Ein anderer Horizont, ein anderes Leben - Hannelore Deinert - E-Book

Ein anderer Horizont, ein anderes Leben E-Book

Hannelore Deinert

0,0

Beschreibung

Nach einem traumatischen Erlebnis in Afghanistan quittiert Gerry den Dienst an der Waffe, er sieht keinen Sinn mehr darin. Seine Freundin Jasmin, die er in Deutschland während eines Krankenaufenthaltes kennengelernt hat, besucht ihn und seine Familie in Kansas, wo diese eine Ranch betreibt. Als ihre Herde bei Nacht und Nebel gestohlen wird und man die Viehdiebe verfolgt, darf Jasmin, die sich als gute Reiterin erweist, mitkommen. Lakota heißt in der Stammessprache der Komantschen Fels. Lakota war ein Fels, der Halt und Schutz geben konnte. Als seine Schwester, die unter seinem Schutz stand, ermordet wird, lebt er nur noch für die Rache. Er muss ihren Mörder finden. Schicksalhaft kreuzt sich Jasmins Weg mit dem seinen. Nachdem sie in Deutschland ihr Studium beendet hat, fliegt sie zurück nach Kansas, um Lakota zu suchen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Jasmin und Gerry

Schwindendes Vertrauen

Ethele und Justus

Bittersüß ist die Rache

Der Mensch ist keine Insel

Als der Häuptling sah, dass sein Volk des Kampfes müde war und verzagt, führte er es in die Berge, in ein verborgenes Tal, wo es klares Wasser und grüne Weiden gab. Dort konnte es bleiben, bis zu dem Tag, an dem es sich erholt haben wird und Manitu sie zur alten Stärke zurückführen würde. Er selbst hatte es versucht, so viele Jahre hindurch, jetzt war er alt und ohne Hoffnung.

Jasmin und Gerry

Jasmin Wissmann wuchs im Rodgauer Land, im beschaulichen Örtchen Jügesheim auf. Sie war das erste Kind ihrer Eltern, wohlsituierte, angesehene Leute. Ihr Bruder Bertram erblickte ein gutes Jahr nach ihr das Licht der Welt.

Schon im Babyalter konnte man sehen, dass die Geschwister nicht unterschiedlicher sein konnten. Während Jasmin von Geburt an klein und zart war, dem Charakter nach aber ganz der Vater, trotzig und bestimmend, war Markus bemerkenswert unaufgeregt, hielt dabei aber seine Eltern und Umgebung mit seiner gutmütig tollpatschigen Unternehmerlust in andauernder Hochspannung.

Die Eltern vergötterten ihre Kinder und förderten sie frühzeitig, indem sie ihnen witzige Lehrhefte und Märchenkassetten in Englisch kauften. Wenn es später in der Schule hakte, engagierten sie Studenten für Nachhilfestunden, was vor allem dem überaktiven Markus, der nicht viel vom Lesen hielt, zugutekam. Die Kinder durften Reiten lernen und im Urlaub an Frankreichs Westküste, wo die Familie einen Wohnwagen stehen hatte, das Surfen. Mit sechs Jahren ging Bertram in ein Judotraining, was seinem Naturell sehr entsprach, und Jasmin zum Kinderturnen, schließlich in ein Leistungsturnen. Im zarten Alter von acht Jahren lernte sie Geige spielen. Obwohl die nervigen Quietsch-Töne, die sie anfangs ihrem Instrument entlockte, den Bruder vertrieb und die Anverwandten zum Kauf von Ohrkapseln anregte, waren die Eltern von ihrem Spiel zu Tränen gerührt. Immerhin durfte die niedliche Kleine bei einem Weihnachtskonzert ganz vorne auf der Bühne sitzen, was ein allerliebstes Bild abgab und die anwesenden Zeitungsschreiber zum fleißigen Fotografieren anregte.

Als Teeny lenkte sie gewöhnlich bei Geburtstagsfeiern oder Partys mit einem Outfit, das sich an keinen Trend halten wollte, das hellbraune, seidige Haar zum schwungvollen Pferdeschwanz gebunden, die Aufmerksamkeit und neidische Anerkennung der Freundinnen auf sich, zumal die Jungen bei ihrem Erscheinen erst richtig munter wurden. Jasmin provozierte gern mit zum Beispiel knallroten Stiefeletten und gewagten Miniröcken. Wenn sie sah, dass man über sie redete und tuschelte, amüsierte sie das.

Jasmin schien vom Glück besonders begünstigt zu sein, alle Türen schienen sich wie von selbst für sie zu öffnen.

Nach dem Abitur wollte sie in Frankfurt an der Goethe-Universität Sportphysiologie studieren. Obwohl kaum Ein-Meter-Sechzig groß, brachte sie den Willen, den Ehrgeiz und die körperliche Voraussetzung dafür mit, schließlich hatte sie von klein auf geturnt, gesurft und lange in einer Tanzgruppe getanzt, die nötigen Praktika hatte sie schon während der Gymnasialzeit absolviert. Dem Studium stand also nichts im Wege, außer dass kein diesbezüglicher Studienplatz frei war.

Um die Zeit bis zum Einstieg in das Studium zu nutzen, entschloss sich Jasmin, für ein paar Monate nach Neuseeland zu reisen, eine frühere Klassenkameradin wollte sich ihr anschließen. Die Wissmanns waren alles andere als begeistert von den Plänen ihrer Tochter, aber Jasmin schob all ihre Argumente rigoros beiseite. Sie sei schließlich achtzehn Jahre alt, meinte sie, also volljährig, und das angesparte Geburtstags- und Weihnachtgeld der Großeltern und Verwandten würde für den Aufenthalt auf der Insel ausreichen. Die Eltern mussten nachgeben, also besorgte Herr Wissmann für seine Tochter, als Belohnung für das gelungene Abitur sozusagen, den Flug nach Auckland mit flexiblem Rückflug, und ein modernes Mobiltelefon mit integriertem Fotoapparat, dazu ein Ladegerät, damit sie sich jederzeit melden und er ihr, Herr Wissmann, wenn nötig zu Hilfe eilen könne.

Am Frankfurter Flughafen schauten die Eltern ihrer Tochter nach, wie sie mit ihrem Rucksack, der ihnen viel zu schwer und zu groß für die kleine Person erschien, durch die Sperre ging und, noch einmal munter zurückwinkend, inmitten der anderen Fluggäste verschwand.

Sechs Monate hörten sie zu ihrem Leidwesen kaum etwas von ihr, Jasmin vergaß schlicht, sich zu melden. Sie joggte allein durch das Land am anderen Ende der Welt, denn ihre Freundin hatte bald Heimweh bekommen und war zurück nach Deutschland geflogen.

Auf der Nordinsel lernte sie die Maoris kennen und achten, sie lernte, je höher ihr Rang, desto kunstvoller und üppiger waren ihre Körper tätowiert. Jasmin ließ sich, um ihnen ihre Wertschätzung zu demonstrieren, einen kleinen Schmetterling auf das linke Schulterblatt tätowieren, was gut bei ihren neuen Freunden ankam. Sie durfte mit ihnen in einem Geländewagen auf unsicheren Schotterpisten in die Berge fahren, bis hinauf zur nördlichsten Klippe, auf der ein einsamer Leuchtturm stand. Von dort aus hatte man einen fantastischen Blick auf die unruhige Tasmanische See. Hier, erklärten ihr die Maoris, wo sich die Meere vereinen, sei ein mystischer Ort, von dem aus die Seelen der Verstorbenen nach Island-Threeim-King aufbrechen würden, das irgendwo in der Weite der See liegt und es keine Wiederkehr gäbe. Die Mystik dieses besonderen Ortes überwältigte und bedrückte Jasmin gleichermaßen.

Danach durchwanderte sie mit den Maoris den Waipoua-Forest mit seinen riesigen Karribäumen, viele davon waren über fünfzig Meter hoch und hatten einen Umfang von mehr als zehn Metern. Sie legte sich zwischen Neuseelands Ureinwohner schlafen und fühlte sich bei ihnen geborgen.

Dann zog sie mit ihrem Rucksack weiter, half den Schafshirten beim Scheren ihrer Schafe, reparierte Zäune und nächtigte mit den Hirten bei ihren Schafen oder in windigen Scheunen.

Schließlich setzte sie mit ihrem Gepäck zur Südinsel über, fuhr mit einer pfeifenden und dampfausstoßenden Bahn durch spektakuläre, vulkanische Landschaften und Naturrks, traf in den Städten und Orten Rucksacktouristen, die so wie sie auf Abenteuer aus waren. Es gab viele davon. Sie reiste mit einem wenig vertrauenserweckenden Bus durch verschlungene Flusstäler und über atemberaubende Brücken, danach mit dem Zug über schneebedeckte, alpine Berge und an rauen Küsten entlang, immer gen Süden. Mit einigen tollkühnen Leuten kenterte sie bei einem Wildwasserrafting, woraufhin sie ein paar Tage pausieren musste und Gelegenheit bekam, endlich eine beruhigende Mail an die Eltern zu schicken. Sie dachte jetzt öfter an sie und den Bruder und musste sich widerwillig eingestehen, dass sie Heimweh hatte. Außerdem ging ihr das Geld aus.

Als die Eltern sie nach sechs Monaten erleichtert in die Arme schlossen, war Jasmin nicht nur braungebrannt und ihr langes Haar von Wind und Sonne blondmeliert, sie hatte auch ihren Horizont erweitert und ihre Grenzen kennengelernt. Vielleicht war sie auch ein klein wenig bescheidener geworden, was ihre Abenteuerlust jedoch in keinster Weise beeinträchtigte.

Ihr Bruder Bertram hatte inzwischen die ungeliebte Schule hinter sich gelassen und eine Mechatroniker-Lehre begonnen. Mit einigen Freunden, die er von der Schulzeit her kannte, feierte er die Feste, wie sie fielen, oftmals des nachts auf den Straßen und Plätzen des Ortes, was die Geduld der schlafbedürftigen Anwohner auf eine harte Probe gestellt haben dürfte.

Weil für Jasmin immer noch kein passender Studienplatz frei war, fuhr sie mit dem VW-Polo, den ihr der Vater besorgt hatte, nach Schleswig-Holstein, um sich dort bei den Wattschützern um einen Helferposten zu bewerben.

Es war nicht die Abgeschiedenheit der Forscher und ihre mehr als spartanische Unterbringung und Verpflegung in Leuchttürmen oder Bauerngehöften, die Jasmin abschreckten, auch nicht, dass sie jeden Tag auf einem Holzsteig durch das Watt und auf dem Deich zum nächst gelegenen Ort radeln sollte, um dort die Post, die Fachzeitschriften und die lebenswichtigen Dinge zu holen, aber ein Jahr lang im Watt Miesmuscheln zählen und zu protokolieren oder für die Forscher und Naturschützer Botengänge aller Art zu machen, entsprach nicht ihrer romantischen Vorstellung von Auffangstationen für Robbenbabys oder von Zugvögeln und Schweinswale beobachten und ihre Population und Gewohnheiten zu studieren. Enttäuscht fuhr sie wieder nach Hause.

Auch deshalb war sie nicht in allerbester Laune, als ihr bei der Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin Silvia ein amerikanischer Soldat vorgestellt wurde. Das Geburtstagskind selbst präsentierte ihn stolz als ihren Freund Er war in Zivil und wirkte mit seiner mittelgroßen, durchtrainierten Statur und dem selbstsicheren, lässigen, ein wenig arroganten Auftreten sehr amerikanisch, was durchaus nicht unsympathisch war. Er hatte kurzes, dunkles Haar, braune, herausfordernd schauende Augen und einen unwiderstehlichen Akzent. Jasmin verliebte sich augenblicklich in ihn.

Es war für beide Liebe auf den ersten Blick, die Welt versank um sie, sie hatten nur noch Augen füreinander. Silvias missbilligendes Gesicht und die neugierigen, vielsagenden Blicke der anderen Gäste nahmen sie nicht wahr, ihre Verliebtheit setzte sich über andere Empfindsamkeiten hinweg.

Gerry wartete zu der Zeit in der Babenhäuser Kaserne auf seinen nächsten Einsatz. Er war am Kundus mit einigen Kameraden bei einer Routine-Kontrollfahrt mit einem Militärlaster auf eine Mine geraten und in die Luft geflogen, zwei Kameraden starben unter unsäglichen Qualen noch vor Ort, die anderen wurden schwer verletzt geborgen und nach Deutschland ausgeflogen, darunter auch er, Gerry. Kaum genesen, durften die Kameraden zu ihren Familien in die Vereinigten Staaten heimkehren, nur er, Gerry, nicht. Seine Verletzungen, so hieß es vom Militärarzt, seien nicht schwerwiegend genug. Die Taubheit in seinem rechten Ohr wäre keine wirkliche Beeinträchtigung und würde sich mit der Zeit geben.

Die Narben, die ein Schock in der Seele eines Soldaten hinterlässt, die sind leider nicht gleich zu erkennen.

Gerrys Einstellung zum Dienst an der Waffe und zum Krieg im Allgemeinen hatten sich allerdings seit dem Überfall am Kundus grundlegend geändert. Die permanente Wachsamkeit und Anspannung, -die Talibans waren stets sehr gut bewaffnet, wurden nicht selten von Einheimischen unterstützt und griffen grundsätzlich aus dem Hinterhalt an- hatten ihn an seiner Mission zweifeln lassen. Der Kampf im fremden Land, unter Einsatz von Leib und Leben, erschien ihm erschreckend sinnlos zu sein. Der Terror war seiner Meinung nach eine Hydra, schlug man ihr einen Kopf ab, dann wuchsen drei größere nach. Gerry jedenfalls konnte sich ein Leben ohne Gewalt durchaus vorstellen, was für einen Soldaten, der freiwillig diente, wenig hilfreich ist.

Es war eine kurze, intensive Zeit des Glücks, auch wenn ein anderes Mädchen sehr darunter zu leiden hatte und ihnen die Freundschaft kündigte, was am Rande durchaus mit Bedauern registriert wurde. Jasmins Familie nahm Gerry herzlich auf, Frau Wissmann verwöhnte ihn mit regionalen Leckereien, wie Handkäse, Äppelwoi und Zwiebelkuchen. Aber dann kam der gefürchtete Einzugsbefehl und Gerry musste Abschied nehmen. Am Hanauer Bahnhof umarmten und küssten sie sich ein letztes Mal und versprachen, sich jeden Tag zu schicken. Niemand glaubte an das Bestehen dieser jungen Liebe, außer die beiden selbst natürlich.

Gerry erhielt von Jasmin täglich ein lustiges WhatsApp, worüber er stolz und glücklich war. Er selbst meldete sich bei seinem German Girl nur sporadisch, wie es eben die Umstände erlaubten. Seine kurzen, hastig geschriebenen Worte waren voller Zärtlichkeit und Zuversicht.

Im späten Frühjahr erhielt Jasmin endlich die schriftliche Zusage für ein Sportphysiologie-Studium, im Herbst würde an der Frankfurter Goethe-Uni ihr erstes Semester beginnen. Sie freute sich sehr darüber und mailte es sofort Gerry.

Auch Gerry hatte eine Neuigkeit, er mailte zurück, dass er den Militärdienst quittiert habe und noch in diesem Jahr heimfahren würde, zu den Eltern nach Kansas. Sie könne ihn dort, auf der Ranch seiner Eltern, jederzeit besuchen, sie wäre immer herzlich willkommen. Für die Flugkosten würde er selbstredend aufkommen und für alles, was sonst noch anfallen würde. Jasmin versprach es, sie würde sehr gern in den ersten Semesterferien, also im Februar, für einige Wochen kommen. Sie freue sich schon riesig darauf.

Die Wissmanns waren von den erneuten Reiseplänen ihre Tochter alles andere als begeistert, wie man sich denken kann. Sich schon wieder in ein unberechenbares Abenteuer zu stürzten, musste nun wirklich nicht sein. Bertram jedoch, der große Bruder, bewunderte die kleine, quirlige Schwester ob ihrer Courage, hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, dann war das Sache und nicht mehr zu ändern. „Reisende soll man nicht aufhalten“, meinte er gewohnt gelassen. „Sie weiß schon, was sie tut. Sorgen braucht ihr euch nicht um sie, sorgen muss sich höchstens der, der ihr schräg kommt, nicht wahr, Schwesterlein?“

„Aber ja, Brüderchen“, erwiderte Jasmin schwesterlich überlegen. „Weißt du, wenn man jemanden liebt, dann muss man ihm vertrauen. Was wäre das sonst für eine Liebe?“

Damit war alles gesagt, das mussten auch die Eltern einsehen.

Der Herbst und der Winter zogen sich quälend lang hin, Jasmin fuhr unter der Woche jeden Morgen mit der S-Bahn nach Frankfurt zur Uni. Sie musste viel lernen, saß wie ein Einsiedlerkrebs in ihrem Zimmer und widerstand der Versuchung, mit Freunden auszugehen und zu feiern, denn sie wusste, in den Semesterferien würde sie das Gelernte nicht vertiefen können. Selbst in der Fastnachtszeit blieb sie zuhause, obwohl ihr das Verkleiden immer viel Spaß bereitet hatte. Gerrys WatsApp trösteten sie darüber hinweg, bald würden sie sich wiedersehen.

Schon Wochen vor der Abreise packte sie ihre Koffer, den Flugschein, auf dem die Fluglinie und die Flugzeiten vermerkt waren, auch die der Rückreise, hatte ihr Gerry bereits per Einschreiben geschickt. „Ich kann es kaum erwarten“, mailte er, „dich in New York, am John F. Kennedy-Airport, abzuholen. Die anschließende Bahnfahrt wird zirka sechs Stunden dauern, dabei wirst du viel von Amerika mitbekommen. In Salina wird uns mein Bruder Frankie abholen und nach Hause, zur Ranch meiner Familie bringen. Sie freut sich schon sehr auf dich. Du wirst sie mögen.“

Ende Februar, es war vier Uhr morgens, war es dann soweit, jetzt schon das zweite Mal brachten die Wissmanns ihre Tochter zum Frankfurter Flughafen. Wieder mussten sie zusehen, wie sie, so klein und schutzbedürftig sie auch wirkte, selbstbewusst durch die Sicherheitsschranken ging und rasch zwischen den anderen Reisenden verschwand. „Melde dich, wenn du da bist!“, rief ihr Herr Wissmann noch nach, aber dass hörte sie anscheinend schon nicht mehr.

Die Zeitverschiebung würde ihr, das wusste sie von der ersten großen Reise her, keine Schwierigkeiten machen. Im Flugzeug hatte sie einen Fensterplatz, dafür hatte ihr Vater gesorgt, ein liebenswert aussehender, älterer Herr nahm freundlich grüßend neben ihr Platz. Nach den kategorischen Sicherheitseinweisungen vermeldete die ruhige Stimme des Piloten, dass es ein voraussichtlich ruhiger Flug in 11000 Metern Flughöhe sein wird, die Flugdauer etwa acht Stunden und vierzig Minuten betragen würde und sie nach New Yorker Zeit um etwa 8 Uhr 15 auf dem John F. Kennedy-Airport landen würden. Die Temperatur in New York City entspräche ungefähr der unseren, nämlich 5 Grad Celsius.

Jasmin nahm sich vor, während des Flugs möglichst viel zu schlafen, um die Zeitverschiebung gut wegstecken zu können. Nachdem die Wolkendecke und die Erdenschwere weit unter ihnen lagen, schnallte sie sich ab und schaute träumend in das grenzenlose, lichte Blau hinter dem winzigen Fensterchen des Flugzeugs.

Sie entnahm der Rücklehnentasche des Vordersitzes eine Lektüre und schlummerte darüber ein. Im Traum sah sie Gerry, hinter der Besucherzone des Flughafens stehen und auf sie warten, sieht sich auf ihn zueilen und spürt, wie er sie zärtlich in seine Arme schließt.

Aber es war nur der grauhaarige Herr neben ihr, der sie behutsam berührte und darauf aufmerksam machte, dass nun das Essen serviert werden würde. Sie bedankte sich lächelnd und verspürte plötzlich Hunger.

Gerry stand hinter der Besucherabsperrung, sie hörte ihn ihren Namen rufen, sah seine vertraute Gestalt, dann lagen sie sich in den Armen.

Die anschließende, sechsstündige Bahnfahrt war sehr kurzweilig, während vor dem Waggonfenster Berge, Wälder, Flüsse und unendlich scheinende Felder vorbeiwanderten, lauschte Jasmin Gerrys lieber Stimme. Er wusste viel zu erzählen, es sei denn, sie küssten sich.

Am Bahnhof von Salina, einer noch jungen Stadt zwischen dem Missouri-Fluss und den Rocky Mountains, wartete ein etwas schlaksiger, junger Mann auf sie. Er trug eine halbwegs saubere Jeanshose, abgewetzte, halbhohe Lederstiefel, eine feste Joppe und einen flotten Cowboyhut, der ihm etwas schief auf dem kurzgeschorenen Kopf saß. Er mochte ein oder zwei Jahre älter wie Gerry sein.

„Mein großer Bruder Frankieboy“, stellte ihn Gerry vor. „Ein alter Haudegen, völlig aussichtslos, ihm Manieren beibringen zu wollen.“

Frankie nahm das nicht krumm, er schaute die Freundin seines Bruders breit grinsend an. „Respekt, Kleiner, du hast nicht übertrieben“, meinte er leicht ironisch und reichte Jasmin mit festem Griff die Hand. „Willkommen, German-Girl.“

„Hallo, Frankie“, erwiderte Jasmin seinen Gruß, der Bursche gefiel ihr auf Anhieb. Er nahm Jasmins Koffer und schritt den beiden durch eine kahle Bahnhofshalle voran. stieß an deren Ende eine der Schwenktüren auf, eilte eine breite Treppe hinab und ging steifbeinig zu einem Parkstreifen, auf dem viele Autos standen. Dahinter verlief eine belebte Straße. Frankie steuerte auf einen reichlich verbeulten, offenen Geländewagen zu, warf Jasmins Koffer auf die Ladefläche und öffnete die Rücktüren.

„Mann“, stellte Gerry verwundert fest, „du hast die Karre ja geputzt.“

„Nur für dich, Cowboy“, meinte Frankie grinsend mit Blick auf Jasmin, die auf einen der Rücksitze Platz nahm. Gerry setzte sich neben sie und Frankie schwang sich, ohne die Tür zu öffnen, hinter das Steuer und fuhr los.

Der High-Way, erklärte Gerry, auf dem sie nun die Stadt verließen, verlaufe von den Rocky- Mountains, quer durch Ohio, Illinois, Kansas City bis nach New-York. Er machte Jasmin auf das schöne Rathaus der Stadt aufmerksam, auf die ziegelgebaute Agatha-Kathedrale und die wuchtige Elisabethen-Church, deren Türme zu sehen waren. Sie wurde von den ersten Siedlern errichtet, erklärte Gerry. „Ich zeig‘ dir die Stadt später“, versprach er. „Salina hat einen Militärflughafen und ein großes Flugzeugwerk, eine High-School und im Park der Stadtbücherei eine eigene Freiheitsstatue, jawohl, wenn auch eine etwas kleinere, wie die in NewYork. Wenn du magst, schauen wir uns die größte Jeans-Factory der Vereinigten Staaten an. In Salina, musst du wissen, wurde die Original-Jeans erfunden.“

„Das ist wirklich hochinteressant“, meinte Jasmin beeindruckt und schmiegte sich an Gerrys Schulter.

Sie fuhren auf dem High-Way durch ein weites, welliges Grasland, hin und wieder waren Gatter mit Schaf- und Rinderherden oder Pferde zu sehen. Ein lebhaftes Flüsschen, von Westen herkommend, ließ sich gelegentlich sehen. „Der Saline River“, erklärte Gerry, „wie du siehst, hat er eine leicht rötliche Färbung, das kommt daher, weil er in den Colorado- Springs entspringt, einem National-Park, den wir unbedingt besuchen müssen. Der Saline River mündet übrigens in den Missouri.

„Wie lange wirst du bleiben, German-Girl?“, erkundigte sich Frankie, den Kopf halb zu den beiden auf den Rücksitzen umwendend, so dass Jasmin sein jugendlich freches Profil und sein belustigtes Grinsen sehen konnte. „Bei allem, was dir Gerryboy zeigen will, brauchst du mindestens Monate.“

„Drei Wochen, Frankie!“, rief ihm Jasmin durch das Brummen des Motors zu. „Nicht länger!“

Die Landschaft wurde hügeliger, bewaldeter, kaum eine menschliche Behausung war zu sehen, nur hin und wieder eine verloren wirkende Hütte oder Scheune. Manchmal kam ihnen ein großer Laster oder ein Kleintransporter entgegen, vereinzelt überholte sie ein Wagen.

Nach circa einer Stunde bog Frankie in einen breiten, reichlich mit Schlaglöchern gesegneten Sandweg ein. Zum Glück hatte der Geländewagen eine gute Federung, die die ärgsten Erschütterungen linderte.

„Alles okay bei euch?“, wollte Frankie wissen, als es hinter ihm verdächtig ruhig war.

„Na, klar, Frankieboy“, hörte er seinen Bruder rufen.

Dann tauchten zwischen Laubbäumen und Sträuchern langgestreckte, niedrige, weiße Gebäude auf. Frankie lenkte den Wagen vor die überdachte, mit vier runden Säulen versehene Veranda des Haupthauses, breite Holzstiegen führten zu einer Eingangstür hinauf. Die ging, als sie aus dem Wagen stiegen, auf und eine blondgelockte Frau mittleren Alters kam die Stufen herabgeeilt. Ein Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren blieb oben stehen und beobachtete die Ankommenden mit reservierter Miene. Ihr dunkles, zu einem langen, dicken, Zopf geflochtenes Haar und die leicht kupferne Hautfarbe ließen auf eine indianische Abstammung schließen.

Gerry stellte die nette, blondgelockte Frau vor. „Das ist meine Mam, Jasmin.“

„Sei herzlich Willkommen, Jasmin.“ Frau Walker strahlte Jasmin mit ihren großen, blauen Augen an und breitete ihre Arme aus. „Gerry hat viel von dir erzählt, aber dass du so hübsch bist, das hat er nicht erwähnt.“

Jasmin fühlte sich an ihre mütterliche Brust gedrückt, auf einen so herzlichen Empfang war sie nicht gefasst. Dann stellte Gerry auch die Kleine vor, die zögernd die Treppen herabgekommen war.

„Meine kleine Schwester Nadja. Na los, Nadja, sag‘ Jasmin Hallo“, forderte er sie auf. Nadja gab Jasmin zögernd die Hand. „Hallo, Nadja“, grüßte Jasmin sie freundlich. „Wie geht es dir?“

„Gut“, erwiderte Nadja und zog ihre Hand schnell zurück.

„Sie ist immer zuerst etwas zurückhaltend“, meinte Frau Walker lächelnd. „aber das gibt sich gewöhnlich schnell.“

Sie führte ihren Gast die Stufen hinauf, die Brüder und das Mädchen folgten ihnen.

Der große Wohnraum, den sie nun betraten, wirkte sehr gediegen und gemütlich. Die in einem mit grob behauenen Steinen ummauerten Kamin glimmenden Holzscheite spendeten eine behagliche Wärme. Während Frau Walker mit Nadja in die Küche nebenan ging, man hörte Geschirrklappern, zeigte Gerry seiner Freundin die Gewehre und Pistolen, die in einem verschlossenen, massiven Eckschrank hingen. Er erklärte, dass hier keiner ohne Waffe vor die Tür ginge, auch die Frauen nicht. Jasmins Interesse aber galt eher der Ausstattung des Raums. Sie ließ ihren Blick über die wuchtigen Ledersessel, deren verblassten Sitzflächen und Arm- und Rückenlehnen auf einen häufigen Gebrauch schließen ließen, und die ausladende Ottomane wandern, betrachtete die schöngerahmten Pferdebilder an den grobgetünchten Wänden und die Vitrinen und Kommoden aus rötlich-mattglänzendem Kirschbaum, herrliche Möbel aus der Kolonialzeit, vermutete sie. Auf der Fensterbank des großen Fensters standen Keramik-Töpfe mit blühenden Kakteen, und als Jasmin näher trat, sah sie draußen eine große, geflieste Terrasse und einen Hof, der von Stallgebäuden umgeben war. Eine große Hundehütte stand davor, braune Hühner und ein Hahn pickten und scharrten herum.

Inzwischen hatte sich Kaffeegeruch und der Duft von Apfelkuchen und Zimt ausgebreitet. Frau Walker bat in die angrenzende, geräumige Küche, die von einem immens großen Herd, einem modernen, weißen Büffet und einem wuchtigen, freistehenden Kühl- und Gefrierschrank dominiert wurde, in offenen, weißlackierten Schränken lag allerlei Küchengerät. Die zwei mit hübschen Scheibengardinen versehenen Fenster erlaubten den Blick hinaus auf die Veranda und den Eingangsbereich. Vor den Fenstern stand ein großer, mit einem bestickten Tischtuch versehener Tisch, er war mit einem feinen Kaffee-Service eingedeckt.

Jasmin entschuldigte sich und fragte verlegen nach der Toilette. „Ach, Kindchen“, meinte Frau Walker ein wenig zerknirscht. „Sorry, wie dumm von mir. Natürlich willst du dich nach der langen Reise ein wenig frisch machen. Gerry wird dir das Bad zeigen.“

„Deine Mutter ist sehr nett, Gerry“, meinte Jasmin, als sie mit ihm alleine war. „Hoffentlich macht sie sich nicht allzu viele Umstände wegen mir.“

„Ein wenig verwöhnen musst du dich schon lassen, Jessy“, meinte Gerry und nahm sie in die Arme. „Sie freut sich so, dass du da bist. Und wie ich mich erst freue, das kann ich dir gar nicht sagen. Sei ganz herzlich Willkommen, Jessy“, fügte er herzlich hinzu.

„Danke, Gerry. Deine kleine Schwester, ist sie immer so, so abweisend?“

„Ist sie das? Nun, ja, vielleicht ist sie ein wenig schüchtern, aber das gibt sich bei ihr schnell. Du wirst sehen, ihr werdet noch die besten Freundinnen.“

Gerry öffnete eine Tür und Jasmin stand in einem großen, weißgekachelten Waschraum. Auch hier war alles riesig, die freistehende Badewanne. die Waschmaschine und der Trockner, neben dem große Waschmittelkartons standen. In einem Holzregal stapelten sich Handtücher, daneben Cremedosen, Lotion-Flaschen, Zahnputzzeug, Haarbürsten, Rasierklingen- und Schaum und Aftershaves. In einem Korb lagen Nagelfeilen, Scheren und Pinzetten.

„Sollte etwas fehlen, melde dich“, meinte Gerry fürsorglich. „Deine Koffer hat Frankie schon auf dein Zimmer gebracht. Brauchst du was davon?“

Jasmin schüttelte den Kopf und warf einen Blick in den großen Spiegel über dem Doppelwaschbecken, sie sah müde aus, stellte sie fest, am liebsten hätte sie sich gleich zurückgezogen, aber das wäre wohl zu unhöflich gewesen. „Ist schon okay“, meinte sie, „ich mach‘ mich nur ein wenig frisch. Aber heute werde ich wohl bald schlafen gehen, Gerry, ich bin wirklich sterbensmüde. Die Zeitverschiebung und die Luftveränderung machen mir jetzt doch zu schaffen.“

„Aber natürlich, mein armer Schatz“, meinte Gerry. Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Als sie kurz darauf einigermaßen erfrischt in den Wohnraum und die Küche zurückkam, waren inzwischen zwei Männer eingetroffen, ein großer Hund war bei ihnen. Einer von ihnen war schon älter und etwas untersetzt, er hatte ein wettergegerbtes, bärtiges Gesicht mit dichten, dunklen Brauen und wachen, blauen Augen. Er trug wie hier üblich eine reichlich abgetragene Jeans, ein kariertes Wollhemd und ausgetretene Lederstiefel, Jasmin fand ihn gleich sympathisch. „Hallo“, polterte der Mann und quetschte Jasmins kleine Hand derart, dass sie, um nicht laut aufzustöhnen, die Zähne zusammenbeißen musste. „Du also bist die legendäre Jasmin, von der der Junge ununterbrochen redet. Nun, da du jetzt da bist, wird er hoffentlich wieder zu gebrauchen sein! Halte mir die Boys nicht zu sehr von der Arbeit ab, verstanden!“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

„Mein Dad“, stellte ihn Gerry unnötigerweise vor.

„Hallo, Mister Walker“, Jasmin lächelte gewinnend. „Ich werde es versuchen.“

„Und das ist Lakota und sein Hund Wotan“, stellte Gerry den zweiten Mann und seinen großen Hund vor.

Der Mann war ein Indianer, das war trotz seiner hier üblichen Kleidung, Jeans, Wollhemd, Joppe, Stiefeln, nicht zu übersehen. Er war mittelgroß, hager und hatte scharfe, stolze, fast abweisende Züge mit engliegenden Augen und hohen Wangenknochen, das nachtdunkle Haar fiel ihm glatt auf die Schultern. Sein großer Hund musste schon alt sein, denn sein einstmals dunkles Fell und die lange Schnauze schimmerten silbrig, die großen, dunklen Augen jedoch schauten Jasmin wachsam und aufmerksam an. Jasmin wollte ihm über den Kopf streicheln, aber der Indianer stoppte sie, indem er mit ruhiger, melodischer Stimme meinte: „Vorsicht, Wotan ist Fremden gegenüber etwas misstrauisch.“

Als sie sich zu Tisch setzten, blieb Wotan neben dem Stuhl des Indianers hocken, ließ aber die Fremde nicht aus den Augen. Jasmin wurde der Stuhl gegenüber dem Indianer angeboten, das nachmittägliche Licht fiel seitlich durch das Fenster auf sie, so dass sie von allen gut in Augenschein genommen werden konnte. Gerry und Frankie setzten sich links und rechts neben sie, Herr Walker an die Stirnseite des Tisches, Nadja ließ sich neben ihm und dem Indianer nieder, anscheinend war das die gewohnte Tischordnung. Nachdem Frau Walker den dick mit Puderzucker bestreuten Apfelkuchen auf die Teller verteilt und ihrem Mann gegenüber Platz genommen hatte, meinte sie heiter: „Guten Appetit, lasst es euch schmecken“, und an Jasmin gewandt: „Nochmals, liebe Jasmin, sei herzlich willkommen bei uns. Unsere Boys wirst du noch kennenlernen, sie sind derzeit oben auf der Nordweide.“

Jasmin bedankte sich für das herzliche Willkommen und kostete vom Kuchen, Frau Walker war eine ausgezeichnete Bäckerin, stellte sie fest. „Der Kuchen schmeckt ganz wunderbar, Frau Walker“, meinte sie anerkennend, „aber Gerry hat mir gar nicht gesagt, dass er außer Frankie noch mehr Brüder hat.“

„Oh, die Boys sind nicht meine Brüder“, berichtigte sie Gerry schmunzelnd, „aber fast. Sie sind unsere Cowboys und kümmern sich um die Herden. Aber, wenn ich mir‘s überlege, gehören sie zur Familie, mit ihnen sind wir beinahe öfter zusammen, als mit ihr.“

„Kann man so sagen“, bestätigte es Herr Walker und ließ sich von seiner Frau noch ein Stück Kuchen auf seinen Teller schieben.

„Aha“, meinte Jasmin und nahm einen Schluck Kaffee.

„Die Herde muss immer bewacht und beaufsichtigt werden“, erklärte Gerry. „Weißt du, hier muss sich jeder selbst um sein Vieh und sein Eigentum kümmern, die Polizei von Salina wäre damit überfordert. Zugegeben, hier herrschen ein wenig härtere Verhältnisse wie im beschaulichen Germany, aber wenn du erst einmal eine Weile hier bist, wirst du dich daran gewöhnt haben.“

Mister Walker legte seine Kuchengabel auf seinen leeren Teller ab und betrachtete Jasmin belustigt. Sie trug noch ihre Reiseklamotten, einen enganliegenden, rostroten Rollkragenpulli, einen kurzen, braunen Wollrock, wärmende Strümpfe, die ihre schlanken Beine schön zur Geltung brachten, und hochhackige Stiefeletten. Natürlich waren ihre Fingernägel schön zugefeilt und rostrot lackiert. Bei Mister Walkers abschätzendem, leicht ironischen Blick aber fühlte sich Jasmin seltsam verunsichert, ein ganz neues Gefühl für sie. Wahrscheinlich kam hier kein weibliches Wesen auf die Idee, sich die Finger- und Zehennägel zu lackieren.

„Hoffentlich hast du noch andere Kleider dabei“, meinte Mister Walker amüsiert. „Wenn du zur Weide hinausreiten willst, ich nehme an, das willst du, dann brauchst du wetterfestes Schuhzeug und bequeme Jeans.“

„Keine Sorge, Dad“, meinte Gerry und wollte Jasmin Kaffee nachschenken, was sie dankend ablehnte. „Du musst wissen, Jasmin ist zäher als sie aussieht, sie hat beispielsweise ganz allein Neuseeland bereist. Zur Not kann ihr ja Nadja ein paar Klamotten ausleihen, nicht wahr Nadja? Ihr habt ungefähr die gleiche Größe.“

„Gut“, meinte Mister Walker und wischte sich mit der Serviette über den Mund. „Nur in diesem Land, wie heißt es gleich? Richtig, Neuseeland, da gibt es keine Wölfe und keine Grizzlys. Ohne Hunde wie Wotan hätten wir hier große Probleme, nicht wahr, Lakota?“

Er und der Indianer standen auf. Auch der große Hund erhob sich, gähnte herzhaft und trottete zur Tür, wo er sich wartend niederließ.

„Wir haben noch zwei, drei Tage oben auf der Nordweide zu tun“, meinte Mister Walker, während er sich seine Joppe überzog. Er nahm vom Garderobeständer den etwas verbeulten, ledernen Hut, stülpte ihn auf den Kopf und bog die Krempe etwas in die Stirn. Dann nahm er das Gewehr, welches neben dem Kleiderständer an der Wand lehnte, und meinte beiläufig. „Will hat einen ausgewachsenen Furunkel am Hintern, er kann nicht sitzen, schon gar nicht reiten. Wir werden es wohl heute ausbrennen müssen.“

„Ach, du liebe Zeit“, entfuhr es Jasmin, und als sie die erstaunten Gesichter sah, meinte sie: „Es gibt doch sehr wirksame Salben, die in kurzer Zeit einen Furunkel austrocknen lassen. Wollen wir nicht eine besorgen, Gerry, in einer hiesigen Apotheke? Sicher haben sie eine vorrätig. Wir könnten sie dann mit zur Weide hinaufbringen? Ganz billig ist so eine Salbe allerdings nicht, muss man wissen.“

„Tja, wenn das so ist, dann probieren wir es doch einmal damit“, stimmte Mister Walker zu. „Elizabeth, gib‘ den beiden das Geld dafür, und Gerry, gib deiner Freundin Ute, sie ist gutwillig und leicht lenkbar. Kannst du überhaupt reiten, kleines Fräulein?“

„Aber sicher, Mister Walker, sehr gern sogar.“

Als die beiden Männer mit dem Hund fort waren, fragte Nadja: „Ist es in Ordnung, Tante Elizabeth, wenn ich mit reite auf die Weide?“

„Tante Elizabeth?“, wunderte sich Jasmin, „dann war sie also nicht Gerrys Schwester?“

Sie schaute Gerry fragend an, der besprach gerade etwas mit seinem Bruder und achtete nicht auf die Frauen. „Immerhin hat sie einen zusammenhängenden Satz gesagt“, dachte Jasmin belustigt, „bisher schwieg sie wie ein Fisch. Was bei Tisch gesprochen wurde, das musste sie allerdings genau mitbekommen haben, sonst hätte sie nicht den Wunsch geäußert, mit auf die Weide kommen zu wollen. „Seltsames Mädchen“, dachte Jasmin. Aber auch der Indianer war ihr mit seiner undurchdringlichen, fast schon abweisenden Miene ein wenig unheimlich gewesen. Sein Hund war auch nicht so harmlos, wie er aussah.