Ein Graf auf Abwegen - Hannah Conrad - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein Graf auf Abwegen E-Book

Hannah Conrad

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kann wahre Liebe alle Grenzen überwinden?

Maximilian von Seybach ist Arzt aus Leidenschaft. Sein größter Wunsch ist es, besonders den Ärmsten der Gesellschaft zu helfen. Das passt ganz und gar nicht zu den ehrgeizigen Plänen seiner Familie. Als er erfährt, dass seine Großmutter bereits eine Ehe mit der wohlhabenden Sophie de Neuville arrangiert hat, ist er außer sich vor Wut. Heimlich hat Maximilian schon lange ein Auge auf die schöne und kluge Louisa geworfen. Das Problem: Louisa ist Dienstmädchen im Hause von Seybach. Er will nicht riskieren, dass sie ihre Stellung verliert, aber gegen seine Gefühle ist er machtlos. Unaufhaltsam kommen sie sich immer näher. Doch für ihre Liebe gibt es keinen Platz in der Gesellschaft. Und Maximilians Heirat mit Sophie steht kurz bevor …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 482

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Maximilian von Seybach ist Arzt aus Leidenschaft. Sein größter Wunsch ist es, besonders den Ärmsten der Gesellschaft zu helfen. Das passt ganz und gar nicht zu den ehrgeizigen Plänen seiner Familie. Als er erfährt, dass seine Großmutter bereits eine Ehe mit der wohlhabenden Sophie de Neuville arrangiert hat, ist er außer sich vor Wut. Heimlich hat Maximilian schon lange ein Auge auf die schöne und kluge Louisa geworfen. Das Problem: Louisa ist Dienstmädchen im Hause von Seybach. Er will nicht riskieren, dass sie ihre Stellung verliert, aber gegen seine Gefühle ist er machtlos. Unaufhaltsam kommen sie sich immer näher. Doch für ihre Liebe gibt es keinen Platz in der Gesellschaft. Und Maximilians Heirat mit Sophie steht kurz bevor …

DIEAUTORIN

Hannah Conrad hat bereits viele erfolgreiche Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie studierte Germanistik und Kulturjournalismus, wurde mit dem DeLiA-Literaturpreis sowie dem Selfpublisher-Preis ausgezeichnet und hat einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen. Ihre Reisen nutzt sie gerne zur Recherche zu ihren Romanen, und sie ist in mehreren Städten Deutschlands zu Hause. Hinter Hannah Conrad verbergen sich vier Autorinnen: Laila El Omari, Frieda Bergmann, Monika Pfundmeier und Persephone Haasis.

HANNAHCONRAD

EINGRAFAUFABWEGEN

Das Lilienpalais

Band 2

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 02/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Redaktion: Regine Weisbrod

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München

unter Verwendung von Arcangel/Rekha Arcangel;

Shutterstock.com/Marina AFONSHINA

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28923-2V001

www.heyne.de

München

Zum Ball lädt ein

Das Haus von Seybach

Henriette von Seybach:

Gräfin, verwitwet, Mutter von Carl von Seybach

Carl von Seybach:

Graf, Witwer, Obersthofmeister & Berater des Königs

Eloise von Seybach:

Carls an Schwindsucht verstorbene Ehefrau

Maximilian von Seybach:

Erbgraf, ältester Sohn von Carl, Arzt

Isabella von Seybach:

jüngste Tochter von Carl, »Nesthäkchen«

Johanna von Seybach:

Carls Nichte aus Königsberg, (Preußen)

Nanette:

Gouvernante des Hauses von Seybach

Auf die Tanzkarte möchten

Alexander von Reuss:

Erbgraf des Hauses von Reuss

Leopold von Löwenstein:

angehender Diplomat und Freund seit Kindertagen

Ferdinand v. Rückl:

Adliger, dessen Worte Stadt und Königreich bewegen*

Sophie de Neuville:

Erbin mit eigenwilligen Plänen

Julie von Hegenberg:

Adlige mit vielfältigen Interessen

Richard von Cranichsberg zu Treutheim:

Adliger mit märchenhaftem Vermögen*

Louisa:

Dienstbotin im Hause von Seybach

Unverzichtbar im Hintergrund sind

Afra Haberl:

Hausdame, Vorsteherin des weiblichen Gesindes

Finni:

Kammerzofe

Albrecht:

Kammerdiener

Matthias:

Lakai

Joseph (Sepp):

Hausvorstand*

Berti:

Köchin

Xaver:

Kutscher

Anna, Cilli & Bärbel:

Stubenmädchen

Gretel & Annelies:

Küchenhilfen

Georg (Schorsch):

Stalljunge

Anton:

Gärtner

Kätt:

neu in München, Hausmädchen*

In besonderen Rollen

5 Hunde:

Napoleon, Antoinette, Ludovika, Henry, Caesar

Mit * markierte Personen tauchen in den anderen Bänden auf.

»Wer tanzen will, folgt der Melodie seines Herzens, aller Brüche und Narben zum Trotz.«

NANETTE

München, Ende März 1828 …

1

Louisa

»Los, los, los!« Afra Haberl, die Hausdame der Familie von Seybach, warf einen gehetzten Blick auf ihre silberne Taschenuhr und ließ sie wieder in der Brusttasche ihres fein gestreiften Kleides verschwinden. »So eilt euch doch, Mädchen! Der junge Erbgraf wird jeden Moment hier eintreffen.« Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die Dienstbotinnen, die mit ihren Staubwedeln und Putzeimern zurück in die Küche liefen. Louisa, die als jüngste Dienstbotin im Palais besonders eilfertig war, huschte an der gebieterischen Hausdame vorbei. Dass Frau Haberl sie immer so triezen musste … Andererseits war das ihre Aufgabe. Wenn bei Maximilian von Seybachs Ankunft irgendetwas nicht perfekt war, würde man es auf sie zurückführen, also war es nur verständlich, dass sie die Mädchen so antrieb. Trotzdem hätte sie dies auch ein wenig freundlicher tun können, fand Louisa.

»Gretel, Annelies, hört auf zu tuscheln!«, ermahnte Afra Haberl gleich darauf die beiden Küchenhilfen. Jedes Mal, wenn jemand auf den Sohn des Hauses zu sprechen kam, wurden diese ganz aufgeregt und vergaßen alles um sich herum. »Für solche Albernheiten haben wir keine Zeit. Wie weit ist das Essen, Berti?«

Die mollige Köchin hob den Deckel eines Topfes an und pikste mit einer Fleischgabel so in den Braten, dass der Saft herausspritzte. »Ha, a Wiele wird des Fleisch scho no braucha«, sagte sie in ihrem schwäbischen Singsang.

Afra Haberl wandte den Blick zur Decke. »Der Herr weiß, warum ich das verdient habe«, murmelte sie.

Annelies und Gretel, die an dem großen Holztisch in der Küchenmitte Kartoffeln schälten, kicherten wieder. Wenn die Herrschaft gegessen hatte und sich der Abend dem ruhigeren Teil zuwandte, würden sich später hier die Dienstboten versammeln, die Reste genießen und sich über die aufgeschnappten Neuigkeiten austauschen. Das war der Vorteil, wenn im Lilienpalais, wie Herrschaft und Diener das Haus gleichermaßen liebevoll nannten, ein feierliches Abendessen gegeben wurde. Zwar sorgten die Vorbereitungen nahezu für eine Verdopplung der täglichen Arbeit, doch Carl von Seybach, der Hausherr, hatte sich noch nie lumpen lassen, wenn es um das Wohl seiner Angestellten ging.

»Dem Herrn han i hit scho a Gebet gschickt, wo sich gwäscht hot«, brummte Berti und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Der Pudding isch nämlich nint worra.«

»Was soll das heißen?«, giftete Afra Haberl sofort. »In der Menübesprechung hatten wir ausdrücklich drei Gänge festgehalten: ein Rübensüppchen, den Sonntagsbraten und einen Pudding mit Obst.«

»Des woaß i scho, aber wega dem wurd der Pudding au it andersch.«

Die Hausdame wurde blass wie der weiß gestärkte Spitzenkragen an ihrem dunkelgrau gestreiften Kleid. »Gott sei mir gnädig«, murmelte sie erneut, und wieder kicherten die Mädchen. »Sag, Louisa! Wie weit ist das Zimmer des gnädigen Herrn?«

Louisa knickste und senkte leicht den Blick. »Alles ist vorbereitet, Frau Haberl«, erwiderte sie mit sanfter Stimme. Sie wusste, dass die Hausdame sie besonders kritisch beäugte, denn sie war als Letzte hier eingestellt worden. Seit einem knappen Jahr arbeitete sie im Hause derer von Seybach. Davor hatte sie eine Anstellung bei den Nachbarn angetreten, doch weil es bei den von Löwensteins nicht so gut gepasst hatte, hatte Carl von Seybach sie abgeworben.

»Gut, das werde ich mir gleich ansehen«, entschied Afra, raffte ihre Röcke und verließ die Küche.

»Mach dich auf ein Donnerwetter vom Gifthaberl gefasst, wenn du die Bettdecke auch nur einen Millimeter zu weit zurückgeschlagen hast«, gluckste Annelies.

»Keine Sorge, ich habe genau darauf geachtet.« Louisa schenkte ihr ein dankbares Lächeln. In den ersten Wochen hatte Frau Haberl sie deutlich spüren lassen, wie viel Glück sie hatte, im Lilienpalais sein zu dürfen. Kein gutes Haar hatte sie an Louisas Arbeiten gelassen, sie die Schuhe mehrfach putzen und die Kerzenleuchter nachpolieren lassen. Immerhin in den Küchenhilfen hatte Louisa gleich Verbündete gefunden.

»Ihr solla Erdepfel schela un it Maulaff feilhalta!«, ermahnte Berti sie, die einen großen Topf mit Wasser auf den Herd wuchtete. »Louisa, hosch dia Servierplatta scho poliert?«

Louisas Augen weiteten sich erschrocken. Das hatte sie in dem Eifer ganz vergessen. Seit der Brief des Erbgrafen angekommen war, befand sich das ganze Haus in Aufruhr.

»Na, hopp, bevor des Gifthaberl kunnt!« Berti zwinkerte ihr zu.

Louisa setzte sich zu den Dienstbotinnen an den Küchentisch und begann damit, die silbernen Servierplatten mit dem Familienwappen – ein Helm mit Schild, dessen obere Hälfte die bayrischen Rauten zeigte, die untere in Anlehnung an den Familiennamen einen sich dahinschlängelnden Bach – zu polieren.

»Ob der Erbgraf alleine anreist?« Gretel hielt einen Moment inne und blickte verträumt vor sich hin.

»Darauf hoffst du wohl, was?« Ein unsanfter Stoß von Annelies in die Rippen ließ Gretel mit dem Kartoffelschälen weitermachen.

»Jede hofft das«, verteidigte sich die Dienstbotin, und Louisa spürte, wie ihr Gesicht eine sanfte Röte überzog. Schnell senkte sie den Kopf noch ein wenig tiefer, damit es im Schein der Kerzen nicht auffiel.

»Eine gute Partie ist er, unser junger gnädiger Herr. Vor allem jetzt, wo er auch ein Doktor ist«, seufzte Annelies sehnsüchtig. »Und so lange schon lässt er die heiratsfähigen Damen Münchens zappeln. Aber von einem wie ihm kann unsereins nur träumen. Ein Skandal wäre das.«

»Sunsch hot des Personal jo nint zum Schwätza«, brummte Berti vom Herd aus.

»Soweit ich weiß, ist er um die Weihnachtszeit öfter mit Helene von Riepenhoff ausgegangen«, sagte Gretel.

Louisa musste schlucken, als sie daran dachte, wie oft er und die Komtess zusammen gesehen worden waren. »Man sagt sogar, dass er zum Neujahrsessen bei ihr im Hause eingeladen war.« Die Erinnerung daran versetzte ihr immer noch einen kleinen Stich.

»Bei dem großen Adventsball hat man sie auch des Öfteren zusammenstehen sehen«, meinte Annelies.

»Ja, aber getanzt hat er nicht mit ihr, oder?«, wandte Gretel ein.

»Die Erdepfel, Meidle!«, rief Berti mit durchdringender Stimme.

Die drei Dienstbotinnen warfen einander amüsierte Blicke zu und kicherten wieder.

»Vielleicht tanzt er ja nicht gerne?«, fragte Louisa neugierig, doch auf Bertis Räuspern hin schwieg jetzt auch sie.

»Louisa?«

Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme der Hausdame hinter sich hörte. Sofort stand sie auf und sah Afra Haberl mit klopfendem Herzen an. »Ja, Frau Haberl?«

»Gute Arbeit.« Afras Lippen waren schmal wie die Nadelstreifen auf ihrem Kleid, als bereitete es ihr größte Mühe, das Kompliment auszusprechen. »Du hast heute eine Premiere: Du wirst beim Abendessen servieren. Anna ist leider unpässlich. Oben auf dem Dachboden steht eine Kleidertruhe. Nimm dir von dort eine Dienstbotenuniform. So kannst du dich keinesfalls sehen lassen.« Missbilligend blickte sie an Louisas dunkelbrauner Robe hinunter. Der grobe Stoff war nicht der beste, doch er wärmte gut, war schmutzresistent und reißfest, und ihre Familie hatte es einen ganzen Monatslohn gekostet, um für Louisas neue Anstellung dieses Kleid fertigen zu lassen.

Die Hausdame griff sich in ihre ergrauenden Locken, die sie fest nach hinten gesteckt hatte, und prüfte geistesabwesend, ob sich auch ja keine Haarsträhne aus ihrer strengen Frisur gelöst hatte. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. »Finni soll dir helfen. Es gibt bestimmt noch ein Kleid, das dir passt und in dem du der Herrschaft unter die Augen treten kannst. Und solltest du dich bewähren, lassen wir dir deine eigene Uniform schneidern – oder eines der Kleider für dich abändern«, fügte sie mit gekräuselten Lippen hinzu.

Louisa nickte, doch sie stand noch immer wie festgewachsen vor der Hausdame.

»Na los!«, rief diese. »Oder brauchst du eine gesonderte Einladung?«

»Nein, Frau Haberl.«

»Wir sehen uns in …« Sie zog wieder ihre silberne Taschenuhr aus der Brusttasche. »Sieben Minuten. Und lass dir von Finni zeigen, wie man einen ordentlichen Haarknoten macht.«

Louisa knickste und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, das hintere Treppenhaus des Stadtpalais nach oben in den zweiten Stock. Das vordere Treppenhaus mit der imposanten Glaskuppel, dem üppig begrünten Wintergarten, in dem es gerade zuging wie in einem Ameisenhaufen, und den beeindruckenden Balustraden war der Familie und deren Gästen vorbehalten. Louisa hatte noch am Mittag auf der Leiter gestanden und dort das Porträt Eloise von Seybachs, der verstorbenen Gemahlin des Hausherrn Carl, abgestaubt. Eine wunderschöne Dame mit blonden Locken, kunstvoll zu einer Frisur gesteckt, und dazu trug sie ein champagnerfarbenes Kleid, das sie elfenhaft und zart wirken ließ. Sie musste eine beeindruckende Frau gewesen sein, und manchmal fragte sich Louisa, ob der Schatten ihres Todes noch immer über dem Haus lag, denn die Gräfin war viel zu früh an Schwindsucht gestorben. Louisa hatte wie jede Woche die Lilien – Gräfin Eloises Lieblingsblumen, denen das Palais seinen Namen verdankte – aus der Bodenvase vor dem Gemälde genommen und gegen einen frischen Strauß aus dem Gewächshaus getauscht.

Sie erreichte die zweite Etage, in der die privaten Gemächer der Herrschaft untergebracht waren. Zur Straße hin hatten Carl von Seybach und sein Sohn Maximilian ihre Zimmer, dahinter lagen die Räume der Hausherrin Gräfin Henriette, Carls Mutter. Dann kamen die Gemächer der Mädchen, wobei Fräulein Johannas Zimmer nach ihrer Hochzeit bald nur noch als Gästezimmer genutzt würde, zur Freude der Komtess Isabella, die dann wieder ihr Ankleidezimmer für sich allein hatte, wie Louisa aus Gesprächen mit Finni wusste. Doch die beiden Cousinen schienen ansonsten gut auszukommen.

Sicherlich freut sich auch Fräulein Johanna auf das Abendessen heute, dachte Louisa, denn zur Feier des Tages war ihr Verlobter Alexander von Reuss eingeladen, Maximilians Freund aus Kindertagen.

Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, und Louisa musste einen Augenblick am oberen Treppengeländer stehen bleiben und verschnaufen, doch dann machte sie sich gleich wieder auf – jetzt allerdings auf Zehenspitzen, denn man hatte ihr beigebracht, sich lautlos und unauffällig zu bewegen – und huschte über den breiten Flur zu Komtess Isabellas Ankleidezimmer. Sie ging davon aus, dass die Kammerzofe der Komtess noch bei den letzten Handgriffen an ihrer Garderobe half.

Zaghaft klopfte sie gegen die schwere Holztür mit den schönen Schnitzereien.

»Herein?«, erklang Isabellas honigwarme Stimme von drinnen.

Louisa öffnete die Tür und knickste. »Verzeihung, ich …«

»Ist er schon da?«, rief die Komtess außer sich vor Freude, doch Louisa schüttelte den Kopf.

»Warten Sie, Isabella!« Finni, die rotblonde Zofe, hatte Mühe, die Bänder des Kleides zu halten, das sie der schlanken Isabella gerade anzuziehen versuchte. »Die Schnürung muss sauber sitzen.«

»Das kannst du ruhig so lassen, sonst kann ich nachher nicht genügend von Bertis leckerem Krustenbraten essen«, entschied Komtess Isabella und hielt sich einen Schmuckkamm an ihr dunkles, welliges Haar, das Finni bereits zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt hatte.

»Ihre Großmutter wird mich dafür umbringen«, gab Finni zu bedenken.

Isabella winkte ab. »Bei so vielen Lagen Stoff wird sie gar nicht bemerken, wie das Kleid nun geschnürt ist. Unbequem ist es mit seinen Fischbeinstäben so oder so. Sei froh, dass du so ein bequemes Kleid tragen kannst, Louisa.«

Louisa sah sie an. »Frau Haberl schickt mich nach einem vorzeigbaren Kleid. Ich soll heute Abend beim Essen bedienen und brauche eine Dienstbotenuniform dafür.«

»Was? Das ist ja großartig«, freute sich Isabella. »Dann bist du endlich eine Stufe bei ihr aufgestiegen. Meine herzlichsten Glückwünsche.«

Louisa lächelte scheu. Sie wusste, dass die Worte der Komtess von Herzen kamen, doch ob das tatsächlich ein Grund zur Freude war, blieb abzuwarten. Außerdem fühlte sie sich nicht wohl, in Komtess Isabellas Anwesenheit in deren Gemächern zu sein, denn normalerweise brachte Louisa in den Morgenstunden nur unbemerkt frisches Wasser für die Frisiertische, zündete die Kaminfeuer an und leerte die Nachttöpfe. Dabei von der Herrschaft gesehen zu werden, galt als äußerst unschicklich. Wenn dann alle beim Frühstück saßen, lüftete Louisa die Betten und wischte dort Staub, wo Isabella von Seybach gerade ihren Schmuck ausgebreitet hatte. Hoffentlich fand sie keinen Krümel oder ein Staubkorn zur Beanstandung, wobei sich die Komtess bisher noch nie über etwas Derartiges beschwert hatte.

»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Finni und schloss mit einem energischen Knoten Isabellas Kleid.

»Au!«, rief Isabella und keuchte nach Luft.

»Verzeihung.«

»Jetzt vermutlich noch vier Minuten. Frau Haberl will mir gleich noch eine Einweisung geben.«

»Was?« Entsetzt drehte sich die Zofe zu ihr um. »Das sagst du erst jetzt? Los, komm, wir müssen ein Kleid für dich aussuchen! Ich bin gleich zurück, Komtess Isabella.« Sie griff nach Louisas Hand und zog sie mit sich aus dem schönen Gemach.

»Frau Haberl sagt, in der Truhe oben auf dem Dachboden gäbe es noch Dienstbotenkleider«, sagte Louisa, aber Finni winkte ab.

»Da ist keines dabei, das dir passt.« Gleich darauf stolperten sie in Finnis Schlafstube im hinteren Dienstbotenbereich, unweit von Isabellas Zimmern. Der Raum war ein paar Fußbreit größer als ihr eigenes Zimmer. Denn Louisa hatte die Mansarde unter dem Dach bezogen, weil sie als Letzte ins Haus gekommen war und es sonst keinen Platz mehr für sie gegeben hatte. Es war dort zugig und kühl, und die steile Holztreppe war in der Dunkelheit nur mit einer Kerze in der Hand eine Herausforderung, aber immerhin musste sie nicht in den Hängeböden der Zwischendecke schlafen, wie sie es schon von manch anderen Dienstboten gehört hatte.

»Setz dich!«, befahl Finni, und Louisa nahm auf dem Bett Platz. »Das hier ist gut«, entschied sie gleich darauf und tauchte mit einem dunkelgrauen, bodenlangen Kleid und einer weißen Schürze wieder aus ihrem Kleiderschrank auf. »Das kannst du haben, es sollte dir passen.« Sie war vor Louisa getreten und hielt es ihr vor den Körper. Louisas Figur war ein wenig weiblicher als Finnis, dafür war Finni ein Stückchen größer, doch fürs Erste sollte es gehen. Mit einem aufmunternden Lächeln sah ihre Freundin sie an.

Louisa fuhr mit den Fingerspitzen über den schweren, tadellos gewebten Stoff, die feinen schwarzen Streifen entlang.

»Wirklich?«, hauchte sie.

»Aber klar. Du wirst es in Zukunft öfter brauchen. Und dann wird es endlich Zeit, dass du dein eigenes bekommst. Du hast dich jetzt lange genug verdient gemacht.« Die Zofe zog Louisa auf die Beine und half ihr beim Auskleiden. »Keine Widerworte, dafür haben wir ohnehin keine Zeit mehr.«

Rasch war Louisa aus ihrem Kleid gestiegen, und kurz darauf hatte Finni das andere über ihren Körper geworfen. Mit geschickten Fingern schloss Finni die Knöpfe auf dem Rücken und band ihr die weiße Schürze um. Dann nahm sie Louisas blonde Haare zu einem Dutt zusammen, steckte die gestärkte weiße Haube fest, sodass sie kokett ein wenig schräg saß, und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. »So wird es gehen«, entschied sie, nachdem sie mit ein paar Klammern noch eine vorwitzige Locke in den Haarknoten an Louisas Hinterkopf befestigt hatte. »Nächstes Mal zeige ich dir, wie man ihn steckt, dann kannst du es selbst. Aber für jetzt muss es reichen, sonst kommst du zu spät.«

»Ich danke dir.« Louisa stand auf, umarmte ihre Freundin, raffte ihre Röcke und lief mit eiligen Schritten die Dienstbotentreppe wieder nach unten, wo Afra Haberl an der Tür zum Speisezimmer bereits auf sie wartete. Sie zog ihre Taschenuhr hervor, warf mit hochgezogener Augenbraue einen Blick darauf und nickte kaum merklich. »Pünktlich auf die Sekunde.«

Louisa schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln, doch es blieb unerwidert. Sie musste sich beherrschen, um nicht zu tief einzuatmen und der Hausdame zu zeigen, wie knapp die Zeit bemessen war. Das hatte sie sicherlich absichtlich getan, um Louisa an der nächstmöglichen Stelle wieder abstrafen zu können – aber davon ließ sie sich nicht einschüchtern. Sie hatte zwar bei den von Löwensteins einen unglücklichen Start gehabt, als sie vor fünf Jahren aus Garching für ihre erste Anstellung nach München gekommen war, aber sie lernte schnell, und sie wusste, worauf es ankam, wenn sie ihre Stellung hier nicht verlieren wollte. Sie war gut.

Sei pünktlich, demütig und freundlich, hatte ihr ihre Mutter eingeschärft, bevor sie damals ihre Eltern und ihre jüngeren Geschwister verlassen hatte. Jeder Mund, der nicht mehr gestopft werden musste, war ein Segen, und so hatte man Louisa mit ihren dreizehn Jahren aus Garching nach München in ein Anstellungsverhältnis geschickt. Lerne, so viel du kannst. Dann wirst du deinem zukünftigen Mann einen guten Haushalt führen und deinen Kindern eine liebende Mutter sein.

Louisas Augen brannten bei der Erinnerung daran. Das Leben hier war hart, und sie vermisste ihre Familie schmerzlich. Nicht einmal an ihren freien Sonntagen, die ihr alle zwei Wochen zustanden, konnte sie ihre Familie besuchen. Dafür war der Weg zu Fuß mit dreieinhalb Stunden einfach zu weit. Nur äußerst selten machte sie sich schon im Morgengrauen auf, wenn das Heimweh zu groß wurde und die Sehnsucht nach Caroline, ihrer jüngeren Schwester, sie übermannte. Caro, um die sie sich damals gekümmert hatte, nachdem ihre Mutter eine Fehlgeburt mit Komplikationen erlitten hatte.

Die Hausdame legte die Hand auf die Klinke der doppelflügeligen Tür des Speisesaals und maß Louisa mit kühlem Blick. »Ich werde dir jetzt zeigen, wo du während des Essens zu stehen hast. Du wirst eine Beilage servieren, die Erbsen. Oder nein, das ist zu schwierig. Die könnten davonrollen. Wenn nur eine auf den kostbaren Seidenteppich fällt, wird man es mir anlasten, dich nicht besser eingewiesen zu haben. Du nimmst die Kartoffeln, das ist einfacher für den Anfang.« Afra öffnete den rechten Flügel der Tür, und als Louisa jetzt das Meißner Porzellan auf der gestärkten Brokattischdecke sah, das sie vorhin noch selbst aufgedeckt hatte, und wie das Silberbesteck mit den makellos polierten Weingläsern im Kerzenschein um die Wette glänzte, wurde auch sie von einer eigentümlichen Vorfreude ergriffen. Es musste ein Traum sein, nur ein einziges Mal an einer so herrlich gedeckten Tafel zu sitzen und hier speisen zu dürfen.

»Du hast hier zu stehen«, erklärte die Hausdame in strengem Tonfall und deutete auf einen Platz neben dem offenen Kamin. »Und denke immer daran: Du hältst dich im Hintergrund, beobachtest die Herrschaften dezent, aber aufmerksam, sodass du bei Bedarf nachlegen kannst. Vermeide es, dass man dir ein Zeichen gibt. Schon ehe eine Beilage auf dem Teller zur Neige geht, musst du es bemerken und nachlegen.«

Louisa nickte. Im Hintergrund halten, beobachten, frühzeitig nachlegen, wiederholte sie in Gedanken.

»Man darf dich dabei nicht hören. Du sollst schließlich nicht stören«, schärfte Afra Haberl ihr noch einmal ein. »Kein Knarzen der Dielen, soweit möglich. Kein Klirren der Gabel, kein Schaben des Löffels. Sonst klingt es, als gäbe es nicht genug Essen im Haus.«

Wieder nickte Louisa angespannt. Die Hausdame wollte den Raum gerade verlassen, da drehte sie sich noch einmal zu Louisa um. »Und noch etwas.« Afras Blick wurde eisern und hart. »Über was auch immer sich die Herrschaft heute Abend unterhält, du darfst mit keinem Laut, keinem Mucks, ja nicht einmal mit einem Mienenspiel zu erkennen geben, dass du den Tischgesprächen folgst. Und egal, was bei Tisch besprochen wird, es bleibt hier in diesem Saal. Kein Klatsch, kein Tratsch und keine Gerüchte unter dem Personal.«

Louisa nickte abermals und hielt den Atem an. Ihr Puls beschleunigte sich unwillkürlich. Was würde sie heute wohl erfahren, wenn Maximilian von Seybach von seiner sechswöchigen Studienreise zurückgekommen war? Dieses Mal würde sie es mit eigenen Ohren hören und nicht erst aus den Gesprächen beim Dienstbotenessen aufschnappen. Denn natürlich redete die Dienerschaft nur allzu gern über ihre Herrschaft.

»Gott stehe mir bei, dass das eine gute Entscheidung ist«, murmelte Afra Haberl, doch noch ehe sie weitere Stoßgebete aussprechen konnte, hörten sie von draußen aufgeregtes Stimmengewirr und Poltern im Treppenhaus.

»Sie kommen!«, rief Schorsch, der Stallbursche. »Die Kutsche fährt vor!«

Louisas Herz begann aufgeregt zu hämmern. Fast war es, als schlage es in einem Rhythmus mit Komtess Isabellas eiligen Schritten, die dumpf von der Treppe zu vernehmen waren. Sicherlich würde sich Henriette von Seybach über das unziemliche Verhalten ihrer Enkelin später echauffieren, aber konnte man es der Komtess verübeln, dass sie sich nach dieser langen Zeit auf ihren Bruder freute?

»Jetzt gilt es also«, sagte Afra Haberl und straffte die Schultern, doch ihr Satz ging in Isabellas freudigem Jubelschrei unter.

»Max!«, rief das Nesthäkchen des Hauses. »Du bist wieder da! Endlich!«

2

Maximilian

Maximilian von Seybach stieg aus dem Zweispänner, während der Kutscher ihm die Tür aufhielt. Er nickte Xaver dankbar zu, als dieser ihm seinen Spazierstock reichte. Die lange Fahrt hatte ihm zugesetzt, und sein Bein bereitete ihm Schmerzen. Seit einem Reitunfall in seiner Jugend litt er unter einer Falschgelenkbildung, daher brauchte er jetzt die kleine Unterstützung. Vor der Treppe des Haupteingangs angekommen, umschloss seine Hand den goldenen Falken fester, der den Knauf des Ebenholzstocks bildete. Als er die vier Stufen erklomm, die zum Lilienpalais hinaufführten, traten seine Fingerknöchel weiß hervor. Ein brennender Stich zog durch sein rechtes Schienbein, ausgehend von der Narbe, die seit vielen Jahren die Haut entstellte. Unter dem gütigen Blick seines Kammerdieners erreichte Maximilian endlich das eindrucksvolle Portal. Albrecht, dem man seine fünfundsechzig Lebensjahre nicht ansah, nahm ihm den Reisemantel von den Schultern und nickte ihm wohlwollend zu. »Willkommen zu Hause, Herr Dr. von Seybach.«

»Vielen Dank.« Maximilian reichte ihm auch seinen Spazierstock, denn er wollte sich vor seiner Familie keine Blöße geben. Er hasste es, schwach zu wirken.

Er betrat den üppig begrünten Wintergarten, der als Eingangshalle diente. Im blank polierten Marmor spiegelten sich die Kerzenflammen der Silberleuchter. Die Kissen auf dem roten Seidenkanapee waren aufgeschüttelt und luden Maximilian regelrecht ein, eine kleine Pause einzulegen, doch er biss die Zähne zusammen und ging weiter. Es strengte ihn an, nicht zu humpeln. Zum Glück würde die Abendgesellschaft zuerst im großen Speisesaal im Parterre essen. So blieb ihm der lange Aufstieg in die oberen Stockwerke zunächst erspart.

Als er die Eingangshalle durchquerte, sah er sich unauffällig um. Sie war nicht da. Natürlich nicht. Maximilian verspürte einen leisen Stich. Vor knapp einem Jahr war er hier Louisa, ihrer neuen Dienstbotin, begegnet. Er sah es noch vor sich, wie sie schüchtern und ein wenig verloren dagestanden hatte. Eigentlich hatte er an diesem Tag auf Auguste von Schönburg gewartet, die seine Großmutter zum Tee eingeladen hatte. Wieder eine adlige Dame, mit der er sich beim Parlieren ohnehin nur langweilen würde und die er nicht zu heiraten beabsichtigte. Also hatte er beschlossen, einfach zu gehen, zumal die Komtess von Schönburg nicht pünktlich zugegen war. Und da es ihn zudem geärgert hatte, dass man schon wieder versuchte, ihn in eine vermeintlich angemessene Ehe zu drängen, gingen die Pferde mit ihm durch.

»Ich werde niemanden zum Tee empfangen, an dem ich kein Interesse habe«, hatte er seiner Großmutter entschieden erklärt. »Und dann verspätet sie sich auch noch. Was soll ich mit so einer Partie? Da kann ich genauso gut mit Alexander und Leopold ausreiten.«

»Sie wird sicherlich jeden Moment hier sein, wer weiß, was ihr dazwischengekommen ist. Und du wirst hier warten und sie begrüßen, wie es sich gehört«, beharrte Henriette.

Mit erhobenem Haupt ging Maximilian daraufhin aus dem Empfangszimmer des ersten Stocks, trat ans Geländer und sah hinunter. Und zu seiner Überraschung stand da tatsächlich eine Frau, allerdings nicht Auguste von Schönburg, sondern Louisa.

Um seine Mundwinkel zuckte es, als er die verschüchtert wirkende Dienstbotin in ihrer dunkelbraunen Robe erblickte. Eigentlich wollte er sich nur einen Spaß mit seiner Großmutter erlauben, als er übertrieben laut rief: »Fürwahr, Großmutter, sie ist da! Dann werde ich meine Zukünftige mal begrüßen.« Ein wenig ungelenk stieg er dann die Stufen zu ihr hinab, nahm ihre Hand und führte sie sanft an seine Lippen. Und als er dann Louisa gegenüberstand und ihr direkt in die Augen sah, in dieses tiefe Blaugrau, stockte ihm der Atem. Eine Farbe, so leuchtend blau und klar wie der Himmel an einem Wintermorgen, ging es ihm durch den Kopf. Für einen Moment vergaß er alles andere um sich herum, vergaß, wohin er wollte und weshalb er diesen Groll in sich verspürt hatte.

»Sie erlauben, Teuerste?«, raunte er und deutete einen Kuss an. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, dass aus seinem Spiel Ernst geworden war.

»Maximilian!«, hatte Henriette von Seybachs Stimme durch das Entree gehallt. »Mach dich nicht lächerlich. Du weißt ebenso gut wie ich, dass das unsere neue Dienstbotin ist.«

»Ach, das ist wirklich zu schade«, antwortete Maximilian seufzend, weil er der Situation ein wenig Leichtigkeit verleihen wollte. Doch er merkte selbst, dass er Louisa mit seinen Worten verletzt hatte, denn die Dienstbotin hatte den Blick gesenkt und fixierte fest den Boden zwischen ihnen. Um es wiedergutzumachen, wandte er sich zu dem lebensgroßen Porträt seiner Mutter, zog eine Lilie aus der Blumenvase und überreichte sie Louisa. Eine schwache Entschuldigung zwar, aber immerhin eine, die ihn vor seiner Großmutter nicht ins Lächerliche zog.

»Nun, da deine für mich Auserwählte anscheinend heute überhaupt nicht mehr erscheint, werde ich die Zeit jetzt sinnvoll nutzen und meine Freunde nicht länger warten lassen.« Maximilian hatte vor Louisa leicht den Zylinder gezogen und auf direktem Wege das Haus verlassen.

Sein Blick wanderte bei der Erinnerung die imposante Treppe hinauf und dann zur Decke. Die beeindruckende Glaskuppel fing tagsüber das Sonnenlicht und brach es tausendfach, sodass die Farben auf dem Marmor wie unzählige Regenbogenteilchen tanzten, und wenn die Dienstboten die Lichter gelöscht hatten, konnte man in klaren Nächten die Sterne sehen.

An der Balustrade des zweiten Stocks erblickte Maximilian seine Großmutter Henriette von Seybach, eine Frau, die Würde und Grazie ausstrahlte. Maximilian winkte ihr zu, doch die Gräfin nickte nur förmlich.

Oh Großmutter, dachte Maximilian, wann wirst du nur endlich deinen Stolz und deine Haltung ablegen und einmal wahre Gefühle zeigen? Er wusste, dass sie sich sehr über seine Rückkehr freute. Maximilian warf einen Blick auf das nahezu lebensgroße Gemälde auf der linken Seite der Treppe, vor dem auch heute wieder die Pokalvase mit einem opulenten Lilienstrauß stand. In einem goldenen Rahmen hieß Eloise von Seybach jeden Besucher mit ihrem gütigen Blick willkommen. Sie hätte es sich gewiss nicht nehmen lassen, ihre Freude zu zeigen, und ihren Sohn bei seiner Ankunft mit einer warmen Umarmung begrüßt. Sechs Jahre war sie nun schon tot – und der Schmerz war noch genauso groß wie damals. Wie sehr er sie doch vermisste!

»Max, du bist wieder da! Endlich!« Das war Isabellas Stimme, und im selben Augenblick kam seine Schwester auf ihn zugestürmt und fiel ihm um den Hals.

Maximilian hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, so ungestüm war die Begrüßung durch das jüngste Familienmitglied. Bestimmt blieb das auch seiner Großmutter nicht verborgen, und sie würde sich später mit ihrem Tadel an Isabella nicht zurückhalten. So ein Verhalten geziemte sich nicht für eine von Seybach.

»Oh, ich freu mich so!«, rief Isabella.

»Ich konnte es auch kaum erwarten, Schwesterherz. Lass dich ansehen.« Maximilian legte ihr die Hände um die Taille und schob sie ein Stück von sich – erleichtert, sich so unbemerkt auf sie stützen zu können. »Gut siehst du aus. Das machen bestimmt die vielen Ausflüge ins Theater.« Er zwinkerte, und Isabella zwinkerte wissend zurück.

Gleich darauf schoss ein kastanienbrauner, langhaariger Hund mit schmalem Kopf und schlankem Körper auf ihn zu. Sein tiefes Bellen hallte vom Marmor der Eingangshalle wider. Das war Caesar, Isabellas irischer Setter. Leopold, Maximilians Freund und Nachbar der von Seybachs, hatte ihn Isabella Anfang des Jahres nach einer Jagdgesellschaft mitgebracht, weil er aufgrund seines hohen Alters seinen Pflichten nicht mehr nachgekommen war. Und die tierliebe Isabella hatte ihn kurzerhand aufgenommen. Isabellas vier andere Hunde waren vermutlich im Dienstbotentrakt eingesperrt. Zu oft schon hatten sie bei der Ankunft von Gästen für ein Malheur gesorgt. Maximilians Cousine Johanna hatte Mühe, Caesar an der Leine zu halten, und es gelang ihr nicht, den Hund zurückzuziehen, als er jetzt an Maximilian emporsprang und seine Vorderpfoten auf seinen Bauch stützte. Maximilian geriet aus dem Gleichgewicht, fing sich mit einem Schritt zurück aber wieder. Ein herzhaftes Schlecken über sein Gesicht folgte, und er verzog halb überrascht, halb erfreut den Mund.

»Caesar, du Ungestümer!«, tadelte Maximilian das Tier seiner Schwester, doch dabei kraulte er liebevoll das kleine weiße Abzeichen an dessen Brust.

»Entschuldige«, sagte Isabella sofort und nahm den Hund am Halsband, um ihn von Maximilian wegzuziehen. »Aber du weißt ja, wie er ist. Er freut sich genauso wie wir, dass du endlich wieder da bist.«

»Kein Problem.« Maximilian streichelte lächelnd über den treu dreinblickenden Hundekopf.

»Da komme ich ja genau rechtzeitig vom Spaziergang mit ihm zurück«, sagte Johanna. »Und ich habe mich schon gewundert, weshalb er so an der Leine zieht. Hallo, Maximilian.« Seine Cousine umarmte ihn ebenfalls und deutete einen Wangenkuss an. Wahrscheinlich würde Großmutter auch das nicht gutheißen, aber ihr hatte Johannas heißes Blut ja schon im letzten Jahr bei ihrer Ankunft missfallen. Dazu hatte seine Cousine mit ihrem Äußeren, vor allem mit dem honigblonden Haar und den grünen Augen, der Männerwelt von München ganz schön den Kopf verdreht. Allen voran Alexander, seinem besten Freund.

»Wo ist es denn?«, fragte Isabella.

»Was meinst du?«

»Na, mein Geschenk. Ich weiß doch, dass du mir etwas mitgebracht hast.«

Maximilian schmunzelte. Er kam nie mit leeren Händen von einer längeren Reise zurück. Und jetzt, nach seiner sechswöchigen Studienreise nach Montpellier, freute er sich umso mehr darauf, die strahlenden Gesichter seiner Liebsten zu sehen, wenn er ihnen die individuell ausgesuchten Überraschungen überreichte. Auch die Dienstboten bedachte er stets mit kleinen Aufmerksamkeiten, schließlich gehörten sie genauso zum Haus wie seine Familie, und er sah gerne die Freude in ihren Gesichtern, wenn sie ihre Päckchen auswickelten, da solche Momente etwas Besonderes für sie waren.

»Xaver und Albrecht laden im Moment die Kutsche aus«, sagte er. »Ich habe sie schon angewiesen, zuerst die Reisetasche ins Empfangszimmer zu bringen und danach meine Sachen nach oben zu tragen.«

»Jetzt lass den Jungen doch erst einmal ankommen«, dröhnte Carl von Seybachs Stimme durch das Entree. »Grüß Gott, mein Sohn.« Der Hausherr klopfte Maximilian wohlwollend auf die Schulter. Von ihm hatte Maximilian die Statur geerbt, ebenso das markante Kinn sowie das dunkelbraune Haar, das bei seinem Vater mittlerweile jedoch vollständig ergraut war. »Wie ich sehe, hat dir deine Reise nicht geschadet.«

Maximilian nickte. Es bedeutete ihm viel, dass sein Vater seine Bemühungen als Mediziner anerkannte. Anfangs war Carl von Seybach von den Plänen seines Sohnes, Arzt zu werden, nicht begeistert gewesen, denn er hatte sich für ihn eine Position bei Hofe gewünscht. Doch nachdem Eloise verstorben war, war Maximilians Wunsch schier ins Unermessliche gewachsen. Er wollte Menschen helfen, wollte die Schwindsucht bekämpfen, damit sie niemanden mehr dahinraffen konnte. Sein persönliches Schicksal wurde sein Antrieb, und er lernte eifriger denn je. Das hatte auch sein Vater erkannt und ihn seitdem unterstützt. Nach seinem Studium hatte er seinem Sohn geholfen, die Studienreise nach Montpellier zu organisieren, und Maximilian war dort erneut klar geworden, wie dringend gute Ärzte gebraucht wurden; vor allem von denjenigen, denen eine ordentliche medizinische Versorgung immer noch vorenthalten blieb. In der französischen Stadt hatte er gesehen, wie groß das Leid in den unteren Gesellschaftsschichten war.

»Komm, lass uns auf deine Rückkehr anstoßen.«

»Das wird wohl warten können, bis mein Enkelsohn auch mich anständig begrüßt hat. Chaque chose en son temps«, ließ sich da Henriette von Seybach vernehmen. »Schließlich renne ich nicht wie ein von der Tarantel gestochenes Jungfohlen mit wehenden Röcken durch die Gänge, um mich bei der Begrüßungszeremonie vorzudrängeln.«

Da war er, der Seitenhieb gegen Isabella. Maximilian verbiss sich ein Lachen. Als ob man sich in seiner Familie bei inoffiziellen Anlässen je an die Rangordnung einer Begrüßungszeremonie gehalten hätte. Aber es war doch allzu offensichtlich, dass seine Großmutter als Familienälteste pikiert darüber war, von ihm nicht als Erste begrüßt worden zu sein – sah man von dem stillen Gruß zwischen ihnen einmal ab.

Henriette von Seybach lief würdevoll die letzten Stufen nach unten und kam auf die kleine Gruppe zu, wobei ihr Stock bei jedem Schritt auf dem Marmor widerhallte. »Grüß Gott, Maximilian.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und erlaubte ihm einen Handkuss.

»Großmutter …« Maximilian deutete ein Nicken an, doch er senkte den Blick dabei nicht. Zu neugierig war er, ob Henriette von Seybach ihre Strenge aufrechterhalten konnte. Sie konnte es nicht. Für einen winzigen Moment zuckte es um ihre Mundwinkel, was ihn tief in sich hineinlächeln ließ. Er wusste, dass seine Großmutter immer nur das Beste für ihre Sprösslinge wollte, wie hart auch immer sie sich nach außen hin zeigen mochte. Caesar stupste gegen Maximilians Hand, wohl auf der Suche nach einer Leckerei, und schleckte ihm gleich darauf die Handfläche ab, während Maximilian den verfressenen Rüden kraulte.

»Isabella, sorg bitte dafür, dass dieses Tier endlich die Eingangshalle verlässt«, wies Henriette ihre Enkeltochter an.

Isabella nahm von Johanna die Leine und übergab sie an eine Dienstbotin. Unauffällig warf Johanna im selben Moment einen kurzen Blick zum Eingang. Bestimmt sehnte sie Alexanders Ankunft herbei.

»Aber jetzt gehen wir ins Empfangszimmer«, entschied Carl von Seybach. »Dort wartet ein schöner Aperitif auf uns. Siebzehnachtundneunziger-Jahrgang, dreißig Jahre in einem Fino-Sherry-Fass gereift. Solche wohlgehüteten Schätze hält Berti für uns nur zu den besonderen Anlässen bereit.«

Henriette verdrehte die Augen angesichts der Fachsimpelei ihres Sohnes. Anders als Isabella, die junge Komtess kicherte bloß und hängte sich bei ihrem Bruder ein, der nur zu gern ihren Arm nahm, um sich darauf zu stützen. Johanna ging ihnen nach. Gemeinsam folgten sie Carl und ihrer Großmutter ins Empfangszimmer. Dort wartete ein Diener mit einem Silbertablett und kredenzte den Sherry. Maximilian nahm eines der Gläser und stieß mit seinem Vater an.

»Auf deine Rückkehr!«, verkündete der Hausherr in sonorem Bass, und alle hoben ihr Glas.

Maximilian war erleichtert, als er endlich in einem tannengrünen Sessel Platz nehmen und das Bein ausstrecken konnte. Er stellte sein Sherryglas auf den Nussbaumtisch neben sich und ließ sich von Albrecht die Reisetasche reichen, in die er die Geschenke für seine Familie eingepackt hatte.

»Das hier ist für dich«, sagte er und übergab Isabella ein Paket, das die Größe eines Wagenrads hatte.

Seine Schwester riss neugierig das Papier beiseite und strahlte, als der edle Federhut aus sonnengelber Seide in der Hutschachtel zum Vorschein kam. An der Krempe war neben der Feder eine ausladende Seidenblume befestigt. Die Geschwister tauschten einen kurzen Blick, der Maximilian bestätigte, dass Isabella ihre Freude haben würde, eine ihrer Theaterrollen damit zu proben.

»Oh Maximilian, der ist fantastisch für mein Theater…« Sie hielt kurz inne. »Meine Theaterbesuche«, verbesserte sie sich dann.

Maximilian lächelte. Als Nächstes überreichte er Carl und seiner Großmutter die für sie bestimmten Pakete. Sein Vater probierte bald darauf eine Nase voller Schnupftabak mit Kirschgeschmack, und Henriette von Seybach schmückte den Kragen ihres schwarzen, spitzenbesetzten Kleides – die Farbe, die sie seit dem Tod ihres Gemahls trug – mit einer edlen Brosche.

Kurz darauf traf Alexander ein, den Maximilian ebenfalls nicht vergessen hatte. Nach der Begrüßung schenkte er seiner Cousine silbern schimmernde Handschuhe aus Seide. »Ein Modeaccessoire, das man nicht nur in Montpellier, sondern auch in Paris gerade trägt«, versicherte er ihr. Sein Freund aus Kindertagen erhielt eine Flasche Cognac. »Damit wir die Abende auch wieder einmal zusammen genießen können«, scherzte Maximilian. »Wie man hört, bekommt man dich kaum zu Gesicht, seit du mit Johanna verlobt bist.«

Alexander fuhr sich lachend durch sein schwarzbraunes Haar. »Nun, wenn du erst einmal die richtige Frau gefunden hast, wirst auch du die Zweisamkeit mit deiner zukünftigen Gemahlin zu schätzen wissen.«

»Ich hoffe, dass das noch eine Weile auf sich warten lässt«, entgegnete Maximilian. Er wollte sich lieber der Forschung in der Medizin widmen, als sich auf Bällen zu präsentieren, eine Frau zu finden und seinen Verpflichtungen als Stammhalter nachzukommen. Er genoss seine Ungebundenheit und hatte vor, dies so lange wie möglich beizubehalten.

»Jetzt, da wir vollzählig sind, lasst uns zu Tisch gehen«, entschied Carl von Seybach. »Es gibt noch einige Ankündigungen zu machen.«

Die Familie folgte dem Hausherrn in den angrenzenden Speisesaal. Vor den Fenstern, die tagsüber den Blick auf die Ludwigstraße freigaben, waren die goldgelben Vorhänge zugezogen worden, und der Saal erstrahlte in warmem Kerzenlicht. Der Kronleuchter über dem breiten Esstisch funkelte wie ein geschliffener Diamant, und Maximilian konnte sich bildlich vorstellen, wie heute Mittag eine der Dienstbotinnen ihn noch einmal nachpoliert hatte. Henriette hatte veranlasst, das gute Meißner Porzellan mit dem Goldrand aufzudecken. Maximilian wurde flau, und das lag keineswegs an dem fruchtig-herben Sherry, den er vorhin getrunken hatte. Wenn seine Großmutter so eindecken ließ, gab es dafür einen gewichtigen Grund. Was waren das für Ankündigungen, von denen sein Vater gesprochen hatte?

Das Rübensüppchen wurde aufgetragen, und Maximilian beobachtete die anwesende Dienerschaft. Cilli, Bärbel und Matthias bedienten heute bei Tisch. Anna fehlte, doch Maximilian entdeckte stattdessen Louisa. Anscheinend hatte die Dienstbotin, die normalerweise als Stubenmädchen die niedrigsten Aufgaben zu erledigen hatte, sich in seiner Abwesenheit bei Afra Haberl, der Hausdame, verdient gemacht. Das freute ihn, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als sich ihre Blicke trafen, während sie mit ruhiger Hand Isabellas Weinglas füllte.

Rasch schaute sie beiseite, doch er hatte ihre wachen, klaren Augen gesehen. Ob es an der dunklen Dienstbotenrobe lag, dass sie heute in einem besonders kräftigen Blaugrau leuchteten – oder an den dichten, vollen Wimpern, die sie umrahmten? Maximilian hätte sich darin verlieren können …

Nach dem ersten Gang wechselte man von den unverfänglichen zu den brisanteren Themen.

»Da im letzten Jahr Konstanze von Crailsheim dem Baron das Jawort gegeben hat, bleiben in dieser Ballsaison nicht mehr so viele gute Partien übrig«, ließ sich die Großmutter vernehmen.

Maximilian, der sich gerade noch ein Stück Brot hatte schmecken lassen wollen, verschluckte sich bei ihren Worten beinahe. Er musste an sich halten, um nicht entnervt auszuatmen.

»Wieso?«, fragte er. »Findest du unsere Isabella etwa zu jung, um in diesem Jahr als beste Partie zu gelten?«

Isabella warf ihm einen warnenden Blick zu und gluckste amüsiert, vertuschte dies aber mit einem Hüsteln hinter vorgehaltener Serviette. Sie war eine geschickte Schauspielerin, das merkte man, auch wenn sie ihr Können nie auf einer Bühne würde präsentieren können. Die beiden Geschwister wussten, dass sie den Heiratsplänen ihrer Großmutter nicht entgehen konnten, doch sie machten sich einen Spaß daraus, Henriette damit aufzuziehen.

»Du weißt sehr wohl, wie ich das meine«, erwiderte Henriette mit spitzen Lippen.

»Aber du hast recht, liebe Großmutter, auch unsere Johanna ist ja Anfang des Jahres von meinem lieben Freund Alexander vom Markt genommen worden, wie du dich auszudrücken pflegst.«

»Ein wenig vorschnell, wie ich finde«, konterte Henriette mit knarzender Stimme und warf einen düsteren Blick auf Johannas Bauch. »Man hört so manches über diese so rasch geschlossene Verlobung.«

»Ich bin mir sicher, dass sie dich als Erstes informieren werden, sollte es diesbezüglich einen Anlass geben«, sagte Maximilian in betont höflichem Tonfall.

Alexander zwinkerte seinem Freund zu, während Johanna den Blick starr auf ihren Teller gerichtet hielt. Anscheinend sorgte das Thema im Hause von Seybach noch immer für Zwist.

»Was deine Großmutter damit eigentlich sagen will, mein Sohn«, mischte sich Carl von Seybach ein, »ist, dass es sehr wichtig ist, dass du bald eine angesehene Partie findest.«

»Weshalb?«, fragte Maximilian mit wachsendem Unmut. »Es gab doch auch bisher keinen Grund zur Eile.« Im Gegenteil, er hatte es genossen, dass ihm als Titelerben und einzigem Sohn des Hauses nahezu alle Freiheiten zugestanden worden waren. Wieso wollten sie ihm auf einmal Grenzen setzen?

In Gedanken ging Maximilian seine vermeintlichen »Missetaten« durch, doch bis auf sein Vergehen, dass er zuletzt Helene von Riepenhoff einen Korb gegeben hatte und sich bei Hofbällen und Tanzabenden stets abseits der Tanzfläche aufzuhalten pflegte, war er sich keiner Schuld bewusst. Warum also diese Dringlichkeit?

Er wollte nachfragen, doch da kam die Dienerschaft, um den nächsten Gang aufzutragen: Krustenbraten mit Lauchgemüse, Erbsen, Stangenbohnen und Kartoffeln, dunkle Soße und dazu ein erlesener Rotwein. Maximilians Leibgericht – irgendetwas passte hier nicht zusammen. Wenn sein Vater und seine Großmutter ihn wirklich zur Raison bringen wollten, hätten sie nicht versucht, ihn mit diesem Essen zu umgarnen.

Die Dienstboten zogen sich an den Rand des Speisesaals zurück, bereit, jederzeit Bertis köstliche Speisen nachzulegen. Maximilians Blick schweifte über Bärbel und Cilli und blieb wieder an Louisa haften. Sie trug ein anderes Kleid als sonst, eine graue Dienstbotenrobe mit feinen schwarzen Streifen, darüber eine blütenweiße Schürze, und ihre Haare waren zu einem festen Knoten zusammengesteckt und unter einer schräg sitzenden Haube fixiert. Schade, normalerweise lockten sich immer ein paar lose Haarsträhnen um das rundliche Gesicht und ließen sie liebreizend aussehen, fast wie eine von Isabellas Puppen. Diese Strenge und der starre Blick passten gar nicht zu ihr. Sie musste schrecklich nervös sein. Maximilian glaubte es an ihrer verkrampften Haltung zu erkennen. Sosehr sie auch versuchte, den Rücken gerade und das Tablett auf Brusthöhe zu halten – wenn er genau hinsah, konnte er sehen, wie das edle Silbertablett vibrierte. Und auf ihren schön geschwungenen Lippen lag kein Lächeln, sondern nur die Anspannung. Die Arme, dachte er, und wieder wurde sein Herz eigenartig weich.

»Maximilian, es ist so, dass ich für dich am Hofe eine ehrbare Stellung auftun konnte«, ergriff sein Vater jetzt das Wort. »Du sollst der nächste Leibarzt des Königs werden.« 

»Wie bitte?« Maximilians Augen wurden groß. Von diesen Bemühungen seines Vaters hatte er bis eben überhaupt nichts gewusst, und er hätte ihn auch niemals darum gebeten. Er hatte sich eine Stelle im Krankenhaus gesucht, die er im Herbst antreten wollte, wobei er insgeheim von eigenen Behandlungsräumen träumte. Allein die Vorstellung, zukünftig am Hofe zu dienen und den König zu behandeln, widerstrebte ihm zutiefst. Maximilian wollte forschen, helfen und etwas in der Welt bewegen. Ganz gewiss wollte er sich nicht um die Wehwehchen eines Adligen kümmern, der Wichtigeres zu tun hatte, als vermeintlich krank im Bett über seine nächsten Regierungsabsichten zu sinnieren.

»Du wirst dort das Ansehen unserer Familie mehren«, verkündete Carl von Seybach stolz. »Mein Sohn, der Leibarzt des Königs.«

Maximilian war der Appetit vergangen, auch wenn Berti wieder einmal exzellent gekocht hatte. Er legte das Besteck mit dem Familienwappen nieder, fuhr mit den Fingerspitzen über den Schlüssel, der über dem Helm eingraviert war und über dem eine Krone schwebte – ein Zeichen, wie nahe die Familie dem königlichen Hof stand.

»Und damit du auch ehrbar dort auftreten und dich auf den Bällen und Gesellschaften angemessen bewegen kannst, habe ich dafür gesorgt, dass du die passende Frau an deiner Seite haben wirst«, fügte seine Großmutter hinzu. »Sophie de Neuville erwartet in den kommenden Tagen deine Aufwartung. Mit ihrer Familie ist bereits alles geklärt, ihr seid so gut wie verlobt.«

»Ich habe mich wohl verhört!«, entfuhr es Maximilian, der so wütend aufgesprungen war, dass sein Stuhl über die Holzdielen schabte.

Im selben Moment erklang ein metallenes Scheppern, gefolgt von einem entsetzten Aufschrei. Alle Blicke wanderten zum offenen Kamin, wo Cilli und Matthias neben Louisa knieten, die dabei war, mit den Händen die Kartoffeln vom Teppich aufzulesen.

»Der gute Seidenteppich!«, rief Henriette bestürzt.

»Die Kartoffeln!«, entfuhr es Alexander, dem anscheinend das Interieur derer von Seybach nicht so sehr am Herzen lag wie das ausgezeichnete Essen.

Carl von Seybach schüttelte kaum merklich den Kopf, während Johanna, Maximilian und Isabella mitleidig zu den Dienstboten sahen.

»Schnell, hol Eimer und Putzzeug!«, wies Cilli Bärbel an, die wie eine Salzsäule dastand und dem Schauspiel zusah.

Kaum einen Moment später hatte Afra Haberl die Tür zum Speisezimmer aufgerissen. Sie musste den Lärm von draußen gehört haben.

»Grundgütiger!«, rief sie und schlug sich die Hand vor den Mund. »Es tut mir außerordentlich leid, dass dies geschehen ist«, wandte sie sich sogleich an die Familie von Seybach. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«

»Siehst du, genau das passiert bei solchen irrwitzigen Vorschlägen. Und was meine Antwort dazu angeht: Sie lautet ›Nein!‹ In beiden Fällen!«, wandte er sich nun an seinen Vater. Er hob sein Weinglas und leerte es in einem Zug. Dann lief er mit festem Schritt in Richtung Tür, was ihm sein Bein mit brennenden Schmerzen dankte, die wie Flammen den gesamten Körper emporstiegen. Als er an den Dienstboten vorbeikam, die noch immer mit dem Seidenteppich beschäftigt waren, zog es ihm das Herz zusammen, Louisa auf dem Boden kniend zu sehen, wie sie das Malheur zu beseitigen versuchte, die Wangen vor Scham gerötet.

Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich erneut für einen Sekundenbruchteil. Ihre blaugrauen Augen waren mit Tränen gefüllt. Maximilian presste fest die Lippen zusammen. Er konnte nichts für sie tun. Nachher würde sie sich eine saftige Moralpredigt von Afra Haberl und einen Berg zusätzlicher Arbeiten abholen. Es oblag ihm nicht, die Hausdame zurechtzuweisen. Es wäre an Henriette gewesen, darüber zu walten, die Strafe milde ausfallen zu lassen, doch wie er seine Großmutter kannte, würde diese kein Erbarmen mit Louisa zeigen. Das befeuerte seine Wut, und so verließ er erhobenen Hauptes das Speisezimmer. Das rechte Bein zog er nach, was ihn noch mehr in Rage versetzte.

3

Louisa

Louisa stand auf einer Leiter und fuhr mit dem Staubwedel aus Straußenfedern über die Buchrücken, die sich auf den Regalbrettern aneinanderreihten. Danach würde sie die Regale mit einem feuchten Lappen abwischen und den langen Lesetisch sowie die puderfarbene Sitzgruppe mit einer Mischung aus Bienenwachs und Leinöl pflegen. Allein für die deckenhohen Bücherregale würde sie bis weit nach Mitternacht brauchen, denn die Bibliothek derer von Seybach beherbergte so viele Exemplare, dass sie vermutlich nicht einmal zehn Gelehrte zusammen in einem Leben lesen konnten. Louisa seufzte. Das alles nur wegen ein paar Kartoffeln … Zum Glück hatte Berti ihr versprochen, ihr wenigstens einen Rest des Abendessens aufzubewahren, nachdem Afra Haberl in der Küche ihr Donnerwetter auf sie hatte herabfahren lassen. Betreten hatten die Dienstboten einander angesehen oder auf ihre Schuhspitzen geschielt, während jeder von ihnen sichtlich froh gewesen war, nicht in Louisas Haut zu stecken. Und schuld an dem ganzen Malheur war der Plan der Gräfin Henriette von Seybach, ihren Enkel Maximilian zu verheiraten.

Louisa kämpfte erneut gegen die aufsteigenden Tränen an, wenn sie daran dachte. Aber was hatte sie geglaubt? Dass sie als Dienstbotin ernstlich eine Chance bei ihm hatte? Wohl kaum. Natürlich schwärmte auch sie wie so viele Mädchen in ihrem Alter – vom Gesindetrakt bis zur Beletage – für den gut aussehenden Junggesellen, aber sie wusste selbst, dass für einen Erbgrafen nur eine Dame aus höheren Kreisen infrage kam. Eine wie sie bemerkte er doch gar nicht, auch wenn er ihr hin und wieder ein Lächeln schenkte. So wie vorhin, dachte Louisa, und ein warmes Gefühl schlich sich in ihr Herz. Zu viel darauf einbilden durfte sie sich allerdings nicht. Maximilian von Seybach war zwar freundlich, höflich, zuvorkommend – aber das musste er auch sein in seiner Stellung. Für ihn als Sohn des Hauses und Erbgrafen war es eine Selbstverständlichkeit, das Personal anständig zu behandeln. Tief in ihrem Inneren wusste Louisa, dass der studierte Mediziner irgendwann zu einer anderen Frau gehören würde, dass eine adlige Dame an seiner Seite stehen und ihm ihr Lächeln, einen sinnlichen Kuss und bald darauf sicherlich auch Kinder schenken würde, doch der Gedanke schnitt ihr so tief ins Herz wie Bertis Fleischmesser in den Krustenbraten. Allein, wenn sie an seine Damenbegleitung auf dem Adventsball dachte, hätte Louisa gleich noch einmal vor Wut und Verzweiflung weinen mögen. Diese Frauen trugen Kleider aus raschelnder Seide und feine Handschuhe bis zum Ellbogen, während Louisa in unförmiger brauner Wolle und mit von den Kaminen rußverschmierten Händen dastand, dazu diamantbesetzte Diademe und Halsketten, die mit den Kronleuchtern, die Louisa am Vorabend poliert hatte, um die Wette funkelten. Die Damen sprachen über die letzte Theateraufführung, die sie gemeinsam besucht hatten, oder das schöne Konzert, während Louisa den raschen Trippelschritten der Mäuse lauschte, wenn sie die Speisekammer fegen musste, oder abends wach in ihrer Mansarde lag und auf das Knarzen der Balken horchte. Dennoch hatte Maximilian nie einer dieser Damen einen Antrag gemacht. Mit der Zeit hatte Louisa sich dann das Träumen erlaubt, hatte gehofft, wie Aschenputtel zu sein – ein Märchen, das Isabella den Dienstboten einmal in ihren berüchtigten Ein-Frau-Stücken vorgespielt hatte und von dem Louisa seitdem sehr angetan war. Sie hatte Anna gebeten, ihr aus dem in Leder gebundenen Buch mit den Hausmärchen der Gebrüder Grimm vorzulesen, das in dem Regal mit der Büste von König Ludwig stand, aber Anna hatte keine Lust gehabt und sich an ihrem freien Tag lieber am See vergnügen wollen. Wie gerne hätte Louisa Konversation betrieben wie die feinen Damen! Doch dazu hätte sie Zugang zu all diesen Werken haben müssen, die vor ihr standen. Fast schien es ihr im Kerzenlicht, als flüsterten die Bücher ihr ihre Geheimnisse zu.

Louisa legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die hohen Regale wandern, die Empore hinauf, auf der weitere Bücherregale standen. Ein ganzer Raum voller Geschichten, voller neuer, unbekannter und fremder Welten … Kein Wunder, dass Komtess Isabella so angetan von ihnen war. Wenigstens hatte Afra Haberl sie nicht auch noch beauftragt, die Bücher dort oben zu reinigen. Louisa hielt sich mit einer Hand an der Leiter fest und zog eines der Exemplare vor sich aus dem Regal. Behutsam schlug sie es auf, fuhr über das helle Papier, das sich glatt unter den Fingerspitzen anfühlte. Als sie durch die Seiten blätterte, raschelten sie verheißungsvoll. Wenn sie doch nur die Buchstaben entziffern könnte. Sie schlug eine weitere Seite um und sah sich die Farbtafel an, auf der mehrere Blumen in zartem Rosa abgebildet waren. Anscheinend ein Gartenbuch. Louisa sah Blumen in Blau, Violett und Gelb, dann Gräser, Sträucher und schließlich Bäume, von denen sie einige kannte. Sie hatte sie auf ihrem Weg nach Hause gesehen, manche auch in Kübeln vor Fenstern oder sogar im Englischen Garten, während die Gelehrten sie zwischen dicken Buchrücken studierten oder die Wohlhabenden sie von Gärtnern in ihren Gewächshäusern züchten ließen. Da war Kamille, die ihre Mutter sammelte und zu einem Tee aufgoss, wenn einer von ihnen Bauchschmerzen hatte oder ihrem Vater nach einem Besuch beim Stammtisch am nächsten Morgen übel war. Die gelben Arnikablüten erkannte sie auch. Die angesetzte Tinktur von Walli, der Nachbarsfrau, hatte sie mehr als einmal auf die aufgeschundenen Knie ihrer Brüder geträufelt. Was da wohl alles über die Pflanzen stand?

»Suchst du etwas Bestimmtes?«

Vor Schreck ließ Louisa das Buch fallen, das dumpf auf das rautenförmige Parkett aufschlug, und wäre fast selbst von der Leiter gestürzt, wenn sie sich nicht noch im letzten Moment an die oberste Sprosse geklammert hätte. »Herr Dr. von Seybach …«, stotterte Louisa. »Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht kommen hören.«

»Nein, ich muss um Verzeihung bitten. Ich wollte dich nicht erschrecken, Louisa.« Maximilian von Seybach bückte sich und gab ihr das Buch zurück, das sie rasch wieder ins Regal stellte. »Dann hat Afra dir also aufgetragen, die Bibliothek zu putzen?«

Louisa nickte. »Ich verlasse selbstverständlich den Raum, wenn Sie ihn für Ihre Arbeit nutzen wollen. Ich dachte bloß, Sie hätten sich zusammen mit Ihrer Familie in die Beletage zurückgezogen.« Sie raffte ihre Röcke und stieg von der Leiter, so schnell es die vielen Stofflagen zuließen.

»Bitte, bleib«, sagte der Erbgraf mit einer besänftigenden Handbewegung. »Ich wollte dir wirklich keine Umstände bereiten. Ich wollte mich nur ein wenig zurückziehen. Von dem ganzen Tabakrauch meines Vaters schwirrt mir der Kopf, und meine Großmutter nötigt meine Cousine, die fünfte Schubert-Sonate in Folge zu spielen, während Isabella dazu singen muss.«

Louisa kicherte, doch dann biss sie sich auf die Unterlippe und wurde sofort wieder ernst. »Verzeihung«, murmelte sie, denn natürlich durfte sie nicht über die Herrschaft lachen.

»Nein, bitte. Du solltest Großmutter schwärmen hören: ›Inniger Gesang und brennende Leidenschaft treffen auf Natürlichkeit und Anmut. C’est vraiment de l’art. Merveilleux!‹« Er verdrehte die Augen. »Für mich klingt es eher so, als wollte Johanna mittlerweile ihre Violine zersägen, und Isabella ist auch schon beinahe heiser.«

Jetzt musste Louisa erneut lachen, aber als sie dieses Mal in Maximilians Augen sah, bemerkte sie das Funkeln darin. Ob es an den zuckenden Kerzenflammen lag, die die Bibliothek spärlich erhellten?

»Ich lausche gerne der Musik«, sagte sie halblaut, »auch wenn ich davon nichts verstehe.«

»Oh, glaub mir, mehrere Schubert-Stücke hintereinander, und auch dir vergeht die Lust daran. Ich würde mich nur allzu gerne einmal über etwas anderes austauschen als über Allegro moderato und den langsamen Satz der weichen, schwingenden Melodie.«

»Worüber denn zum Beispiel?« Louisa wusste, dass es ihr nicht gestattet war, mit Maximilian von Seybach so zu sprechen, denn vertrauliche Gespräche mit der Herrschaft waren nicht erlaubt, doch sie war zu neugierig, von seinen Gedanken zu erfahren.

Verwundert hob Maximilian die Brauen. Anscheinend hatte er nicht mit ihrer Frage gerechnet. Doch dann ließ er sich auf einem Kanapee nieder und streckte seufzend das Bein aus. »In Montpellier habe ich junge Frauen an der Cholera dahinsiechen sehen und Männer, die wegen der prekären Verhältnisse in den Fabriken zum Krüppel wurden, aber Hauptsache, die nächste Ballsaison gestaltet sich erquicklich.« Er presste die Lippen zusammen. »Wir könnten so viel mehr für die Schwächeren und Ärmeren tun, stattdessen unterhalten wir uns über vergoldete Uhren, die kommende Jagdsaison oder Spitzenrüschen an Ballkleidern.«

Louisa hörte ihm aufmerksam zu. Maximilian von Seybach, der rundherum von Luxus umgeben war, hatte einen Blick für die untersten Schichten der Gesellschaft? Wie konnte das sein?

»Auf meiner Studienreise habe ich ein Seminar besucht, bei dem es um die Verbreitung von Krankheiten ging. Der dozierende Arzt war davon überzeugt, dass man den Ausbruch ebendieser verhindern könne, wenn man nur rechtzeitig handele.«

»Und wie?«, fragte Louisa.

»Hygiene.« Als Maximilian bemerkte, dass Louisa mit diesem Wort nicht viel anfangen konnte, beugte er sich zu ihr. »Sauberkeit«, setzte er erklärend hinzu. »Krankheiten verbreiten sich anscheinend dort am meisten, wo Kuhmist und Lebensmittel direkt nebeneinanderliegen, wo dasselbe Wasser zum Waschen, Putzen und Trinken verwendet wird.«

»Nicht alle armen Leute leben in Zuständen, wie Sie sie schildern«, sagte Louisa, denn sie fühlte sich auf einmal von seinen Worten angegriffen. Ihre Mutter hatte stets darauf geachtet, dass ihr Zuhause vorzeigbar war. »Bei uns herrscht Ordnung und Sauberkeit.«

»Verzeih mir«, sagte der Erbgraf. »Du hast recht. Ich weiß kaum etwas darüber, wie euereins lebt. Bitte, rücke mein Bild zurecht.«

Seine Worte und erst recht die Bitte, die er geäußert hatte, irritierten Louisa.

»Erzähl mir von deinem Zuhause.«

»Von meinem Zuhause?«, wiederholte Louisa. Sie sah ihn noch immer ungläubig an und schüttelte leicht den Kopf. »Aber was wollen Sie denn darüber wissen?«

»Wie lebt ihr?« In Maximilians Stimme klang kein Hohn mit, keine Überheblichkeit. »Erzähl mir von eurem Alltag.«

»Nun …« Louisa räusperte sich und trat von einem Bein aufs andere. »Ich habe vier Schwestern und drei Brüder. Wir wohnen zusammen mit meinen Eltern in einer Wohnung mit zwei Zimmern.« Sie brach ab. Es war ihr unangenehm, Maximilian die bescheidenen Verhältnisse, in denen ihre Familie lebte, zu schildern, während er in einem Stadtpalais zu Hause war und keine Zimmer kannte, durch die der Wind pfiff.

»Nur weiter«, ermunterte er sie.

»Tagsüber sind meine jüngeren Geschwister draußen und spielen auf der Straße. Bis auf Laura, sie ist noch zu klein.« Sie lächelte, als sie an den Säugling dachte, der vor einem knappen Jahr auf die Welt gekommen war. »Resl, also Theresa, meine älteste Schwester, hat auch eine Stellung als Hausmädchen gefunden, und Franz ist verheiratet und ebenfalls aus dem Haus.«

»Und die anderen?«, fragte Maximilian.

Louisa zuckte mit den Schultern. »Tobias, Caro und Laura leben noch bei meinen Eltern. Früher haben wir uns zusammen die Wohnstube geteilt. Nur das Jüngste durfte bei meinen Eltern im Ehebett schlafen. Wir anderen hatten Matten oder schliefen gemeinsam auf der Bank. Bevor ich hierhergekommen bin, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass so große Räume sogar leer sind, während wir kaum Platz zum Schlafen finden.« Beschämt sah sie zu Boden, denn was sie gerade ausgesprochen hatte, grenzte an eine Beleidigung. Hätte sie doch nur gründlicher nachgedacht, bevor sie etwas sagte!

»Nein, du hast recht, Louisa«, sagte Maximilian, der ihren Blick anscheinend richtig deutete. »In so engen Wohnverhältnissen werden Krankheiten sogar begünstigt. Wart ihr oft krank, du und deine Geschwister?«