Ein Freund - Jakob Arjouni - E-Book

Ein Freund E-Book

Jakob Arjouni

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Beschreibung

Ein Jugendfreund für sechshundert Mark, ein Killer ohne Perspektive, eine Geisel im Glück, eine Suppe für Hermann und ein Jude für Jutta, zwei Maschinengewehre und ein Granatwerfer gegen den Papst, ein letzter Plan für erste Ängste. So ironisch wie ernst, so traurig wie heiter, so lustig wie trocken erzählt Arjouni in sechs Geschichten davon, wie im Leben vieles möglich scheint und wie wenig davon klappt.

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Seitenzahl: 179

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Jakob Arjouni

Ein Freund

Geschichten

Die Erstausgabe

erschien 1998 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von

Beat Reck

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23024 6 (5.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60368 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Ein Freund  [7]

Schwarze Serie  [55]

Das Innere  [80]

Familie Rudolf tut wohl  [111]

Papstbesuch  [129]

In Frieden  

[7] Ein Freund

Das Wetter war schuld, sonst hätte ich den Job nie gemacht – ehrlich nicht! Tatsächlich kam mir die Sache von Anfang an merkwürdig vor, um nicht zu sagen pervers. Aber an diesem Morgen… Wahrscheinlich wäre ich sogar bei einem Blinden im Auto sitzen geblieben.

Es war kalt, es nieselte, dichte Nebelschwaden hingen über der Raststätte, und die Wiese, in die ich mich am Abend gelegt hatte, war über Nacht zu einer einzigen Pfütze geworden. Als ich gegen fünf aufwachte, war der Schlafsack durchnäßt, und mein Kopf lag im Schlamm. Ich kroch heraus, wischte mir, so gut es ging, den Dreck vom Gesicht und sah in den Schmuckkoffer… Sie müssen wissen, ich bin Goldschmied – oder jedenfalls so was in der Art. Laien machen sich da leider oft lustig über mich. Ich meine, es stimmt schon, ich habe keine Lehre oder so was und arbeite auch nie mit Gold, weil meine Kunden sich das gar nicht leisten könnten, und ob ›schmieden‹ das ganz korrekte Verb für meine Arbeit ist, darüber sollen sich Kleingeister streiten – aber ich stelle Schmuck her, und darum geht’s ja wohl schließlich. Genaugenommen flechte ich ihn. Sie kennen sicher Büroklammern, wer kennt die nicht. Aber haben Sie jemals überlegt, was für zauberhafte Ohrringe, Ketten und Armbänder sich aus diesem preiswerten Material schaffen lassen? [8] Sicher, wenn man Geld hat, kauft man sich Diamanten, und sind sie noch so schlecht verarbeitet, oder Platin, irgendwann wird die Wissenschaft schon noch herausfinden, ob Platin Krebs erzeugt, aber für Leute mit kleinerem Geldbeutel, für Leute mit Geschmack und Mut zum Außergewöhnlichen sind meine Kreationen genau das Richtige.

Ich sah also in den Schmuckkoffer und hielt ihn zur Seite, um das Wasser rauslaufen zu lassen. Dann schaute ich zur Raststätte hinüber, ob sich schon eventuelle Mitfahrgelegenheiten eingefunden hatten. Seit sieben Monaten war ich nun auf Geschäftstour, und Sie können mir glauben, daß es an mühsamem Fortkommen nicht gemangelt hat, aber eine so unsägliche Stelle zum Trampen erlebte ich zum erstenmal. Und das nur wegen eines neurotischen Pärchens, das behauptet hat, ich würde »stinken«. Bei der ersten Gelegenheit haben sie mich rausgeworfen. Doch da war es erst vier Uhr nachmittags, die Sonne schien, und ich war noch voller Hoffnung. Etwa drei Stunden stand ich mit meinem Schild ›Berlin‹ an der Ausfahrt, bis ich an den Zapfsäulen die Autofahrer direkt ansprach. Doch nichts zu machen!

»Wir fahren nicht nach Berlin.«

»Wir biegen sofort ab.«

»Im nächsten Ort steigen Freunde zu.«

»Ich fahre in die andere Richtung.« – »Aber Sie können nur in diese Richtung fahren, das ist eine Autobahn.« – »Na so was! Und ich dachte… Tja, muß ich bei nächster Gelegenheit wenden. Vielen Dank auch.«

Naja, Sie kennen das, wer kennt das nicht. Gegen Mitternacht habe ich in der Cafeteria eine Erbsensuppe gegessen und mich anschließend auf die Wiese verzogen.

[9] Und jetzt das Ganze von vorne, nur im Regen! Seufzend rollte ich den Schlafsack zusammen, schnallte ihn auf den Rucksack und patschte durch den Schlamm zur Raststätte. Ich kaufte mir einen Schokoriegel und Kaugummis gegen Mundgeruch, dann stellte ich mich unter das Dach bei den Zapfsäulen und wartete – wartete, lächelte, fragte, bedankte mich trotzdem und wartete wieder. Ein bißchen konnte ich die Autofahrer jetzt sogar verstehen, denn ich war pitschnaß, und wie das mit der Nässe so ist, sie verstärkt die Gerüche. Nicht, daß ich gestunken hätte, aber ich roch wohl ein wenig muffig.

Der Morgen verging, es wurde Mittag, keiner nahm mich mit, und es regnete immer noch. Dann kam Retzmann.

Schon am Auto erkannte man den Aufsteiger: weder Fortbewegungsmittel noch echter Luxus, sondern ein japanisches Mittelklasse-Cabriolet. Oben ohne, aber preiswert. (Jetzt war das Dach natürlich geschlossen.) Die Fahrertür ging auf, und als erstes sah ich einen polierten Lederschuh in der Luft, der suchend über den nassen Betonboden kreiste, um schließlich halb verrenkt auf einer trockenen Stelle zu landen. Was folgte, war ein schwarzes Kostüm mit einer absichtlich viel zu weiten Hose und einer Art Hemdjacke mit engem, hochgeschlossenem Kragen. Vermutlich ziemlich teures Zeug und in zwei Monaten aus der Mode. Der Kopf überm Kragen war lang und knochig, mit einem großen Kinn und kleinen, flinken Klugscheißer-Augen. Der Mann war um die Dreißig und trug eine lächerliche Ponyfrisur – als wolle er gegen seine Augen etwas Weiches, Unschuldiges setzen.

An den Pfützen vorbei balancierte er zur Zapfsäule und [10] griff mit spitzen Fingern nach dem Benzinschlauch. Lächelnd trat ich auf ihn zu.

»Guten Tag, Sie fahren wohl nicht zufällig Richtung Berlin?«

Er hob den Blick vom Tank und musterte mich erst ausdruckslos, dann angewidert.

»Warum?«

Einen, der in seinem Alter nicht weiß, warum sich Kerle wie ich an einer Autobahnraststätte nach der Reiserichtung erkundigen, gibt’s nicht. Sein »Warum« war Schikane, das machte mich optimistisch: Viele nehmen einen nur mit, um sich vor einem Wildfremden mal so richtig aufspielen zu können, für die ist Tramper einsteigen zu lassen wie ins Bordell zu gehen.

Ich gab meinem Lächeln etwas Unterwürfiges. »Weil Sie mich dann vielleicht mitnehmen könnten.«

Er musterte mich noch einen Moment, dann sagte er mit Blick zurück auf den Tank: »Ich mag keine Tramper«, und es klang, als halte er das für eine ziemlich lässige Antwort.

Soso, dachte ich, die Sorte: auf Teufel komm raus außergewöhnlich, und sei es nur außergewöhnlich unfreundlich.

Ich ließ meinen Mund extra lange offenstehen, damit er die Wirkung seiner Worte auch schön genießen konnte, bis ich begeistert erwiderte: »…Also, daß Sie das so offen sagen, finde ich jetzt tatsächlich beeindruckend! Ich meine, keiner mag Tramper, aber wer gibt das schon zu? Jedenfalls nicht vor mir. Wirklich: Find ich toll! Da bleibt mir nur, mich zu bedanken: Wieder was gelernt.«

»Gelernt?« fragte er, vom Tank aufsehend, jetzt doch ein wenig verunsichert.

[11] »Aber ja! Ehrlichkeit, und mag sie auch noch so kantig daherkommen, achtet den Mitmenschen doch viel mehr als Unehrlichkeit. Stellen Sie sich vor, Sie hätten so getan, als würden Sie mich gerne mitnehmen, und ich wäre eingestiegen und hätte neben Ihnen gesessen und nach spätestens zehn Minuten gemerkt, wie unangenehm Ihnen die Situation ist – glauben Sie, ich hätte mich wohl gefühlt?«

Er betrachtete mich stirnrunzelnd, dann hängte er den Benzinschlauch zurück an die Zapfsäule, und während er sich die Hände an einem Papiertaschentuch abwischte, sagte er: »Kleiner Schwätzer, was?«

»Nur, wenn mir eine Sache am Herzen liegt. Aber Sie haben schon recht: Zwei Sätze sind mir näher als einer.«

»Hm«, machte er, wandte sich grußlos ab und verschwand im Kassenraum.

Offenbar hatte ich mich verschätzt. So eingebildet, daß ihn ein paar Komplimente um seine Vorsätze brachten, war er wohl doch nicht. Ich ging zurück zu meinem Rucksack und steckte mir einen Kaugummi in den Mund. Der Himmel wurde immer schwärzer, und langsam glitten meine Gedanken in die alte Tramper-Zwangsvorstellung, nie mehr mitgenommen zu werden. Ich malte mir aus, wie ich durch Täler und Wälder zum nächsten Ort marschierte, wie mein letztes Geld gerade mal für eine Fahrkarte bis Kleindingsda reichte, und wie ich Leute anbettelte, um ein Telegramm an einen Freund aufgeben zu können, er solle mir Geld schicken…

»He, du da…!«

Ich sah auf.

»Los! Bis Hildesheim nehm ich dich mit!«

[12] Tramper-Gott hab Dank! Ich riß Rucksack und Schmuckkoffer an mich und erreichte im Laufschritt das japanische Cabriolet. An anderen Tagen hätte ich das Spiel vielleicht noch weitergetrieben: ›Haben Sie sich das auch gut überlegt?‹ und: ›Ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen‹, aber jetzt sah ich nur den rettenden Beifahrersitz.

»Schmeiß dein Gepäck in den Kofferraum, damit mir die Rückbank nicht verschimmelt.«

Ich nickte verständnisvoll. »Tolles Auto, was Sie da haben. Große Klasse!«

Er fuhr, wie solche Leute eben fahren: Mein Auto sei der größte Schwanz zwischen Himmel und Erde! Er stieß in jede sich bietende und auch sich nicht bietende Lücke, hupte alles beiseite, was einen Kilometer langsamer fuhr als er, beschleunigte wie ein Wahnsinniger, um gleich darauf auf die Bremsen zu steigen, und warf beim Überholen den anderen Fahrern einen Blick zu, als wollte er sagen: Junge, warum hängst du dich nicht auf? Schnellere und größere Autos schien er nicht wahrzunehmen. Sauste eins an uns vorbei, war er fast immer gerade damit beschäftigt, über den Tacho zu wischen, den Scheibenwischer neu einzustellen oder sich einen Pfefferminzbonbon zu angeln.

Nach einer Weile stummen Autobahnkriegs fragte er plötzlich: »Woher kommst du?«

»Frankfurt.«

Tatsächlich komme ich aus einem kleinen Ort in der Nähe von Darmstadt, aber wenn ich den Namen nenne, wissen die Leute nie so recht, was sie darauf sagen noch wie sie gucken sollen. Die Überzeugung, in Käffern werden [13] ausnahmslos Trottel geboren, ist doch viel verbreiteter, als man meinen möchte.

»Arbeitslos?«

»Aber nein! Mache ich so einen Eindruck?«

»Na, was glaubst du, was du für einen Eindruck machst?«

So langsam, fand ich, nahm er sich ein bißchen viel raus. Zudem stand ich jetzt nicht mehr im Regen, sondern saß im Auto, und das ändert das Selbstwertgefühl doch gewaltig. Nicht, daß ich mir erlaubt hätte, unfreundlich zu werden, schließlich waren es bis Hildesheim noch über zweihundert Kilometer, aber ganz frei von Zweifeln sollte er mir nicht davonkommen.

»…Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Hab mich um den Eindruck, den ich mache, nie besonders gekümmert. Aber sicher ist das ein Fehler. Wahrscheinlich sollte ich mir ein Beispiel an so jemandem wie Ihnen nehmen…«

»An mir…?« Er wandte irritiert den Kopf. »Wieso an mir?«

Das ist das Problem mit Klugscheißern, sobald es um ihre Person geht, fällt das ›Klug‹ glatt weg.

Ohne mich um seine Frage zu kümmern, fuhr ich wie nahtlos fort: »Im übrigen bin ich Goldschmied.«

Er überholte einen rostigen Ford Taunus samt Wohnwagen, und wenn ich auch in Geschichte nicht besonders bewandert bin, würde ich behaupten, er guckte die Insassen mit solcher Abscheu an, als wäre zur Entlastung des Autobahnverkehrs eine Gaskammer genau das Richtige.

»…Und da kannst du dir keine Zugfahrkarte leisten?«

»Sehen Sie, das ist eben die Entscheidung: Geld oder Ideale. Ich habe Ideale gewählt.«

[14] »Wieso? Schmiedest du rote Fahnen…?«

Er lachte. Ein hoher, meckernder Laut, der ohne Körper zu entstehen schien.

Bereitwillig fiel ich ein.

»…Das ist mal ein intelligenter Witz! Also wirklich! Es geht doch nichts über Bildung und Humor…!«

Noch während ich redete, erstarb sein Lachen, und seine Hände krampften sich wütend ums Steuer. Mit kurzem Blick zur Seite fuhr er mich an: »Hör endlich mit diesem untertänigen Gequassel auf! Und sag gefälligst du zu mir!«

Ich tat erschrocken. Eine Pause entstand, in der zu seinem Pech, weil in der gespannten Situation doppelt auffallend, vier Luxuskarossen an uns vorbeischossen.

Schließlich räusperte ich mich. »…Tut mir leid. Hätte ich gewußt, daß Sie – ich meine, du – nicht so bist…«

»Wie bin?!«

»Na, nicht wie dein Auto, wie dein Anzug, wie deine Frisur – eben kein arroganter, feiner Pinkel, sondern ein normaler Typ, mit dem man reden kann und der sich nichts darauf einbildet, daß er in seinem Job mehr verdient als andere und vieles besser kann als die meisten…« Ich machte eine kurze Pause, um dann in einem Ton, als läge mir folgendes schon lange auf der Zunge, hinzuzufügen: »…Zum Beispiel Autofahren! Das ist jetzt nicht untertänig, sondern es fällt mir schon eine ganze Weile auf: Ich kenne wirklich wenige, die ihren Wagen so gelassen und gleichzeitig sportlich bissig durch die Wirren des Autobahnverkehrs steuern…«

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, ob er die Pille schluckte. Anscheinend haderte er einen Moment, doch [15] dann nickte er besänftigt: »Tatsächlich bist du nicht der erste, der das sagt. Meine Mutter findet das auch.«

Sicher ein höchst unparteiisches Urteil, dachte ich und wartete, ob da noch wer folgen sollte. Doch offenbar war Mutter die einzige, die seine Fahrkünste schätzte. Ich erwiderte nichts und sah aus dem Seitenfenster. Ein Kerl in seinem Alter, der im Gespräch über angebliche Fähigkeiten einem Fremden gegenüber unvermittelt seine Mutter als Zeugin anführt, kam mir merkwürdig vor. ›Meine Freunde‹ oder ›meine Kollegen‹ oder von mir aus ›meine Familie‹ – aber ›meine Mutter‹? Und ohne ein Lächeln? Ich meine, wer kommt schon auf seine Mutter, und wer würde ihr Urteil ernst nehmen?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, fragte er: »Hast du Freunde?« Dabei hatte seine Stimme plötzlich so einen mitteilsamen Unterton.

Überrascht musterte ich ihn aus den Augenwinkeln. Hatte er etwa Vertrauen zu mir gefaßt? Weil ich seine Fahrkünste gelobt hatte? Oder kam jetzt einfach knallfall die andere Seite des Eisenritters zum Vorschein: der Jammerlappen? Wollte er mir womöglich gestehen, er sei einsam oder so was…? Im Grunde war es mir gleich, aber wie das ist, wenn man lange genug der Depp gewesen war und sich die Gewichte plötzlich zu verschieben scheinen, antwortete ich schnippisch: »Na klar, wer hat die nicht?« und sah ihn möglichst verwundert an.

»Arschloch«, sagte er prompt, und zum ersten Mal überrumpelte er mich, und ich begann, ihn sogar ein bißchen zu mögen.

»Naja…«, lenkte ich ein. »Es kommt natürlich drauf an, [16] was man unter Freunden versteht. Also, richtige Freunde habe ich… drei. Dann noch zwei, deren Freund ich gerne wäre, und einen, der gern meiner wäre. Der Rest sind Bekannte oder Leute von früher.«

Ich sah ihn von der Seite an, doch offenbar war für ihn das Thema beendet. Mir konnte es recht sein. Weder war mein Privatleben dazu da, ihm die Fahrt zu verkürzen, noch war ich scharf auf irgendwelche Beichten.

Die nächsten zwanzig Minuten fuhren wir schweigend. Ich legte den Kopf nach hinten und begann zu dösen…

»Willst du dir dreihundert Mark verdienen?«

Ich schlug die Augen auf. Hatte ich geträumt?

»…Bitte?«

»Ob du dir übers Wochenende dreihundert Mark verdienen willst? Übernachtung und Verpflegung extra.«

Ich rieb mir das Gesicht, als käme ich aus dem Tiefschlaf. Hastig überlegte ich, was dahinterstecken könnte. Dreihundert Mark übers Wochenende! Fast wie in den guten alten Zeiten, als die Flohmärkte noch von Minderjährigen bevölkert waren, die glaubten, von Räucherstäbchen würde man high und bunt bekleckste Bettlakenstreifen kämen aus Indien. Für Retzmann allerdings bedeuteten dreihundert Mark höchstens ein Trinkgeld… Also handelte es sich entweder um einen Idiotenjob, oder er war geizig – wahrscheinlich beides.

Ich räusperte mich: »…Naja, eigentlich habe ich morgen einen Termin in Berlin, geschäftlich, und… Um was für eine Arbeit handelt es sich denn?«

Er ließ sich Zeit. Offenbar war er sich seines Angebots noch nicht ganz sicher. Er nahm den Fuß vom Gas und [17] angelte sich einen Pfefferminzbonbon. Der Bonbon klickte zwischen seinen Zähnen hin und her.

Schließlich sagte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen: »Du sollst für zwei Tage mein Freund sein.«

Ich starrte ihn an… Also das war’s! Na klar: der Pony, die Mutter… Ohne daß ich es wollte, wurde meine Stimme grimmig: »…Wie darf ich das verstehen?«

»Wie ich’s sage.«

»Tut mir leid, aber da sind Sie – ich meine du – an der falschen Adresse. Ich mag Frauen.«

Jetzt war es an ihm, grimmig zu werden. »Quatsch! Ich meine einen Studienkollegen, einen Kumpel!«

Und dann begann er, mir die Sache in knappen Sätzen zu erklären: Er heiße Marcel Retzmann und sei ein vielbeschäftigter Theaterregisseur. (Dabei sah er mich kurz an, und ich beeilte mich zu sagen, daß mir sein Gesicht gleich bekannt vorgekommen sei, worauf er bescheiden sachlich nickte, als wären Worte aus meinem Mund über jeden Zweifel erhaben.) Nach Schulzeit und Theaterwissenschaftsstudium hänge sich bei ihm nun schon seit Jahren Inszenierung an Inszenierung, und inzwischen könne er sich vor Angeboten wichtiger Bühnen kaum retten. Das einzige Problem dabei: Obwohl er mit der Situation sehr glücklich sei, denn er liebe seine Arbeit über alles, häuften sich in letzter Zeit Fragen von Kollegen, von der Freundin und von der Mutter nach seinem Privatleben.

Wie gesagt, für viele ist Tramper mitnehmen wie ins Bordell gehen. Nur so läßt sich erklären, warum Retzmann ausgerechnet vor einem wie mir plötzlich sein Leben ausbreitete.

[18] »…Schon als ich noch zur Schule ging, war mein einziges Ziel, zum Theater zu kommen. Von Anfang an wußte ich: Meine Berufung ist, Schauspieler zu dirigieren. Während andere Fußball spielten, habe ich in einer Gärtnerei gearbeitet, um mir abends Karten fürs Theater leisten zu können. Ich habe alle Stücke gelesen, die ich kriegen konnte, und viele für mich alleine in meinem Zimmer inszeniert – als Schauspieler, Regisseur und Publikum in einer Person. Damit will ich sagen: Schon damals war ich ein Einzelgänger, und so stolz meine Mutter auf das für mein Alter außergewöhnliche Interesse am Theater war, so sehr machte sie sich Sorgen wegen meiner angeblichen Einsamkeit. Ich selber habe mich nie einsam gefühlt, und bis heute gibt es nichts, was mir ein Mensch geben könnte, was mir die Arbeit nicht hundertmal mehr gibt.«

Er hielt inne, um drei kleine, bis zur Decke mit Pappkartons und Plastiktüten vollgestopfte Fiats zu überholen. Ich fragte mich, ob er glaubte, was er da sagte, und ob seine Arbeitssucht weniger damit zu tun hatte, was ihm die Leute geben konnten, als was sie ihm geben mochten. Eins war jedenfalls sicher: Retzmann würde ›seinen Freund‹ bestimmt nicht auf der Wiese schlafen lassen oder mit Schokoriegeln verpflegen…

»…Um also besorgten Fragen und lästigen Ratschlägen bezüglich meiner Einsamkeit aus dem Weg zu gehen, erfand ich schon als Jugendlicher Freunde und Freundinnen, die selbstverständlich alle am anderen Ende der Stadt wohnten, schrieb mir selber Briefe, kam nachts betrunken von angeblichen Partys zurück und hängte mir Fotos von wildfremden Leuten übers Bett. Als ich dann später in Hannover [19] studierte, erzählte ich zu Hause von meinen neuen Freunden und in Hannover von meinen alten Kumpels zu Hause. Und so halte ich es bis heute: Wenn ich merke, daß irgend jemand anfängt, auf mich herabzusehen, weil er mich für einen Arbeits-Zombie hält, der kein Privatleben und sogenanntes Vergnügen kennt, erzähle ich sofort ein paar Anekdoten von durchsoffenen Nächten und heißen Abenteuern in einer anderen Stadt. Nicht weil ich mich schäme, sondern weil die Kollegen sonst womöglich den Respekt vor mir verlieren würden.«

Ich sah zu, wie er sich den nächsten Bonbon angelte. Inzwischen war ich von seiner Geschichte einigermaßen fasziniert – wenn auch vor allem vom technischen Aspekt.

»Und wie funktioniert das mit deiner Freundin?«

»Zuerst mal ist sie Schauspielerin, und da weiß sie, was sie an mir hat.« Er bewegte kurz den Zeigefinger hin und her. »Gehässige Bemerkungen sind da nicht drin. Aber hin und wieder fragt sie natürlich doch, verpackt in schmeichlerisch sorgenvollen Ton: ›Willst du nicht mal ausspannen? Fehlen dir deine Freunde aus Hannover nicht? Wie wär’s, wir geben mal ein Fest…?‹ Tja, und dieses Fest, nach dem nicht nur sie, sondern auch verschiedene Kollegen immer wieder gefragt haben, als ob man der Welt in meiner Position eine solche Veranstaltung schuldig sei – dieses Fest findet nun morgen statt. Es ist mein dreißigster Geburtstag, und alle sind eingeladen.«

Ich begann zu verstehen. Retzmann schwieg und schien sich ganz dem Überholen zweier Laster zu widmen. Ich sah durch die regenverlaufene Scheibe. Ein Schild kam uns entgegen: ›Hildesheim 30Kilometer‹.

[20] »…Und wie hast du dir das vorgestellt? Ich meine… Soll ich rumlaufen: Hey, Marcel, weißt du noch damals, als wir in Hannover blabla…?«

»So etwa, nur daß du mich Retzmann nennst, klingt mehr nach Männerfreundschaft. Ansonsten werde ich dich einfach als liebenswerten Kauz einführen, der sich einen Spaß daraus macht, den Dummen zu spielen…«

Retzmann warf mir einen kurzen, scharfen Blick zu, und ich grinste verschmitzt, damit er sich freuen konnte, was für ein feiner Beobachter er sei. Dabei überlegte ich, wieviel mehr als dreihundert Mark bei der Sache rauszuholen waren.

»…Anstatt Goldschmied bist du, sagen wir… Wie wär’s mit irgendeinem primitiven Job, und nebenher schreibst du seit acht Jahren an einem Roman…? Das gefällt den Leuten, das haben sie schon mal gehört. Außer mir hat den Roman bisher niemand zu lesen bekommen. Ich finde ihn natürlich phantastisch und dränge dich seit langem, ihn endlich abzuschließen. Über den Inhalt machen wir höchstens ein paar Andeutungen, und dann schmunzeln wir. Als primitiven Job schlage ich vor…«, er sah an mir herunter, »…zum Beispiel Forstgehilfe. Und wie es deine kauzige Art ist, bist du direkt von der Arbeit zu unserem Treffpunkt gekommen. Hast du irgendeine Ahnung von Bäumen oder Tieren?«

»Äste, Hirsch.«

»Okay. Wir haben uns in Hannover beim Studium kennengelernt und eine Weile zusammengewohnt. Laß dir ein paar Geschichten darüber einfallen, daß ich keinen Knoblauch mag, einen leichten Schlaf habe und mir das Geld durch die Finger rinnt.«

[21] Die ersten zwei Sachen habe ich nie nachprüfen können, aber was das Geld betraf, war seine Sicht auf sich selber schon phänomenal vernagelt.

»Also?« fragte er.

»Ja, nun…«, murmelte ich, wiegte den Kopf und ließ mir Zeit. Keine Frage, es war leicht verdientes Geld. Außerdem lief mir beim Gedanken an das Geburtstagsessen das Wasser im Mund zusammen. Da nahm ich noch an, der Satz, daß ihm das Geld durch die Finger rinne, entspreche wenigstens ungefähr der Wahrheit, und malte mir Tische aus, die sich unter Hummer, Braten und gefüllten Hühnern bogen.

Ein weiteres Schild verkündete: ›Hildesheim 5km‹.

»…Ehrlich gesagt, finde ich dreihundert Mark für einen Achtundvierzig-Stunden-Job etwas unangemessen…«

»Und wieviel wären deiner Meinung nach angemessen?«