Ein Mann, ein Mord - Jakob Arjouni - E-Book + Hörbuch
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Ein Mann, ein Mord E-Book

Jakob Arjouni

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Kayankaya. Schauplatz Frankfurt, genauer: der Kiez mit seinen eigenen Gesetzen, die feinen Wohngegenden im Taunus, der Flughafen. Kayankaya sucht ein Mädchen aus Thailand. Sie ist in jenem gesetzlosen Raum verschwunden, in dem Flüchtlinge, die um Asyl nachsuchen, unbemerkt und ohne Spuren zu hinterlassen leicht verschwinden können. Was Kayankaya dabei über den Weg und in die Quere läuft, von den heimlichen Herren Frankfurts über korrupte Bullen und fremdenfeindliche Beamte in den Ausländerbehörden bis zu Parteigängern der Republikaner mit ihrer Hetze gegen alles Fremde und Andere, erzählt Arjouni klar, ohne Sentimentalität, witzig, souverän.

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Seitenzahl: 186

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Jakob Arjouni

Ein Mann, ein Mord

Kayankayas dritter Fall

Roman

Die Erstausgabe erschien 1991

im Diogenes Verlag

Umschlagfoto:

Copyright © Image Brokers/Photoshot

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22563 1 (12. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60003 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Ich saß am Schreibtisch, kritzelte meine Gladbacher Mannschaftsaufstellung für ein Spiel im Jenseits in den Kalender und langweilte mich mit Herrn Kunze.

Borussia im Himmel:

Kleff

Hannes

Vogts

Frontzeck

Stielike

Bonhof

Simonsen

Netzer

Heynckes

Jensen

Laumen

Herr Kunze war mein Vermieter. Durch den Hörer rechnete er mir vor, weshalb die Miete ab nächsten Monat erhöht werden müßte – um dreißig Prozent – und warum das Leben kein Zuckerschlecken sei. »Frau und Kinder«, stöhnte es aus der Muschel, und ich setzte Sieloff, Mill, Kamps und mich auf die Ersatzbank, Weisweiler auf eine Wolke. Dann unterbrach ich. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kunze, bin ich für Sie der beste Mieter auf der Welt, und am liebsten würden Sie mir was draufzahlen, damit ich das Büro behalte. Auf der anderen Seite kann Ihre Frau mit weniger als zehn Pelzen nicht leben, [6] ohne daß sie Migräne bekommt und Ihnen die Hölle heiß macht. Schön, jeder muß sehen, wo er bleibt. Trotzdem finde ich tausend Mark für ein Zimmer mit Waschbecken und regelmäßigem Stromausfall übertrieben.«

»Völlig Ihrer Meinung, mein Lieber, völlig! Ich sage immer, Arbeitsplatzqualität macht fünfzig Prozent Lebensqualität aus, dann die Wohnqualität und das Zwischenmenschliche – das natürlich ganz besonders. Aber nun versetzen Sie sich mal in meine Lage: elf Häuser in Frankfurt, der Reitstall, vier Autos – was das allein an Steuern kostet! Und dann die Reparaturen, und, und, und …«

Ich legte ein Kissen auf den Hörer, kramte zwei Aspirin aus der Schublade, warf sie in ein Glas Wasser und sah, den Kopf in beide Hände gestützt, zu, wie es sprudelte. Herrn Kunzes Stimme kam wie eine gefangene Hummel unter dem Kissen hervor.

Es war der einunddreißigste März neunzehnhundertneunundachtzig, neun Uhr morgens. Ich hatte Schulden und keine Aufträge. Der Wasserhahn tropfte, die Kaffeemaschine war kaputt und ich müde. Mein Büro glich einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anonyme Alkoholiker. Aktenordner und leere Bierflaschen waren über Boden und Regale verteilt, die unbeschriebenen Karteikarten rochen nach verschüttetem Whisky. Einziger Wandschmuck ein vier Jahre alter Chivas-Regal-Kalender und eine Postkarte von den Bahamas. Ein Heiratsschwindler, dem ich letzten Herbst auf der Spur gewesen war, hatte sie mir als Einladung zum fünfzigsten Geburtstag geschickt. ›… werde sozusagen den goldenen Junggesellen feiern. Würde mich über Ihr Kommen sehr freuen.‹ Das Bild [7] rundeten ein grauer fleckiger Teppichboden voller Brandlöcher, eine vom Zigarettenrauch gelb verfärbte Tapete und die im Raum verteilten Überreste der geplatzten Kaffeemaschine ab. Im Grunde genommen konnte mir ein Umzug nicht schaden.

Ich trank das Aspirin und ging zum Fenster. Aprilwetter mit allen Schikanen. Wolken stürmten über den Himmel wie Elefanten; zwischendurch ein Flecken Blau, ein Strahl Sonne, dann wieder Regen. Eine alte Frau kämpfte sich mit Krückstock und Pudel die Häuserwände entlang. Kinder wurden wie Plastiktüten über die Straße gefegt. Im Rinnstein kullerte ein Hut. Die warme Heizung schmiegte sich an meine Knie, und ich erinnerte mich verzweifelter Bittgänge zu Hausverwaltungen und Vermietern, die mir vor sechs Jahren den Winter verdorben hatten. Sie waren im großen und ganzen immer nach dem gleichen Muster verlaufen: Hinter einem Schreibtisch ein Mann mit gefalteten Händen, das Lächeln süßlich, die Augen zu unheilverkündenden Schlitzen verzogen, fragt, als hätte er was Besseres zu tun: »So, so, Herr Kayankaya, Sie sind also Privatdetektiv. Interessanter Name, Kayankaya.«

»Weniger interessant als türkisch.«

»Ach.« Das Lächeln wird noch süßer, und die Schlitze sind kaum mehr dicker als Rasierklingen. »Türke. Ein türkischer Privatdetektiv? Was es nicht alles gibt. Und wieso sprechen Sie so gut Deutsch, wenn ich mir die Frage erlauben darf?«

»Weil ich keine andere Sprache gelernt habe. Meine Eltern sind früh gestorben, und ich bin in einer deutschen Familie aufgewachsen.«

[8] »Aber Türke sind Sie – ich meine …«

»Ich habe einen deutschen Paß, falls Sie das beruhigt.«

Seine Zunge fährt unentschlossen über die Lippen, um dann zu verschwinden und einer Stimme Platz zu machen, die so unschuldig wie hüpfende Kinder daherkommt.

»Dürfte ich einmal sehen?«

Ich gebe ihm das grüne Heftchen. Er blättert darin. Seine Augen zerlegen es in Atome.

»Nicht, daß eine türkische Herkunft für ein Mietverhältnis bei uns irgendeine Bedeutung hätte. Und da sogar die deutsche Staatsbürgerschaft vorliegt … trotzdem möchte man natürlich wissen, mit wem man es zu tun hat.«

Er schlägt das Heftchen zu und gibt es mir zurück.

»Ich hätte eher auf den arabischen Raum getippt. Ihr Profil, die Art – der Türke im allgemeinen ist anders.«

»Wie ist er denn so?«

»Kleiner, würde ich sagen, asiatischer, irgendwie unumgänglicher – eben anders.«

Hat er nun einen Büroraum für mich oder nicht. Ich räuspere mich und frage. Er weicht aus, kommt mit Floskeln und schreibt sich schließlich meine Telefonnummer auf einen Zettel, der aussieht, als gehöre er nirgendwo anders hin als in den Papierkorb. Ich verabschiede mich. Eine Woche später werde ich von einer Sekretärin abgewimmelt.

Ich fegte Kippen und tote Insekten vom Fensterbrett, lehnte mich mit dem Rücken zur Straße dagegen und betrachtete, die Arme verschränkt, mein Büro. ›Ein bißchen [9] aufräumen, den Teppichboden auswechseln und ein frischer Kalender‹, dachte ich, ›das könnte die Arbeitsplatzqualität enorm steigern.‹

Als ich das Kissen vom Hörer nahm, hatte Herr Kunze aufgelegt. Im nächsten Moment klingelte es an der Tür. Ich drückte den Summer. Die Tür öffnete sich, und eine bunte Kugel schob sich herein. Braune Bommelschuhe, weiße Hose, roter Gürtel, blau-weiß gestreiftes Hemd, grüne Krawatte mit Pünktchen, blauer Mantel, dicker Bauch, kurze Beine. Von Kopf bis Fuß auf Lebenslust eingestellt, blieb er neben der Tür stehen und musterte entgeistert das Büro. Er stand einfach da und guckte; und je länger er stand, desto weniger schien ihm einzuleuchten, was er hier zu suchen hatte. Schließlich fragte ich: »Kann ich Ihnen helfen?«

Vorsichtig, als habe er Angst, seine Schuhe könnten schimmeln, durchquerte er den Raum, blieb vor meinem Schreibtisch stehen und fuhr sich durch die Haare. Dann rückte er die rosa Brille zurecht und fiepte: »Mein Name ist Weidenbusch, ich will Sie engagieren.«

Er fiepte tatsächlich. Entweder drückte sein Bauch von unten auf die Stimmbänder, oder die Krawatte war zu fest gebunden, jedenfalls fiepte er wie ein Welpe. Alles in allem machte er den Eindruck eines durchschnittlichen Westendaffen, der Rotwein schlürft, ohne Bier von Fanta unterscheiden zu können, gebügelte Unterhosen trägt und meint, rosa Brillen und bunte Uhren machten Charakter. Was ihm fehlte, war ein gepflegter Vier-Tage-Bart, und dafür konnte er nichts.

»In welcher Angelegenheit?«

[10] »Nun …« Er räusperte sich. Und nach wiederholtem Seitenblick: »… ich störe Sie nicht zufällig beim Umzug?«

Ein Wink mit dem Betonpfeiler.

»Nein«, brummte ich, lächelte ihn an, nahm eine leere Zigarettenschachtel, knüllte sie zusammen und warf sie durchs Zimmer.

»Das ist so mein Stil.«

»Ach.«

Er versuchte zurückzulächeln. Es gelang ihm halbwegs, und als wir uns eine Weile angelächelt hatten und es aussah, als könnten wir gar nicht mehr damit aufhören, fragte ich: »Aber Sie sind wohl kaum gekommen, um mit mir über Büroeinrichtung zu diskutieren?«

»Nein, natürlich …«

Ich wies auf den Besuchersessel. Wenn man mich mochte, konnte man ihn antik nennen.

»Setzen Sie sich.«

Er drehte sich um, machte zwei Schritte, sah den Sessel und hielt inne.

»… wenn Sie natürlich lieber im Stehen reden.«

Er nickte dankbar: »Im Stehen redet es sich tatsächlich oft viel besser.«

»Na schön. Dann mal raus mit der Sprache. In ’ner halben Stunde hab ich Termin bei der Maniküre.«

Ich hätte nichts Selbstverständlicheres sagen können.

»Entschuldigen Sie. Also …«, seine Augen wurden groß wie Pflaumen, »… es handelt sich um Entführung.«

»Wer oder was?«

»Meine Freundin.«

[11] »Wann?«

»Heute.«

Ich sah auf die Uhr.

»Heute?«

Er nickte.

»Auf die Idee, sie könnte zum Frühstück verabredet sein, oder beim Frisör, sind Sie aber schon gekommen?«

»Der Fall liegt anders – ich meine, ich weiß, wo sie ist.«

»Ach, das wissen Sie.« Ich lehnte mich zurück. Irgendwie wollte unser Gespräch nicht recht in Gang kommen. »Nicht gerade üblich bei ’ner Entführung.«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie verstehen mich nicht. Ich weiß, was sie vorhatte, und … es ist nämlich so …«

Wieder faßte er sich an die Brille. Er machte sich überhaupt dauernd an ihr zu schaffen, wenn er nicht am Schlips zupfte oder sich durch die Haare fuhr.

»… meine Freundin ist Thailänderin.«

Er sah zu Boden, und ich runzelte die Stirn. Um ein bißchen Leben in die Veranstaltung zu bringen, fragte ich: »Und Sie haben die letzte Rate nicht gezahlt? – Oder war’s ein Probeexemplar?« Und tatsächlich ging ein überraschend vitaler Ruck durch die Kugel.

»Wie bitte?!«

»Schon gut. Erzählen Sie weiter.«

Einen Augenblick zögerte er, lief dann durchs Zimmer und sah mich zwischendurch an, als hätte ich was über seine Mutter gesagt. Die Mundwinkel zuckten.

»Ja, sie kommt aus Thailand. Aber nicht so, wie Sie denken.«

[12] Mehr zu mir selbst murmelte ich, »eigentlich denke ich gar nicht«, und er nickte zustimmend. Fast wurde er mir sympathisch.

»Wir haben uns ganz normal in einer Diskothek kennengelernt. Jedenfalls am Anfang war es so. Sie sagte, sie würde Verwandte besuchen. Die ersten Tage mit ihr waren wie ein Traum.«

Er erging sich über die internationale Sprache der Liebe. Thailändisch oder deutsch – Gefühle sagen mehr als tausend Worte und so weiter. Dann kam er ins Stocken, seufzte und schwieg. Ich klemmte eine Zigarette zwischen die Lippen und tat es ihm nach. Als ich genug gewartet hatte, fragte ich: »Und?«

Mit einer Mischung aus Kummer und Sehnsucht im Blick sah er auf und hob flehend die Arme.

»Ich will Ihnen doch nur vermitteln, wie wichtig sie mir ist, verstehen Sie? Sie denken, ich wär so ein Kerl mit Thailänderinnen, aber so einer bin ich nicht. Ich … wissen Sie, wir haben zusammengesessen, einfach so. Sie hat mit den Augen gefragt, und ich habe mit einer Berührung geantwortet …«

Ich knallte die flache Hand auf den Tisch.

»Und als Sie ihr erklären wollten, wo die Toilette ist, ist sie aus ’m Fenster gesprungen! Mann, kommen Sie doch mal auf ’n Punkt. Daß Sie verliebt sind, sehe ich, sonst würden Sie nicht die schlimmsten Stunden Ihres Lebens durchmachen, weil in meinem Büro keine Bistrotischchen rumstehen. Und wenn Sie Probleme wegen einer Thailänderin haben, Ihre Sache. Ihre Freundin ist entführt worden, und mein Job könnte es sein, sie wiederzufinden.

[13] Könnte, wenn Sie erzählen, was passiert ist, und aufhören, mir über die Sprache der Liebe in die Jacke zu heulen.«

Er machte den Mund auf und zu, und sein Kinn fing an zu zittern. Dann schloß er die Augen, fuhr mit Daumen und Zeigefinger unter die Brille und drehte sich weg. Sein Rücken zuckte. Ich seufzte. Plötzlich schien die Sonne durchs Fenster, und ich hatte Lust, auf die Straße zu gehen, in die Stadt, irgendwo ein Bier trinken. Statt dessen rappelte ich mich aus dem Sessel, ging zu der bunten Kugel und knetete ihr die Schulter.

»Jetzt machen Sie sich mal nicht verrückt. Wir werden sie schon finden.« Seine Pflaumenaugen blickten auf. Sie hatten einen feuchten Glanz. Ich grinste. »Und Sie werden es noch früh genug bereuen. Beide. Spätestens, wenn Sie eine Sprache sprechen. Dann ist es vorbei mit Augen- und Berührungs-Trallala, dann wird über Suppe geredet, Haarwaschmittel, Wetterbericht. Nix mehr Herzklopfen und Kerzenschein, sondern Müll runterbringen und Sportschau verboten.«

Es war nicht auszumachen, ob er lachte, aber es schien so eine Andeutung davon. Ich gab ihm einen Klaps und setzte mich zurück hinter den Schreibtisch. Er schniefte noch ein bißchen, um dann langsam, die Worte wie ein altes Brötchen kauend, fortzufahren: »Eine Woche später erfuhr ich, daß sie in einem Club, arbeitet. Sie wissen schon. Zuerst war ich außer mir, und dann setzte ich alles dran, sie dort rauszuholen. Dreimal hab ich sie besucht … an ihrem Arbeitsplatz. Schrecklich, ganz schrecklich.« Er schüttelte sich. »So etwas können Sie sich nicht vorstellen!«

[14] »Na, ja.«

Ich wiegte nichtssagend den Kopf. ›Ein Hurenretter‹, dachte ich, ›ein bonbonfarben verpackter Hurenretter mit rosarundem Guck-in-die-Luft. Und ich soll ihm dabei helfen, weil er Angst hat, sich in so einem Schuppen die Krätze zu holen.‹ Aber ich dachte falsch, und was er in der nächsten halben Stunde durchs Büro tappend erzählte, war auf den Punkt gebracht folgendes: Weidenbusch hatte Sri Dao, so hieß die Freundin, für fünftausend Mark freigekauft, die Summe, die sie dem Club angeblich für Anreise, Unterkunft und Verpflegung schuldete, und zu sich in die Wohnung genommen. Nach den Flittertagen fingen sie an zu überlegen, was weiter geschehen sollte. Sri Daos Aufenthaltsgenehmigung würde in drei Wochen ablaufen, und sie hatte weder Geld noch Lust, nach Thailand zurückzufliegen. Ein Asylantrag mochte Aufschub bedeuten, wäre aber mit hundertprozentiger Sicherheit abgelehnt worden; heiraten, so Weidenbusch, wollten beide nicht. Die Zeit verging, ohne daß sie eine Lösung fanden, und das vorgeschriebene Abreisedatum war bereits um einige Tage überschritten, als sie in eine Paßkontrolle gerieten. Der Polizist nahm Sri Daos Personalien auf und drohte mit Abschiebung, sollte sie nicht innerhalb der nächsten drei Tage das Land verlassen haben. Wäre Weidenbusch nicht dabeigewesen, man hätte sie sofort in Haft genommen. Am nächsten Morgen, Sri Dao packte schon die Koffer, klingelte das Telefon. Ein Mann, der sich mit Larsson vorstellte, bot gegen dreitausend Mark in bar falsche Papiere an; sie hätten eine halbe Stunde Zeit, sich zu entscheiden, dann würde er wieder anrufen. Weidenbusch und Sri Dao [15] entschieden sich und trafen mit dem Anrufer folgende Abmachung: Sri Dao steht am nächsten Morgen, sieben Uhr, mit Geld und Paßbild am Taxistand Hauptbahnhof Ostseite. Alleine. Ein grauer VW-Bus holt sie ab und bringt sie an einen geheimen Ort, wo man die Papiere bastelt. Vierundzwanzig Stunden später sei sie wieder zu Hause.

Sie taten wie verlangt, mit einer Abweichung: Sri Dao kam nicht alleine. Der graue VW-Bus fuhr vor, ein Mann mit Sonnenbrille und Schnurrbart sprang heraus, öffnete die Schiebetür und rief Sri Dao »schnell, schnell« zu. Im gleichen Moment ging Weidenbusch dazwischen und verlangte Auskunft über das Ziel der Reise. Der Schnauzbart stieß ihn zur Seite, schob Sri Dao, die »No, no« und »This is my man« schrie, mit Gewalt ins Wageninnere, schloß die Schiebetür und setzte sich hinters Steuer. Weidenbusch riß die Beifahrertür auf, doch bevor er einen Laut von sich geben konnte, klebte ihm ein Pistolenlauf am Kinn. Sekunden später war der VW-Bus verschwunden, und Weidenbusch saß im Schock auf dem Bordstein. Irgendwann in der nächsten Stunde kam ihm dann die Idee, einen Privatdetektiv aufzusuchen, und jetzt war er hier. Zitternd und wild mit den Armen gestikulierend stand er vor mir und wiederholte immer wieder, »Mit einer Pistole, einer echten Pistole – hier …«, er zeigte auf seine rechte Wange, »… eine falsche Bewegung, und …« Er schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf.

Ich bot ihm eine Zigarette an, und er nahm sie, ohne hinzuschauen. Plötzlich blieb er stehen, betrachtete erstaunt den weißen Stengel zwischen seinen Fingern, ließ ihn fallen und trat mit dem Schuh drauf. Während ich mich noch [16] über die auf einmal so häusliche Umgangsform mit meinem Büro wunderte, plumpste er in den Besuchersessel, streckte die Beine von sich und kommandierte in höchsten Fisteltönen: »Ich will, daß Sie sie wiederfinden, und ich will, daß Sie dem Verbrecher die Fresse polieren!«

›Fresse polieren‹ klang, als hätte er es für heute auswendig gelernt.

Ich puhlte mit einem Streichholz an meinen Fingernägeln herum. »Wie sind Sie auf mich gekommen?«

Er stutzte. Seine Wimpern klimperten irritiert. Er schwieg.

»Ich nehme an, Sie haben im Branchenverzeichnis nachgeschaut. Warum Kayankaya, warum nicht Müller?«

»Weil sie Thailänderin ist, und ich dachte …«

»Sie dachten, Thailand – Türkei, fängt beides mit T an.«

»Wie konnte ich wissen, daß Sie Türke sind? Im Gegenteil. Ich hätte erwartet … aber …«

Der Satz blieb unbeendet zwischen uns hängen, als hätte jemand Stacheldraht durchs Zimmer gespannt.

Sie besuchen Ausstellungen in New York und gehen auf Safari in Afrika; sie kiffen in Kairo, essen japanisch und wollen Moskau Demokratie beibringen; sie sind international bis auf die Pariser Unterhose – aber einen Türken ohne Sperrmüll unterm Arm und zehn ungewaschenen Kindern an der Hand, das geht nicht rein in ihren Schädel. Ich war froh, bei Weidenbusch kein Zimmer mieten zu wollen. Ich warf das Streichholz weg und musterte meine Fingernägel. »Wie heißt der Club, in dem Ihre Freundin gearbeitet hat?«

»LADY BUMP. In der Elbestraße.«

[17] »Und wem haben Sie die fünftausend Mark gegeben?«

»Einem Mann namens Korble oder Köble …«

»… Köberle? Charly Köberle?«

»Ja, genau.«

»Wer wußte sonst noch, wann die Aufenthaltsgenehmigung abläuft?«

»Nun … ein paar Freunde, und meine Schwester.«

»Was macht Ihre Schwester?«

»Sie arbeitet in einer Kindertagesstätte – therapeutisch, sozial-therapeutisch.«

»Kindergärtnerin?«

»… so ähnlich.«

Ich angelte mir eine Zigarette und rollte sie zwischen den Fingern. »Sie sehen nicht aus wie einer, der auf mysteriöse Anrufe eingeht. Und daß das keine Spaßmacher sind, war immerhin abzusehen.«

»Ich hätte auch niemals zugestimmt, wenn nicht …« Für einen Moment schloß er die Augen und schluckte. Seine Hände verkrampften sich wie miteinander ringende Kraken. »… sehen Sie, gestern morgen, die gepackten Koffer, es ging alles so schnell, und dann …« Erschöpft ließ er die Schultern sinken.

»Kennen Sie noch jemand, dem so ein Angebot gemacht wurde? Eine der ehemaligen Kolleginnen im LADY BUMP zum Beispiel?«

»Nein.«

»Na schön. Zweihundert Mark am Tag plus Spesen. Ihre Adresse, die Telefonnummer, wo Sie tagsüber zu erreichen sind, und den vollständigen Namen Ihrer Freundin. Ich will sehen, was sich machen läßt.«

[18] Aus einer krokodilledernen Brieftasche wechselten fünf Hundertmarkscheine über den Schreibtisch.

»Und noch was, ich bin kein Schläger. Wenn Sie jemand möchten, der Fressen poliert …«

»Nein, nein – ich war vorhin nur sehr erregt. Entschuldigen Sie.«

Ich entschuldigte und strich das Geld ein. »Ihr Beruf?«

»Künstler.«

Mir blieb die Sprache weg. »Hä?«

Eifrig, mit jetzt nervösem Glanz in den Augen, erklärte er: »Ja, Bildhauer und Maler. Und ich schreibe, Kurzgeschichten und fürs Fernsehen. Vielleicht drehe ich demnächst sogar einen Film. Und beim Radio bin ich auch.«

Ich glotzte ihn an. »Alles auf einmal?«

»Ich kann nicht anders. Ich muß was tun, muß arbeiten und kreativ sein, sonst werde ich verrückt.«

»Aha. Haben Sie’s mal mit Fernsehen und Bier versucht?«

Er machte ein richtig nettes Gesicht und sagte nur für mich: »Das halte ich nicht aus. Wirklich. Wenn Sie das können, ich beneide Sie darum.«

Ich überlegte, ob er da nicht was verwechselte, aber schließlich war es mir auch egal. »Ihre Adresse?«

Er gab mir seine Visitenkarte. Links ein Blümchen, rechts ein Blümchen, in der Mitte Manuel Weidenbusch.

»Sri Dao Rakdee. Rakdee mit zwei e.«

Ich schnippte meinen Daumennagel gegen die Visitenkarte und sagte: »Auf Wiedersehen.«

[19] 2

Eine schwarze polternde Decke hatte sich über Frankfurt gelegt, und die ersten Tropfen fielen. Ich bugsierte den Opel zwischen zwei Offenbacher Cabrios, ließ den Wagen quer stehen und rannte die Treppe zum EROS-CENTER ELBESTRASSE hoch. Zwei graue Plastiklappen markierten den Eingang. Sie sahen aus, als kotze jeder Besucher zum Abschied einmal dagegen. Ich stieß die Lappen auseinander und war im rundum gekachelten, rosa beleuchteten Erdgeschoß. An den Wänden hingen vollbusige Gipsbüsten und Witzbilder in der Art ›Jäger jagt Hirsch, während Hirsch Jägersfrau besteigt‹. Dazu seufzte eine italienische Halsschmerzenstimme aus unsichtbaren Lautsprechern ›Amore, amore‹. Die Luft war dick und süß, und man meinte, sie schlüge Wellen, wenn man sie durchschritt: ein verkommenes, riesiges Luxus-Pissoir, nur daß die Klofrauen Strapse und bunte Schlüpfer trugen. Kurz hinter dem Eingang zogen sich Türen links und rechts durch die düsteren Gänge. Alle drei Meter eine, dahinter ein verschwitztes Zimmer. Handtuch auf dem Bett, Pornobilder an der Wand, ein Waschbecken, eine Packung Kleenex. Die meisten Türen waren geschlossen. Vor den offenen saßen Frauen auf Hockern, die Beine lang in den Flur gehängt, das Lächeln falsch wie Glasperlen, gelangweilt und jede Menge Putz im Gesicht. Um diese Uhrzeit arbeitete nur, wer es mehr als nötig hatte. Außer ein paar Spannern, die drei-, viermal die Runde machten und jedesmal neu ein Gesicht zogen, als wären sie hier rein zufällig hineingeraten, war kein Betrieb.

[20] Abseits, in einer Ecke versteckt, lag der hauseigene Kiosk. Sprudel und belegte Brötchen fürs Personal. Drei Fliegen leisteten den Brötchen unter einer Glasglocke auf der Theke Gesellschaft. Ich lehnte mich daneben und zündete mir eine Zigarette an. Der kleine Mann unter mir, mit dem Kassengestell auf der Nase und der kalten Selbstgedrehten im Mundwinkel, saß in eine Decke gehüllt und grübelte über einem Puzzle. Der deutsche Bundeskanzler in fünfzig Teilen. Neben ihm ein volles Glas Wermut, vor ihm ein schlafender Dackel in gestricktem Leibchen, im Regal eine verstaubte Batterie Limonadendosen.

»Slibulsky schon da?«

Ohne aufzusehen, schüttelte er den Kopf. Ich sah zu, wie er das Kohlsche Kinn zusammensetzte.

»Macht Spaß?«

Wieder schüttelte er den Kopf. Mir lief Schweiß den Nacken herunter. Die Hände wurden feucht, und der Mantelkragen kratzte. Eine Hitze wie im Backofen. Ich hatte das Gefühl, langsam zu garen, und wunderte mich über seine Decke.

»Gar nicht so schwer, fünfzig Teile.«

Er legte das Puzzlestück, das er in der Hand hielt, beiseite und wandte sich mir zu. »Is ’n Werbegeschenk. Von ’ner Partei. Mit Politik hab ich nix am Hut, aber is umsonst. Verstehste?« Und, die Oberlippe rümpfend: »Normalerweise mach ich in Dreitausender, mindestens.« Beim Sprechen wippte die Kippe im Rhythmus.

Er sah mich noch eine Weile nach dem Motto ›Und wenn du eins in die Fresse willst, kannste haben‹ an und widmete sich wieder dem Spiel. Ich rauchte, und er [21] puzzelte. Ich sah auf die Uhr. Viertel nach elf. Wir hatten uns für elf verabredet.

Ich kannte Ernst Slibulsky seit zwei Jahren, und wir waren sowas wie befreundet. Er reparierte mein Auto, ich beriet ihn bei Geschenken für seine Freundin, und wenn er sich mit ihr gestritten hatte, schlief er bei mir auf dem Sofa. Einmal die Woche spielten wir Billard; anschließend tranken wir ein paar Bier und redeten über Fußball. Manchmal tranken wir zuviel Bier, versuchten andere Themen und verstanden uns nicht. Slibulsky machte seit drei Monaten den Hampelmann für Ibiza-Charly, schmiß randalierende Freier raus und trieb bei den Frauen das Geld ein. Es war seine erste Arbeit in dieser Richtung.

Der kleine Mann seufzte. Das Puzzle war fertig. Seine Hand tastete nach dem Glas, und auch beim Trinken blieb die Kippe im Mund. Als er das Glas absetzte, war es leer. Mißmutig wischte er sich mit dem Handrücken übers Kinn.

»Vielleicht isses aber auch deshalb nich schwer, damit der Herr Kohl, wenn er vom Regieren müde is, selber ma bißchen spielen kann.«

Ich gähnte. Er blinzelte mich an.

»Sind wohl keiner von der komischen Sorte?«

»Bin von der, die zu wenig geschlafen hat.«

Ohne den Blick von mir zu lassen, zündete er den Rest Zigarette an und sank zurück in seinen Sessel. »Sind Sie ’n Kunde?«

Ich schüttelte den Kopf. Die Glut leuchtete auf. Er sah [22] zur Decke. »Früher hätte ich Sie das gar nicht zu fragen brauchen. Früher war das ’n anständiges Haus mit anständigen Mädels. Da hing an der Tür ’n Schild ›Kein Fremdenverkehr‹. Lustig, was?«

»Zum Totlachen.«

Er nickte bedächtig. »Und heute? Nur noch Kaffer und Perverse. Aber is ja kein Wunder, bei all den Seuchen, die sie jetzt in Amerika erfinden.«

Ich trat meine Zigarette aus.

»Kein Fremdenverkehr … das waren noch Zeiten. Sie sind doch auch ’n Kaffer, oder?«

»Und einer, der Ihnen Ihre belegten Brötchen um die Ohren schlagen kann.«

Er schien amüsiert. »Das lassen Sie mal besser bleiben. Ich bin nämlich der große Bruder von Charly. Bißchen zurückgeblieben, aber sein Bruder.«

»’nen zurückgebliebenen Eindruck machen Sie nicht gerade.«

»Finden Sie?« Er schlug die Decke zurück. Anstelle der Beine lagen da zwei kurze Stumpen. »Und jetzt?«

»Ich würde sagen, gehbehindert.«

»So, das würden Sie also?«

Sein Lachen war mehr ein Husten. Schadenfroh und häßlich zugleich. Er zog eine Flasche weißen Cinzano hinter dem Sessel hervor und schenkte sich nach.

»Ich war mal ’ne große Nummer! Aber eines Tages, ratsch! Beide Beine – wie ’ne Wurst. Danach hat Charly mir die Arbeit hier besorgt. Nutten die Brötchen schmieren. Nett, nicht wahr? Dieses Loch.«

»Geht eben nichts über Familie.«

[23]