die für Handwerker und Arbeiter selbstverständlich sind. […] Es ist nur ein schwacher Trost, sich zu sagen, dass diese Erscheinung in allen Bergtälern Europas gleichermassen zu finden ist. ‹Der Berg stirbt›.»7 Erst ab 1950 wurde nicht mehr nur für den Eigenbedarf, sondern auch für den Lebensmittel-Grosshandel produziert. Der Agrarsektor zählte damals 15 000 Beschäftigte, 1965 waren es noch 3700, 2019 blieben 3300.
Die lokalen Wirtschaftskreisläufe in den Bergtälern sind so klein, dass der Wegzug einer einzigen Familie eine Kettenreaktion auslösen kann: Weil die verbleibenden Schulkinder zu wenig sind, wird die Schule geschlossen, daher ziehen andere Familien und die Lehrer weg, dann macht der Dorfladen zu, es folgen die Post und das Restaurant. Ohne Schule, Einkaufsmöglichkeit, Postamt und attraktive Verbindungen des öffentlichen Verkehrs fehlen gerade für junge Familien jene Angebote, die es braucht, um ein Bleiben zu ermöglichen. Die kritische Masse an ganzjährig dort wohnhaften Menschen fehlte in vielen Bergdörfern schon bald.
Zusammengerechnet verloren die obere Leventina, das mittlere und obere Bleniotal, das Verzasca- und das Onsernonetal, die Centovalli sowie das mittlere und obere Maggiatal von 1850 bis 1880 insgesamt 6999 Einwohner (ein Drittel der Bevölkerung). Im gleich langen Zeitraum von 1950 bis 1980 waren es noch einmal 2350 Einwohnerinnen und Einwohner. Bis im Jahr 2020 setzte sich der Aderlass fort mit nochmals einem Minus von tausend Personen. Insbesondere jüngere Menschen wanderten aus den Tälern ab. Die Folgen dieser Abwanderung waren einschneidender als bei der Emigration hundert Jahre zuvor. Denn damals waren Ersparnisse und Know-how der Emigranten zurück in die Täler geflossen. Nun wurden die traditionsreichen Dörfer oft einfach aufgegeben. Zugleich wuchsen die Städte Bellinzona, Locarno, Lugano, Mendrisio und Chiasso rasant: 77 230 Einwohner hatten sie 1880, 134 986 waren es 1950. Bis 2020 kam dann der grosse Wachstumsschub, die Tessiner Städte zählten zu diesem Zeitpunkt 308 604 Einwohner. In Bellinzona, Locarno oder Lugano betrug das jährliche Pro-Kopf-Einkommen über 7000 Franken – im Berggebiet waren es nicht einmal 3000.
In keiner anderen Schweizer Grossregion war der Rückgang der Alpwirtschaft so stark wie im Tessin. Die Arealstatistik 2013/18 weist im Tessin noch 24 020 Hektaren Alpwirtschaftsflächen aus. 1979/85 waren es noch 30 122. Die Zahl der Alpbetriebe fiel von 558 (1864) auf 437 (1911) und 401 (1944), 276 (1956), 201 (1965) auf 150 (1970).8 Nach einer neueren Statistik soll es im Jahr 2021 noch 189 Alpen gegeben haben, die bestossen wurden.9 Der Niedergang spiegelt sich auch in der Zahl des gesömmerten Viehs. Und besonders gut sichtbar: in den Abertausenden aufgegebener Maiensässe. Wie stumme Denkmäler sehen sie ihrem Verfall entgegen. Viele Dächer sind schon eingestürzt. Im Innern solcher Hütten zeugen dahinrostende Werkzeuge und Gerätschaften von der untergegangenen Berglandwirtschaft. Die einst gepflegten Alpwiesen werden von wertlosem Jungholz, Dornengebüsch und Unkraut überwuchert. Mit viel Mühsal gebaute Trockensteinmauern verfallen. Aus einem armen, von der Berglandwirtschaft geprägten Kanton wurde der drittgrösste Finanzplatz. Nirgendwo in der Schweiz war der Wandel so radikal und schnell wie im Tessin.
Der Niedergang der alpinen Zivilisation wurde als Verlust der Tessiner Identität beklagt. Basilio M. Biucchi sprach von einer «Welt der Besiegten».10 Der Rechtshistoriker Pio Caroni sagte: «Es tut weh mit anzusehen, wie über das Land hergefallen wird, vergewaltigt quasi, mit dem stillen Einverständnis der Politik. Dreissig Jahre Wohlstand haben Spuren hinterlassen. Unsere Generation ist ruhelos, arrogant, aggressiv. Wir haben zerstört, haben unsere Werte zugrunde gerichtet mit unserer Veränderungswut. […] Ich wünsche meinem Land, dass es die Kraft findet kritisch nachzudenken über den sogenannten Fortschritt, sich all diesen Änderungen zu widersetzen die die Gesellschaft nicht reifer machen, die nur der Logik des Profits oder des technischen Fortschritts gehorchen und die uns – wenn wir uns nicht wehren – ohnmächtig machen.»11
Sandro Bianconi schrieb: «Bis anfangs der fünfziger Jahre hatte das Tessin gewisse Züge einer ländlichen Gesellschaft, einer Bauernkultur, fast intakt bewahrt.» Doch dann setzte ein radikaler Wandel ein, «der Verfall und das fast vollständige Verschwinden der Landwirtschaft, die Industrialisierung und das Wachstum des Dienstleistungssektors, der Massentourismus, die starke Einwanderung von Fremdarbeitern, die Mobilität und Verstädterung, die sich daraus ergab, das Einströmen von fremdem Kapital, die wilde Boden- und Bauspekulation, die Verbreitung der Massenmedien […]. Heute betrachten wir diese Wohlstandszeit nun endgültig mit Enttäuschung. […] Verkauf und Verunstaltung der Umwelt, Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, das Chaos des Städte- und Wohnungsbaus usw. Das sind die auffallendsten Folgen des Bankrotts dieses Entwicklungs- und Lebensmodells, bei uns wie in ganz Europa. […] Sie äussern sich in der plötzlichen Erkenntnis der Einheimischen, bedroht zu werden, ja die eigene Identität zu verlieren.»12
Beat Allenbach, langjähriger Tessin-Korrespondent beim Zürcher Tages-Anzeiger, notierte: «Viele fühlen sich in der Dienstleistungsgesellschaft noch nicht heimisch. Manche Tessiner und Tessinerinnen, die sich als Angestellte oder Beamte in der Arbeitswelt der Computer bewegen, in einem komfortablen Einfamilienhaus wohnen, flüchten in der Freizeit mit dem Auto in das einfache Haus ihrer Vorfahren im Bergdorf oder ins Maiensäss. In der modernen Gesellschaft sind sie noch nicht zu Hause, aber auch ihr Dorf hat sich verändert, auch dort fühlen sie sich fremd.»13
So beschreibt Allenbach ein Gefühl von Heimatlosigkeit im Tessin. Das Wirtschaftswachstum war verbunden mit einem Kulturpessimismus. Enrico Morresi, Chefredaktor des Corriere del Ticino, arbeitete für das Radio und Fernsehen der italienischsprachigen Schweiz und war Mitglied der Schweizer UNESCO-Kommission: «Hat der Reichtum den Tessinern den Kopf verdreht?», fragt er. «Nein. Wie es typisch ist für eine Gesellschaft die voller Entbehrungen war, haben die Tessiner ihre Einnahmen in den Hausbau investiert. Wenn sie nur das Geld, das sie aus dem Landverkauf gewonnen haben in den 50er- und 60er-Jahren in produktive Tätigkeiten investiert hätten, in eine moderne industrielle Infrastruktur. Anstelle dessen haben sie sich Zweitwohnungen gebaut in den Bergen (für die sich die Jungen von heute kaum interessieren). Sie haben in jedes Zimmer einen Fernseher gestellt und die Mutter bringt die acht Jahre alten Kinder mit dem Station Wagon zur Schule, die nur 150 Meter entfernt von zuhause liegt. Und die Schule hat Gymnastikkurse anzubieten, weil die Kleinen Haltungsschäden haben.»14
Guido Calgari formulierte es hart: «Es ist das Unglück des Tessins, dass es der Ehrgeiz der bürgerlichen Klasse ist, Weltspitze bei der Produktion von Anwälten und Ärzten zu werden. Und die übrigen Familien (und auch die weniger talentierten Bürgerkinder) suchen Anstellungen als Beamte beim Kanton oder beim Bund. Das Beamtentum wurde zum Traum und zur Hoffnung aller kleinen Würstchen.»15 Am anderen Ende der sozialen Skala war die Handlangerei verbreitet. 15-jährige und manchmal auch 14-jährige Buben wurden auf Baustellen, in Fabriken und Lagerhäuser geführt. Das zeige sich stark in den ländlichen Gebieten und in den Tessiner Tälern, so Calgari.
Calgari unterschied zwischen Berufen, die Tessiner Arbeitskräfte nicht ausüben mochten, nicht ausüben konnten und nicht ausüben durften. Zu den ersteren gehörten jene als Haushaltshilfen, Knechte in der Landwirtschaft, Holzfäller, Tunnelbauer, Strassenarbeiter. Zur zweiten Gruppe gehörten Arbeiten, für die es im Tessin an Berufsleuten fehlte, Arbeiten, die von Deutschschweizerinnen und Italienern ausgeführt wurden: in Hotelbetrieben, Restaurants, Reisebüros, Konditoreien, Fotogeschäften, Coiffeursalons, Gärtnereien, Schneidereien, Dachdeckereien, Installateurbetrieben. Zu den Arbeiten, die Tessiner nicht machen durften, zählten nach Calgari jene, für welche Fremdsprachenkenntnisse erforderlich waren: jene als Sekretärinnen, Hotelportiers, Köche, Bedienungspersonal, Bankbeamte. Die Lösung? Calgari forderte eine verbesserte Berufsbildung. Silvano Toppi ist ein renommierter Tessiner Ökonom, und er war Chefredaktor des Giornale del Popolo und Leitartikelschreiber bei La Regione. Das Tessin schleppe die alten Probleme mit sich herum, schreibt er über die Nachkriegszeit: «Isoliert, rückständig, ein Ungleichgewicht zwischen Stellensuchenden und -angebot, die zwangsläufige Emigration, wenig organisierte und kaum effiziente Landwirtschaft, schwache Industrie und Pro-Kopf-Löhne, die viel tiefer sind als im Landesdurchschnitt.»16
Von 1950 bis 1965 seien im Tessin während der Jahre des Booms fast 300 neue Fabriken entstanden. Jene Merkmale, welche die Tessiner Industrie ohnehin schon auszeichneten, seien weiter gestärkt worden: tiefe Löhne und wenig Investitionen, der ausserordentlich hohe Anteil ausländischer Arbeitskräfte, die kleine Grösse der Firmen, die Abhängigkeit von der Deutschschweiz, sei es bei den Krediten, sei es bei der Nachfrage. In einer Umfrage gaben zwei Drittel aller Firmen an, weniger als dreissig Jahre alt zu sein. Häufig waren es Einzelfirmen oder andere juristische Formen, die geeignet sind für meist kapitalarme Familien- oder Handwerksbetriebe. In der Hälfte der Firmen wurden nur einfache Kostenrechnungen geführt, es gab keine Informatik, keine Entwicklungsabteilung und keine Marktanalysen. Über neunzig Prozent der Tessiner Betriebe seien Kleinbetriebe mit bis zu zehn Mitarbeitenden. Grössere Betriebe, seien es Hotels, Banken, Versicherungen oder Einkaufszentren, gehörten Investoren aus der Deutschschweiz oder Italien. Dort würden meist auch die Entscheide über das Geschäft im Tessin gefällt – und dorthin flössen die Gewinne und Steuerabgaben. Quantitativ, schreibt Toppi, seien die Wachstumsziele zwar erreicht worden. Nicht aber qualitativ.
Basilio M. Biucchi wurde 1908 geboren. Nach Studien in Mailand und Wien arbeitete er in der Tessiner Handelskammer, wurde stellvertretender Chefredakteur des Corriere del Ticino und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.
Zuletzt war er Mitbegründer des Amts für Wirtschaftsforschung im Kanton Tessin. Seine selbstkritische Stimme prägte die wirtschaftspolitische Diskussion des Kantons mit.
1958 nannte er das Tessin eine unterentwickelte Zone in der blühenden Schweizer Wirtschaft: «Gewiss, Gewerbe und Industrie sind auch im Tessin vollbeschäftigt. Sie sind aber in dieser Expansion keineswegs strukturell gefestigt und wir können kaum von einer bodenständigen, kapital- und marktfesten wirtschaftlichen Entwicklung sprechen. Die Tessiner Industrie und das Tessiner Gewerbe leben und erweitern sich eben nur als verlängerte Werkbank der Industrie der andern Kantone, weil sie überbeschäftigt ist. Wir sind also als erste Opfer der ersten Rezessionswelle ausgesetzt.»17 Von 1946 bis 1956 seien 19 000 Tessiner Arbeiter in andere Kantone ausgewandert. Im gleichen Zeitraum habe das Tessin 39 000 Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen an Heimatberechtigte aus anderen Kantonen bewilligt. «In diesen Zahlen kommt die ganze Tragweite – ich möchte fast sagen – die ganze Tragik des Tessiner Bevölkerungsproblems zum klaren Ausdruck: als Wirtschaftsproblem und als noch wichtigeres Problem unserer Italianità.»
1959 ortete Biucchi sieben Plagen, welche die Tessiner Wirtschaft heimsuchten:18
Erstens die Wachstumsillusion, weil die industrielle Entwicklung im Tessin eine Folge des Wachstums ennet des Gotthards sei, nicht aber des Entstehens einer eigenständigen Tessiner Industrie. Zweitens die Schwäche, weil das Tessiner Wirtschaftswachstum gering und nur oberflächlich sei. Drittens das Steuerrecht, das mit seinen Steuerbefreiungen eine Kapitalistenklasse, nicht aber Investoren angezogen habe. Viertens die «parasitäre» und «spekulative» Mentalität, die Tessiner Kapitalisten auszeichne. Fünftens die Kurzsichtigkeit, mit der sich das Tessin die grosse Chance zur Ausbeutung der Wasserkraft entgehen liess. Sechstens die Infrastrukturmängel bei Strassen, Transport und Stromversorgung. Und siebtens die Lücken in der Berufsausbildung. Das Tessin habe einen Überschuss an humanistisch ausgebildeten Jugendlichen und zu wenig Berufsleute.
Die Tessiner Volkswirtschaft befand sich in einer tiefgreifenden Umwälzung. Es entstanden eine Konsumgesellschaft und ein Wohlfahrtsstaat, das Realeinkommen stieg. In den zehn Jahren von 1960 bis 1970 verdoppelte sich die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung auf fast 68 000. Dabei waren es die Industrie und der Dienstleistungssektor, welche die Gesellschaft und Wirtschaft umpflügten.
Die staatliche Organisation widerspiegelte diese Umwälzungen nicht. Die politische Aufmerksamkeit galt der Landwirtschaft. In seinem Jahresbericht von 1962 widmete das Wirtschaftsdepartement 150 Seiten der Landwirtschaft – und nur neuneinhalb Seiten der Wirtschaft, dem Handel und dem Tourismus.
Der 2018 verstorbene Amilcare Berra war Doktor der Ökonomie. Er hat zuerst in der kantonalen Steuerverwaltung, dann aber in Spitzenfunktionen in der UBS und als Mitglied der Bankenkommission den Aufstieg des Tessiner Bankenplatzes geprägt. «Die politische Klasse im Tessin verfolgte die neue wirtschaftliche Ära im Tessin zunächst als wenig überzeugte Zuschauerin. Der Zweite Weltkrieg war überstanden, die Mentalität war eine bäuerliche und geprägt von der harten und schwierigen Vergangenheit. So passte sich der Kanton nur langsam an die neue Situation an.»19
Die Wirtschaftspolitik jener Zeit verfügte nur über wenig Zahlenmaterial, zum Wirtschaftswachstum gab es intuitive Schätzungen, die beispielsweise auf der Anzahl Automobile im Kanton beruhten: Im Tessin stieg sie von eins auf zehn, wohingegen sich die Anzahl auf nationaler Ebene versechsfachte. Was dabei die Bezugsgrösse sein sollte, war aber unklar. Man ging davon aus, dass es um das Tessin schlechter bestellt sei als um andere Kantone, dass das Tessin ein Sonderfall sei, dass die Entwicklung des Tessins von aussen behindert werde und dass man darum in Bundesbern mit Forderungen auftreten müsse. Es fehlte aber an Kontextwissen und an strategischen Entwürfen.
Die Probleme waren offensichtlich. 1959 wurde als Antwort darauf in der kantonalen Verwaltung das Volkswirtschaftsdepartement geschaffen. Es vereinte die bisher verstreuten Wirtschaftsämter und sollte die Wirtschaftspolitik besser koordinieren. Erst 1961 führte der Staat eine doppelte Buchhaltung ein mit einem modernen, aussagekräftigen Kontenplan.20 Im gleichen Jahr entstand das Ufficio di ricerche economiche (URE), das – zumindest theoretisch – unabhängig von Verwaltung und Politik Grundsatzfragen analysieren und eine Datenbasis schaffen sollte.
In dieser Aufbruchstimmung bestellte die Kantonsregierung 1964 einen Bericht bei Francesco Kneschaurek, Ordinarius und Rektor an der Handelshochschule St. Gallen.21 Kneschaureks Auftrag: Er solle Fakten und analytisches Werkzeug liefern, um eine weitsichtige Tessiner Wirtschaftspolitik festzulegen. Weil er erstmals Analysen mit Statistiken unterlegte, wird sein Bericht bis heute als Pionierwerk geschätzt und zitiert.
Kneschaureks Befund: Die Tessiner Wirtschaft erwies sich als wenig ertragsstark und als wenig produktiv. Ein Drittel aller Fabrikarbeiter war in der Textilindustrie angestellt, der Industrie mit dem tiefsten Lohnniveau der Schweiz. Die viel ertragsstärkere Maschinenindustrie beschäftigte im Tessin nur zehn Prozent aller Arbeiter – im Landesdurchschnitt waren es dreimal mehr. Die Arbeitnehmer waren weniger qualifiziert als anderswo in der Schweiz, es fehlten vor allem technische Kader, Wissenschaftler und Verwaltungsfachleute. Die Investitionen flossen zwar, aber nicht in produktive Arbeitsplätze, sondern zu achtzig Prozent in die Bauspekulation – in Lugano verdreifachten sich die Bodenpreise im Zeitraum von 1978 bis 1988 (gleich wie in Zürich).22
«Die bisher genannten Daten vermitteln ein Bild das weniger erfreulich ist als subjektive Schätzungen, die während der touristischen Hochsaison entstehen mögen», schrieb Kneschaurek. Die Landwirtschaft schuf noch zehn Prozent aller Arbeitsplätze, die Industrie mit dem Handwerk und dem Baugewerbe zusammen kam nicht über einen Fünfzig-Prozent-Anteil hinaus. Und ein grosser Teil der Beschäftigten im Industriesektor kam aus der Bauwirtschaft. Die Kleinbetriebe waren zahlreich, gut die Hälfte der Arbeitnehmenden aber schlecht verdienende Frauen, besonders in der Textilbranche, in der Tabakverarbeitung und in der Uhrenindustrie.
Der Dienstleistungssektor verzeichnete den stärksten Anstieg. So wuchs aus der niedergehenden Landwirtschaft im Tessin keine Industriegesellschaft heran, sondern eine Dienstleistungsgesellschaft, die eine ganze Anzahl Schwächen aufwies: viele ertragsschwache Kleinunternehmen im Handel und im Gastgewerbe, eine starke Transportbranche, eine hohe Beamtenzahl, wenig Lehrpersonen und ein deshalb prekäres Schulwesen.
Nach der Publikation von Kneschaureks Bericht berief der Tessiner Staatsrat 1964 eine Konsultativkommission ein, die auf fünfzig Vertreter aus Landwirtschaft, Industrie, Handel, Banken, Tourismus, Baugewerbe, Versicherungen, Elektrizitätswerken, Gewerkschaften, Konsumentenforen und der Migros anschwoll. Zudem waren in der Kommission Anwälte, Ärzte, Ingenieure, Architekten und Freiberufler vertreten. Sie sollten aus dem Kneschaurek-Bericht konkrete Schritte ableiten. Die einem Parallelparlament gleichende Kommission legte ihrerseits einen Bericht vor, der viermal länger war als Kneschaureks 179 Seiten starke Vorlage. Wertvolle Zeit war verstrichen und der ursprüngliche Wille zur Wirtschaftsplanung weitgehend verflogen. Silvano Toppi zitiert in seinem Bericht über die Folgen der Kneschaurek-Analyse den Tessiner Grossrat Gian Mario Pagani von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP): Zweifellos habe die Kommission «grosse Arbeit geleistet, sie hat ein dickes Buch vorgelegt, dessen Umfang sich umgekehrt proportional verhält zur Enttäuschung, die im Parlament darauf folgte; der Band ist denn auch als Katalog guter Vorsätze bezeichnet worden». 1970 erklärte der Tessiner Staatsrat, dass er auf die beabsichtigte Wirtschaftsplanung verzichten werde.
Die Hoffnung auf den Kneschaurek-Bericht sei geplatzt wie eine Seifenblase, meinte der langjährige NZZ-Korrespondent Max Wermelinger in einem Buch, das er über das Tessin verfasst hatte. Die Wirtschaftsplanung «kam nicht über einen umfangreichen Bericht einer ebenso umfangreichen Kommission hinaus, die in zweijähriger Tätigkeit zur Feststellung gelangte, daß Kneschaurek recht hatte».23 Sie sei zur Totgeburt geworden. Das 1951 erlassene Gesetz zur Industrieförderung habe sein Ziel verfehlt. Das Geld sei nicht in zurückgebliebene Gebiete geflossen, sondern dort investiert worden, wo ohnehin schon günstige Verkehrsanschlüsse und der Nachschub an billigen Arbeitskräften lockten, in den Einzugsgebieten der Grenzgänger also, im Mendrisiotto und im Malcantone. Wermelinger zählte die wenigen Grossbetriebe auf, das Stahlwerk Monteforno, AGIE Losone, Maschinenfabriken bei Lugano und den Eisenbahnwaggonbauer Cattaneo in Giubiasco. Daneben gebe es aber eine Unzahl kleiner und kleinster Betriebe. «Es sind Betriebe, die teilweise den Einsatz von Kapital scheuen oder diesen Einsatz gar nicht zu leisten vermögen. Außerdem gibt es die Filialen mit dem Hauptsitz in anderen Landesgegenden; sie nehmen meist beachtliche Ausmaße an, zeigen jedoch nur selten ein Interesse, etwas in die Tessiner Fabrikationsstätte hineinzustecken.»24 Die Kapitalinvestition pro Arbeitsplatz im Tessin sei nur halb so gross wie in der Deutschschweiz, fuhr Wermelinger fort: «Was die Unternehmer hier anzieht, ist das niedrigere Lohnniveau, das wiederum im Zusammenhang steht mit der Disponibilität der italienischen Tagespendler. Der Trend nach unten wird im weiteren durch das starke Ausmaß der Frauenarbeit gefördert: fünfzig Prozent der Arbeiterschaft im Tessin rekrutieren sich noch immer aus Frauen, und bezeichnenderweise ist denn auch das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen im Tessin bedeutend größer als im gesamtschweizerischen Durchschnitt. Wer nicht finanzkräftig ist oder gewisse Absatzschwankungen befürchten muß, kann seinen Betrieb im Südkanton somit auf eine Produktion abstellen, bei der es in erster Linie auf die zumeist angelernte Belegschaft ankommt, nicht auf technische Neuerungen, nicht auf Investitionen zur weitgehenden Automatisierung und Rationalisierung des Herstellungsverfahrens. Die Lohnpolitik tritt auf der Stelle, weil selbst die geringste Gehaltserhöhung, die unter dem Druck der Gewerkschaften oder der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt erfolgt, die Gewinnmarge der nicht sattelfesten oder nur auf Zusehen, mit größtmöglicher Rendite wirtschaftenden Betriebe empfindlich in Gefahr bringt. Die Produktivität liegt um einen Fünftel unter dem schweizerischen Mittel.»
Der Verkauf von Grundstücken an Personen aus der Deutschschweiz und Deutschland nahm stark zu. Dazu kamen jene an Gesellschaften aus Liechtenstein. In zehn Jahren wechselten Böden und Immobilien im Wert von 200 Millionen Franken aus Tessiner in deutschschweizerischen oder ausländischen Besitz. 1961 beschloss das Parlament in Bern die Lex von Moos, ein Gesetz, das nach Bundesrat Ludwig von Moos benannt worden war und mit dem der Ausverkauf der Heimat bekämpft werden sollte.
Das immer wieder veränderte und verschärfte Gesetz erschwerte den Grundstückerwerb durch Ausländer. Vertreter vorab aus der Romandie und aus dem Tessin widersetzten sich wiederholt, so zum Beispiel 1970 der CVP-Vertreter Arrigo Caroni im Nationalrat: «Diese Ausländer erwerben keine fruchtbaren Bauerngüter; sie nehmen der Landwirtschaft keinen Boden weg, sondern sie kaufen kleine Landparzellen in den steilen und steinigen Berghängen rund um den Lago di Lugano und längs den beiden Ufern des Lago Maggiore (Ascona, Ronco, Brissago, Gambarogno) und erschliessen oft ungepflegte und unzugängliche Wildnisse. Es handelt sich um Land, welches als solches keinen Rappen wert ist, wo nur Gebüsche wachsen, welche ungefähr alle vier bis fünf Jahre durch Waldbrände zerstört werden. […] Als ich jung war und die ersten Ausländer in das Tessin kamen, verkaufte man tatsächlich in solchen bergigen Wildnissen den Boden für 2 bis 3 Rappen pro Quadratmeter. Heute ist der Preis auf 50 oder 100 Franken pro Quadratmeter angestiegen. Warum will man uns verbieten, von dieser Gelegenheit Gebrauch zu machen? Warum sollen wir nicht durch den Verkauf von Klima und Aussicht unsere Hauptindustrie fördern? Warum will man den Tessinern den Wohlstand vorenthalten, indem man ihnen den Verkauf von entbehrlichem Land verbietet?»25
Dieses Narrativ überzeugte aber nicht überall. Max Wermelinger, der NZZ-Korrespondent im Tessin, schrieb: «Wie oft hat man den Tessinern vorgeworfen, sie hätten seit dem Aufkommen der ersten großen Spekulationswelle nach 1950 nichts anderes getan als ihr Land ausverkauft. Und jedes Mal wird von Tessiner Seite diesem Vorwurf begegnet mit der rührenden Geschichte vom Kleinbauern, dessen einziger Besitz eine steinige Halde war, auf der er nicht einmal seine Geißen grasen lassen konnte; eine Halde, die ihm zu einem phänomenalen Bodenpreis von einem Liebhaber der Natur abgekauft worden sei. Der dergestalt beglückte Bauer war sicher keine Seltenheit. Aber es wurden im Tessin bekanntlich nicht nur Felshänge verkauft, und bei den sich überstürzenden Handänderungen haben die Makler, Strohmänner, Gelegenheitsvermittler und Berufsspekulanten sicher mehr verdient als der ursprüngliche Grundeigentümer.»26
Die Bauwirtschaft war der einzige Industriezweig, in dem das Tessin den Landesdurchschnitt überflügelte – und das bei Weitem. Alle wollten teilhaben am ungeahnten Kapitalzufluss. Ein Buch der NZZ über den Finanzplatz Tessin sprach von Strukturmängeln und Fehlentwicklungen in der Tessiner Wirtschaft.27 Das Baugewerbe sei überdimensioniert und besonders krisenanfällig.
Aus der Lex von Moos wurde die Lex Celio, der die Lex Furgler, die Lex Friedrich und die Lex Koller folgten. Die Konstellation blieb dieselbe. In der Volksabstimmung vom 25. Juni 1995 stimmten die Romandie und das Tessin unisono für eine Liberalisierung von Grundstückverkäufen an Ausländerinnen und Ausländer, doch scheiterte die Vorlage am Nein aus der Deutschschweiz.28 Die Beschränkungen bremsten den Immobilienboom und das Tessiner Baugewerbe beträchtlich, das bis anhin die eigentliche Konjunkturlokomotive gewesen war. Die Zahl der Baufirmen verringerte und jene der Bauarbeiter halbierte sich. Der Tessiner Baumeisterverband opponierte, ebenso die Handelskammer. Die Protestwelle erfasste das gesamte politische Spektrum. Die Meinung, dass den Tessiner Landverkäufern ein legitimes Recht auf einen Zusatzverdienst verwehrt werde, war verbreitet.
Aufträge der öffentlichen Hand milderten die Krise: Der Bau der Gotthardautobahn sorgte zusammen mit dem Bau zahlreicher Kläranlagen für eine Phase des Aufschwungs ab 1970. 3,6 Milliarden Franken kostete der Bau der Tessiner Abschnitte der Autobahn A2, und von 1974 bis 2021 wurden 1,3 Milliarden Franken in das Tessiner Abwasserwesen investiert.
Das Tessin hat Jahrhunderte des Rückstands und der Unterdrückung hinter sich gelassen. Es konnte teilweise aufschliessen zu Kantonen mit einer langen Geschichte der Industrialisierung. Darum ist Armut ein so sensibles Thema im Tessin.