Kismet - Jakob Arjouni - E-Book
SONDERANGEBOT

Kismet E-Book

Jakob Arjouni

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kismet beginnt mit einem Freundschaftsdienst und endet mit einem so blutigen Bandenkrieg, wie ihn keine deutsche Großstadt zuvor erlebt hat. Kayankaya ermittelt ­ nicht nach einem Mörder, sondern nach der Identität zweier Mordopfer. Und er gerät in den Bann einer geheimnisvollen Frau, die er in einem Videofilm gesehen hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 284

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jakob Arjouni

Kismet

Kayankayas vierter Fall

Roman

Die Erstausgabe

erschien 2001 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Peter Loewy

Copyright © Peter Loewy

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23336 0 (10. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60184 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Mai 1998

1

Slibulsky und ich klemmten im leergeräumten Geschirrschrank eines kleinen brasilianischen Restaurants am Rand des Frankfurter Bahnhofsviertels und warteten auf Schutzgeldeintreiber.

Der Schrank war etwa ein Meter zwanzig breit und siebzig Zentimeter tief. Weder wegen Slibulsky noch mir mußte sich die Kleiderindustrie Sorgen um den Absatz ihrer XL-Größen machen, außerdem trugen wir kugelsichere Westen und wollten im Ernstfall eine Pistole und ein Schrotgewehr wenigstens so in Position bringen, daß wir uns nicht die eigenen Füße oder Köpfe wegschossen. Ich malte mir aus, wie die Schutzgeldeintreiber das Restaurant betraten, wie nach einer Weile aus der Ecke klägliche Rufe ertönten und wie sie die Schranktür öffneten, um zwei eingequetschte Vollidioten zu betrachten, die hilflos mit Armen und Beinen strampelten. Und ich stellte mir Romarios Gesicht dabei vor. Er war der Eigentümer und Wirt des ›Saudade‹ und hatte mich um Hilfe gebeten.

Ich kannte Romario seit seinen ersten gastronomischen Schritten als Betreiber einer Imbißbude in Sachsenhausen. Bis heute war es bei einer Bekanntschaft geblieben. Ich freute mich, daß es ihn gab, wenn ich pleite war und er mir einen Teller Essen spendierte. Nicht so sehr freute ich mich, [6] wenn ich Geld hatte und ihm in einer Kneipe begegnete und er sich zu mir an den Tisch setzte und wir über irgendwas reden mußten, eben weil wir uns kannten. Wenn die Aktion dieses Abends also unter Freundschaftsdienst lief, dann vor allem, weil Romario mir keine Bezahlung angeboten hatte und ich sie nicht wirklich verlangen konnte.

Kurz nach Mitternacht. Vor einer halben Stunde hatten wir die Stellung bezogen, und seit etwa zwanzig Minuten hielten meine Beine ein Nickerchen. Für Anfang Mai war es außergewöhnlich warm. Tagsüber stiegen die Temperaturen bis auf siebenundzwanzig Grad, nachts sanken sie nicht unter fünfzehn. Was Romario nicht davon abhielt, seine Heizungen bis zum Anschlag aufzudrehen – aus Gewohnheit und weil die Schimpferei übers deutsche Wetter so was wie eine seiner letzten Brücken nach Brasilien war. Seit zwanzig Jahren lebte er in Frankfurt, fuhr in den Ferien an die Côte d’Azur, und ob zerkochtes Hühnchen in saurer Soße oder trockene Schweinekoteletts mit Dosenerbsen typisch brasilianische Spezialitäten sind, wußte ich zwar nicht, aber es war dem Land zumindest nicht zu wünschen. Jedenfalls konnte die ganze Stadt im T-Shirt unterwegs sein und seine Kundschaft an Hitzschlag verrecken, Romario bestand darauf, daß es in Deutschland dauernd kalt sei, während in Brasilien immer die Sonne scheine – allgemein schlechte und allgemein gute Laune inbegriffen.

Es gab also nichts zu verdienen, ich spürte meine Beine nicht mehr, die Temperatur im Schrank erreichte Dschungelgrade, und dann gab es noch von Zeit zu Zeit dieses kaum hörbare Zischen.

»Slibulsky?«

[7] »Hmhm?« Nett, unbeteiligt. Zwischen seinen Zähnen klickte ein Bonbon.

»Was hast du zu Abend gegessen?«

»Zu Abend…? Wieso? Weiß nicht mehr.«

»Du weißt nicht, was vor ein paar Stunden vor dir auf dem Teller lag?«

Er räusperte sich, so wie andere kurz vor sich hin pfeifen oder in die Luft gucken, um zu zeigen, daß die Frage, die sie versuchen werden, freundlich zu beantworten, sie selbstverständlich einen Dreck interessiert.

»Tja. Mal überlegen… Ach ja, genau: Handkäs. Na klar, Gina war heute morgen einkaufen und…«

»Mit Zwiebeln.«

»Klar, mit Zwiebeln. Ißt du Handkäs vielleicht mit Erdbeeren?«

Ich bemühte mich, ihn durch das Halbdunkel im Schrank möglichst verachtend anzuschauen.

»Hab ich dir nicht gesagt, daß wir eine Weile gemeinsam in diesem Loch verbringen werden?«

»Doch, du hast davon geredet, glaub schon. Allerdings hatte ich den Schrank irgendwie größer in Erinnerung.«

»So? Wie groß? Ich meine, wie groß muß ein Schrank sein, damit zwei, von denen der eine sich kurz davor den Bauch mit Zwiebeln vollgeschlagen hat, unbelästigt drin atmen können?« In dem bißchen Licht, das durch Schlüsselloch und Ritzen fiel, sah ich, wie Slibulsky eine Grimasse zog. »Ich denke, wir sind hier, um irgend ’ne Mafia zu verjagen? Mit Knarren und kugelsicheren Westen, wie richtige Kerle. Aber vielleicht möchte Fräulein Kayankaya statt des Detektivbüros lieber einen Frisörsalon betreiben?«

[8] Was sollte man darauf antworten? Am besten man sagte nichts. Ich sagte: »Mir läuft der Schweiß übers Gesicht, auch in den Mund, und ich hab das Gefühl, dein Gestank kondensiert, und ich finde nicht, daß Kerl sein bedeutet, anderer Leute Blähungen zu saufen.«

Slibulsky kicherte.

Leise fluchend beugte ich mich zum Schlüsselloch. Dahinter konnte ich Romarios bandagierten Arm sehen. Er saß an der Theke und tat mit Taschenrechner und Papierblock, als beschäftige er sich mit der abendlichen Abrechnung. Tatsächlich war er zu aufgeregt, um auch nur zwei Bier zusammenzuzählen. Vor einer Woche waren sie zum ersten Mal bei ihm aufgetaucht: auffallend schick gekleidete junge Kerle, kaum älter als fünfundzwanzig, mit Pistolen und einem Zettel, auf dem stand: Bitte um monatliche Spende von 6000 DM für die Armee der Vernunft, zu zahlen an jedem Monatsersten. Vielen Dank im voraus. Dabei sagten sie kein Wort, lächelten nur – jedenfalls so lange, bis Romario den Zettel gelesen hatte, ihn zurückgab und im Glauben, nicht zuletzt wegen der Höhe der Summe, ein paar Anfänger vor sich zu haben, erklärte: »Tut mir leid, aber ich denke, das ist keine Bitte, die ich erfüllen möchte.«

Daraufhin ließen sie das Lächeln bleiben, stießen ihm die Pistolenläufe in den Bauch, knüllten den Zettel zusammen, stopften ihn Romario in den Mund und zwangen ihn, den Zettel zu kauen und zu schlucken. Anschließend schrieben sie mit schwarzem Filzstift Bis übermorgen auf die Theke und verschwanden.

Trotz dieser Demonstration nahm Romario die Sache nicht wirklich ernst. Er hatte sein Lokal in der Nähe des [9] Bahnhofsviertels zu lange, um beim ersten Versuch irgendwelcher Halbstarken, Geld aus ihm rauszuholen, gleich in Panik zu geraten. Bekanntermaßen gab es im Fahrwasser der großen ernstzunehmenden Schutzgelderpresserorganisationen einen Haufen kleine Trickser, die sich dachten, probieren wir’s doch einfach mal, so wie man sich mit sechzehn sagt, hey, gucken wir doch mal, ob das Fahrrad da vorne abgeschlossen ist.

Romario kotzte das Papier aus, schlug zwei Nägel in die Seitenwand der Theke und hängte seine Pistole dran. Das nächste Mal sollten sie sehen, wie ein gestandener Mann mit unverschämten Bitten umging. Doch sie kamen nicht abends, wie erwartet, und Romario stand nicht hinter der Theke. Er war morgens in der Küche dabei, Fleisch in Öl und Gewürze einzulegen, als sie plötzlich neben ihm auftauchten. Wieder lächelnd, wieder mit einem Zettel. Ihre monatliche Spende an die Armee der Vernunft ist fällig. Vielen Dank für Ihr Engagement um der guten Sache willen.

Als Romario, die Pistolenläufe auf sich gerichtet, die Hände in Öltunke, sagte, er habe keine sechstausend Mark, und was sie glaubten, wieviel so ein kleines Lokal im Monat abwerfe, und daß er den Laden dann gleich dichtmachen könne, drehten sie ihm die Arme auf den Rücken, fesselten ihn an die Heizung und zwickten ihm mit einer Zange den Daumen ab. Die Putzfrau fand Romario ohnmächtig in einer Blutpfütze. Der Daumen lag auf der Theke, daneben stand: Bis Sonntag.

Heute war Sonntag, und Romarios Armverband hob sich knallweiß gegen die holzgetäfelte Wand ab. Im Krankenhaus hatten sie ihm den Daumen wieder angenäht. Ob er [10] halten und wozu er in dem Fall noch taugen würde, hatte der Arzt nicht sagen können. Romarios Erklärung, es sei ihm beim Zwiebelhacken passiert, war zwar mit Skepsis aufgenommen worden, hatte das Krankenhaus aber davon abgehalten, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Hin und wieder sah Romario zum Geschirrschrank, als wollte er sich versichern, daß wir nicht durch irgendeine Ritze entschwunden waren. Zur Beruhigung klopfte ich jedesmal kurz mit meiner Beretta gegen die Tür. Das mit dem Daumen war brutal und tat mir leid, keine Frage. Ob es mir besonders leid tat, weil ohne diese Verletzung eine Pauschale plus Spesen wenigstens nicht unvorstellbar gewesen wäre, wollte ich gar nicht wissen.

Und wieder zischte es.

»Slibulsky, du bist ’n Arschloch!«

»Und du bist ’ne Tunte.«

Ich seufzte. »Wenn ich ’ne Tunte wäre, hätte ich, um so eng mit dir in deinem Duft zu schwimmen, den Schrank wahrscheinlich gemietet.«

»Ach ja? Was du alles weißt… Fängt man an, über so was nachzudenken, wenn man so lange keine Freundin mehr hatte?«

»Ach, Slibulsky…«

»Sag nicht jedesmal ›Ach, Slibulsky‹, wenn ich davon rede. Ich finde…«

»Still!«

Draußen war ein Wagen vorgefahren. Der Motor ging aus, und Türen klappten. Kurz darauf kamen Schritte die Treppe hoch, hielten kurz inne, dann klopfte es. Romario erhob sich vom Barhocker und ging die Eingangstür [11] aufschließen. Ich entsicherte meine Pistole. Slibulsky nahm, soweit das im Schrank möglich war, eine Art 100-Meter-Startposition ein, bereit zum Sprung, sein Schrotgewehr im Anschlag. Durch ein zweites Loch im Schrank, das wir extra gebohrt hatten, erkannte ich zwei junge Männer in cremefarbenen Leinenanzügen, die stumm das Lokal betraten. Beide hatten glattrasierte, bleiche Gesichter und blonde, dichte Haare im Fassonschnitt. Auf den ersten Blick sahen sie so deutsch aus wie junge Leute auf Deutsche-Post-Werbeplakaten, und der naheliegende Schluß, daß sie kein Wort sagten, weil sie kein Wort Deutsch konnten, schien der falsche gewesen zu sein.

Der eine reichte Romario einen Zettel. Romario las ihn und winkte sie zur Theke. In ihren Händen glänzten schwarze Automatics. Wir hatten gehofft, sie würden die Pistolen im Halfter lassen – so mußten Slibulsky und ich mit unserem Auftritt warten, bis Romario aus der Schußlinie war. Romario wußte das.

»Wollen Sie etwas trinken?« hörte ich seine leicht zittrige Stimme und sah, wie die beiden den Kopf schüttelten. Der eine deutete nachdrücklich auf den Zettel in Romarios Hand.

»Selbstverständlich, sofort. Ich würde nur noch gerne wissen, ob mit dieser monatlichen Spende auch wirklich alles abgegolten ist?«

Sie nickten.

»Und wenn… Na ja, Sie wissen ja, daß es noch andere Organisationen gibt, die um Spenden, äh, bitten… Ich meine, ist mit dieser Zahlung irgendeine Art Schutz Ihrerseits verbunden?«

[12] Wieder nickten sie und hoben lächelnd ihre Pistolen.

»Schön, und wo erreiche ich Sie in so einem Fall?«

Der eine deutete mit dem Pistolenlauf auf sein Ohr und seine Augen, was wohl heißen sollte: Wir kriegen mit, was in der Stadt läuft, uns muß man nicht rufen, wir sind von alleine zur Stelle.

Woher kamen diese Typen? Ich kannte deutsche Schutzgelderpresser, türkische, italienische, albanische, russische, chinesische – sprachlose waren mir neu.

»…Okay«, sagte Romario, »dann wolln wir mal…«

Wolln-wir-mal war unser Zeichen. Während Romario mit einem Satz hinter der Theke auf dem Boden war und zur Küchentür robbte, sprengten Slibulsky und ich die Schranktür und brüllten: »Hände hoch, Knarren fallen lassen!«

Doch sie taten weder das eine noch das andere, und hätte ich uns nicht kugelsichere Westen besorgt, wäre das unsere letzte laue Frühlingsnacht gewesen. Sie schossen sofort. Ich spürte die Schläge gegen die Brust, warf mich zur Seite und feuerte zurück. Wir hatten vorher ausgemacht, bei einer Schießerei auf die Köpfe zu zielen, schließlich waren wir nicht die einzigen, die sich kugelsichere Westen besorgen konnten. Den einen erwischte ich unterm Kinn. Blut spritzte über seinen cremefarbenen Anzug, er ließ die Waffe fallen und umklammerte mit beiden Händen seinen Hals, als wollte er sich erwürgen. Er taumelte kurz, kippte nach hinten und schlug am Boden auf. Dem anderen schoß Slibulsky mit dem Schrotgewehr die Stirn weg. Es klatschte und hagelte gegen die Holzvertäfelung. Während der Mann ohne Stirn noch fiel, sauste ich hinter die Theke und knipste sämtliche Lichter aus.

[13] Im Dunkeln rief ich: »Romario?!«

»Hier«, kam es aus der Küche.

»Slibulsky?«

»Eine Scheiße!«

Ich ging zum Fenster und linste am Vorhang vorbei auf die Straße und zu den gegenüberliegenden Häusern. Keine Fußgänger, kein Licht ging an, alles ruhig. Hinter mir röchelte es leise.

Ich schnippte mein Feuerzeug an und beugte mich über den Mann, der immer noch seinen Hals umklammerte. Blut rann ihm durch die Finger. Seine großen hellen Augen blickten mich fassungslos an.

»Wer schickt euch?« Er reagierte nicht.

»Ich kann einen Arzt rufen oder es bleiben lassen! Den Namen deines Chefs!«

Doch er hörte mich schon nicht mehr. Seine Hände lösten sich vom Hals, der Kopf kippte zur Seite, und er machte ein letztes ersticktes, schlürfendes Geräusch. Dann war nur noch das Zischen meines Feuerzeugs zu hören. Die Flamme warf ihren gelben Schein über das Gesicht des Toten. Es war geschminkt oder gepudert, darum hatte er vorhin so bleich gewirkt. An den Ohren und an den Fetzen, die vom Hals übrig waren, wurde die Haut dunkler. Ich drückte ihm die Augen zu. Ein junges, hübsches Gesicht mit langen Wimpern und vollen Lippen. Ich ließ das Feuerzeug ausgehen und starrte ins Schwarze. Es war nicht die erste Leiche, die vor mir lag, und ich hatte auch nicht zum ersten Mal bei einer Schießerei mit tödlichem Ausgang mitgemischt – aber dies war der erste Mensch, den ich eigenhändig umgebracht hatte.

[14] Ich betastete seine Brust. Immerhin, auch er trug eine kugelsichere Weste. Wären als nicht tödliches Ziel nur die Beine geblieben. Ob er, wenn ihm rechtzeitig klargeworden wäre, daß er seinen Gegner am Rumpf nicht verletzen konnte, meinen Kopf verschont hätte? Und hinderten verletzte Beine in einer Situation auf Leben und Tod am Weiterschießen?

Ein Streifen schwaches gelbes Licht fiel in den Saal. Als ich den Kopf wandte, stand Romario neben mir. Das Licht kam von einer Straßenlaterne hinterm Küchenfenster. Romario hatte den unverbundenen Arm um sich geschlungen, als friere er. Mit zusammengekniffenen Lippen betrachtete er die Leiche.

Ich räusperte mich. »Tja…« Und um irgendwas zu sagen: »Ging alles ziemlich schnell.«

Sein Blick blieb gesenkt. »Wenn es diese Armee, was immer sich dahinter verbirgt, tatsächlich gibt, dann bedeutet das da«, er wies mit dem Kinn auf die Leichen, »daß mein Aufenthalt in Frankfurt beendet ist.«

»Mhm«, machte ich vage, stand auf und steckte mir eine Zigarette an. Eine Weile standen wir so im Halbdunkel und horchten auf die Geräusche von der Straße. Autos fuhren vorbei, weiter weg ratterte eine Straßenbahn.

Ich fragte: »Hast du große Plastikmülltüten?«

»In der Küche.«

Ich trat die Zigarette aus. »Okay. Während Slibulsky und ich die Leichen wegbringen, putzt du den Laden, hängst ein Schild raus, ›Bin im Urlaub‹, und gehst nach Hause. Morgen haust du mit dem ersten Zug oder Flugzeug ab.«

»Abhauen? Wohin?«

[15] »Was weiß ich? Mallorca. Ruf mich an und sag mir die Nummer, unter der ich dich erreichen kann. In zwei, drei Wochen müßte ich rausbekommen haben, wer das Ganze leitet und ob sie hinter dir her sind.«

»Sag einen Grund, warum sie nicht hinter mir her sein sollten?«

»Du bist sicher nicht der einzige, den sie erpressen, also dürften sie erst mal eine Weile lang alle ihre Opfer verdächtigen.« Und zwar die ewige Weile von etwa ein bis zwei Tagen. Spätestens dann hätten sie sich Romario geschnappt und würden alles aus ihm rausprügeln, was sie wissen wollten – samt Slibulskys und meinem Namen.

Ich sah Romarios Silhouette, wie sie sich abwandte, während sein unverbundener Arm eine wegwerfende Geste in meine Richtung machte. Ich ahnte, was er dachte: Hätte er doch bloß einen anderen um Hilfe gebeten, einen, der für Geld arbeitete und bei Erfolg ein Extra bekam und der die Sache schon allein deshalb zur Zufriedenheit aller geregelt hätte, ohne Tote und drohende Geschäftsaufgabe. So ist das mit Freundschaftsdiensten. Wenn sie in die Hose gehen, wird ihre Kostengünstigkeit zum Beweis mangelnder Fähigkeit.

Abgesehen davon, daß Romario, falls er dachte, was ich glaubte, daß er dachte, nicht mal falsch lag. Sicher, ich war losgezogen, hatte kugelsichere Westen besorgt, Slibulsky zum Mitmachen überredet und das Zusammentreffen ein paarmal mit beiden durchgesprochen. Aber eigentlich hatte ich mich die ganze Zeit nur darüber geärgert, daß es ungeschriebene Gesetze gab, die mich verpflichteten, Romario zu helfen, und daß ich so blöd gewesen war, mich vor [16] vier Tagen mit ihm zu treffen, anstatt mich mit Grippe oder sonstwas rauszureden. Anders gesagt: In diesem Moment, eine Leiche links, eine rechts, die Füße in einer Blutlache, kapierte ich, daß ich Romario nicht mochte. Und zwar überhaupt nicht. Er ließ andere Leute in trockener Heizungsluft ersticken, weil er nicht damit klarkam, irgendwann mal irgendwoanders zur Welt gekommen zu sein, kochte miserabel und glaubte, indem er mich hin und wieder zum Restepamps einlud, mir über die Runden zu helfen – was zwar stimmte, um so schlimmer. Doch um mit dieser Einsicht irgendwas anzufangen, war es etwa zehn Minuten zu spät. Ich hing mit drin. Selbst wenn Romario sich auf Nimmerwiedersehen verkrümelte, gab es genug Leute in der Stadt, die sich über sein plötzliches Verschwinden Gedanken machen würden, und früher oder später spräche sich rum, daß man mich in den letzten Tagen ziemlich oft in seiner Nähe gesehen hatte. Vielleicht konnte diese Mafia nicht reden, aber hören und wahrscheinlich auch rechnen, und wenn sie eins und eins zusammenzählte, würde sie kaum zu dem Ergebnis kommen, ich sei zum Würfeln hier gewesen. Und dafür, daß man ihre Leute umlegt und ungeschoren davonkommt, sind Mafiaorganisationen nicht unbedingt bekannt.

Alles in allem war unsere Aktion also eine einzigartige Pleite. Dazu bekam ich jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen. Nicht nur, daß ich Romario nicht mochte, ich hatte ihn tatsächlich auf einen Streich um seine Arbeit, seine Wohnung und seine Stadt gebracht. Und das, nachdem ihm vor fünf Tagen schon der Daumen abhanden gekommen war.

»Ähm, Romario…«

[17] »Was?!« bellte es hinter mir. Im nächsten Moment flammten Neonröhren auf, und aus der Küche strahlte kaltes Licht in den Speisesaal. Um die Leichen, die inzwischen aufgehört hatten zu bluten, breiteten sich über Fußboden und Wände rote, schleimige Tupfer aus, ähnlich gestreut wie bei geplatzten Farbbeuteln. Slibulsky saß, das Schrotgewehr wie ein Baby im Arm, auf einem Tisch, ließ die Beine baumeln und starrte angewidert vor sich hin.

Ich wandte mich zur Küchentür. »Wie hätte ich wissen können, daß die sofort losschießen?«

Romarios Kopf tauchte kurz im Türrahmen auf.

»Es ist dein Job, so was zu wissen! Ob du’s kannst, is ’ne andere Frage!«

Du lieber Himmel! Das fehlte uns gerade noch, ein paar Klugscheißereien! Abgesehen davon, daß es nicht völlig an den Haaren herbeigezogen gewesen wäre, wenn er sich mal kurz nach Slibulskys und meinem Befinden erkundigt hätte. Schließlich war unsere heil gebliebene Haut ein Wunder. Von irgendeinem Gefühl, das die Toten betraf und über ihre Einschätzung als Störfaktor hinausging, ganz zu schweigen. Ich meine, sie waren nicht nur wegen des ungleich größeren Schadens, den sie anrichteten, doch was anderes als ein gebrochenes Wasserrohr.

Ich langte hinter die Theke, angelte mir eine Flasche Schnaps und nahm einen tiefen Schluck. Dann beugte ich mich über die Leichen und durchsuchte ihre Anzüge. Ein silbernes Benzinfeuerzeug, ein Fläschchen Mundwasser, zwei Telefonkarten, ein halbes Päckchen Dunhill, eine Nagelfeile, fünfhundertsiebzig Mark und ein paar Münzen, drei Kondome, Autoschlüssel und zwei Sonnenbrillen. [18] Weder Ausweise noch Führerscheine, nichts, was mir weitergeholfen hätte. Ich steckte alles ein und wollte mir ihre Kleidermarken ansehen, als ich hinter dem Gürtel der einen Leiche ein Mobiltelefon fand. Das Ding war so klein und fast so flach wie eine halbe Postkarte. Man klappte es auseinander, oben und unten deuteten drei feine Rillen Hör- und Sprechmuschel an, und die Nummern zum Wählen waren blau leuchtende Sensorentasten. Ich fand heraus, wo man, wenn es klingelte, auf Empfang schaltete, und schob das Telefon in meine Brusttasche.

Romario brachte einen Schwung zusammengefalteter grauer Mülltüten und eine Rolle Klebeband. Slibulsky und ich verpackten die Leichen. Beide stumm, beide bemüht, nicht so genau hinzufühlen. Nach wie vor glühten die Heizungen, und unsere schweißnassen Hände rutschten immer wieder von Tüten und Gelenken ab.

Als wir fertig waren, ging ich vor die Tür und sah mich nach dem zum Autoschlüssel passenden BMW um. Er war schwarz und neu und hatte ein Frankfurter Kennzeichen. Ich setzte mich rein, tastete unter den Sitzen, klappte das Handschuhfach auf, guckte hinter die Sonnenblenden, doch bis auf leere Energy-Drink-Flaschen, Bonbons mit Johannisbeergeschmack, Papiertaschentücher und eine große Dose Puder war der Wagen leer. Ich notierte mir das Kennzeichen, schloß den Kofferraum auf und ging zurück ins ›Saudade‹.

Inzwischen waren Romario und Slibulsky dabei, Boden und Wände zu schrubben. Romario sah kurz zu mir hoch, und nach seinem Blick zu urteilen, hätte es ihn nicht gestört, wenn es mein Blut gewesen wäre, das er da entfernte.

[19] Ich ging in die Küche und suchte nach etwas, worin wir die Leichen möglichst unauffällig zum Auto bringen konnten. In der Vorratskammer fand ich einen riesigen Aluminiumtopf mit zwei Henkeln. Er hatte über einen Meter Durchmesser und war etwa genauso tief. Man konnte ein ganzes Schwein darin kochen oder mehrere Zentner Gemüse oder sonstwas, das reichte, um ein mittleres Dorf einen Tag lang zu verpflegen.

»Was willst du damit?!« fuhr Romario auf, als ich das Ungetüm in den Speisesaal schleppte.

»Es ist nie gut, zwei Meter lange Säcke nachts um eins in einen Kofferraum zu laden. Einen Topf voll Kartoffeln dagegen…«

»Bist du verrückt?! So einen finde ich nie wieder!«

»Bekommst ihn ja zurück.«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß ich danach noch Suppe drin kochen kann?!«

»Meinst du, man schmeckt die beiden durch?«

Seine Augen weiteten sich, und einen Moment schien es, als wolle er mir seinen Putzlappen um die Ohren schlagen.

»Ja, das meine ich! Ich werde sie durchschmecken! Jedesmal wenn ich den Topf benutzen werde, werde ich denken…«

»He, he, he!« Slibulsky sah vom Putzeimer auf und brach zum ersten Mal seit der Schießerei sein Schweigen. »Was soll das mit dem Topf?«

Romario wandte sich zu ihm um, und seine Miene glättete sich. Schon seit einer Weile war zu merken, daß er Slibulsky als eine Art Verbündeten gegen mich suchte.

»Eben! Was soll das! Das ist nämlich mein [20] Festtagssuppentopf!« erklärte er, offenbar in der Überzeugung, damit wäre das Thema für einen zivilisierten Menschen wie Slibulsky vom Tisch.

»So. Und für welchen Festtag möchtest du ihn dir sauber halten? Den deiner Beerdigung?« fragte Slibulsky.

»Oder deiner Verhaftung?« schlug ich vor und stellte den Topf zwischen die grauen Plastikwürste. Ohne Romario weiter zu beachten, drückten und quetschten wir die erste der noch warmen Leichen zusammen und rammten sie mit gezielten Tritten zwischen das Aluminium.

»Hast du gesehen, daß ihre Gesichter weiß gepudert waren?« fragte Slibulsky.

Ich nickte. »Als hätten sie fürs Totsein vorher schon mal geübt.«

Nachdem wir geschaut hatten, ob die Straße leer war, schleppten wir den etwa achtzig Kilo schweren Topf zum BMW. Wir stemmten ihn hoch und kippten ihn über den geöffneten Kofferraum, doch nichts passierte. Der Kerl klemmte fest. Mit einer Hand und der Schulter hielten wir den Topf in der Luft, mit der anderen zerrten wir am Plastik. Die Tüte riß und irgendwas glibberte mir über die Hand.

»Ich kotz gleich!« keuchte Slibulsky.

Ich hörte es knacken. Slibulsky hatte irgendwas durchgebrochen, und endlich gab die Leiche nach. Mit dumpfem Plumps landete sie im Kofferraum. Wir sahen uns in die roten, schweißnassen Gesichter und schnappten nach Luft. Ich wischte mir die Hand an der Hose ab.

Als sich unser Atem halbwegs beruhigt hatte, sagte ich: »Tut mir leid. Ich dachte, es würde nichts weiter passieren als ’n bißchen Harte-Männer-Getue.«

[21] Slibulsky schnippte ein feuchtes Bröckchen von seinem T-Shirt. »Ich hoffe nur, der Tangomann kommt nicht auf die Idee, das Ganze uns in die Schuhe zu schieben.«

»Bitte…?«

»Na ja, theoretisch könnte er ja zur Polizei gehen und behaupten, Gangster hätten bei ihm ’ne Schießerei angefangen. Er kenne dich zwar flüchtig als Gast, hätte aber keine Ahnung gehabt, daß du in Verbindung zur Mafia stehst.«

»Slibulsky, ich bin Privatdetektiv!«

Er stutzte, schaute ungläubig, dann gab er so was zwischen Lachen und Husten von sich. »Bist du in letzter Zeit zu oft von deinen Nachbarn gegrüßt worden? Du hast ’n türkischen Namen, türkische Eltern, und du bist, seit du den Job machst, mit jedem zweiten Bullen in der Stadt aneinandergerasselt. Du glaubst doch nicht, daß die wegen ’nem läppischen Türschild auch nur eine Sekunde zögern werden, wenn sie die Chance haben, dich als anatolischen Terrorbaron zu verhaften?«

»Es ist nicht nur ’n Türschild, ich hab auch ’ne Lizenz.«

Das war schwach, zugegeben, und Slibulsky machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas darauf zu sagen. Tatsächlich wies er mich auf eine Möglichkeit hin, an die ich vorher keinen Augenblick gedacht hatte.

Auf dem Weg zurück sagte ich: »Er ist Brasilianer, Tango kommt aus Argentinien.«

»Na und? Du hast doch kapiert, um wen’s ging, oder?«

Und auch da hatte er recht.

Der Tangomann saß auf einem Stuhl, die Füße auf dem Tisch, und schien, während wir draußen gewesen waren, [22] einige Beruhigungsgläschen gekippt zu haben. ›Tangomann‹ paßte eins a: Ein längliches, zähes Gesicht mit kleinen fixen Augen, scharfer Nase und gekerbtem Kinn; halblange schwarze, wie lackiert glänzende Haare, die energisch nach hinten frisiert waren und bei Bewegungen wie aus einer einzigen Wurzel mitwippten; der Körper, sowieso ziemlich groß und breit, aber noch größer und breiter durch ein T-Shirt und eine Hose, die Romario vielleicht mal auf einem Schulhof in Rio gepaßt hatten, dazu seine offenbare Überzeugung, niemand sei groß genug, um nicht noch Schuhe mit fünf Zentimeter hohen Absätzen tragen zu können.

Die inzwischen eher unfixen Augen starrten uns an. Wir konnten zusehen, wie er die Lippen anstrengen mußte, damit zwischen ihnen ein Laut entstand. Waren es vielleicht keine Gläschen, sondern Beruhigungfläschchen gewesen? Was und wie mußte man trinken, um in kaum zwanzig Minuten in einen Zustand mangelnder Artikulationsfähigkeit zu gelangen? Neben ihm stand ein leeres Glas. Ich sah hinter die Theke, dort stand eine leere Flasche. Er hatte vor Aufregung am Abend nichts gegessen, und normalerweise hielt er sich an Fruchtsäfte.

»He, Romario, alles ’n bißchen viel, hm?« Ich ging zu ihm und legte meine Hand auf seine Schulter. Er sah zu mir hoch, bedachte mich mit einem langen Blick, der, wie ich vermutete, Schmerz ausdrücken sollte, allerdings nur glasig und verschwommen war. Dann hob er stumm den bandagierten Arm, schaute ihn an und nickte ihm zu, als wollte er sagen: Was wir beide alles mitmachen! Erneut, diesmal vorwurfsvoll, sah er zu mir hoch, bis sein Gesicht plötzlich ein Zucken befiel und ihm Tränen über die Wangen liefen. [23] Dabei entfuhr ihm eine Art Wiehern. Ich knetete seine Schulter, sagte so was wie »Wird schon alles« und sah mich hilfesuchend nach Slibulsky um. Doch der zuckte nur mit den Achseln und machte sich daran, die zweite Leiche in den Topf zu bugsieren. Endlich wurde aus dem Wiehern ein Schluchzen, aus dem Schluchzen ein Schlucken, die Tränen ließen nach, ich gab Romario ein Taschentuch, und er putzte sich die Nase.

»Ich… Weißt du, das Restaurant ist für mich wie eine Geliebte… Und wie man einer Geliebten Schmuck und Kleider schenkt, hab ich für den Laden Holz, Kacheln oder Tischdecken gekauft, um ihn hübsch zu machen, verstehst du?«

»Natürlich«, antwortete ich und überlegte, womit er wohl, nach den Preßspanlatten, falschen Marmorkacheln und karierten Polyestertischdecken zu schließen, seine Frauen behängte.

»Ich versprech dir, du kannst bald in den Laden zurück.« Während ich das sagte, setzte das Drücken und Schieben hinter mir kurz aus, und ich spürte Slibulskys Blick im Rücken. Sicher, realistischer war es, damit zu rechnen, daß das ›Saudade‹ irgendwann in den nächsten Wochen in die Luft flog und daß Romario weit weg wieder mit Fleischspießchen und Dosenbier anfangen mußte.

»’tschuldigung wegen vorhin«, sagte Romario. »Du hast schon recht, woher hättest du wissen können, daß die sofort schießen. Aber ich stand völlig unter Schock…« Er sah mich aus immer noch feuchten Augen an, und ich nickte verständnisvoll. Auf meiner Uhr war es kurz nach eins. »Also, wenn du das wirklich wieder hinkriegen solltest, [24] Kemal, ich wäre dir ewig dankbar!« Er versuchte ein Lächeln. »Und du hättest freies Menü auf Lebenszeit!«

Worauf es an mir war, ein Lächeln zu versuchen. »Das ist toll, Romario. Da freu ich mich sehr. Aber…«, diesmal war mein Blick zur Uhr möglichst deutlich, »wir sollten uns beeilen. Bis morgen muß der Laden sauber sein, als wäre nichts passiert.« Ich deutete auf Einschußlöcher in der Holzvertäfelung. »Da muß irgendwas rein und Farbe drüber. Am besten, du machst dir Kaffee, und dann guckst du mal, wie weit du mit einem Arm kommst.«

Er sollte gar nicht erst ins Überlegen kommen, was es sonst noch für Möglichkeiten für ihn gab, sich aus der Affäre zu ziehen. Er sollte arbeiten, bis ihm der andere Daumen auch noch abfiel, und morgen früh wollte ich ihn mit einer Flasche Schnaps ins Flugzeug packen. Einmal abgehauen, würde es ihm schwerfallen, der Polizei glaubhaft zu machen, er sei bei allem nur Zuschauer gewesen. Noch dazu, wenn mein Wort als Privatdetektiv, dem ich doch ein paar Gramm mehr Gewicht beimessen mochte als Slibulsky, dagegen stand. Ich war Mitte Dreißig und für die schnelle Einsicht, daß ich in meinem Beruf weder ernst genommen wurde noch beliebt war, ein bißchen zu alt – selbst wenn es sich nur um Polizisten handelte.

»Okay«, sagte Romario, »ich werd mir Mühe geben.« Dann stand er auf und war schon auf dem Weg zur Küche, als er sich noch mal umdrehte, mit seiner heilen Hand meinen Arm drückte und mich komisch ansah. »…Vielen Dank, Kemal. Du bist ein echter Freund!«

Zum Glück war er anständig oder besoffen genug, keine Antwort zu erwarten. Er machte auf dem Absatz kehrt und [25] tappte mit ein paar abschließenden Schniefern davon. Ich schaute ihm verdutzt hinterher und fragte mich, ob er glaubte, was er sagte, oder ob er glaubte, daß ich glaubte, was er sagte, oder ob er einfach meinte, in extremen Situationen gehöre sich extremer Schmus. Blieb festzuhalten, daß es mit Romarios Stimmungen flott hin und her ging und es keinesfalls ausgemacht war, wie lange er sich Mühe geben wollte. Je schneller er im Flugzeug saß, um so besser.

»He, echter Freund!« tönte es hinter mir. »Wie wär’s, du hilfst mir jetzt mal, den anderen Typ einzutopfen?«

2

Vor zehn Jahren war Slibulsky ein kleiner Drogendealer zwischen Bahnhofsviertel und Westend-Schickeria gewesen. Er schmuggelte, streckte und verkaufte, was er in die Finger bekam und was nicht den sofortigen Tod der Konsumenten bedeutete. Er selber hielt sich an Bier. Nebenbei war er offen für alle Geschäfte, die ihm im schlechtesten Fall nicht mehr als fünf Jahre Gefängnis einbringen würden. Bei einem dieser Geschäfte lernten wir uns kennen. Er half mir, ins Frankfurter Polizeipräsidium einzubrechen. Wenig später wurde er mit Koks erwischt und kam für ein Jahr hinter Gitter. Ich schickte ihm Pakete mit Fußball-WM-Videos und Rindswürsten, und er bedankte sich mit einem Karton selbstgefertigter Wäscheklammern. Ich war ehrlich gerührt. Bis heute steht der Karton in meiner Küche, und alle paar Wochen denke ich, wie schön es wäre, einen Garten oder einen Hof mit einer Wäscheleine zu haben.

[26] Auf Bewährung entlassen, machte Slibulsky als Bordellrausschmeißer weiter, dann als Diskjockey in verschiedenen Vorstadtdiskotheken und schließlich als Leibwächter eines Kommunalpolitikers. Der hatte zwar von niemandem was zu befürchten, führte aber seinen Wahlkampf unter dem Motto ›Gegen tägliche Gewalt auf unseren Straßen – ich greife durch‹ und schleppte Slibulsky quasi als umgekehrten Beweis für die von ihm beklagten Zustände mit sich durch die Wahlveranstaltungen. Im Stadtteil, in dem er kandidierte, gipfelte die Kriminalität in auf den Bürgersteig fallen gelassenen Kaugummipapierchen, und das Gewalttätigste, was sich auf den Straßen abspielte, waren bellende Pudel und meckernde Rentner. Die Wahl wurde gewonnen und Slibulsky gefeuert. Für eine Weile stieg er wieder ins Drogengeschäft ein, bis er vor drei Jahren eine Idee hatte und einen Betrieb mit Speiseeiswagen eröffnete. Diese kleinen von einem Fahrrad gezogenen, meistens mit den italienischen Nationalfarben bewimpelten Kisten, die einen früher klingelnd durch die Sonntage begleitet hatten – oder von denen man heute wenigstens glaubt, sie hätten es. Keine Ahnung, ob ich als Junge jemals Eis an so einem Wagen gekauft oder überhaupt nur mal einen gesehen habe, aber wenn jetzt einer die Straße runterkam oder vorm Schwimmbad stand, war ich jedesmal wieder für einen Moment lang acht. Und weil das nicht nur mir so ging und weil sich fast alle, die sich erinnerten oder sich zu erinnern meinten, inzwischen die Superriesentüte mit sieben Kugeln leisten konnten, ohne einen Krater in den Taschengeldhaushalt zu bomben, war Slibulskys Geschäft ein voller Erfolg. Kinder kauften zwar auch, aber den Reibach machte er mit Leuten, [27] die sich für zehn Mark vergangene Sommer heranholten. Er hatte neun Angestellte, die bei prozentualer Beteiligung sieben Tage die Woche für ihn fuhren, während er in einem Büro mit Kabelanschluß saß, Geld zählte und Formel 1 guckte. Hin und wieder ein paar Reparaturen, dann und wann ein Angestellter, der sich mit den Tageseinnahmen verdrückte, und zweimal Anzeigen wegen Lebensmittelvergiftungen – ansonsten tausend, zweitausend, Schumacher, erste Startreihe. Inzwischen hatte er genug verdient, um mit seiner Freundin Gina ernsthaft auf der Suche nach einem eigenen Haus mit Lagerhalle und Werkstatt zu sein, wo er seinen Betrieb dann mehr oder weniger vom Schlafzimmer aus dirigieren könnte.

Daß Slibulsky mir in dieser Nacht half und alles aufs Spiel setzte, was er sich in den letzten drei Jahren nicht nur finanziell aufgebaut hatte, war… na ja, ganz schön beeindruckend.

»Nicht da lang!« Er wedelte mit der Hand. »Da ist ’ne Diskothek, und hundert Meter weiter machen sie nachts regelmäßig Alkoholkontrollen.«

Wir waren auf dem Weg in den Taunus, um die Leichen irgendwo im Wald zu vergraben. Allein beim Gedanken, in eine Polizeisperre zu geraten und nach Papieren gefragt zu werden, brach mir der Schweiß aus. Selbst wenn mir die Frankfurter Polizei den großen Freundschaftspreis verliehen hätte und ›Kayankaya‹ das geflügelte Wort für Ehrlicher-Mann-dem-du-glauben-sollst gewesen wäre, hätte ich allerhand Schwierigkeiten gehabt, die Herkunft des Autos, seinen Kofferrauminhalt und die zwei Spaten aus Slibulskys Garage auf der Rückbank zu erklären.

[28] »Da vorne rechts«, dirigierte Slibulsky. »Und kriech nicht so.«

»Ich fahr fünfzig, wie vorgeschrieben.«

»Niemand fährt nachts um zwei in ’nem Wagen, der zweihundert kann, wie vorgeschrieben.«

Ich sagte nichts darauf, blieb aber bei meinem Tempo. Ich wollte lieber wegen Doofheit als wegen Überheblichkeit ins Gefängnis wandern.

»Außerdem hängst du mit der Karre doch jedes Blaulicht ab.«

»Herrgott, Slibulsky!«

»Na, was denn?«

Ja, ich war davon beeindruckt, daß und wie er mir half. Ohne ihn hätte ich die Nacht niemals heil überstanden, geschweige denn alles so regeln können, daß für Romario immerhin eine Chance bestand, halbwegs ungeschoren davonzukommen – aber jetzt wäre ich gerne alleine gewesen. Slibulsky war über die Jahre zu meiner Art Familie geworden. Manchmal ein großer Bruder, der mir Ratschläge geben und mich zur Vernunft bringen konnte, der, je nach Notwendigkeit, hinter mir stand oder sich vor mich stellte und vor dem ich keine Geheimnisse hatte. Aber hin und wieder auch ein kleiner Bruder, der mich mit Gezänk und Eigensinn verrückt machte, mir zwischen den Beinen rumlief und im Weg stand und dem ich nicht mal die Uhrzeit verraten mochte, aus Angst, das würde möglicherweise zum Spalt, durch den er seine Nase in meine Angelegenheiten stecken könnte.

»Laß uns die Typen vergraben, die Kneipe aufräumen und Romario zum Flughafen bringen, okay? Wenn wir [29] Glück haben, schaffen wir’s, danach ein bißchen zu schlafen. Alles andere, wie man Auto fährt zum Beispiel, können wir morgen besprechen.«

Slibulsky sah mich von der Seite an, und es war zu spüren, wie ihm die Erwiderungen durch den Kopf jagten. Doch dann knurrte er nur irgendwas in sich hinein, steckte sich einen frischen Bonbon in den Mund und beugte sich zur Musikanlage. Als er den Power-Knopf drückte, begann sie in zig verschiedenen Farben zu strahlen und zu blinken wie ein kleiner Rummelplatz. Er schob die einzige rumliegende CD rein, irgendein Techno-Geballer mit Schwuchtel-Singsang. Slibulsky ließ es laufen. Volle Lautstärke. Ich faßte es nicht.

»Slibulsky, mach die Scheiße aus!«

Mit dem Kopf vor und zurück wippend, schrie er durch den Krach: »Warte mal! Erst mal reinhören! Das ist gar nicht so schlecht!«

Aber ich wartete nicht. Und weil ich unter dem Beschuß aus vier Baßlautsprechern und mit den Bildern zerplatzender Gesichter im Hinterkopf und mit den Leichen im Kofferraum und den Lichtern der Anlage neben mir und der dunklen Landstraße vor mir für einen Moment das Gefühl hatte, geradewegs in die Hölle zu rasen, drückte ich nicht den Power-Knopf, sondern nahm den Fuß vom Gas und trat den Rummelplatz zu Schrott.

»…Bist du irre?!«

»Du bist irre! ›Erst mal reinhören!‹ Ich glaub, ich spinne!«

Eine Zeitlang war nur das leise Surren des Motors zu hören.

[30] Schließlich räusperte sich Slibulsky und sagte kühl: »Es war nicht meine Idee, Jungs abzuknallen und Leichen zu verbuddeln. Aber jetzt ist es so gekommen, und wir haben’s im Kopf, und das geht nicht dadurch weg, daß wir Verkehrsregeln einhalten. Über technische Fragen, etwa daß uns in dem Wagen kein Bulle mit seinem VW-Rumpelmotor je einholen kann, willst du nicht reden, und dich mit ’n bißchen Musik ablenken, und sei sie noch so unter aller Sau, willst du auch nicht – aber ich vielleicht. Von mir aus bist du ’n Superkiller, der irgendwen umlegt und danach sein Nickerchen macht – ich hätt’s nach soviel Tod gerne ein bißchen lebendiger!«