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Der andere Günther Rühle: "Ich suche mich, indem ich's hinschreibe." Vom fortschreitenden Verlust des Augenlichts gezeichnet und nachdem er die Vollendung des dritten Bandes seiner Geschichte des "Theaters in Deutschland" hat aufgeben müssen, beginnt Günther Rühle im Alter von 96 Tagebuch zu führen. Die Eintragungen, ein halbes Jahr umfassend, fangen im September 2020 an und enden im April 2021. Rühle bekennt in seinen Tagebüchern, dass er in gut siebzig Jahren publizistischer Arbeit und nach "zigtausenden hingetippten Sätzen von mindestens 900 Kilometern Länge" versäumt habe, über sich selbst nachzudenken. "Am Rand des Lebens" angekommen, horcht er nun in sich hinein: Im Selbstgespräch ist er sich selbst der Stoff und beginnt, ins "Blinde" zu schreiben, denn lesen kann er die Zeilen nicht mehr. Die Fragmente langer Tage und unruhiger Nächte schreiben sich in sein Tagebuch ein; verdrängte Gedanken und Gefühle, Eingebungen und Träume – "Bilder aus dem Dunkeln des Vergessens", in denen die Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg, den Nationalsozialismus ebenso eine Rolle spielen wie die Rückblicke auf seine journalistische Arbeit (FAZ, Tagesspiegel), die Arbeit als Theaterintendant und prägende Lebensbegegnungen (u.a. Bernhard Minetti, Martin Wuttke, Einar Schleef). Und natürlich immer gegenwärtig: das Nachdenken über das "Altern im Alter". Darf man noch gespannt sein auf die Zukunft, wenn man bei wachem Geist der "körperlichen Abrüstung" zuschauen muss? Eine endgültige Antwort gibt es nicht: "Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag." Der forschend aufspürende Theaterhistoriker ist diesmal sich selbst auf der Spur und muss in seinen Aufzeichnungen festhalten: "Ich treffe immer öfter auf einen Unbekannten, der doch Ich war."
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Seitenzahl: 295
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Günther Rühle
Ein merkwürdiges Tagebuch
Herausgegebenund mit einem Nachwort versehenvon Gerhard Ahrens
Günther Rühle
Ein alter Mann wird älter
Anmerkungen
Anhang
Editorische Notiz
Günther Rühle · Leben und Werk
Günther Rühle · Bibliographie
Nachwort
Gerhard Ahrens
Der andere Günther Rühle
Warum schreib ich das alles.Ich weiß nicht mehr, was ich schon alles geschrieben habe.In mir öffnet sich anscheinend so eine Art innerer Tresor.Ich war doch immer meine eigene Verschlusssache.g. r.
Mein merkwürdiges Tagebuch
Oktober 2020
November 2020
Dezember 2020
Januar 2021
Februar 2021
März 2021
April 2021
Vermächtnis
Anhang
Editorische Notiz
Günther Rühle: Leben und Werk
Günther Rühle: Bibliographie (Auswahl)
Der andere Günther Rühle
Ein Prolog
Auf einmal machte es RUMS. Da merkte ich, ich wurde doch 96. Bis dahin sagte ich immer zum Scherz: »Na ja, ich bin ja auch erst 96«, wenn einer sagte: »Sie sind ja ganz schön fit.« Als wäre man ein Bestaun-Objekt. Jetzt war der Punkt. Die abgestellte Baumaschine am Kreisel hatte unten noch Kanten, die ich nicht sah, jetzt war unten der Riss im Schweller. Teuerste Stelle. Der Entschluss muss in mir gewartet haben. Nie mehr Autofahren. Schluss nach 66 Jahren. Ich wurde ein Taxist. Ein gutes halbes Jahr saß ich fortan im Taxi hinten rechts, wo immer die Direktoren sitzen. Es war ein ganz neues Fahrgefühl. Herrlich. Manche Fahrer, ob kroatisch, tschetschenisch, machten einem die Tür noch auf beim Aussteigen. Man konnte noch in die Stadt, an den Geldautomaten, im Supermarkt einkaufen. Auswählen. Man war nicht im Ruhestand. Noch immer nicht.
Als Journalist muss man nicht in den Ruhestand, solang einem noch was einfällt und man noch schreiben kann, sogar noch Lust dazu hat und merkt, dass man gar nicht aufhören will und kann mit dem Schreiben. Man denkt erst beim Schreiben. Ich konnte noch schreiben. Den ganzen Tag. Ich war in eine Arbeit geraten, die noch lange nicht aufhören wollte und sollte. Ich bin ins Theater geraten, ich weiß nicht, wie. Das Warum beschäftigt mich jetzt, da ich stillgestellt bin. Ich las damals, blätternd in alten Theaterkritiken von 1897, und plötzlich funkte es. Ich hatte den Beruf eigentlich schon hinter mir, war sogar aus Berlin zurück. Da, als ich einen Bericht, von wem war der nur, las, wie der alte Fontane mit Paul Schlenther in die erste Aufführung der »Gespenster« ging, 1897. Eine Stunde später setzte ich mich an die Tasten und schrieb drauflos. Der Text eröffnete dann vier Jahre danach mein »Theater in Deutschland«, fast tausend Seiten, die sich fortsetzten und deren Ende noch nicht abzusehen war, als es RUMS machte. Da war ich sicher, der dritte Band könnte noch fertig werden.1
Das eben erhielt mich froh, zufrieden, ich gehörte nicht zu denen, die nach dem Ausscheiden aus dem Beruf in ein Loch fallen und ihre Ehefrauen mit ihrer Langeweile quälen. Bei uns war es eher umgekehrt. Als meine Frau, die unvergessbare Margret, mit 67 aufhören musste, jungen Menschen in der Schule gutes Deutsch und richtiges Englisch beizubringen, dankte sie mir eines Tages, dass ich sie beschäftigte, aus den inzwischen in Breslau aufgefundenen Kerr-Briefen ein druckfertiges Manuskript zu tippen.2
Ich muss einhalten. Wenn man so unfreiwillig in einen Ruhestand getrieben wird wie ich eben, wachsen und wuchern in einem längst vergessene und verdrängte, auch vertriebene Kräuter und Unkräuter der Erinnerung wieder hoch. Die Zeit baut sich zurück, die man doch verlassen hatte.
Der Rums mit dem Auto war nicht das einzige Zeichen, dass es Zeit werde, in ein neues Lebensalter einzutreten. Sich einzugestehen, dass man doch inzwischen gealtert sei. Sich als alter Mann zu begreifen. Ruhe geben. Das Alleinsein stürzt über viele zusammen, erdrückend. Über Vereinsamte stürzt sich Einsamkeit. Wie viele Anrufe kommen jetzt: »Ich will nur deine Stimme hören« – Illusion des Zusammenseins. Anrufe sind die Verkehrsmittel des Alterns.
Was hier an Buchstaben so dahinfließt, ist auf gut Glück ertippt. Ich kann den Text nicht mehr lesen. Es wird sich jemand finden, der die falschen Buchstaben rauskehrt und das Passende zusammenführt. Damit sind wir am Punkt meines Alterns. Das Schwinden der Sehkraft ist wie ein Raub. Fort sind alles Gold und Silber. Wer füttert fortan dich – fortan? Jetzt?
Ich hoffe, gefüttert zu werden bleibt mir erspart. Damit beginnt der Verfall. Man ist außer Kraft gesetzt.
Mich rüttelt immer schmerzend die Vorstellung, dass Walter Jens, auch Joachim Kaiser, in ihrer Demenz gefüttert werden mussten. Das waren doch souveräne, autarke, selbstbewusste Menschen, wachen Geistes, belebenden Denkens, bannenden Sprechens. Außer Dienst Gestellte zu Lebzeiten, der hohe Geist verloschen, ohne den Körper mitzunehmen. Man ist dann wohl eine lebende Hülle.
Wenn man jetzt eine halbe Stunde vor dem Haus auf und ab geht, man sagt noch immer »Spaziergang«, obwohl es keiner ist. Drüben im Wald, ja; aber hier flaniert man auf der Sicherheitsroute vor den Häusern der Nachbarn, die einen noch freundlicher grüßen und immer dieselbe Frage stellen: »Wie geht’s?« – obwohl sie doch sehen, wie es einem geht, Schritt für Schritt, und mit Stock. Zweimal am Tag 1299 Schritte, das ist zweimal ums Karree. Vor einem halben Jahr hat man die Schritte noch gezählt – Zählen ist eine Einübung ins Altern –, jetzt weiß man, wie viele es sind bis zu dieser oder jener Ecke. Und wie viele bis zur Haustür.
Die Krise, die mit dem Fällen der Birke vor unserem Haus, meinem Sturz, dem Tod von Monika Schoeller3 begann, scheint überwunden. Sie enthielt Wandlungen. Es stiegen die Gefühle des Alterns, das Verlangsamen der Bewegungen. Den Spaziergang zum Sportplatz musste ich aufgeben, der halbstündige Weg durchs Dorf wird mühsamer, zwingt zum Stehenbleiben, gestützt auf Onkel Heinis Stock. Im Haus ist die Bewegung normal, fühle ich mich jünger, aber das Bewusstsein der Jahre trifft mich immer wie ein Hammer. Ich weiß, ich lebe in glücklichen Umständen, schmerzlos, noch wachen Geistes, voller, wenn auch gedämpfter Arbeitskraft, finanziell sorgenlos.
Auch die Not, die mit dem Enden des Autofahrens kam, die Unbeweglichkeit, sich zu versorgen, ist gelöst. Delia und Dumitru sind wie liebende Verwandte, kamen vorhin im strömenden Regen mit den Lebensmitteln, die ich brauchte, weil Rewe wegen der Corona-Angst nicht liefert, kamen stolz und mit Freude.
Der Wechsel des Kardiologen hat sich gelohnt, Schüßler scheint alles in den Griff zu bekommen, ein neues Hörgerät haben wir bestellt, das alte wurde trefflich wiederhergestellt. So höre ich fast im Überfluss, nur die Augen verlassen mich. Die Ärztin in Kronberg sagt, keine Behandlung möglich, die Makula trocken. Ich hoffe, ich verliere das Sehen nicht. Das Lesen ist mühsam und wird von Tag zu Tag schwerer. Heute Peymanns Biographie, zwei Seiten eine ganze Stunde (gut, zu klein gedruckt), aber die Welt ist mir wie hinter Milchglas. Selbst mit Brille kann ich manche Überschrift in der Zeitung nicht mehr lesen. Brauche Vergrößerung in allem, auch im Willen zum Leben, damit die Anfechtungen, das Verlangen nach Schluss, wieder wegkommen.
Schon seit längerem merke ich, dass in mir eine merkwürdige Phantasie sitzt. Ich schlafe fest, erwache und sehe Personen im Zimmer, körperlich, neben mir, über mir, die sich nach drei, vier, fünf Sekunden auflösen. Wie Besucher. Vorhin schlafe ich vor dem Fernseher ein, bei einer Sendung über Mata Hari. Ich erwache, es kniet eine Art Zwerg vor mir und reicht mir etwas zu. Neulich, ich saß im Arbeitszimmer, im Sessel – Margrets letztes Geburtstagsgeschenk –, schlief, erwachte, hinter mir ein Geräusch, es löste sich eine große Person in langem weißen Mantel, kommt hinter meinem Rücken hervor, geht zur Tür, löst sich dort auf. Was war das? Ein Schutzengel? Vorgestern, ich erwache morgens, es ist schon hell, an der Decke des Schlafzimmers ein schwarzes, wohlgefügtes, mit Blumen umwundenes Kreuz. Zehn Sekunden etwa. Was ist das alles? Morgen muss ich über die »Iphigenie« von Peymann schreiben.
Die Krise war der Anfang des Endes. Ich sehe fast nichts mehr, musste vorige Woche alle Pläne für Vollendung TGIII4 aufgeben. Mit dem Verlag ist sicher, dass er das Buch machen will. Hermann Beil5 und Stephan Dörschel6 wollen weitermachen – großes Glück. Diese Zeilen werden geschrieben, bevor ich, auch nach langem Suchen, wo und wie, keine Mails mehr schreiben kann. Schlussbrief an Beil und Dörschel, ich weiß nicht, was noch wird. Ich torkle durchs Haus. Kann keine Uhr mehr lesen. Ich suche schon eine Stunde auf meinem Computer das Schlussstück zu TGIII. Das Denkmal, Steins »Faust«. Ich habe es wohl weggelöscht. Das war das Letzte, was ich noch konnte vor zwölf Tagen, dann dreimal umgeschrieben. Das Leben müsste längst weg sein, es ist eine Quälerei. Die Kräfte schwinden, man wackelt beim Gehen, erkennt nur noch die Konturen, Bewegung bald nur noch aus Erinnerung. Ich male mir alle möglichen Sorten von Suizid aus.
Nun ist es aus. Vor acht Wochen ging Schreiben und Lesen gerade noch. Drei Untersuchungen, trockene Makula, Altersdegeneration. Man ist wie abgeschnitten von seinem Leben. Ich bin jetzt – fast plötzlich – ein anderer. Ohne Zweck und Sinn. Wie einst, bevor man sich den Zweck beruflich zugelegt, dem auch einen Sinn zugelegt hat. Mein Zweck muss das Schreiben, der Sinn dessen Inhalt gewesen sein. Ich, der fröhliche Bub aus der Bäckerei Poths in Weilburg, bin im Theater gelandet, dort fixiert durch die Arbeit und die Meinung der anderen, Leser genannt. Wessen Geschöpf ist man? Das der Eltern, seiner selbst oder der anderen? So plötzlich außer Dienst, außer Funktion gestellt, lebt man nur noch für sich. Wird sich selbst das Ereignis des Tages. Was konnte ich vorgestern noch, gestern, heute. Nächste Woche wird man noch schlechter sehen, die Uhr nicht mehr erkennen. Man braucht das dritte Bein, das Wackeln beginnt, man braucht Hilfe und Hilfen. Heitere Einsicht (sehr vorübergehend), man hat noch eine Entwicklung. Wird Altersunternehmer. Wer putzt das Haus, macht die Wäsche, kocht. Die zunehmenden Reduktionen schaffen Bewegung für andere. Sinn, Zweck? Die Fragen von früher lösen sich auf. Fließen weg ins Überflüssige, ersetzen sich, werden gar wörtlich: Was wurde aus diesem und jenem? Wie kommst du durch? Redlich? Deutlich erkennbar? Verantwortlich oder unsicher, taumelnd, ziellos, schuldhaft? Warst du schäbig, was war falsch, was richtig? Die Fragen tropfen in einen hinein, rumoren. Hängt im Hintergrund noch immer das Jüngste Gericht? Lass das. Draußen kommt die Abendsonne.
Doch wieder aufgewacht, kräftiger, wacher als letzte Woche, obwohl man jetzt jeden Abend bittet, es möge die Nacht die letzte Gnade empfangen, möglichst sanft nachts wegschlafen. Das früh eingeübte Beten hat sich wieder eingeschlichen, das in dem Tagesbetrieb und seinem Freiseinwollen sich weggeschoben hatte. Wie ein verlorener Text krabbelte es aus dem seltsamen Computer unseres Gehirns wieder hervor, als das Danksagen begann, Dank für das Erstrebte, Erreichte, Gefundene, an wen? Denke nicht weiter. Wer oder was ist »Der Herr«? Du »entschläfst« dich mit dem Grübeln, raubst dir den Schlaf fast. Was ist das einsilbige »Ent«: Entbehren, entsagen, enttrümmern, entlassen, entbinden, entkräften. »Ent« bedeutet dem Wort, was es sagt. Will man denn nicht schlafen, obwohl man den ewigen Schlaf sucht? Ein »du entschläfst«, der Euphemismus für »entleben«. Es gehört zu den heimlichen Milderungen, mit denen wir entschärfen.
Von wegen entschlafen. Es trieb mich nach der Rasur in neuen Schlaf. Wir können uns nicht entschlafen, es entschläft uns. Müßige Qual der Gedanken. Sie bohren sich in den Kopf, das kommt immer öfter. Versprechen ist auch sowas. Es erhalten. Wenn man anfängt, kommt man aus dem Gedankendreh schwer wieder raus. Verschwendete Zeit. Wenn die Augen sich von ihrem Dienst zurückziehen und alles neblig wird, auf der Straße wie im Wohnzimmer, fällt man in sich selbst zurück, in den Wust nicht verarbeiteter Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Erst wundert man sich, wo das herkommt, dann staunt man, was da kommt, wie man lachen musste, als der Vater die Treppe runterfiel und man nachher die Dresche bekam. Fast spürt man sie wieder und hört sich rufen: »Hör auf, ich habe es doch nicht böse gemeint.« Man sieht auf einmal in die andere Zeit. Achtzig Jahre zurück, wenn die Augen verlöschen, der Leib vergeht, wo bleiben dann die Gedanken. Wieder so ein Drehwurm. Ich musste raus aus dem Sessel und draußen die tausend Schritte gehen, die ich jetzt einübe.
Ich treibe in eine Landschaft voller Nebel. Er wird von Morgen zu Morgen dichter. Ich habe schon ein eigenes Mess-System. Wie viele der kleineren Fliesen im Bad sehe ich noch. Ich verliere die Kontrolle über die Zeit. Die Uhren im Haus versinken im Nebel. Noch reicht es für die Stufen der Treppe. Wie lange noch? Ich lebe immer mehr von den eingeübten Wegen, Schritten. Ich messe Räume und Entfernungen immer mehr aus Einübung und Wohlgefühl. Gestern Abend war ich fast verzweifelt, kam mit der Kassette von dem Lautsprecherturm von Braun, dem Renommierstück von vor vierzig Jahren, nicht mehr zurecht. Die Dinge, die wir machen, haben eine andere Lebenszeit als wir selbst. Schreibt man deswegen Bücher, um sich über seine Zeit hinaus zu erhalten? Meine Absicht war das nie. Ich lebte aus der gegenwärtigen Lust am Schreiben, aus der täglichen Forderung. Wenn es in der Redaktion mal knallte, sagte ich im stillen Trotz oft: »Ich werde euch alle überleben«. Das war Übermut, nun ist es so, und man will raus aus diesem Leben. Das Fallenlassen ist auch ein schönes Gefühl. Leise Wonne im Übergang: anderswohin. Dann rebelliert der Rest des Lebenswillens. Plötzlich singt man laut ins leere Haus, in dem die Vergangenheit stillsteht:
»Heidewitzka, Herr Kapitän« — oder noch jugendlich frecher: »Heidewitzka, mein Mann ist krank, er liegt besoffen unterm Kleiderschrank.«7 Man erschrickt vor sich selbst. Wie sagt Goethe: »Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht. Es findet uns nur noch als wahre Kinder.«8 So oder so ähnlich. Ich kann es nicht mehr nachschlagen. Man kann nur noch in seinem Kopf lesen, Bücher gehen nicht mehr. Adieu Zitatenhort von vier Generationen. Google weiß es wohl, aber selbst da ist jetzt alles im Nebel.
Die Nachtruhe hat den Augen nichts gebracht, eher den Nebel verdichtet. Das Üben hier wird schwer, ich muss die Buchstaben auf der Tastatur schon suchen. Es handle sich um Netzhautablösung. So steht es jetzt im Bericht. Gottlob habe ich morgen Termin bei Frau Schmidt. Ich soll den Frankfurter Bericht mitnehmen. Hoffentlich finde ich ihn.
Die tausend Schritte vor dem Haus gehen. Meine rumänische Lebenshilfe, Krankenschwester oben in der Rehaklinik, ist krank. Wer hilft mir?
Ich jammere mich nicht ins Unbekannte. Ein Dutzend Mal am Tag auch die Namen meiner Toten und noch lebenden Nächsten. So belebt man sich künstlich den leeren Raum um sich, übt wenigstens die Stimme. Mein Sprechen wird immer holpriger. Man schweigt fast den ganzen Tag. Manchmal entdeckt man sich in Selbstgesprächen. Man kommt sich komisch vor, wenn man sich entdeckt. Es bleibt das Telefon als Übungsgerät, man ruft die sechs, sieben Menschen an, die einem noch nah sind, zu Gesprächen, die mit dem immer schon fünfmal Gesagten enden und in guten Wünschen. Gestapelt füllten sie schon das halbe Haus. Es ist also noch etwas Platz.
Der Anteil der Eisware an meiner Ernährung wächst, das Kochen mindert die Lust wegen dauernder Wiederholung von Bratwurst mit Kartoffeln und Salat.
Ich war für mich interessiert, nicht an mir.
Ich denke, meist samstagabends, wenn ich mich langlege: wieder eine Woche weg, eine Woche näher am Exitus, den man oft will und oft nicht. Letzte Woche noch. Aber nicht jetzt. Jetzt nicht! Die Gefühle lösen einander ab. Morgens in sich gespalten, wünscht man sich das Ende und greift noch nach dem Leben. Zweimal und oft am selben Tag.
Ich wollte von der Zauberbrille erzählen, die man mir zu verpassen sich anschickt …
Es ist nun sicher: Der Umbau beginnt. Ich komme von der wunderbaren Augenärztin zurück, der zwei hochrenommierte Fachkollegen ihre Diagnose bestätigt haben. Richte dich ein in dem beschädigten Zustand. Trockene Makula, keine Hoffnung für das linke Auge. Dreimal die gleiche Diagnose, das muss reichen. Es hilft weiter nur die Brille mit der Kamera, die die Texte, die ich lesen will, fotografiert, in Sprache umsetzt und mündlich berichtet, was sie liest, und ich das hören kann, was ich mit den Fingern benannt habe. »Sie müssen das tüchtig üben.« Üben und sogar tüchtig. Noch ein Apparat und einer ganz neuer Art. Blinde Studenten sollen damit sogar das Examen geschafft haben.
Es fing vor fast 50 Jahren an. Statt der Zähne: Implantat. Dann die Brillen, drei Stück, für Ferne, Nähe und den Computer. Dann musste das Herz gestützt werden. Zwei Stents und ein Herzschrittmacher. Jetzt also dieser Apparat. Sehe hörend, wohin du nicht siehst. Denn man muss den Kopf etwas schräg halten, mit dem rechten Auge knapp am zu lesenden Text vorbeigucken, damit die Kamera, die dein Auge ist, lesen kann. Werde ich die Geduld haben, ich kämpfe seit Jahren schon mit den Einstellungen auf dem Computer. Das Angebot ist reichlich, der Irrtum unausweichlich. Man kann sich schon einen künftigen Menschen vorstellen, der aus lauter Ersatzteilen besteht. Mit eigenen Olympischen Spielen. Mich schauderte interessiert; wenn ich die Anfänge bei den Paralympics noch sehen könnte. Die Brille, die mir zuwächst, ist nichts fürs Fernsehen. Es bleibt mir eine akustische Erregungsstation. Meine Zukunft wird sichtbar im Verschwinden des Sichtbaren.
Eben brachte die Post das neue Buch von Bernd Feuchtner über »Die Oper des 20. Jahrhunderts in 100 Meisterwerken« – munter, freundlich und höchste Kompetenz bewahrend. 1992 habe ich ihn als Musikkritiker an den Tagesspiegel geholt. Da begann seine Karriere. Ein zarter, freundlicher, gescheiter, empfindsamer Mann. Das wollte, sollte, könnte ich lesen. Ich habe großen Nachholbedarf in Sachen Oper. Aber mit 96 bleibt das Meiste beim Wollen. Es gibt eine merkwürdige Lust zu denken: »Ich könnte« – auch wenn man nicht kann. Möglichkeiten sind der Saft der Hoffnung. Und die Hoffnung eine andere Art des Atmens.
Man lebt in Zusammenhängen, die man erst später begreift. Ich habe von Alfred Kerr nicht das Kritikenschreiben erlernt. Ich kann auch aus vielen seiner Kritiken die Aufführungen nicht mehr erkennen, auf die er sich bezieht. Mich traf seine Sprache, die bewusste Form von Kritik, das Absolute, selbständige Gegenüber, diese sich selbst setzende Kompetenz, die sich in hoher, leidenschaftlicher Rationalität bestätigte, die Sinnliches auf den Begriff brachte. Die Kunst der Verkürzung, die Zuspitzung in der Pointe, die einen traf wie ein Blitz. Also das Besondere, Einmalige, das niemand anderes konnte. Die Sprache, die sich als Sprache, als der geschärfte Gedanke zur Wirkung brachte und in den Theaterkritiken die äußerste Konzentration vorwies als Schärfe eines lebendigen, souveränen Intellekts.
Noch etwas anderes. In der Beschäftigung mit der Literatur des deutschen Exils, mit der Wiederherstellung und der Abbildung der Literatur, fühlte ich eine Zäsur, sah ich die Lücke. Die Lücke hieß Kerr. Er war nicht vergessen, mit seinen Kritiken in der Erinnerung auch richtig positioniert, aber die Breite seiner Wirkung war nicht mehr präsent. Die Weite seiner Interessen, seiner Themen, seiner Bedeutung war neu zu erschließen.
Wir brauchten die Neubesichtigung von Kerr, seiner Arbeit, seiner Person, seiner tragischen Geschichte. Eine neue Ausgabe sollte das alles sichtbar machen. Die Suche begann. Wer will das? Die kühne Gerda, die den blauen Mantel immer so theatralisch über ihre Schulter warf, in der Hertziana in Rom geschult, im Verlag S. Fischer bekannt geworden, hatte in Zürich eine eigene Literarische Agentur begründet. Zu ihr brachte ich Kerr: »Such einen Verlag!« Von vielen Gängen kam sie mit einem »Nein« zurück. Rowohlt, Suhrkamp, Hanser waren dabei. Kerr? In Berlin hatten sie unvermutet keine Bedenken. Es war noch vier Jahre vor der Wende, in West-Berlin plante man noch für den Westen. Der Tagesspiegel hatte eine Stiftung, die Geld hatte. Aus dem Geld sollte ein Verlag werden, Argon hieß er. Berlin, Zwanziger Jahre. Dahin, in diese Nische kam Kerr. Es war ein Anfang. Es war ein Glück mit Enttäuschungen, Zerwürfnissen und dem Schrumpfen meiner Hochachtung vor deutschen Professoren. Herr Poll war schon in einem vorbereitenden Gespräch mit einem Professor für eine Kerr-Ausgabe.9 Wir teilten die Arbeit. Als die ersten Bände erschienen, waren die neuen Bände voll von einst schon gedruckten Texten. Die Anmerkungen hatten etwa diese Qualität: »Goethe, Wolfgang, deutscher Dichter, lebte in Weimar«, so ungefähr. Das war der Anfang aller Trennungen. Die gehören in die Verlagsgeschichte. Ich wollte nur berichten, dass es doch schwierig war, wieder darzulegen, dass Kerr mehr war als ein Erinnerungswert. Die Ausgabe der Kerr-Schriften wuchs auf acht Bände. Doch schließlich bei S. Fischer. Weil Argon in der Wende Pleite ging und im Fischernetz landete. (Ich musste Reich-Ranicki zu Hilfe rufen.) Kerr, der S. Fischers Gründer einst tüchtig genährt hatte, hatte eine bösartige, auch lyrische Grummelei mit Thomas Mann. Mann war der neue Hausheilige bei S. Fischer. Aber es klappte.
Ich sehe mit Wehmut auf die acht Bände drüben im Regal. Die Kerr-Geschichte ist damit nicht zu Ende.10 Ich berichte, wenn ich wieder eine Erfrischung brauche.
An wie vielen der herrlichen Tage dieses rosenblühenden Sommers hat das Schwinden der Hoffnung die Stunden verdüstert, den Lebenswillen verkürzt. Das dauernde Zucken in den Beinen, das auch durch Erhöhung des Anteils von dem Tablettensalat, der morgens zugereicht wird, nicht weichen will, reicht dann schon für die Verdüsterung. Wie froh, er und die Maschine aus Fleisch und Wasser liefen bis zum Abend. Reisedurstig ist man früher in den Tag aufgebrochen – warum schreibe ich immer »man«, wenn ich »Ich« meine –, und die Biomaschine aus Fleisch und Wasser lief bis zum Abend und machte selbst am Abend »noch einen drauf«. Also so eine Formulierung, die mir eben in den Schreibcomputer läuft, hätte man vor wenigen Jahren noch nicht aufs Papier gebracht. Man / Ich dachte immer sehr hoch von dem Wunderwerk, das der Mensch ist, aber nun, wo es dauernd heißt: »Sie müssen mehr trinken, mindestens zwei Flaschen am Tag«, lernt man anders begreifen. Das Selbstverständliche wird ungewiss, das Klare undeutlich. Das Gewisse fraglich, der Gang wackelig. Selbst mein Orthopäde, der hilfsfreudig Schmerzen im Bein mit Telefon-Diagnose wegkriegt. Formel: »Wasser trinken!« Es hilft, man muss aus solchen Stimmungs-Heimsuchungen erlöst werden, sonst trudelt man in die Abgründe herbeigedachter Selbstvernichtung hinab. Man hat dabei schnell ein ganzes Paket von Möglichkeiten, man malt sich aus, wie – vier Vorstellungen brennen in mir, ich wage sie nicht zu benennen. Der Sturz kopfüber, dass unten das Genick bricht, ist noch das Friedlichste. Da hat die Möglichkeit die Hoffnung, dass der Hals bricht. Es gibt wollüstige Gedankenspiele der Selbstvernichtung. Vorsicht mit den Wörtern, die das Ende hart benennen.
Thomas Bernhard brachte die »Selbstauslöschung« in Umlauf, er hat die Sünde aus dem Wort genommen, er hat selbst nah am Tod gewohnt. Wenn man ins Nachdenken kommt, was das Leben, was der Körper ist und die Regungen und Empfindungen in diesem Paket aus Fleisch und Wasser, kann man das Thema nicht länger unterdrücken. Es drückt sich hoch durch alle Fröhlichkeit. Warten wir, wann es kommt, wiederkommt. Es hat sein eigenes Erfolgsbedürfnis.
Ich war wieder auf der Strecke. Das sind die hundertfünfzig Meter vor meinem Haus nach links, leicht ansteigend, und zurück sind dreihundert. Wenn ich das viermal »auf drei Beinen« mache, habe ich gut tausend Meter, 1200 Schritte. Abends mache ich das mit Dumitru. Im Karree gehen ist eben mein Bewegungsraum. Allein wage ich’s nicht mehr. Wie entdeckten wir die Wege durch den Wald, als wir vor vierzig Jahren hierherzogen, liefen in die Taunusfelder, zwei, drei Stunden. In den Ferien im Schwarzwald einmal sogar sieben Stunden, oben in Saig, wo Benno Reifenberg, Friedrich Sieburg und der skurril wunderbare Herbert Küsel nach dem Krieg die anspruchsvolle Die Gegenwart machten, die später in der F.A.Z. aufging, weil deren Gründer Erich Welter unbedingt Sieburg einkaufen wollte. Die Weite der Wege bezeichnet noch die jeweilige Lebenskraft. Wie lange ging ich noch über das Viereck oben am waldnahen Sportplatz. Ich habe da Kraft geholt, Gedanken, Einsichten gefischt in die Geschichte. Wege schrumpften fast auf null, wie die Arbeit am Band. Der Weitblick von einst reicht noch für fünf geparkte Autos am Straßenrand.
Als ich also vorhin von der »Strecke« heimkam, dachte ich an den gestrigen Fernsehbericht über Magellan, den Seefahrer, der sich durch die wilden Wasser am Ende von Südamerika, wo die beiden Meere zusammenstoßen, durchbiss. Ich war mal da unten im Süden Chiles, Vortrag Goethe-Institut, über das neue deutsche Theater, es war in der Spitzenzeit von Peter Steins »Groß und klein« und »Orestie«. In Chile. Welche Strecke. In der Wand meiner Bücher vor mir steht Stefan Zweigs Biographie über Magellan. Wollte ich immer lesen. Ich habe so viel Ungelesenes mitzunehmen, wenn ich ins Jenseits abreisen muss. Ich trauere jetzt schon um meine Bibliothek. Sie enthält so viel Vergangenheit. Von Kin Ping Meh und Homer und Anaximander an und mit Hebbel, Ibsen, Strindberg ist es noch nicht zu Ende. Alles gesammelt, geordnet für den Ruhestand, der erst jetzt von den Augen erzwungen wird. Schleefs Tagebücher waren das letzte Satz- und Schmerzgebirge, das ich durchkletterte. Was war das letzte, was die Augen lasen? Nochmal »Frau Jenny Treibel« von Fontane. Auf dem Nachttisch liegt seit fünf Jahren Handkes »Tage und Werke«. Das Lesezeichen sagt nach zweieinhalb Seiten, hier könntest du weiterlesen. Es liegt nicht nur am Können. Wenn früher, als ich noch geselliger sein konnte, Besucher kamen, war immer die erste Frage: »Haben Sie das alles gelesen?« Ich sagte dann oft mit ernstestem Ton: »Natürlich nicht. Ich vertraue auf Osmose.« Das war nicht nur ein Scherz. Es gibt sowas. Man lebt mit Büchern zusammen und hat oft das Gefühl, ich weiß, was da drinsteht, obwohl man vieles noch nicht einmal durchblätterte. Anscheinend bin ich ein Sammler. Es gibt einen Bildungstrieb, der sich durch Sammeln befriedigt. Vielleicht bin ich so einer. Vierzig Bände Strindberg, die ganze lange Gelbe Reihe. Sicher bin ich so einer. Sicher hat mich auch das Theater der schönen und gelehrten Literatur entzogen. Als ich die Theaterintendanz in Frankfurt begann, da war ich noch jung, erst 61, und hatte mich in dem vornehmen Club in der Siesmayerstraße einzuführen in die Frankfurter Gesellschaft. Vortrag, Diskussion. Es wurde bald sehr belebt, denn Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« war angekündigt. Ich wurde des Antisemitismus verdächtigt. Ein Satz hält sich in meiner Erinnerung. Er kam von Frankfurts zu rühmendem Buchhändler Cobet. Er war ein fast übergelehrter Mann. Er konnte sich nicht enthalten zu konstatieren, ich sei »partiell dumm«. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Mich hat ein Leben lang das Verlangen nach mehr an Tun und Wissen, nicht nach Geld getrieben. Mich treiben die Defizite. Ich sah vor mir immer zu begehende Strecken. Ich denke an Magellan. Die meine beträgt jetzt viermal dreihundert Meter, zweimal täglich. So nimmt man auch Tabletten.
Kurz nach zwei heut Nacht hat mich wieder die Wut gepackt: kein Wecker hat das bisher vermocht. Der jetzt zum fünften Mal. Freilich nicht kurz nacheinander, mit einwöchigen Ruhepausen dazwischen, also anscheinend kalkuliert. Dieser Wecker hat anscheinend einen Wecker drin, der ihn weckt. Es ist der sechste, den ich in den letzten fünf Jahren erhalten habe. Der erste war ein ganz graziles Ding, aber eines Nachts, unverstellt, plötzlich so laut, dass ich ihn im Erwachungsschreck vom Nachttisch warf, sodass seine zarte Glashülle zerbrach und der große Zeiger ausklinkte. Dann bekam ich einen Wecker alter Art, großes Zifferblatt, zwei Silberglocken auf den runden Schultern mit einem Schlegel dazwischen; wenn der losraste, musste man raus. Das nächste Modell war ein geschmeidig formschönes Produkt mit leuchtenden Ziffern. Er musste mich nur einmal wecken, ehe die Leuchtleiste brach. Dann als Ersatz ein Kunststück der Technik. Schwarz mit vielen Tasten, schwenkbarem Leuchtstrahl, der an der Zimmerdecke in Rot die Uhrzeit anzeigte. Man musste sich also nicht mehr drehen, halb aufstehen. Eine Erfindung außergewöhnlicher Art. Ich musste ihn, ohne sein Weckwerk benutzt zu haben, ersetzen, weil ich die Zahlen an der Decke nicht lesen konnte. Das war das erste sichere Zeichen, dass meine damals noch nicht ahnbare, jetzige Augennot begann. Man brachte mir den fünften. Schon bei der ersten Ansicht waren die Zahlen zu klein. Als sich so die Schwierigkeiten der Beschaffung und Nutzung von Weckern erwiesen hatten, haftet jetzt nachts leuchtend auf der ausgeschalteten Heizung im Schlafzimmer die ultimative Uhr, die sozusagen heimlich, also in sich, eine Nachtbeleuchtung enthält. Die Zahlen, die die Zeit bedeuten, jede zwölf Zentimeter groß, sind weit sichtbar noch hinter dem leeren Bett, dem von Margret einst.
Wir alle haben in uns eine innere Uhr. Man kann schätzen, erfühlen, wie weit der Tag, die Arbeitszeit rum ist, wann die immer goldgekämmte Judith Rakers ihre Abendnachrichten beginnt. Wenn die Zeiten der inneren und der äußeren Uhr identisch sind, gibt es Glücksgefühle, wie gut, wie treffsicher es funktioniert hat. Man fühlt sich einen Augenblick als Herr der Zeit. Man, ich empfinde das auch schmunzelnd einverständlich, wenn der Wecker mir wohlgesinnt ist oder gar kokettiert, wenn er gerade die gleichen, sofort aufeinander folgenden drei oder vier Zahlen präsentiert. 12:34 Uhr zum Beispiel gibt es einmal am Tag. Das beim Aufstehen zu treffen ist schwierig, aber kommt vor, Glücksmomente. Ich spiele nachts gern mit diesen Zahlen. Aber der grimmige Zorn von heute Nacht kam daher, dass um 2:40 Uhr der Wecker 03:40 Uhr anzeigte. Wollte der mich ärgern, auf den Arm nehmen? Da kommt man auf die grundlegende Frage: Braucht man mit 96 noch einen Wecker? Muss man noch zum Flughafen, Bahnhof, Taxi? Zur Frühkonferenz um acht? Ach so, gestern Abend sagte meine Rumänin, bevor sie ging: »Nehmen Sie morgen früh die neuen Tropfen, stellen Sie sich den Wecker.«
Ich war immer ein wacher Mensch, schlief gern und gut, war aber ruckzuck auf. Mich hatte die Lust am Buch gepackt, an einer eigentlich unmöglichen Arbeit. Aber morgens um halb fünf war’s aus. Ich hatte Zeit bis Viertel nach sieben. Da musste das Frühstück fertig sein, die Frau musste zur Schule. Dann war noch mal frei für zwei Stunden. Um zehn dann ab in die Redaktion. Warum fällt mir das jetzt ein? Ich führte mich eben vorsichtig die Treppe hinab, sie ist breitstufig, bequem zu gehen – man grübelt immer, ob man da stürzt und mit welchen Folgen –, um zu schreiben, wie dieser dunkle Morgen die Schlafsucht verlängert. Und da setzt man sich hin und schreibt was ganz anderes. Der erste Satz ist wie ein Startschuss. Warum so anders auf einmal. Weckt die Treppe, löst sie die Glieder? Ich bin seit Tagen schwanger vom Verlangen, was anderes zu schreiben, wo man keine Studien braucht, die Augen nur für die Tasten wach sind. Das Verlangen nach aktiv sinnvoller Arbeit plagt einen also bis ins hohe Alter. Da fällt mir der Anfangsanfang von allem ein. Das ist überraschend neu, was da kommt. Viele haben gerufen, aber ich habe mich immer gewehrt gegen eine Biographie. Ich war mir nie interessant, oder nur soweit, mir neue Aufgaben und Themen zu suchen, um mich am Schreiben zu erkennen. Jetzt, wo es nichts mehr zu tun gibt, die eigene forschende Arbeit aufgegeben werden muss, drängt sich Erinnerbares wieder in den Kopf.
Also morgens halb fünf. Ich war fünf Jahre bei der Zeitung, meine Theaterkritiken wurden häufiger, eines Tages kam ein Anruf von Rudolf Hirsch, damals Direktor vom S. Fischer Verlag. Hirsch war ein hochgebildeter, zarter, leiser Mensch, schwärmend hingegeben an Hofmannsthal.11 Er wollte von mir ein Panorama des modernen Theaters, eine Sammlung von und für Theatrasten. Ich wollte nicht. Theater hat für mich mit Theorien nichts zu tun. Man kann im Methodischen streiten. Es gibt keine Theorie des Theaters, außer was es ist: Spiel. In den höchsten Momenten ein Schöpfungsakt. Die Zuschauerlust, Geber und Empfänger. Mit Theorien kommt man nicht an die Lebenskraft des Theaters. Ich machte Hirsch einen anderen Vorschlag. Ein Buch zu machen über das Theater der Zwanziger Jahre. Man sagte damals noch »Goldene Zwanziger Jahre«. Die waren nicht golden, glänzten nur manchmal so. Hirsch war ein Kind jener Zeit. In diesen zwanziger Jahren zerbrach das Jahrtausend. Die alten politischen Reiche, die Kirchenmächte, Glaubenswelten waren zerbrochen, man suchte Bauteile für eine neue Welt. Ich war mittendrin in diese Welt gekommen, ich schrieb jetzt Kritiken in der wichtigsten Zeitung, ich musste wissen, was geschah, wie man reagierte, wie man schrieb. Ich stürzte mich in diese Arbeit. Das daraus entstandene Buch ist ein Denkmal einer kurzen Epoche geworden. Damals setzte sich in mir fest, was mich dann begleitet hat bis heute, der Zusammenhang von Theater und Zeit.12 Egal wie es ist, es entsteht aus der Zeit für die Zeit. Deswegen morgens halb fünf. Wenn ich jetzt um halb fünf wach werde, zähle ich die Stunden, die ich noch schlafen kann. Und nach dem Frühstück kommt noch der Morgenschlaf. Lebensmüdigkeit ist auch eine körperliche Wahrheit.
Ich war im Beruf immer im Betrieb, Zeitungsmenschen kennen kein ruhiges Wochenende. Veranstaltungen, Termine, Sonntagsdienst. Ich war immer froh, wenn ich mal allein war. Das Alleinsein jetzt ist eine Plage. Sind allein und einsam identisch? Bin ich einsam und / oder allein? Ich werde dem nachspüren, aber nur keine Grübelei. Grübeln zerfrisst einen. Ich lechze nach Aufgaben, aber wo gibt es die noch. Mir fehlt meine Arbeit jeden Tag mehr. Mein Text der Theatergeschichte, den ich abgeben musste, hängt noch im Computer. Ich musste heute zum sechsten Mal aufgeben, ihn zu lesen. Die Vergrößerung auf 28 Punkt hält man nicht durch. Das Erkennen strapaziert Augen und Hirn. Ich muss selbst die Versuche aufgeben, den Buchstabensalat, den ich hier im Drauflosbenutzen der Tasten anrichte, zu kontrollieren. Ich spür jetzt auch schon eine sich einschleichende, eine wachsende Scheu, einige der fertigen Stücke noch mal zu lesen. Die Selbstkritik ist erbarmungslos, sie verlässt einen nicht, und vorgelesen werden meine Sätze sicher andere, als sie geschrieben sind. Ich nannte sie abgekürzt TGIII. Ich möchte jetzt rufen, laut, dass es hallt: »TGIII, komm zurück.« Auch das Begriffene schmerzt. Die Sache ist in guten Händen. Ich bin auf der Suche nach Zufriedenheit und Heiterkeit. Vielleicht finde ich morgens etwas, was den Tag leicht macht.
Jetzt bin ich entsetzt, die besseren Gefühle sind dem Erschrecken gewichen. Ich bin an meine bisher geschriebenen Texte geraten, mache Stichproben, ob man das so machen kann, hoffte auf Bestätigung. Ich habe versucht zu lesen und viele Sätze und Wörter nicht mehr verstanden. Die Augen dicht vor dem Bildschirm, um noch was zu erkennen, und ich erkannte, dass das Drauflosschreiben manche Texte zum Gestrüpp macht. Cora war heute Morgen da und sagte, sie nimmt die Ausdrucke mit und korrigiert oder schreibt neu. Ich kann ihr das gar nicht zumuten. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen. Der Verwirrer flotter Sätze bin ich. Das heißt: Mein lebenslang geübtes Zweifingersystem, das in den gut siebzig Jahren zigtausend Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge hingetippt hat, ist nicht mehr treffsicher. Selbst wenn die Finger nicht zittern, ich hau daneben. Statt einem G ein F oder ein H oder V oder ein T. Jeder Buchstabe hat mindestens zwei, meistens vier Nachbarn. Ich werde ein Hersteller von Wortsalat.