Idioten. Fünf Märchen - Jakob Arjouni - E-Book

Idioten. Fünf Märchen E-Book

Jakob Arjouni

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Beschreibung

Was, wenn einem eine Fee einen Wunsch gewährt? Einziger Haken: Die Klassiker, also Wünsche betreffend Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld und Liebe, sind ausgeschlossen. Außerdem hat, wie alles im Leben, auch die Wunscherfüllung zwei Seiten. Fünf moderne Märchen über Menschen, die sich lieber blind den Kopf einrennen, als einen Blick auf sich selber zu wagen – Menschen also wie Sie und ich.

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Seitenzahl: 174

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Jakob Arjouni

IdiotenFünf Märchen

Die Erstausgabe

erschien 2003 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von

Davie Aubrey/Blue Planet Bild

Für Miranda

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23389 6 (8.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60373 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Idioten  [7]

Besiegt  [37]

Notwehr  [65]

Im Tal des Todes  [95]

Happy-End  

[7] Idioten

Als die Fee zu Max kam, saß er an einem warmen Frühlingsabend in Berlin vor ›Ricos Sporteck‹, trank Bier und dachte: Das Problem mit Idioten ist, daß sie zu idiotisch sind, um ihre Idiotie einzusehen. In einer Stunde traf er Ronni zum Essen, und wenn nicht er Ronni endlich die Meinung sagte, wer dann? Die Meinung im Haus war einhellig: Ronni benahm sich gegenüber den meisten Angestellten nicht nur wie der letzte Arsch, er würde sie, wenn er die Agentur so weiterführte wie in den letzten Monaten, auch alle um ihren Job bringen. Erst heute morgen hatte er sich wieder zwei Dinger geleistet: Erst strich er Nina die schon gebuchten und bezahlten Ferien mit ihrem neuen Freund, weil er sie angeblich bei einer Kampagne nun doch unbedingt dabeihaben wollte, und ließ ihr als Alternative nur die Kündigung; danach schickte er der Presse die Meldung, die Werbeagentur GoodReasons habe den weltbekannten Fotografen Eliot Barnes als ständigen Mitarbeiter gewonnen, obwohl mit Barnes bisher nur ein paar unverbindliche Gespräche geführt worden waren. Es dauerte keine drei Stunden, bis Barnes’ Agentin anrief und jede Zusammenarbeit bis auf weiteres ausschloß. Max, der in solchen Fällen von Ronni als Feuerwehrmann losgeschickt wurde, hatte den ganzen Nachmittag mit verschiedenen [8] Mitarbeitern von Barnes, Barnes’ Agentin und schließlich mit Barnes selber telefoniert, um immer wieder zu erklären, daß ein Hospitant und begeisterter Fan von Barnes’ Fotos die Meldung in offenbar leicht irrsinnigem Wunschdenken auf eigene Faust verfaßt habe. Bis auf Barnes, dem ein begeisterter Fan seiner Arbeiten ein einleuchtender Grund für so ziemlich alles zu sein schien, ließ jeder durchblicken, daß erstens die Hospitantengeschichte nicht besonders glaubhaft wirke und zweitens anscheinend etwas dran sei an den Gerüchten, daß Good Reasons seit dem Börsengang immer wieder Halbwahrheiten über Großaufträge und Vertragsabschlüsse in der Öffentlichkeit lanciere, um die Aktionäre bei Laune zu halten.

Max schüttelte den Kopf. Eine grandiose Aktion! Wie konnte Ronni nur glauben, mit so einem Blödsinn durchzukommen?

Als Ronni Good Reasons mit Max als erstem Angestellten und damals noch mehr oder weniger gleichberechtigtem Partner vor acht Jahren gegründet hatte, war ihre Idee gewesen, ausschließlich für Produkte und Organisationen zu werben, die ihrer Meinung nach der Welt und der Menschheit guttaten: Amnesty International, Brot für die Welt, Greenpeace, Kaffee direkt aus den Erzeugerländern, Bioprodukte, Antirassismuskampagnen, Non-profit-Unternehmen. Doch trotz einer Menge Eigenwerbung mit Zeitungsanzeigen und gezielt verschickten Broschüren interessierten sich zunächst weder Greenpeace noch die Kaffeeländer, noch sonstwer einigermaßen Klangvolles oder Finanzkräftiges für die Agentur, sondern nur ein paar Brandenburger Apfelbauern und ein Holland-Fahrrad-[9] Reparaturbetrieb in Kreuzberg. Nach einem Jahr, in dem sie, weil ihre Auftraggeber sich zu nichts anderem überreden ließen, wenig mehr gemacht hatten, als, wie Ronni es ausdrückte, »beknackte Sonnenaufgänge mit Kiffertexten möglichst handverschmiert auf eine Art DIN-A4-Toilettenpapier zu drucken«, beschlossen sie, vorübergehend auch für Firmen zu arbeiten, deren Inhalte der Welt möglicherweise nicht ganz so guttaten. Erst ein Schmuckgeschäft am Kudamm, dann ein paar Modeboutiquen und schließlich eine Internet-Firma, die Möbel aus exotischen Hölzern vertrieb. Wegen der Firma gab es anfänglich Diskussionen, schließlich ließ sich die Philosophie von Good Reasons nur schlecht mit der Assoziation von abgeholzten Regenwäldern verbinden. Aber die Agentur stand kurz vor der Pleite, und die Möbelfirma plante eine deutschlandweite Kampagne.

So kam eins zum anderen. Die Kampagne für die Möbelfirma wurde ein großer Erfolg, andere Firmen beauftragten Good Reasons, Werbung für Joghurt, Sekt, Mobiltelefone, Herrenanzüge zu machen, und als sich ein Jahr darauf ein Automobilkonzern meldete, von dem bekannt war, daß er den Großteil seines Geldes mit Panzern verdiente, dauerte das leicht betretene Innehalten kaum einen Nachmittag, bis die Champagnerkorken knallten. Vier Jahre später gehörte GoodReasons zu den drei bis fünf mächtigsten und umsatzstärksten Werbeagenturen Deutschlands. Da war Ronni schon lange unumstrittener Chef und Max nur noch seine willfährige rechte Hand. Darum blieben seine Versuche, Ronni den Börsengang auszureden, auch nur bescheiden.

[10] »Mann, Max, wir arbeiten uns hier seit Jahren dumm und dämlich, und was springt dabei raus? Hast du ’ne Villa am See? Hab ich ’ne Villa am See? Es läuft zur Zeit besser denn je, und wir haben die einmalige Chance, ordentlich abzusahnen.«

»Und wenn’s nicht mehr so gut läuft?«

»Ach du! Wenn’s nach dir gegangen wäre, würden wir immer noch für irgendwelche Hippies faule Äpfel bewerben. Die Welt wartet auf uns, so mußt du das sehen.«

»Ich seh nur, daß uns im Moment ein paar Firmen ziemlich gut mit Aufträgen versorgen.«

»Und was glaubst du, was die machen werden, wenn wir an der Börse sind? Sie werden Good-Reasons-Aktien haben und uns doppelt so gut mit Aufträgen versorgen.«

»Vielleicht.«

»Oh, Max! Max, Max, Max – kleiner Max. Wenn du mich nicht hättest!«

»Hmhm. Übrigens: Falls du dich erinnerst, es gibt da immer noch das alte Good-Reasons-Gründungspapier. Ich nehme nicht an, daß du die Agentur beim Einstieg an der Börse damit vorstellen willst.«

»Ach das. Wegschmeißen.«

»Es wäre aber vielleicht nicht ganz dumm, irgendeine Erklärung zu haben, wie es zu dem Namen kam. Fürs Image.«

»Good Reasons? Dafür brauch ich doch keine Erklärung. Und spätestens wenn sie wegen unserem Aktienkurs diese komische Tafel da höher machen müssen…«, Ronni grinste so breit, daß Max seine Backenzähne sehen konnte, »…erklärt sich das mit den guten Gründen ja wohl von allein.«

[11] Vor einem Jahr war es dann soweit: Good Reasons ging an die Börse. Der Kurs kletterte in den ersten Monaten, hielt sich anschließend eine Weile auf gutem Niveau und stürzte während der Krise des neuen Markts ab. Inzwischen war die Aktie nur noch ein Fünftel der ersten Notierung wert. Und statt daß Ronni mit seinem großspurigen, Optimismus verbreitenden Macher-Charme wie früher neue Kunden mit allerhand Luftschlössern und phantastischen Visionen für eine Zusammenarbeit gewinnen konnte, mußte er sich heute von jedem Werbe-Etatverwalter anhören, daß der Good-Reasons-Kurs im Keller war und seine Visionen offenbar wenig taugten.

Max trank das Bier aus, drehte sich im Stuhl um und winkte ins ›Sporteck‹ hinein, um ein weiteres zu bestellen. In dem Moment kam Sophie um die Hausecke. Ihre Blicke trafen sich, und Sophie verlangsamte ihre Schritte, als wollte sie am liebsten kehrtmachen. Dann nahm sie ihr Tempo wieder auf, kam an Max’ Tisch und sagte freundlich: »Na, Max, Feierabend?«

»Leider nur ’ne Pause. Ich treff mich gleich mit Ronni.«

»Ach so.«

Wie immer wirkte Sophies Miene auf Max undurchdringlich.

»Hast du schon gehört, was er heute morgen mit Nina gemacht hat?« fragte sie.

»Ja, klar. Eine Schweinerei.«

»Findest du?«

»Natürlich finde ich das. Auch wenn… Na ja, er macht sich halt Sorgen um die Firma, und Nina ist in ihrem Job nun mal absolute Spitze.«

[12] »Und dann will er sie feuern, wenn sie ihre vor zwei Monaten angemeldeten Ferien antritt?«

»Ach, du weißt doch, wie Ronni manchmal ist. Ob er sie wirklich feuern würde…«

»Eben, ich weiß, wie Ronni manchmal ist, und darum habe ich Nina auch geraten, die Ferien abzublasen wenn sie ihre Arbeit behalten will.«

Max wiegte den Kopf ein bißchen hin und her, sah vor sich auf den Tisch und sagte ernst: »Also, ich finde, da übertreibst du. Man kann mit Ronni über alles reden.«

»So? Dann red doch mal mit ihm darüber.«

Am liebsten hätte Max erwidert, genau das habe er heute abend vor, und zwar in aller Deutlichkeit. Aber vielleicht würde Sophie ihn dann morgen fragen, was denn bei dem Gespräch herausgekommen sei, und womöglich würde nichts herausgekommen sein, und gegenüber Sophie fühlte er sich sowieso immer irgendwie schwächlich.

»Ich werde morgen zuerst mit Nina reden. Vielleicht läßt sich der Urlaub ja um ein paar Wochen verschieben. Die dadurch anfallenden Mehrkosten würde natürlich die Agentur übernehmen.«

»Natürlich.«

»Na, komm. Das haben wir doch schon mal gemacht, letztes Jahr mit Roger.«

»Soweit ich weiß, hast du Roger das Geld aus eigener Tasche bezahlt.«

Max öffnete den Mund und schaute einen Moment lang so drein, wie er es ausgerechnet vor Sophie am allerwenigsten wollte, absolut schwächlich nämlich. Dabei brannte ihm die Frage im Kopf, wie sie das erfahren haben konnte.

[13] »…Aber doch nur vorgestreckt. Bei der Spesenabrechnung hab ich mir das Geld natürlich zurückgeholt.«

»Natürlich.«

»Ja, was dachtest du denn?«

»Ich dachte, Ronni wäre bei der Wahrheit geblieben, als er sich auf der Weihnachtsfeier gegen Ende völlig besoffen über dich lustig gemacht hat: Um das Betriebsklima müsse er sich einen Scheißdreck scheren, darum kümmere sich schon der kleine Max; der würde sogar sein Gehalt irgendwelchen drittklassigen Angestellten hinterherwerfen, nur damit die schön surfen gehen und Good Reasons nicht böse sein können.«

Max biß die Zähne zusammen, schob die Lippen vor und bekam einen ebenso beleidigten wie wilden Blick.

»Das ist nicht wahr.«

»Was? Daß Ronni so redet oder daß du das Geld aus eigener Tasche bezahlt hast?«

»Ich hab’s mir zurückgeholt.«

»Na, vielleicht wußte er das nicht.«

»Nach der Weihnachtsfeier.«

»Ach so. Dann bist du in einer Position, in der du Spesen auch noch ein Jahr später geltend machen kannst.«

»Ganz genau. Außerdem kennen Ronni und ich uns schon so lange und so gut, daß wir beide uns immer wieder über den anderen lustig machen können, ohne daß einer von uns damit Probleme hätte.«

»Hmhm. Vor allem du machst dich ja gerne lustig über Ronni.«

»Ich glaube nicht, daß du mich privat oft genug erlebt hast, um das beurteilen zu können.«

[14] »Nein. Leider nicht.«

Plötzlich fiel Max nichts mehr zu sagen ein, und Sophie blieb einfach stehen. Er wollte nach seinem Bierglas greifen, merkte aber noch rechtzeitig, daß es leer war.

»Na gut«, sagte Sophie endlich, »ich wünsch dir noch einen schönen Abend.«

»Ich dir auch«, erwiderte Max. »Bis morgen.«

Nachdem Sophie hinter einer Reihe parkender Autos verschwunden war, brauchte Max ein ganze Weile, um sich zu der Überzeugung durchzuringen, daß ihr Gespräch nichts weiter gewesen sei als ein ironisches Geplänkel zwischen zwei eigensinnigen Charakteren. Dann winkte er wieder in die Kneipe hinein.

Er winkte immer noch, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er wandte den Kopf, und vor ihm schwebte die Fee.

»Guten Abend«, wünschte die Fee.

»Guten Abend«, erwiderte Max, ließ den Arm als Zeichen für den Wirt in die Höhe gestreckt und erwartete, nach einem Weg oder einer Zigarette gefragt zu werden. Zwar bemerkte er, daß die Gestalt vor ihm irgendwie durchsichtig wirkte und ihre nackten Füße den Boden nicht berührten, aber das führte er auf die Machart des himmelblau schillernden Kleids und den Effekt raffiniert gemachter Sandalen zurück. Vielleicht arbeitete sie in der Modebranche, nicht weit vom ›Sporteck‹ gab es ein paar kleine Ateliers.

»Ich bin eine Fee und gekommen, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen.«

[15] Max hatte sich erneut zur Tür umgesehen in der Hoffnung, dem Kellner, der seinen gestreckten Arm offenbar nicht bemerkte, mit einem durstigen Blick begegnen zu können. Dabei drangen die Worte der Fee nur langsam zu ihm vor.

»Bitte?«

»Eine Fee«, wiederholte die Fee, »und ich bin gekommen, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen.«

Max schaute erst irritiert, dann ließ er den Arm sinken und runzelte mißbilligend die Stirn. Sollte das ein Scherz sein? Vielleicht ein Reklameding? Die gute Fee von Schultheiss oder Marlboro, die allein herumsitzenden Männern einen Wunsch versprach, wahlweise ein Mountainbike oder eine Messerkollektion, wenn sie dafür ein Jahr lang jede Woche eine Stange Zigaretten oder zwei Kästen Bier orderten? Oder einer dieser Fernsehgags? Aber wo waren die Kameras? Oder einfach nur eine Verrückte?

»Hören Sie, wenn das irgendein Spiel ist…«

»Nein. Ich bin eine echte Fee, und Sie haben wirklich einen Wunsch frei. Folgende Bereiche sind allerdings ausgeschlossen: Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld, Liebe«, ratterte die Fee ihren Text herunter. Es war ihr zehnter Termin an diesem Tag und vielleicht ihr tausendster, seit der Chef sie vom Sternschnuppendienst in den Kreis der Feen befördert hatte. Sie kannte alle Formen des Staunens und Nachfragens, wenn auch in abgemilderter Form. Denn damit den Feen genug Zeit zum Wünsche-Erfüllen blieb und sie ihre Fähigkeiten und Eigenarten nicht jedesmal ausführlich erklären mußten, war etwas in ihrer Aura, das die Beglückten auf so was wie Überraschung, Schrecken, [16] Fragen oder Zweifel nur in verhältnismäßig geringem Maße kommen ließ. Ab dem Augenblick ihres Erscheinens war der Besuch einer Fee für die meisten fast so normal wie ein Termin beim Automechaniker oder Steuerberater. Deren fachliche Ausführungen verstand auch kaum einer so genau, und manche der Methoden, einen Wagen durch den TÜV zu kriegen oder einen Gewinn an der Steuer vorbeizuleiten, grenzten für Außenstehende an Zauberei. Doch die wenigsten bestanden darauf, einen Vorgang zu begreifen, der offensichtlich zu ihrem Vorteil war.

Max verharrte einen Moment, horchte den Worten der Fee hinterher, versuchte, sich ihre Bedeutung bewußtzumachen, schüttelte den Kopf, sah sich kurz um, ob die Welt um ihn herum noch dieselbe war, und beugte sich dann über den Tisch. »Sie schweben tatsächlich, was?«

»Ja, wir alle.«

»Sie alle? Gibt’s mehrere Feen?«

»Ach, unzählige. Trotzdem kommen wir unseren Terminen kaum nach. Es wird einfach zuviel gewünscht.«

Max nickte zögernd, lehnte sich wieder zurück und griff blind nach seiner Schachtel Zigaretten. »Sie meinen, überall da, wo Leute sich was wünschen, müssen Sie hin?«

»Eigentlich schon. Aber wie gesagt: Wir kommen kaum nach und nicht selten zu spät.«

Ohne die Fee aus den Augen zu lassen, zündete sich Max eine Zigarette an. Durch das schmale, unscheinbare, ein wenig erschöpft wirkende Gesicht der Fee konnte er die gegenüberliegende Hausfassade und ein Apothekenschild sehen. Max spürte, wie sein Mund trocken wurde. Normalerweise war er keiner, der sich von irgendwelchem [17] Hokuspokus beeindrucken ließ. Zwar ging er handlesenden Zigeunerinnen lieber aus dem Weg, hatte in Rußland gelernt, nicht mit alkoholfreien Getränken anzustoßen, und klopfte bei Gedanken über Tod und Krankheit manchmal auf Holz. Aber er glaubte an keinen Gott außer an seinen eigenen und war überzeugt, daß sich alles auf der Welt logisch erklären ließ, wenn man nur lange genug forschte und nachdachte. Die Würfel fielen, wie man sie warf – Schluß. (Und er ahnte, daß er seine Würfel nicht immer besonders geschickt warf.)

Doch das hier war offenbar etwas ganz anderes. Er hatte bis eben nur ein Glas Bier getrunken, und wenn er mit dem Knie an das Tischbein stieß, konnte er es spüren. Trotzdem schwebte vor ihm eine durchsichtige Gestalt und schenkte ihm einen Wunsch. Und er hielt das für wahr.

»Was hab ich mir denn gewünscht?«

»Tut mir leid. Ich kriege so viele Wünsche auf den Tisch, da kann ich mich an einzelne nur selten erinnern.«

»Aber ich wünsche mir wahrscheinlich jeden Tag irgendwas.«

»Das ist egal. Einer Ihrer Wünsche war Anlaß für mich, zu Ihnen zu kommen. Jetzt können Sie sich – innerhalb der Regeln natürlich – wünschen, was Sie wollen.«

»Aha.« Was ich will, dachte Max und schaute ratlos.

»Was war noch mal ausgeschlossen?«

»Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld, Liebe.«

Max zog an der Zigarette und bewegte nachdenklich den Kopf. Zu Liebe wäre ihm sofort was eingefallen. Mit Rosalie aus der Zahnpastareklame zum Beispiel traf er sich seit zwei Monaten regelmäßig zum Badminton, ohne [18] weiter als bis zu flüchtigen Wangenküßchen gekommen zu sein. Er hatte sich schon gefragt, ob sie vielleicht lesbisch sei. Ganz zu schweigen von der großen, tiefen, dauernden Liebe, nach der er sich sehnte wie jeder andere und die mit den Jahren und Erfahrungen in immer weitere Ferne zu rücken schien. Auch Geldwünsche wären schnell formuliert gewesen. Zwar verdiente er nicht schlecht, hatte aber in Treue zu Ronni sämtliche Ersparnisse in Good-Reasons-Aktien angelegt. Mehr denn je in den letzten sechs Jahren lag eine Villa am See, die Ronni ihm als Ergebnis des Börsengangs prophezeit hatte, außerhalb seiner Möglichkeiten. (Dabei machte er sich darüber, daß für Ronni eine Villa – und zwar eine zwölfzimmerige mit kleinem Park und Bootssteg – vier Monate nach dem Börsengang erwiesenermaßen innerhalb seiner Möglichkeiten gelegen hatte, lieber nicht so viele Gedanken.) Und Gesundheit, Unsterblichkeit? Max war Mitte Dreißig, und trotz Zigaretten und Alkohol versicherte ihm der Arzt alle paar Jahre, er sei bei bester Gesundheit. Natürlich, seit seinem dreißigsten Geburtstag kam er schon mal ins Zählen. Wenn’s schlecht lief, war die Hälfte rum. Und Max mochte das Leben. Gegen ein paar Jahre mehr hätte er nichts einzuwenden gehabt. Aber was wären die schon wert, wenn die Gesundheit nicht mitspielte? Wenn er sich jetzt wünschte, hundert zu werden, und ab siebzig läge er im Bett? Künstlich ernährt oder so was?

Max schnippte die aufgerauchte Zigarette weg und sah wieder zur Fee, die angefangen hatte, ein wenig unruhig auf der Stelle hin und her zu schweben. »Was wünschen sich denn andere so?«

[19] »Ach, alles mögliche. Manche Leute möchten ein paar Wochen Ferien, andere eine Geschirrspülmaschine.«

»Eine Geschirrspülmaschine…?« Max schaute entgeistert. »Das meinen Sie doch nicht ernst?«

»Aber ja. Geschirrspülmaschine rangiert ganz oben. Dritter oder vierter Platz.«

»Was steht denn auf dem ersten?«

»Berühmt sein.«

»Ach… Und wie erfüllen Sie das jedesmal, wenn sich das so viele wünschen?«

»Raten Sie mal.«

»Keine Ahnung.«

»Talk-Shows.« Max meinte, ein kaltes Lächeln über die Lippen der Fee huschen zu sehen. »Tatsächlich liegt es an uns, daß das Fernsehen heutzutage voll davon ist. Drauf gekommen ist unser Chef.«

»Heißt das, Ihr Chef entscheidet, in welcher Form ein Wunsch erfüllt wird?«

»Wenn er nicht klar definiert ist. Gerade beim Berühmt-sein-Wollen kommt das ziemlich oft vor. Auf die Fragen Womit oder Wozu fällt den meisten kaum was ein, aber auf dem Wunsch beharren sie. Und dann ist der Chef dran.«

»Talk-Show ist keine sehr charmante Idee.«

»Aber praktisch, und auf jeden Fall charmanter, als alle vom Hochhaus springen zu lassen.«

»Ja, so gesehen… Aber fällt Berühmtsein nicht eigentlich in den Bereich Unsterblichkeit? Und Geschirrspülmaschine in den Bereich Geld?«

»Tja nun. Wenn man lange genug drüber nachdenkt, fällt wahrscheinlich jeder Wunsch in einen der Bereiche.«

[20] »Darüber, daß eine Geschirrspülmaschine Geld kostet, hat man aber ziemlich schnell nachgedacht.«

Die Fee seufzte. »Hören Sie, ich habe die Regeln nicht gemacht. Ich nehme Wünsche entgegen und erkläre den Leuten, was geht und was nicht. Geschirrspülmaschine geht, tausend Mark geht nicht. Wenn Sie wissen wollen, warum das so ist, müßten Sie sich an den Chef wenden.«

»Kann man das denn?«

»In bestimmten Fällen empfängt er schon mal. Bei Wünschen, die wirklich große Ereignisse betreffen: Revolutionen, Kriege, Hungerkatastrophen, Impfmittel, Erfindungen.«

Hungerkatastrophen, Impfmittel… Max erinnerte sich, wie er mit Ronni vor acht Jahren nächtelang eine Spendenkampagne für Krisengebiete entworfen hatte. Und zwar ohne die üblichen Fotos von sterbenden Kindern und ausgetrockneten Flüssen, sondern mit Schnappschüssen von Berliner Prominenten, wie sie sich in teuren Restaurants vollfraßen und -soffen. Der Zeitungsherausgeber, dem ein Stück Schnitzel aus dem fetten Gesicht hing, darunter die Zeile: Wenn Sie sein Blatt eine Woche lang nicht kaufen, wird er nicht verhungern – und in Äthiopien können Sie mit dem gesparten Geld ein Menschenleben retten. Oder der Theaterintendant, der mit dem Kultursenator Arm in Arm über einer Reihe leerer Champagnerflaschen saß: Auch ohne Ihr Eintrittsgeld sind seine nächsten zehn Flops gesichert – sichern Sie mit fünfzig Mark das Überleben einer Familie.

Aber die Organisationen, denen sie die Kampagne anboten, fanden sie zu aggressiv. Wäre die Fee damals zu mir [21] gekommen, dachte Max, hätte ich mir wünschen können, daß die Kampagne gekauft und ein Erfolg wird. Aber heute…

Daß es möglich war, sich etwas zu Hungerkatastrophen zu wünschen, verwirrte Max. Als hätte ihn jemand an seine Jugendideale erinnert, und ein Gefühl der Scham stieg in ihm auf. Fiele ihm heute für Hungernde überhaupt noch ein Wunsch ein? Er wußte ja nicht mal mehr, wo die genau waren. Immer noch in Äthiopien? Oder konnte er einfach sagen, niemand solle mehr hungern? Aber das war ja albern. Das hatte doch wohl irgendein anderer schon lange vor ihm versucht. Und offenbar funktionierte es nicht. Wahrscheinlich fiel es in den Bereich Gesundheit. Oder Geld.

Während Max so überlegte, wurde das Gefühl der Scham immer stärker. Als wüßte er, daß seine Überlegungen nur dazu dienten, am Schluß, wenn er voraussichtlich einen doch eher privaten Wunsch äußerte, vor sich selber nicht als allzu selbstsüchtig dazustehen. Denn den Hunger in der Welt zu bedenken hieß ja irgendwie fast schon, etwas gegen ihn zu unternehmen. Schließlich war der erste Schritt zur Problemlösung die Problemwahrnehmung. Und wie viele Leute übersahen Hungersnöte ganz einfach? Da war er moralisch klar im Vorteil. Trotzdem: So ganz überlisten konnte er sich damit nicht.

Doch dann hatte er plötzlich eine Idee: Wenn er Ronni vorschlüge, mit dem alten Good-Reasons-Zeug wieder anzufangen? Als Nebenschiene und non profit? Wäre das keine phantastische Reklame? Er konnte die Überschriften in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen vor sich sehen: [22] Werbeagenturriese macht unentgeltlich Kampagne für Brot für die Welt. Oder: Good Reasons mit guten, ehrenvollen Gründen voran. Würde das den Aktienkurs nicht sofort hochschießen lassen?