Der heilige Eddy - Jakob Arjouni - E-Book + Hörbuch

Der heilige Eddy E-Book

Jakob Arjouni

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Beschreibung

Der heilige Eddy handelt vom mysteriösen Verschwinden eines Berliner Großunternehmers und High-Society-Stars, von Klatschjournalisten, einer Stadt außer Rand und Band, einem Volkshelden wider Willen und vom wunderbarsten Duft der Welt.

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Seitenzahl: 202

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Jakob Arjouni

Der heilige Eddy

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2009 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Ron Chapple (Ausschnitt)

Copyright © Ron Chapple/

Corbis/Dukas

Für Elsa und Emil

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24017 7 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60002 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Deger- oder Dregerlein  [7]

Der Idiot  [28]

Hotte  [39]

Arkadi  [59]

Das Hütchenspiel  [78]

Der Volksheld  [102]

Romy  [136]

Killer Sex  [181]

Die Giftschwuchtel  [199]

Der heilige Eddy  [219]

[7] Deger- oder Dregerlein

»Darf ich Ihnen mal ein Kompliment machen …«

Herr Deger- oder Dregerlein, Eddy konnte sich den Namen einfach nicht merken, warf einen kurzen Blick auf die wenigen verbliebenen Gäste, ob ihm auch keiner zuhörte, ehe er sich über den Teller mit leeren Austern- und Krabbenschalen beugte und mit gesenkter Stimme sagte: »Ich komme jetzt schon zum dritten Mal zur ›Combär‹ nach Berlin, aber ehrlich gesagt, Sie sind der erste wirklich nette Mensch, den ich hier treffe.«

»Na ja, genau genommen und im wahrsten Sinne des Wortes habe ja ich Sie getroffen.« Eddy lächelte verlegen, und Herr Deger- oder Dregerlein lehnte sich herzlich lachend in den Stuhl zurück.

»Na, da haben Sie natürlich recht! So ein dummer Unfall aber auch! Wie in einem dieser Filme, nicht wahr? Auf einer Banane!«

In Wahrheit war Eddy fast zwei Stunden im [8] neuen Hauptbahnhof herumgeschlendert, ehe er glaubte, mit Deger- oder Dregerlein endlich den idealen Mann gefunden zu haben: um die fünfzig, gemütlicher Typ, ordentliche Kleidung, der dunkelblaue Cashmere-Mantel ungefähr in Eddys Größe, gutmütiges, offenes Gesicht, gerade angekommen und sichtlich orientierungslos zwischen hastenden Reisenden und einem Wald aus Wegweisern, Anzeigetafeln, blinkenden Reklamen und Leuchtschriften. Er war am Fuß der Rolltreppe stehengeblieben, die ihn vom Ankunftsgleis runter auf die dritte Etage des vor einem halben Jahr eröffneten Glas- und Stahlpalasts gebracht hatte. Die kleine auberginefarbene Wochenendreisetasche fest zwischen die Beine geklemmt, sah er sich aufmerksam um und schien bemüht, hinter die Ordnung der von unzähligen Rolltreppen und Aufzügen durchzogenen, sich in der Mitte über vier Ebenen öffnenden Riesenhalle zu kommen. Dabei schüttelte er immer wieder milde lächelnd den Kopf, als wollte er sagen: Diese Hauptstädter! Müssen immer extra dick auftragen, als täten es nicht auch ein paar Gleise und Fahrkartenschalter – bei uns in Dings zum Beispiel funktioniert das schon seit Generationen.

Eddy zog die Banane aus der Manteltasche, die er von zu Hause mitgebracht hatte, und aß sie mit [9] großen Bissen, während er sich durch einen Strom von Menschen und Rollkoffern einen Weg zu dem Mann mit auberginefarbener Tasche bahnte. Dabei blickte er sich ein paarmal um, als suche er ein Hinweisschild. Tatsächlich hielt er nach Beamten des Sicherheitsdienstes Ausschau und versuchte, die für den Bereich zuständige Überwachungskamera zu orten. Doch wie fast jedes Mal entdeckte er weder Beamte noch Kameras. Umso genauer choreographierte er seinen Sturz. Etwa drei Meter vor dem Mann blieb er mitten im Menschen- und Rollkofferstrom plötzlich stehen, ließ sich von einem Dicken anrempeln, stolperte über seine eigenen Beine, drehte eine Pirouette Richtung Rolltreppe, ließ die leere Bananenschale fallen, machte einen Ausfallschritt und noch einen, trat auf die Schale, rutschte aus, versuchte sich zu fangen, nahm dadurch erst richtig Fahrt auf und sauste Arme und Kopf vorneweg in den dunkelblauen Cashmere-Mantel.

»Na, aber …!«, hörte Eddy den Mann über sich, gefolgt von einem lauten Ächzen, während sie gemeinsam in die schmutzige Ecke neben der Rolltreppe stürzten. Noch im Fallen suchte Eddy den Boden nach frisch ausgespuckten Kaugummis ab. Die waren schwer aus feiner Wolle rauszukriegen, und er wollte seinen möglicherweise zukünftigen [10] Mantel nicht schon vorm ersten Anprobieren ruinieren.

»O mein Gott!«, rief Eddy, während er und der Mann Anstalten machten, sich aufzurappeln. »Bitte entschuldigen Sie! Das ist mir ja so was von peinlich! Ich weiß gar nicht …«

Nachdem der Mann noch halb im Liegen als Erstes seine Tasche an sich gerissen hatte, saß er nun aufrecht auf einen Arm gestützt und musterte den vor ihm auf den Knien hockenden, ihm die Hände zur Hilfe entgegenstreckenden Eddy misstrauisch von oben bis unten.

Denn man hörte ja so einiges über Berlin – ihn würde so ein kleiner Hauptstadthalunke jedenfalls nicht hinters Licht führen!

Doch anscheinend fiel das Ergebnis der Musterung eher positiv aus. Eddy hatte sich für den Job im Hauptbahnhof auch angemessen in Schale geworfen: weiche dunkelbraune Wildlederschuhe, dunkelbraune Cordhose, weißes Hemd unter hellbeigem V-Ausschnitt-Pullover, moosgrüner Dufflecoat und ein bunt gemusterter Kenzo-Schal. Aus einer Jackentasche ragte die FAZ, und an der rechten Hand trug er einen sehr einfachen, flachen, billigen Silberring, bei dessen Anblick fast jeder dachte: Der sieht so einfach und billig aus – da er ihn trägt, muss er eine ganz besondere Bedeutung [11] für ihn haben, Erbstück oder Liebesgeschichte, wie sympathisch, billiger Ring, wahre Werte. Eddy hatte das an mehreren Bekannten getestet. Tatsächlich war der Ring nichts weiter als einfach und billig, und Eddy trug ihn nur zu dieser speziellen Aufmachung. Irgendwas zwischen Museumsmitarbeiter, Feuilletonredakteur und Antiquitätenhändler.

Abgesehen davon war Eddy inzwischen schon über vierzig, und angegraute Haare, sogenannte Denkerstirnfalten und eine leichte, freundlich-versöhnliche Mattheit im Blick ließen sich nur schwer mit dem Bild verbinden, das bei der Bezeichnung Hauptstadthalunke entsteht.

»… Ja, wie konnte denn das passieren?« Statt misstrauisch oder vorwurfsvoll wirkte der Mann nun nur noch erstaunt.

»Es ist wirklich zu blöd, aber …«

Eddy brach ab, hob hilflos die Schultern und deutete mit zerknirschtem Ausdruck auf die nicht weit von ihnen liegende Bananenschale. Das war der Schlüsselmoment: Wenn der Mann jetzt nicht den Kopf schüttelte, von einem ungläubigen Schmunzeln gepackt wurde und so was wie »Gibt’s ja nicht!« sagte, dann konnte man die Sache vergessen. Einmal war Eddy das mit einem Amerikaner passiert. Der hatte auf die Bananenschale [12] gedeutet und in düsterem Ton festgestellt: »That’s really dangerous! Someone could get seriously injured! That makes me so angry! We should call security, they should go after the guys who did that.« Eddy hatte es noch versucht mit »But it’s kind of funny too, isn’t it? I mean, it’s like in the movies«, aber nur ein »You think nearly breaking a leg is funny?« geerntet. Woraufhin sich Eddy mit »I’m really sorry, but it was nice to meet you« davongemacht hatte.

Doch mit Deger- oder Dregerlein lief es wie am Schnürchen. Er sah die Bananenschale, öffnete den Mund und hielt einen Augenblick inne, ehe er den Mund noch weiter öffnete und ein lautes, tiefes, in der Brust dröhnendes Lachen anstimmte. Die Art Lachen, bei der einem zum Lachen vielleicht gar nicht unbedingt zumute ist, sondern die vor allem dem Gefühl entspringt, den Umständen ein Lachen schuldig zu sein.

Entsprechend rief er: »Ist ja wie in einem Witz!« Und weil Eddy nicht gleich reagierte: »Verstehen Sie? Diese Witze, wo einer auf der Bananenschale ausrutscht! Aber dass einem das mal wirklich passiert! Ist ja zum Piepen!«

Eddy tat, als könne er sich dem ansteckenden Lachen seines Gegenübers nicht entziehen, und stimmte wie gegen seinen Willen mit ein. Bis er [13] sich schließlich räusperte und kleinlaut zu bedenken gab: »Nur, dass ich Ihnen ganz unwitzig weh getan habe.«

»Ach, das geht schon. Meine Knochen halten was aus.«

»Trotzdem, es ist mir wirklich sehr unangenehm. Kommen Sie …«

Eddy half ihm beim Aufstehen und klopfte ihm ein paar helle Schlieren und einen Strohhalm vom Mantel. An der linken Brustseite ortete er die Brieftasche.

»Lassen Sie nur, der war eh reif für die Reinigung.«

»Ein schöner Mantel. Reisen Sie ab, oder sind Sie gerade angekommen?«

»Angekommen. Mit dem Zug aus Bochum.«

»Bochum! Ich habe eine Tante in Bochum!«, sagte Eddy, als sei das ein wirklich bemerkenswerter Zufall. Er nahm immer die Tante. Mutter, Vater oder Geschwister tönten ihm zu gewichtig, als wollte er gleich die ganze Familiengeschichte erzählen, das Wort »Onkel« hatte, wie er fand, einen pädophilen Beigeschmack, und wer erinnerte sich schon an Nichten oder Neffen. Tante dagegen klang leicht und unschuldig nach Plätzchen und Postkarten und zeugte trotzdem von echtem Familienbewusstsein.

[14] »Ach ja?«, fragte der Mann höflich.

»Ja. Vor ein paar Jahren habe ich sie dort besucht, hat mir gut gefallen.«

»Nun, wenn man die richtigen Ecken kennt.«

Eddy reichte dem Mann die auberginefarbene Reisetasche vom Boden. »Sagen Sie, ich weiß ja nicht, was Ihre Pläne sind, aber ich habe gerade meine Frau zum Zug gebracht und wollte sowieso einen Happen zu mir nehmen – darf ich Sie zum Ausgleich für dieses Missgeschick vielleicht zum Mittagessen einladen?«

»Na, das ist aber ein nettes Angebot.«

»Aber selbstverständlich.«

»Warten Sie …«

Der Mann sah auf seine Armbanduhr. Sehr dick und golden mit antiken Ziffern. Die kann er behalten, dachte Eddy.

»… Ich muss um fünf am Checkpoint Charlie sein. Dort ist die ›Combär‹, wissen Sie?«

»Tut mir leid, aber davon habe ich, glaube ich, noch nichts gehört.«

»Computermesse. Meine Branche. Hab zwei Läden in Bochum.«

»Ach, na das trifft sich ja prima! Da können Sie mich gleich beraten. Ich bin, was Computer betrifft, nämlich eine echte Null, muss mir aber jetzt einen neuen anschaffen.«

[15] »Kein Problem. Dregerlein mein Name: Mit Dregerlein da hast du Schwein!«

»Ha-ha – das ist gut! Ist das Ihr Motto?«

»Na ja, sag ich manchmal so aus Flachs. Vor zwei Jahren hatten wir eine Sonderangebotskampagne, da haben wir das verwendet.«

»Gefällt mir gut: Mit Degerlein da hast du Schwein!«

»Dregerlein, nicht Degerlein – aber den Fehler machen viele.«

Auf dem Weg zum Taxistand schlug Eddy ein Spezialitätenrestaurant für Meeresfrüchte vor. Erstens, weil er gerne Austern aß, zweitens, weil er in dem erst vor kurzem eröffneten Restaurant noch nie beruflich aktiv gewesen war, und drittens, weil er den Mann aus Bochum mit Austern und dem Flair von großer weiter Welt beeindrucken wollte.

»Austern?«, fragte Deger- oder Dregerlein amüsiert und ein bisschen ängstlich. »Isst man die nicht besser so frisch wie möglich an der Küste?«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Die werden jeden Tag eingeflogen. Frischer geht’s kaum. Außerdem halten sich Austern im Kühlschrank bis zu zehn Tagen, das wissen nur die wenigsten.«

»Bis zu zehn Tagen?«

»Ja. Ein Stück Fleisch können Sie nicht so lange aufbewahren, geschweige denn eine Bratwurst.«

[16] »Ah, Bratwurst …«, sagte Deger- oder Dregerlein, als sei die Rede auf einen guten alten Freund gekommen. »Das habe ich die letzten Male hier in Berlin gegessen. Die guten Thüringer …«

»Und wissen Sie, warum?«, fragte Eddy, ohne auf Deger- oder Dregerleins Sehnsucht nach Bratwurst einzugehen und während er ihn am Arm zum ersten Taxi am Stand lenkte: »Weil Austern ja leben. Und solange sie ein bisschen Wasser zu essen oder trinken oder was immer sie damit anstellen in der Schale haben, geht’s ihnen wunderbar.«

Der Taxifahrer verstaute die Reisetasche im Kofferraum, sie stiegen ein, und Eddy nannte dem Fahrer eine Adresse in Mitte. Als er sich zurücklehnte, begegnete er Deger- oder Dregerleins beunruhigtem Blick.

»Ist irgendwas?«, fragte Eddy.

»Nun … wie meinen Sie das, sie leben?«

»Ach so …« Eddy nickte, als verstünde er die Frage gut und hielte sie für berechtigt, während er schnell überlegte, ob in Deger- oder Dregerleins Charakter Stolz oder Feigheit überwogen. Auf keinen Fall sollte er sich unwohl fühlen, andererseits konnte eine neue – sozusagen hauptstädtische – Herausforderung, wenn er sich ihr denn stellte und sie bewältigte, zusammen mit genügend Weißwein für echte Euphorie sorgen; und kaum etwas machte [17] die Leute leichtgläubiger und unaufmerksamer als Euphorie.

Doch dann fielen Eddy die auberginefarbene Reisetasche und die Uhr mit antiken Ziffern ein, und er entschied, dass es sich hier eher nicht um einen Mann für Herausforderungen handelte.

»… Na, im Sinne von: wie auch eine Birne lebt. Die ist erst mal eine Knospe, dann wächst sie, und irgendwann ist sie alt und verschrumpelt und stirbt.«

»Die Birne stirbt?«

»Oder vergeht, verfault – wie Sie wollen. Jedenfalls unterliegt sie einem Lebenszyklus mit Anfang und Ende, und so gesehen sind Austern nichts anderes als ein Obstsalat. Darum ja auch die Bezeichnung: Meeresfrüchte.«

»Aha.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden’s überleben«, sagte Eddy lächelnd und ein bisschen frech und deutete einen freundschaftlichen Ellbogencheck an: Komm, Deger- oder Dregerlein, altes Haus, du hier zur öden Computermesse, eigentlich nur mit der Aussicht auf ein paar Bier mit langweiligen Kollegen und später im Hotelzimmer vielleicht noch einen Porno, und jetzt auf einmal: verrückte Begegnung mit original Berliner, der dich zu abgefahrenen Speisen in ein [18] Einheimischen-Restaurant einlädt – davon kannst du in Bochum noch in fünf Jahren erzählen!

Und tatsächlich, nachdem er die Situation anscheinend noch mal kurz überdacht hatte, streckte Deger- oder Dregerlein die Beine aus, faltete die Hände überm Bauch, und ein zufriedener, fast spitzbübischer Ausdruck trat in sein Gesicht.

»Also gut«, sagte er, während er auf das vorbeiziehende Regierungsviertel mit mächtiger Reichstagskuppel, Bundeskanzleramt und Fernsehturm im Hintergrund schaute, »Sie sind der Boss. Entführen Sie mich zu einer ordentlichen Sause! Mann, ist das ’ne Stadt!«

So ist’s recht, dachte Eddy.

Zwei Stunden, zwei Meeresfrüchteplatten und drei Flaschen Weißwein später sagte Eddy, während er den Dufflecoat vom Stuhl neben sich nahm und seine Brieftasche herauszog: »Wie gerne würde ich jetzt noch eine Runde bestellen. Es macht wirklich Spaß, mit Ihnen hier zu sitzen, aber nun – das Leben ist kein Wunschkonzert, nicht wahr? Leider muss ich um halb vier meinen Sohn vom Klavierunterricht abholen.« Er lächelte froh. »Aber zum Glück sehen wir uns ja schon morgen wieder …«

Nach der zweiten Flasche hatten sie sich für den [19] nächsten Tag auf der ›Combär‹ zu Computerkauf und Abendessen mit Deger- oder Dregerleins Kollegen verabredet.

»Machen wir jedes Jahr: immer zu ›Knorke‹ am Alex. Nichts gegen das hier, ist wirklich toll, aber da kriegen Sie ein Eisbein … Also, die Schweine mit diesen Haxen möchte ich mal sehen, müssen groß wie Elefanten sein. Die bringen einem dort extra lange Messer, damit man beim Schneiden mit einem Mal durchkommt.«

»Klingt lecker.«

»Ist es, ist es – am Ende sind wir immer so pappsatt und fix und fertig, da muss erst mal ’ne Flasche Schnaps her. Denn die Regel ist: Wer nicht aufisst, zahlt.«

»Ach so?«

»Ja, ja. Manchmal laden wir extra irgend so ’nen Salatesser mit ein, und der macht natürlich spätestens nach der Hälfte schlapp.«

»Na!«, Eddy hob amüsiert den Zeigefinger, »das ist aber nicht fair!«

»Nein, ist es nicht«, sagte der schon ordentlich beschwipste Deger- oder Dregerlein begeistert: »Aber billig!«

Woraufhin sie eine Weile fröhlich gelacht und abwechselnd »Aber billig!«, »Aber billig!« wiederholt hatten.

[20] Eddy ließ die Brieftasche aufklappen und legte sie zwischen leere Gläser und Espressotassen so auf den Tisch, dass der gegenübersitzende Deger- oder Dregerlein sie gut sehen konnte. »Ich werde dann mal zahlen.«

Deger- oder Dregerlein, der von den drei Flaschen zweieinhalb getrunken hatte und inzwischen nicht mehr beschwipst, sondern ziemlich mitgenommen wirkte, saß mit von sich gestreckten Beinen und herunterhängenden Armen im Stuhl zurückgelehnt und verfolgte Eddys Bewegungen mit glasigem, versonnenem Blick. »Ich könnt hier ebenfalls noch hockenbleiben. Wirklich: Sie sind ’n netter Kerl. Vielen Dank fürs Essen.«

»Ist mir ein Vergnügen.«

Auf der einen Seite der Brieftasche waren die Streifen verschiedener Kredit-, Bank- und Krankenversicherungskarten zu sehen, auf der anderen das Schwarzweißfoto einer etwa dreißigjährigen Frau, der die Haare ins lachende Gesicht hingen. Sie trug eine helle Kittelschürze, schob mit dem linken Arm einen kleinen Jungen ins Bild und hielt in der rechten Hand eine Gartenschere.

Es dauerte einen Moment, bis Deger- oder Dregerleins Blick die Brieftasche voll im Fokus hatte, dann stutzte er plötzlich, und während Eddy so tat, als halte er nach einem Kellner Ausschau, [21] arbeitete sich Deger- oder Dregerlein aus dem Stuhl vor und beugte sich über den Tisch zum Foto.

»Aber das ist doch … Wer ist das denn?«

Eddy wandte den Kopf. »Was …? Ach so, Lucie, meine Frau, und mein Sohn Moritz.«

»Also, das ist aber ’n Ding … Ich hätte gewettet, dass das Romy Schneider ist, unsere Romy …«

»Na, das werde ich Lucie ausrichten, da wird sie sich freuen. Romy Schneider ist eine unserer Lieblingsschauspielerinnen …« Plötzlich schien Eddy etwas einzufallen. »Apropos, meine Frau …« Er zögerte, guckte, als sei ihm Folgendes zwar unangenehm, aber als könne er nicht anders. »… Das wollte ich Sie schon die ganze Zeit fragen. Schauen Sie, meine Frau ist Französin und findet immer, ich würde mich nicht mit genügend Klasse kleiden. Na ja, Sie sehen ja …« Eddy hob leicht die Arme und warf einen Blick an Pullover und Cordhose herunter. »… Jedenfalls fällt mir schon die ganze Zeit Ihr Anzug auf und wie toll er Ihnen steht. Das ist etwa genau die Art unaufdringlicher Schick, den sich meine Frau für mich wünscht. Und, na ja, also wenn’s Ihnen nichts ausmacht, vielleicht könnten Sie mir sagen, welche Marke das ist …«

Nachdem Deger- oder Dregerlein während Eddys kurzer Rede zunehmend ratlos dreingeschaut hatte, hellte sich seine Miene nun schnell wieder [22] auf, und er polterte gutmütig: »Jetzt stellen Sie sich doch nicht so an! Warum sollte mir das denn was ausmachen?! Und überhaupt: Jetzt ist mal gut mit Etepetete-Sie und Popel-Ihnen!« Wuchtig streckte er Eddy die Hand entgegen, wobei er fast sämtliche Gläser vom Tisch gestoßen hätte. »Alter vor Schönheit, nicht wahr, also darf ich das: Hier, ich bin der Markus!«

Eddy schaute kurz überrascht, dann lächelte er, schüttelte die Hand und sagte: »Florian.«

»Na, siehst du! Und morgen trinken wir da einen drauf! Florian! Gefällt mir gut! Florian – Florian und Markus! Der Anzug ist übrigens ganz einfach von Karstadt. Die Marke sag ich dir gleich …«

Während Deger- oder Dregerlein sich umständlich aus dem Sakko wand, warf Eddy einen Blick durch den inzwischen fast leeren Speisesaal. Ein ineinander vertieftes Pärchen, eine Frau hinter einer Zeitung, eine Runde Geschäftsleute im Gespräch, die Kellner wahrscheinlich im Hof eine rauchen – niemand beachtete sie.

»Hier … ›Bristol Classic‹. Nie gehört, aber ist von Karstadt. Meine Klamotten kauft meine Frau, und woanders geht die nicht hin. Karstadtsüchtig, sag ich immer. Können wir deine ja einfach mitschicken, und wir gehn schön einen …«

[23] »Darf ich mal kurz …«

Eddy war leise aufgestanden und unbemerkt von Deger- oder Dregerlein mit drei schnellen Schritten um den Tisch herumgegangen. Nun stand er plötzlich vor ihm und streckte mit dem unschuldigen Gesichtsausdruck eines netten, wohlerzogenen, nicht allzu intelligenten Kindes die Hand nach dem Sakko aus. »… Ich denke, wir haben etwa die gleiche Größe.«

Deger- oder Dregerlein zögerte, seine Züge strafften sich, und für einen Moment sah es so aus, als ließe die Wirkung des Alkohols schlagartig nach. Doch der Moment dauerte nicht lange. Wie von Eddy erhofft, warf Deger- oder Dregerlein einen Blick zu Eddys aufgeklappter Brieftasche und versicherte sich, dass jegliches Misstrauen unangebracht war. Der nette Florian, Frau und Kind, seine Kreditkarten und Ausweise eine Armlänge entfernt – gut, man hörte so einiges über Berlin, aber hier musste er sich nun wirklich keine Sorgen machen. Und nach was sähe das aus, wenn er seine Brieftasche aus dem Sakko fummelte, bevor er es für einen Augenblick aus der Hand gäbe? Jedenfalls nicht nach Florian und Markus, auch nicht nach dem Vorspiel zu einem fetten Verkaufsabschluss am nächsten Tag. Zwei iBooks, eins für Florian, eins für Romy oder wie sie hieß, plus alle [24] möglichen Programme, Drucker und so weiter – er wolle richtig zuschlagen, hatte Florian gesagt. Nein, nein, er würde nicht das argwöhnische Landei geben und die Stimmung dieses wunderbaren Zusammentreffens am Ende noch vermiesen: Hier, Florian, neuer Freund, nimm mein Sakko mit all meinen Kreditkarten und den dreitausend Euro in bar aus der schwarzen Kasse für den Kauf des neuen Panasonic-Beamers, und wenn’s deine Größe ist, schenk ich’s dir sogar, scheiß aufs Sakko, hab noch zwanzig andere von meiner Frau, karstadtsüchtig, sag ich immer …

Eddy nahm das Sakko. »Danke, ich schlüpf mal schnell rein.« Und während er das tat und die Brieftasche an seiner Brust spürte: »Du wirst es nicht glauben, aber ich besitze nur einen Anzug, meinen Hochzeitsanzug, und ob mir der überhaupt noch passt …«

»Na ja …!« Deger- oder Dregerlein lachte väterlich, während er innerlich schauderte: Gott, wär das peinlich gewesen, hätte ich die Brieftasche vor seinen Augen herausgezogen! »… Ihr Künstler! Was machst du, hast du gesagt? Filmmusik!«

»Filmmusikberatung.« Eddy befühlte den Stoff und schlenderte dabei wie planlos um den Tisch herum.

»Na schön, Filmmusikberatung. Ich dagegen: [25] Jeden Morgen um acht auf der Matte, kaufen, verkaufen, die Angestellten führen, wichtige Kunden bedienen – ohne Anzug und Krawatte läuft da nix, kann ich mir nicht leisten.«

»Vielleicht kann ich’s mir ja eigentlich, ohne dass ich’s weiß, auch nicht leisten«, erwiderte Eddy absichtlich verworren, während er seinen Dufflecoat aufnahm. »Fühlt sich prima an, ich denke, wir haben dieselbe Größe, mal gucken, ob mein Mantel drüberpasst. Weil, das ist ja immer das Problem mit Sakkos: Entweder passt kein Pullover drunter oder der Mantel nicht richtig drüber …«

Aus den Augenwinkeln registrierte Eddy, wie bei Deger- oder Dregerlein erneut die Alarmglocken läuteten – wie sich sein Körper anspannte, wie er den Hals reckte und jede Bewegung Eddys ganz genau verfolgte. Bis ihm Eddys nach wie vor auf dem Tisch liegende Brieftasche wieder einfiel. Er sah kurz zu ihr hin und sank erleichtert in den Stuhl zurück.

»… Ja, ja, mach, was du willst«, sagte er achselzuckend. »Das davor habe ich jetzt aber nicht so genau verstanden: Wie meinst du das – ohne dass du’s weißt?«

In der Innentasche von Eddys Dufflecoat steckte eine zweite Brieftasche. Sie war von [26] durchschnittlicher Größe und mit Papier und alten Telefonkarten gefüllt. Während Eddy so tat, als rücke er die verschiedenen Kleiderschichten zurecht, sich ein paarmal drehte und wendete, als betrachte er sich in einem der Fenster zur Straße, vertauschte er die Brieftaschen. Dabei erklärte er: »Nun, ich dachte an die ganzen Fernsehredakteure und Produzenten, mit denen ich zu tun habe: Vielleicht würde ich mit Anzug viel mehr Aufträge von denen kriegen.«

»Ach so … Na ja, wie mein früherer Chef immer sagte: Frische Rasur, ordentlicher Anzug und gut gekackt am Morgen ist das halbe Verkaufsgespräch!« Deger- oder Dregerlein grunzte vergnügt in sich hinein. »Verstehst du? Wie du dich fühlst, wie du wirkst – das ist oft wichtiger als das Zeug, das du anbietest.«

»Verstehe.«

Eddy zog den Dufflecoat und das Sakko aus und reichte es über den Tisch. Deger- oder Dregerleins erster Griff ging dorthin, wo er die Brieftasche fühlen konnte – alles noch da, alles in Ordnung –, ehe er das Sakko auf den Stuhl neben sich legte.

Eddy sah auf die Uhr. »O mein Gott! Es ist ja schon fünf vor halb. Ich muss sofort los!« Und während er den Dufflecoat wieder anzog und seine [27] Brieftasche vom Tisch nahm: »Morgen um vier auf der ›Combär‹ am Checkpoint Charlie. Ich hab deine Handynummer, ich ruf dich an, okay?«

Deger- oder Dregerlein nickte. »Wie abgemacht.«

»Toll. Ich freu mich. Hab noch einen schönen Tag in Berlin. Tut mir leid, aber ich kann Moritz da nicht warten lassen. Ich werde vorne zahlen.« Eddy deutete mit dem Kinn zum Durchgang, hinter dem sich die Garderobe befand.

»Alles klar.« Deger- oder Dregerlein zwinkerte Eddy glücklich und betrunken zu. »Und vielen Dank noch mal!«

Vor der Garderobe kam Eddy einer der Kellner entgegen.

»Wünschen Sie die Rechnung?«, fragte er.

»Danke, aber mein Freund übernimmt das. Ich hätte nur gerne meinen Mantel.«

»Ihren Mantel?« Der Kellner sah auf den Dufflecoat.

»Ja, einen dunkelblauen Cashmere-Mantel, ich hab ihn dabei, um ihn zur Reinigung zu bringen.«

Als der Kellner ihm den Mantel gab, sagte Eddy: »Ach, und mein Freund hätte gerne noch einen Nachtisch. Auf der Karte habe ich gesehen, Sie haben ein Soufflé, das mag er so gerne.«

[28] Der Kellner runzelte die Stirn. »Soufflé? Das dauert aber mindestens zwanzig Minuten.«

»Macht nichts, er wollte sowieso noch eine Weile bleiben. Lassen Sie sich nur Zeit.«

Bevor er auf die Straße trat, stopfte Eddy den Mantel unter den Dufflecoat. Durch eines der Restaurantfenster sah er Deger- oder Dregerlein immer noch gerührt vor sich hin lächeln. Gerade als Eddy sich abwenden wollte, schaute er auf, erblickte Eddy im Strom der Passanten, winkte und machte das Daumen-oben-Zeichen. Eddy hob ebenfalls den Daumen, ehe er sich umdrehte und hinter einer Gruppe dänischer Touristen verschwand.

[29] Der Idiot

Eddy saß in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Zwischen seinen Beinen standen fünf KaDeWe-Tüten. Innerhalb einer Stunde hatte er drei IWC-Portofino-Uhren, einen Rubinring, drei Cashmere-Morgenmäntel, drei Canon-Kameras, zwei Sets Zwölf-Personen-Silberbesteck, zwei Kisten Cohibas Esplendidos und zwei elektrische Zahnbürsten gekauft. Alles zusammen im Wert von etwa zwölftausend Euro. Bis auf die Zahnbürsten wollte er alles noch am selben Abend zu seinem Hehler in der Pestalozzistraße bringen. Herr Schulz führte vorne raus ein Geschäft mit Blechspielzeug und alten Puppen, im Hinterzimmer hatte er für ausgewählte Kunden eine Art Kramladen für Luxusgüter. Wenn sich die Ware verkaufte, bekam Eddy sechzig Prozent vom erzielten Preis.

Kurz vor fünf hatte die Verkäuferin in der KaDeWe-Lederwaren-Abteilung zu Eddy gesagt: »Tut mir leid, Herr Dregerlein, aber Ihre VISA-Karte scheint gesperrt zu sein.«

[30] Woraufhin Eddy gutgelaunt »Ui-ui-ui!« erwiderte und einen Tausendzweihundert-Euro-Lederkoffer zurück auf den Verkaufstresen gestellt hatte. »Hab ich’s wohl mal wieder übertrieben! Aber Ihr Kaufhaus ist ja auch so was von verführerisch. Und eine Auswahl! Ich komme aus Bochum, da haben wir so was nicht. Also bitte: Entschuldigen Sie die Umstände, und einen schönen Tag noch.«

Eddy schaute auf die Tüten vor sich. Wenn die Ware sich wie gewohnt verkaufte, und zusammen mit den dreitausend Euro in bar, die er auf dem Weg ins KaDeWe ungläubig aus Deger- oder Dregerleins Brieftasche gezogen hatte, belief sich sein Verdienst an diesem Tag auf etwa zehntausend Euro.

Zehntausend Euro! Machte vier Monate mit je zweitausendfünfhundert Euro, wie ein richtiges Gehalt. Oder fünf Monate mit je zweitausend. Oder wenn er die Summe mit ein paar Blindennummern oder Sexshop-Erpressungen zwischendurch streckte und eher bescheiden lebte, dann käme er sogar auf sechs Monate. Sechs Monate, in denen er nicht arbeiten musste und sich ganz auf die Musik konzentrieren konnte. Oder mal in echte Ferien fuhr. Nicht in irgendein mondänes Touristenzentrum, um reiche gelangweilte Ehefrauen aufzureißen, sondern in ein kleines Dorf, [31]