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Vier Mitglieder der Ökologischen Front sind wegen Mordes an dem Vorstandsvorsitzenden der Rheinmainfarben-Werke angeklagt. Zwar geben die vier zu, in der fraglichen Nacht einen Sprengstoffanschlag verübt zu haben, bestreiten aber jede Verbindung mit dem Mord. Nach Zeugenaussagen waren an dem Anschlag fünf Personen beteiligt. Privatdetektiv Kemal Kayankaya soll den verschwundenen fünften Mann zu finden.
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Seitenzahl: 174
Jakob Arjouni
Mehr Bier
Kayankayas zweiter Fall
Roman
Die Erstausgabe erschien 1987
im Diogenes Verlag
Umschlagfoto:
Copyright © Cusp/F1online
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2014
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21545 8 (21. Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60001 8
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] April 1986
RHEINMAINFARBEN PLANT ZWEIGWERK IM VOGELSBERG
ZUR KUNDGEBUNG IM VOGELSBERG WERDEN ZWEIHUNDERTTAUSEND TEILNEHMER ERWARTET
Mai 1986
GIFTGAS-SKANDAL
Wie die französische Zeitung LE MONDEin ihrer heutigen Ausgabe berichtet, hat das deutsche Unternehmen RHEINMAINFARBENdem Irak Grundbestandteile zur Herstellung von Senfgas verkauft.
HOLLÄNDISCHER REEDER PACKT AUS
Vor Journalisten bestätigte der holländische Reeder Zoetemelk, mehrere hundert Fässer im Auftrag der RHEINMAINFARBEN-WERKEin den Irak verschifft zu haben. Der Inhalt der Fässer sei ihm unbekannt gewesen. Der Vorstandssprecher von RHEINMAINFARBENlehnt jede Verantwortung des Werkes ab, »nach unseren Informationen wurden die Chemikalien für rein zivile Zwecke verwandt«.
DEMONSTRANTEN HALTEN FIRMENGELÄNDE BESETZT
[6] RHEINMAINFARBEN STELLT AUF WEISUNG DER HESSISCHEN REGIERUNG DIE ARBEIT VORLÄUFIG EIN
FRANKFURTER OBERBÜRGERMEISTER BEZIEHT BEI RHEINMAINFARBEN GEHALT ALS RECHTSBERATER
Juni 1986
GRÜNER TERROR! MORD AN CHEMIEFABRIKANT!
EIN GROSSER MANN IST TOT
»Friedrich Böllig war mehr als ein herausragender Mitstreiter für eine saubere Zukunft. Er war ein Freund. Alle, die ihn kannten, werden sich seines überlegten, gütigen und gerechten Charakters erinnern. Als der Kopf eines der letzten Familienbetriebe in unserer Branche kämpfte er unbeirrbar für die Entwicklung von Medikamenten, die vor allen Dingen unseren Kindern das Leben erleichtern sollten. Der frühe und tragische Tod von Friedrich Böllig erfüllt uns alle mit Trauer.«
DIE FRAU DES FRANKFURTER OBERBÜRGERMEISTERS BESTÄTIGT, AKTIEN VON RHEINMAINFARBEN ZU HALTEN
NACH DER ›ROTEN ARMEE FRAKTION‹ JETZT DIE ›GRÜNE‹?!
[7] RHEINMAINFARBEN DRÄNGT AUF SCHNELLE ENTSCHEIDUNG
Vorstandsvorsitzender Maximilian Funke: »Wenn die Hessische Regierung unser Zweigwerk im Vogelsberg nicht genehmigt, müssen wir annehmen, die Mörder von Friedrich Böllig haben im Sinne dieser Regierung gehandelt. Ich wäre sehr glücklich, wenn sich der Verdacht als unbegründet erwiese.«
November 1986
GRUNDSTEINLEGUNG FÜR RHEINMAINFARBEN-WERKE IM VOGELSBERG OHNE ZWISCHENFÄLLE
[9] Erster Tag
1
Der Kaffee war dünn, und das feuchtweiche Käsebrötchen mußte seit Tagen im Kühlschrank gelegen haben. Ich riß es in Brocken und spülte mit Kaffee nach. Die klebrige Theke roch nach Bier. Zwei Meter neben mir döste ein zerknitterter Mann über seinem Korn. Von Zeit zu Zeit schnupfte er in ein Taschentuch und wischte sich dann damit Stirn und Mund ab. Er starrte auf den gerahmten Spruch über der Spüle, ABENDS PAAR BIER, DIE TRINKEN WIR – MORGENS ’NEN SCHNAPS, WEG IST DIE KATZ. Neben ihm lag der Sportteil der Zeitung. Ich lehnte mich zu ihm rüber.
»Wie hat Gladbach gespielt?«
»Zwei Null verloren«, murmelte er, ohne aufzusehen.
Ich klopfte auf die Theke.
»Noch einen Kaffee. Bißchen stärker.«
Die Wirtin schob sich durch den braunen Kettenvorhang, nahm die Tasse und brachte sie gefüllt zurück. Ihr üppiger Busen steckte in einem Ballkleid, Arme und Kopf quollen hervor wie Würste. Über den Hintern hatte sie sich eine lila Satinschleife gebunden, und an den Armen klapperten Goldimitationen. Das Haar war in Silber getunkt. Hertha war die Besitzerin von HERTHAS ECKE – Rund-um-die-Uhr-geöffnet. Die Ecke war groß, leer und düster. Eine Neonröhre hing über den verstaubten Flaschen der Bar. An die schmutzigen Fenster schlug Regen. [10] In der Ecke stand der Stammtisch mit schmiedeeisernem Emblem, eine Wildsau mit Bierkrug. Hertha wusch Gläser ab. Eine Fliege setzte sich auf das angerissene Brötchen. Ich zündete mir eine Zigarette an und blies Rauchringe um die Fliege. So früh am Morgen verging die Zeit langsam. Es war halb neun. In einer halben Stunde mußte ich auf dem Gericht sein. Ich ging zur Toilette. Die Schüssel war zerbrochen, und beim Spülen lief Wasser über den Boden. Als ich zurückkam, spielte das Radio. »Ach Schnucki, ach Schnucki, ach fahrn wir nach Kentucky…« Hertha wiegte die Hüften im Rhythmus. Der Mann rotzte in sein Taschentuch, nahm dann das Glas mit beiden Händen und kippte den Schnaps mit einem Ruck hinunter. Mit Schwung knallte er es zurück auf die Theke.
»Hertha! Noch einen.«
»Laß man Karl. Hass genuch.«
Karl fummelte einen zerknüllten Fünfzigmarkschein hervor.
»Kann ich etwa nich zahlen, hää?! Kann ich etwa nich?«
»Steck dein Geld ein.«
Hertha stellte die abgewaschenen Gläser ins Regal. Karl zündete sich eine Zigarette an. Nach einer Weile sah er zu mir herüber.
»Gladbach, ja?«
Ich nickte. Er musterte mich von oben bis unten. Dann drehte er sich um und brummte: »Wir sinn hier in Frankfurt.«
Das Radio spielte jetzt »Wenn die Heidi mit dem Hans, tam, tam tam«. – Ich holte mir die Zeitung vom Haken. ›PROZESSBEGINN IN FRANKFURT MIT [11] WEITREICHENDEN SICHERHEITSMASSNAHMEN. Der Prozeß gegen vier Mitglieder der ÖKOLOGISCHEN FRONT beginnt unter Ausschluß der Öffentlichkeit.‹ Die Uhr zeigte Viertel vor neun. Ich zahlte und ging.
Vor HERTHAS ECKE trieb der Wind den Regen quer über die Straße. Herbst. Ich zog meinen Hut in die Stirn, vergrub die Hände in den Manteltaschen und drückte mich die Häuserwand entlang. An der Straßenecke peitschten mir die Schauer ins Gesicht. In den Schuhen begann das Wasser zu knatschen. Alles grau. Nur ein paar Neonreklamen unterbrachen die nasse Betonöde. Leere Dosen, Milchtüten, Zigarettenkippen, lauter Müll wurde durch den Rinnstein gespült und blieb auf dem Gulli liegen. Hundescheiße sabberte über den Bürgersteig. Leute mit Regenschirmen rannten an mir vorbei. In den Hauseingängen tratschten Frauen und warteten, daß der Regen nachließ. Langsam kroch die Nässe durch den Mantel. Ein Taxi spritzte mir Wasserlachen über die Hose. Ich lief weiter, glitschte über Pappkartons und Gemüseabfälle und rannte endlich die Treppe zum Gericht hoch. Die Tür fiel zu. Wie ein undichter Eimer zog ich meine Spur über den Steinfußboden.
»Halt!«
Zwei Bullen versperrten den Weg. Ich kramte meine Lizenz für Privatermittlungen raus.
»Bin mit Herrn Doktor Anastas verabredet.«
»Kenn wir nicht.«
»Der Anwalt der Angeklagten.«
»Mhm.«
Eine Patrouille schritt mit vorgehaltenen MPs die Halle ab. Der Bulle sah von meiner Lizenz auf.
[12] »Ihren Ausweis.«
Ich zeigte ihn ihm. Der andere kratzte sich übers Kinn, nahm sein Funkgerät und gab meine Ausweisnummer durch. Als das ›alles klar‹ zurückkam, mußte ich die Beine breit machen. Sie fanden nichts. »Treppe hoch, zweite Tür links!« wiesen sie mich an. Ein Haufen Journalisten lungerte im Warteraum herum. Es roch nach kaltem Rauch und nassen Kleidern. Alles schwatzte ungeheuer wichtig. Neben mich setzte sich ein hübsches Ding mit langen, schwarzen Haaren.
»Kalt, was?«
Sie schniefte.
»Mhm.«
Sie kuschelte sich in ihren Pelzmantel.
»Von welcher Zeitung kommen Sie?«
»Meine Frau und dein Auto.«
»Aha.« Nach einer Pause. »Kenn ich nicht.«
Ich zündete mir eine Zigarette an.
»Kann ich eine haben?«
Ich gab ihr Feuer. Wir rauchten eine Weile. Was der Anwalt wohl von mir wollte, und warum er mich so früh herbestellt hatte. Sie betrachtete mich von der Seite. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen.
»Sie sind gar kein Journalist.«
»Stimmt.«
»Merkt man.«
»Aha. Woran?«
»Na, ja, kein Photoapparat, Sie sagen nichts, kennen niemand und dann schlafen Sie.«
Sie roch gut. Irgendwas Schweres aus Frankreich.
»Quatsch. Ich bin Türke. Daran merkt man’s.«
Sie trat die Zigarette aus.
[13] »Vielleicht.« Pause. »Und weshalb sind Sie dann hier?«
»Ich bin Privatdetektiv. Fragen Sie nicht warum, ich bin’s eben. Ich warte auf jemand.«
Vor der Tür entstand Unruhe. Kameras wurden eingestellt und Notizblöcke hervorgeholt.
»Privatdetektiv und Türke. Das soll ich glauben?«
»Lassen Sie’s bleiben.«
Es wurde laut. Die Meute wartete darauf, endlich losstürzen zu können. Der Engel rückte näher.
»Sie leben schon lange in Deutschland?«
»Mein Vater war einer der ersten türkischen Müllmänner der Republik. Er hatte mich mitgenommen. Ich war ein Jahr alt. Bald darauf wurde er von einem Auto überfahren. Eine deutsche Familie hat mich adoptiert.«
»Und Ihre Mutter?«
»Ist bei der Geburt gestorben.«
Sie machte in Mitgefühl.
»Schrecklich.«
Ich zeigte auf die Tür.
Im selben Augenblick öffneten sich die Türen zum Gerichtssaal, und die Reporter schossen los. Sie verabschiedete sich und tauchte ein ins Gewühl. Auf dem Gang war mächtiger Lärm. Ich blieb zurück und betrachtete meine aufgeweichten Schuhe. Dann schob auch ich mich in den Saal. Der Anwalt stand einer Gruppe von Journalisten Rede und Antwort. Unentwegt zuckten Blitzlichter. Fernsehkameras kämpften um den besten Platz. In der Ecke machte ein Typ Reportage vor Ort. Gehetzt schrie er ins Mikrofon. Polizisten waren an Fenstern und Türen postiert. Ich setzte mich auf eine Bank. Die nassen Kleider klebten auf der Haut. Von irgendwoher zog es. Ich fror, ich zündete mir eine Zigarette an und beobachtete den [14] Gerichtsdiener, der mir von drüben mit wedelnden Armen zu verstehen gab, daß Rauchen verboten sei. Zehn Uhr. Fünf Minuten später kam der Anwalt und setzte sich neben mich.
»Entschuldigen Sie, Herr Kayankaya, aber bei so einem wichtigen Prozeß… man ist auf die Presse angewiesen. Sie verstehen.«
Rechtsanwalt Anastas war klein und kräftig. Alles an ihm war braun. Der Lockenkranz, der sich um die Halbglatze legte, die Brille auf der Stupsnase, der Anzug, die Schuhe, die Fingernägel. Die Krawatte hing ihm wie ein nasses Handtuch um den Hals.
»Warum hatten Sie mich für neun Uhr bestellt?«
Er legte die Stirn in Falten.
»Hab ich das? Ich dachte, wir hätten zehn gesagt. Tut mir leid.«
Er sah nachdenklich in den Saal, der sich leerte. Auch die Bullen packten ihren Kram zusammen.
»Sie wollten mich sprechen.«
Er schreckte hoch.
»Entschuldigen Sie. Es gehen mir so viele Dinge durch den Kopf. Vielleicht…«
»Lassen Sie uns einen Kaffee trinken.«
Er überlegte. Dann griff er sich an die Stirn.
»Ausgezeichnet, machen wir. Ich habe eine Verabredung im Restaurant um die Ecke. Wie heißt es? Irgendwas mit O. Na, werden wir schon finden, schließlich sind Sie Detektiv.«
Er lachte und tätschelte mir die Schulter. Mit einem Satz war er auf den Beinen und trabte los. Ich warf mir meinen klammen Mantel über und trottete hinterher.
[15] 2
»Da ist es! Chez Jules. Kein O. Macht nichts. Wir haben es gefunden.«
Er parkte, und wir gingen hinein. Es war einer dieser Edelkeller, bei denen man Angst haben muß, der Tisch bricht zusammen, wenn man ein anständiges Glas Bier draufstellt. Man ißt Häppchen auf Stühlchen an Tischchen und trinkt aus Gläschen. Alles hat zierliche Beine, die Möbel, die Damen und der Kerzenständer. Man sagt ›Pardon‹, wenn man sich an einem Tisch niederläßt, und ›Tschau‹, wenn man wieder aufsteht. Die Eingeweihten rufen, ›Jules, hast du heute frische Krabben?‹. Jetzt um die Mittagszeit war der Laden voll. Anastas rannte, den Kopf vorgestreckt wie ein Huhn, an den Tischen vorbei und suchte seine Verabredung. Mitleidig musterten die gestylten Damen und Herren den kleinen Anwalt. Sie schlürften Weißwein und knabberten an gerösteten Knoblauchschnitten. Es wurde geflüstert. Anastas winkte mir zu und brüllte: »Hierher, Herr Kayankaya!« Es hätte mich nicht gewundert, wenn es die Gäste von ihren Stühlen gehauen hätte. Bei Anastas angelangt, erkannte ich die hübsche Nervensäge vom Gericht. Sie sah mich an und lachte.
»Ach, der Privatdetektiv. Jetzt verstehe ich.«
»So. Was denn?«
Anastas sah verdutzt drein.
»Sie kennen sich?«
»Flüchtig. Zu Namen sind wir nicht gekommen.«
»Carla Reedermann vom RUNDBLICK, Kemal Kayankaya.«
Wir nickten uns zu und rutschten auf die Stühle. Carla Reedermann lächelte.
[16] »So ein Zufall.«
»Zufall. Ja.«
Ich zündete eine Zigarette an und verkroch mich hinter der Speisekarte. Anastas hatte seine Brille auf die Nasenspitze geschoben und ging zum dritten Mal die Gerichte durch. Der Kellner kam auf weißen Tennisschuhen angewippt, blieb wie zufällig am Tisch stehen und erkundigte sich nach den Bestellungen. Anastas nahm zwei Käsebaguettes und zwei Tomatensalate. Dann setzte er die Brille ab, faltete die Hände und lächelte mich an.
»Da wären wir, Herr Kayankaya.«
»So ist es.«
Zufrieden strich er sich über die Halbglatze. Ich betrachtete den runden Kopf und überlegte, warum ich seit acht Uhr morgens auf den Beinen war. Der Kellner kam und lud die Teller ab. Anastas zog ein Grinsen bis zu den Ohren, wünschte guten Appetit und machte sich über die erste Baguette her.
Ich rührte Milch und Zucker in den Kaffee, kippte das Glas Scotch dazu und nahm einen tiefen Schluck. Mein Eiertoast war aufgewärmt und schmeckte wie Spiegelei in Packpapier. Dem kleinen Anwalt machte Essen Spaß. Er angelte mit der Zunge nach Käsefäden, die sich in seinem Gesicht verloren hatten, und mampfte das fettige Weißbrot. Dazu schlürfte er schwarzen Kaffee. Die halbe Tomate, die ihm von der Gabel fiel, lutschte er von der Krawatte weg. Als er fragte, ob es mir schmecken würde, schob ich den Rest Toast beiseite und rauchte. Carla Reedermann knabberte an ihren Muscheln. Ich fragte mich, was sie mit dem kleinen schmatzenden Anastas zu tun hatte. Ihre braunen Augen schauten mich immer wieder herausfordernd von der Seite an. Ich bestellte noch [17] einen Kaffee mit Scotch. Die beiden kauten still vor sich hin. Ich baute Bierdeckelhäuser. Fünf Minuten später brachte der Kellner den Kaffee. Als Anastas nach der Karte grapschte, um neue Bestellungen mit auf den Weg zu geben, knallte ich die Bierdeckel auf den Tisch. »Schluß jetzt! Ich bin nicht in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gestiegen, um Ihnen beim Essen zuzuschauen.«
Der Kellner machte sich davon. Anastas legte die Karte zurück, wischte sich den Mund ab und setzte die Brille auf.
»…entschuldigen Sie.«
»Im übrigen will ich keine Presse.«
Ich deutete auf die Reporterin. Einen Augenblick war Ruhe. Dann schob sie die Muscheln beiseite, legte zwanzig Mark auf den Tisch und holte ihren Mantel.
Anastas schaute ihr hinterher.
»Herr Kayankaya, Fräulein Reedermann ist auf meiner Seite. Sie wird bestimmt nichts schreiben, was…«
»Jeder wie er denkt. Ich arbeite lieber allein.«
Sie kam zurück, nahm ihre Handtasche und ging. Sie war wütend.
»Also, worum gehts?«
Anastas schob die Brille zurecht und murmelte: »Sie haben vom Anschlag der Ökologischen Front gelesen?«
»Kaum.«
»Wie Sie wissen, verteidige ich die vier und arbeite seit Monaten an der Sache. Ein Konzept, um den Prozeß mit irgendeiner Aussicht auf Erfolg zu führen, habe ich noch nicht gefunden. Meine Mandanten verweigern so ziemlich jede Aussage. Mir gegenüber sind sie freundlich, aber sie sagen mir auch nicht mehr als dem Staatsanwalt. Der Fall liegt insoweit klar, als sie zugeben, das Abflußrohr der [18] Firma Böllig in Doddelbach in die Luft gesprengt zu haben. Die Firma besteht seit etwa vierzig Jahren und ist ein mittlerer Familienbetrieb. Friedrich Böllig hat den Betrieb vor zwanzig Jahren von seinem früh verstorbenen Vater übernommen. Bei dem Anschlag vor sechs Monaten ist er ums Leben gekommen. Seine Leiche wurde mit vier Kugeln in Brust und Kopf auf dem Fabrikgelände, nicht weit von dem gesprengten Rohr, gefunden. Meine Mandanten leugnen, ihn gesehen, geschweige denn erschossen zu haben. Ich glaube ihnen. Erstens gibt es kein stichhaltiges Motiv, und zweitens haben die vier soviel mit einem Killerkommando zu tun wie eine Abordnung Kleingärtner.«
»Sie kennen keine Kleingärtner.«
»Die vier wollten ein Rohr von Böllig zerstören. Sachschaden, nichts weiter.«
»Was floß denn durch die Rohre?«
»Chemieabfälle. Wie anderswo auch. Aber Kinder aus der Gegend bekamen seltsame Hautausschläge, und Diskussionen um die Firma Böllig waren im Gange. Die Kinder hatten in dem See gebadet, in den die Abwässer flossen. Es gab alle möglichen Initiativen, aber geändert hat das nichts. Meine Mandanten wollten was tun, um die Diskussion wieder anzukurbeln.«
»Das ist ihnen gelungen.«
»Tja, aber offensichtlich wissen sie selber nicht, was sie davon halten sollen.« Er kaute nachdenklich auf einer Tomatenscheibe.
»Muß ein seltsames Gefühl sein. Man sprengt ein Betonrohr in die Luft, und am nächsten Tag steht in der Zeitung, ein Mensch ist erschossen worden.«
»Wurde die Pistole gefunden?«
[19] »Nein.«
»Wenn ich richtig verstanden habe, liegt der Fall so: Mitten in der Nacht jagen vier Leute ein Abflußrohr der Firma Böllig in die Luft, und ein paar Meter weiter kriegt zur gleichen Zeit der Firmenchef ein paar Kugeln in den Kopf. Für Sie ist da kein Zusammenhang, weil Ihre Mandanten so armselig aus der Wäsche schaun, wenn Sie sie in der Zelle besuchen. Aber ob Sie damit vor Gericht durchkommen? Viel Glück wünsche ich Ihnen. Und was soll ich dabei?«
»Es fehlt der fünfte Mann. Nach Zeugenaussage waren fünf Personen am Anschlag beteiligt.«
»Zeugen?«
»Ein Camper am Seeufer, nicht weit von der Fabrik. Mit seiner Freundin. Er ist von der Detonation aufgewacht. Als er aus seinem Zelt stürzte, sah er fünf Leute davonlaufen.«
»Und was sagen Ihre Mandanten dazu?«
»Nichts. Sie wollen ihren Mann nicht verraten. Aber bei ihm liegt die Lösung, und deshalb will ich Sie engagieren. Ich habe heute im Gericht einen neuen Verhandlungstermin beantragt, damit Sie Zeit haben, den Mann zu finden. Genau eine Woche.«
Ich drückte die Zigarette in den Aschenbecher.
»Sie wollen einen Privatdetektiv. Warum mich? Ich bin Türke.«
Seine kurzen Finger kratzten über den Handrücken.
»Ich habe von Ihrer letzten Sache gelesen. Ich halte Sie für einigermaßen unbestechlich.«
»Kommt auf die Summe an.«
»Von der öffentlichen Meinung. Das müssen Sie sein, wenn Sie den Auftrag übernehmen.«
[20] Pause. Es brauchte gute drei Minuten, bis er die nächste Frage herauswürgte.
»Wie kommen Sie zu diesem Beruf? Ich meine, als Türke…«
»Ich bin Staatsbürger der Bundesrepublik.«
»Ach, so?«
Er nickte. Und als er sich jetzt vorbeugte, hatte er was Solidarisches in der Pupille.
»Nicht leicht, diese verdammte Staatsbürgerschaft zu erlangen, wie?«
»Kein Problem für mich. Ich mähe meinen Rasen, lache bei Karneval und kann gleichzeitig Bier trinken und Skat spielen. Irgendwo hinter München liegt Afrika, da wohnen die Neger. Bei der Sportschau möchte ich nicht gestört werden. Meine Couchgarnitur ist pünktlich abbezahlt. Und im Grunde meines Herzens bin ich ein tanzender Schlesier.«
Einen Augenblick lag ihm das unvermeidliche ›das meinen Sie doch nicht ernst‹ auf der Zunge, aber er ließ es liegen und lachte nur geziert.
»Im Ernst, Herr Kayankaya, wie lange leben Sie schon in Deutschland?«
»Meine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Mein Vater hat mich nach Deutschland mitgenommen. Lange hat er es auch nicht gemacht, und so wurde ich von einer deutschen Familie adoptiert. Seit ich denken kann, bin ich in diesem Land.«
Er wiegte den Kopf.
»Verzeihen Sie. So eine Geschichte ist interessant.«
Ich steckte mir eine Zigarette an.
»Ach, ja?«
Ich rauchte.
[21] »Da hätten Sie erst einmal hören sollen, was ich meinem letzten Klienten erzählt habe.«
Ich stieß Rauchringe in die Luft.
»Wie hat man Ihre Mandanten gefaßt?«
»Eine der vielen Fragen in dem Fall.«
»Soll heißen?«
»Das soll heißen, die Polizei hat drei Tage nach dem Anschlag die Wohnung meiner Mandanten gestürmt. Eine größere Fahndung fand nicht statt.«
»Könnte einer geredet haben.«
»Ja…«
»Könnte der fünfte Mann gewesen sein?«
»Vielleicht…«
»Hat die Polizei sich geäußert, wie sie zu dem schnellen Erfolg gekommen ist?«
»Der verantwortliche Kommissar, Kessler, hielt sich zurück. Die Täter hätten auf Grund einer rasch organisierten Fahndung festgenommen werden können.«
»Und von dem fünften Mann kein Wort?«
»Nein.«
»Wird nach ihm gefahndet?«
»Das nehme ich an.«
»Warum?«
»Na, er ist ebenso verdächtig wie meine Mandanten.«
»Und wenn er mit der Polizei ein kleines Geschäft gemacht hat. Seine Freiheit gegen die Adresse Ihrer Mandanten?«
»Das glaube ich nicht. Ein Fall, der soviel politisches Aufsehen macht. Das kann sich die Polizei nicht erlauben.«
»Ja, gut. Die Polizei ist also hinter ihm her, und trotzdem meinen Sie, noch einen Privatdetektiv [22] losschicken zu müssen. Für wen halten Sie mich? Wenn der Junge Grips hat, ist er über alle Berge. Nicht von Sachsenhausen ins Nordend oder andersrum, sondern viel weiter. Wenn Sie wollen, ich fahre gerne auf Spesen durch die Gegend. Aber normalerweise spiele ich Kreisliga.«
»Ein diskreter Einzelgänger ist nach meiner Meinung wirkungsvoller. Selbstverständlich erstatte ich Ihnen sämtliche Kosten…« Er zögerte.
»…wenn ich Sie nicht für einen guten Detektiv hielte – ich wäre schon längst gegangen.«
»Seit drei Stunden hocke ich in nassen Klamotten herum. Ich leide, wenn Leute beim Essen schmatzen. Und Ihrer Freundin wäre ich lieber alleine bei Vollmond begegnet.«
»Zu Fräulein Reedermann waren Sie auch nicht gerade freundlich.«
»War auch kein Vollmond.«
»Was bei unserem Fall noch dazu kommt… ich weiß nicht, wo Sie politisch stehen, aber…«
»Ich soll einen Mann suchen, oder?«
»Natürlich, aber die politische Einstellung spielt hier auch eine Rolle. Die Leute wollen meine Mandanten schuldig sehen. Sogenannte Grüne Terroristen sind ein gefundenes Fressen für die Rechten. Was besseres konnte denen nicht passieren. Zum Beispiel die Rheinmainfarbenwerke, da…«
»Na schön. Wenn Sie’s beruhigt, selbstgestrickte Socken, freilaufende Hühner, diskutierende Frauen und ungespritzte Rosinen finde ich riesig, und Seehund steht mir nicht. Aber fragen Sie jetzt nicht, wann die nächste Altpapiersammlung ist.«
[23] »Na gut.« Er seufzte. »Also, nehmen Sie an?«
»Zweihundert Mark pro Tag, plus Spesen.«
»Keinen Sonderpreis für die gute Sache?«
»Ist schon drin. Die gute Sache bin ich.«
Er nickte säuerlich. »Wie werden Sie beginnen?«
»Zuerst nehme ich mir Ihre Mandanten vor, dann fahre ich nach Doddelbach.«
»Meine Mandanten? Völlig ausgeschlossen, sie sprechen nur mit mir.«
»Dann brauche ich Akten, Unterlagen und so weiter.« Ich überlegte.
»Einen Nachtwächter hat die Firma Böllig nicht?«
»Er wurde zusammengeschlagen.«
»Und?«
»Er hat die Person gesehen. Bei einer Gegenüberstellung hat er keinen meiner Mandanten erkannt.«
»Der fünfte Mann?«
Ich stand auf und steckte meine Zigaretten ein. »Wann kann ich Sie im Büro aufsuchen?«
»Heute abend.«
»So um acht. Wo liegt Doddelbach?«
»Autobahn Frankfurt – Heidelberg, hinter Darmstadt. Hat eine eigene Ausfahrt.«
»Also, bis heute abend. Wäre schön, wenn Sie den Camper vom See auch um acht da hätten.«
Ich ging. Der Himmel war heller geworden. Es nieselte. Ein paar Wölkchen hingen wie schmutzige Wattebäusche an den Hochhäusern. Ich schlug den Mantelkragen hoch und lief zur nächsten U-Bahn-Station.
[24] 3
Ich stieß die Haustür auf und knipste das Flurlicht an. Fast im gleichen Augenblick sprang der Gemüsehändler im Erdgeschoß aus seiner Wohnung. In Cordpantoffeln, Jeans mit Schlag und grünem Nylonnicki baute er sich vor mir auf, die glänzenden blonden Haare scharf nach rechts gelegt. Erregt wedelte er eine Zigarettenschachtel durch die Luft.
»Was ist das?! Na, was ist das?!«
Sein Kopf schnellte vor und zurück, als schlüge ständig einer hinten drauf.
Und wieder keifte er: »Na, was ist das?!«
Ich schloß meinen Briefkasten auf.
»Keine Ahnung.«