Eine Dame mit Geheimnissen - Hannah Conrad - E-Book

Eine Dame mit Geheimnissen E-Book

Hannah Conrad

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Beschreibung

Wie Feuer und Eis – Eine Liebe voller Leidenschaft und Geheimnisse

München, 1827. Seit sieben Jahren arbeitet Nanette als Gouvernante bei den von Seybachs, seit sieben Jahren hütet sie ein düsteres Geheimnis. Als nach und nach ihre Schützlinge Johanna, Maximilian und Isabella – dank ihrer Hilfe – Glück und Liebe finden, sucht Nanette einen neuen Sinn in ihrem Leben. Heimlich beteiligt sie sich an der Veröffentlichung pikanter Fortsetzungsromane des Autors Anonymus, die für viel Empörung bei der biederen Münchner Gesellschaft sorgen und zugleich von einer wachsenden Leserschaft verschlungen werden. Nur der Zeitungsverleger Ferdinand von Rückl macht ihr das Leben schwer. Ständig fordert er sie heraus, die Diskussionen mit ihm sind hitzig. Gleichzeitig übt das Feuer, das Nanette in ihm lodern sieht, eine enorme Anziehungskraft auf sie aus. Ein prickelndes Spiel beginnt ...

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DASBUCH

Seit sieben Jahren arbeitet Nanette als Gouvernante bei den von Seybachs, seit sieben Jahren hütet sie ein düsteres Geheimnis. Als nach und nach ihre Schützlinge Johanna, Maximilian und Isabella – dank ihrer Hilfe – Glück und Liebe finden, sucht Nanette einen neuen Sinn in ihrem Leben. Heimlich beteiligt sie sich an der Veröffentlichung pikanter Fortsetzungsromane des Autors Anonymus, die für viel Empörung bei der biederen Münchner Gesellschaft sorgen und doch heimlich von einer wachsenden Leserschaft verschlungen werden. Nur der Zeitungsverleger Ferdinand von Rückl macht ihr das Leben schwer. Ständig fordert er sie heraus, die Diskussionen mit ihm sind hitzig. Gleichzeitig übt das Feuer, das Nanette in ihm lodern sieht, eine enorme Anziehungskraft auf sie aus. Ein prickelndes Spiel beginnt …

DIEAUTORIN

Hannah Conrad hat bereits viele erfolgreiche Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie studierte Germanistik und Kulturjournalismus, wurde mit dem DELIA-Literaturpreis sowie dem Selfpublisher-Preis ausgezeichnet und hat einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen. Ihre Reisen nutzt sie gerne zur Recherche zu ihren Romanen, und sie ist in mehreren Städten Deutschlands zu Hause. Hinter Hannah Conrad verbergen sich vier Autorinnen: Laila El Omari, Frieda Bergmann, Monika Pfundmeier und Persephone Haasis.

HANNAH CONRAD

EINE DAME MIT GEHEIMNISSEN

Das Lilienpalais

Band 4

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 08/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Regine Weisbrod

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design unter Verwendung von Arcangel/Laura Ranftler; Shutterstock.com/Marina AFONSHINA

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-28925-6V001

www.heyne.de

München

Zum Ball lädt ein

Das Haus von Seybach

Henriette von Seybach:

Gräfin, verwitwet, Mutter von Carl von Seybach

Carl von Seybach:

Graf, Witwer, Obersthofmeister & Berater des Königs

Eloise von Seybach:

Carls an Schwindsucht verstorbene Ehefrau

Maximilian von Seybach:

Erbgraf, ältester Sohn von Carl, Arzt

Isabella von Seybach:

jüngste Tochter von Carl, »Nesthäkchen«

Johanna von Seybach:

Carls Nichte aus Königsberg (Preußen)

Nanette:

Gouvernante des Hauses von Seybach

Auf die Tanzkarte möchten

Alexander von Reuss:

Erbgraf des Hauses von Reuss

Leopold von Löwenstein:

angehender Diplomat und Freund seit Kindertagen

Ferdinand von Rückl:

Adliger, dessen Worte Stadt und Königreich bewegen

Louisa:

Dienstbotin, seit vier Jahren im Haus von Seybach

Unverzichtbar im Hintergrund sind

Afra Haberl:

Haushälterin, Vorsteherin des weiblichen Gesindes

Finni:

Kammerzofe

Albrecht:

Kammerdiener

Berti:

Köchin

Xaver:

Kutscher

Anna, Cilli & Bärbel:

Stubenmädchen

Gretel & Annelies:

Küchenhilfen

Georg (Schorsch):

Stalljunge

Kätt:

neu in München, Hausmädchen zwischen Schicksalswellen

»Fehler sind Fehler. Und das Beste, was einem passieren kann – solange man bereit ist, wieder anzufangen.«

NANETTE

MÜNCHEN NOVEMBER 1827

1

Nanette

Wie von selbst strich Nanettes Hand den starren Rock ihrer Gouvernantentracht glatt, fuhr über die Stellen mit den verborgenen Polstern, die ihren Körper fülliger wirken ließen, unförmiger. Der Stoff war fein, doch fest, von sehr guter Qualität, aber es war und blieb ein Dienstbotengewand. Lange Zeit war Nanette sich nicht bewusst gewesen, wofür dieses Kleid stand. Doch mit jedem weiteren Jahr in München war es für sie klarer geworden: Es stand für Unterschiede. Unterschiede in der Gesellschaft, von Herrschaft zu Dienerschaft, von Reich zu Arm, Unterschiede unter den Dienstboten, Unterschiede zwischen Mann und Frau.

Sie wusste, sie hatte Glück gehabt, als Gouvernante im Lilienpalais untergekommen zu sein.

Nanette richtete ihr Haar unter dem Hut, spürte die Asche an den Fingerspitzen, die für das Grau in ihren Strähnen sorgte und ein paar Jahre an Alter auf ihre Erscheinung lud. Bis zur Nase zog sie den Schal hoch, gegen alle Blicke und gegen den Novemberwind. Sie hob den Kopf.

Niemand hier; niemand, der mich sehen kann – oder bloßstellen –, beruhigte sie sich. Ihr Blick wanderte über die Schulter nach hinten in die Gasse. Wenn auch zum Glück erfolglos, so hatte doch schon jemand versucht, ihr zu folgen – Johanna, die Nichte Carl von Seybachs. Die Eltern der jungen Frau hatten im vergangenen Sommer eine längerfristige Reise angetreten und die Tochter im sicheren und königshofnahen Palais ihres Onkels in München untergebracht. Seither wirbelte sie als weiterer Schützling Nanettes durch das Lilienpalais, die Münchner Gesellschaft, vor allem aber durch den Alltag ihrer zwei Jahre jüngeren Cousine Isabella und ihres Cousins, des angehenden Arztes Maximilian. Als Neuling im Hause des höchsten Beraters am Königshof und Obersthofmeisters war sie anfangs misstrauisch gewesen. Bei ihrem Versuch, Nanette auszukundschaften, hatte jedoch die Spiegelung im Schaufenster eines Münchner Bäckers Johanna verraten.

Heute folgte Nanette weder die junge Frau noch sonst jemand. Sie richtete den Blick wieder nach vorne auf den kleinen Marktplatz vor der ziegelgemauerten Salvatorkirche und daran vorbei auf den dortigen Schulbau. An einem Sonntag wie heute schien noch weitaus mehr als sonst die Grandezza des Opernhauses zu fehlen, das dort früher gewesen war. Das prachtvolle Spielhaus war abgerissen worden, lange bevor sie vor sechs Jahren nach München gekommen war. Gekommen, gestrandet, geflohen, dachte sie und sah noch einmal über den Platz. Abgerissen und zu etwas anderem neu aufgebaut – als wäre es ein Sinnbild meines Lebens, überlegte sie gedankenversunken.

Und in dem Moment drängte sich eine Erinnerung auf: ein Gesicht, zuerst von Wut verzerrt, dann vor Überraschung, schließlich kalt und erstarrt. Kurz schauderte Nanette, versuchte, den Blick vom Zurück ins Jetzt zu lenken. Sie bog in die Käpplerbräugasse, die überging in die Promenadengasse, zwang Schritt vor Schritt und alle Gedanken fort.

An der nächsten Ecke verlangsamte sie das Tempo, verschwand mit einem Schritt hinter dem Vorsprung. Im Schatten eines Palais versteckte sie sich, tastete ihre Rocktaschen ab. Die Konturen eines Schlüssels erfühlte sie in der einen, aus der anderen zog sie gefaltete, blutrot versiegelte Papiere. Allein wegen der Schlüssel und Schriftstücke durfte sie niemand entdecken.

Ganz gleich, wie fest sie die Papiere umklammerte, ihre Hände zitterten, als sie aus der Lücke zwischen den Bögen die anders gefaltete Nachricht fischte. Jeden Buchstaben dieses Briefleins kannte sie auswendig, dennoch las Nanette die Zeilen mit der Anweisung erneut.

Der Glockenschlag zerrte sie schließlich zurück ins Hier und Jetzt. Getrennt von den versiegelten Bögen schob sie die Instruktionen zurück in ihre Rocktasche. Sie eilte weiter durch die verlassene Gasse. Die Fassaden der Palais, deren Bogenfenster und Zierrat, die Figuren und Sinnbilder lenkten das Auge ab von schlichten Türen und schmalen Durchgängen.

Nanette schlüpfte in das Portal zwischen zwei Herrschaftshäusern. Am Ende des Korridors trat sie durch eine noch schmalere Pforte. Geräuschlos führte sie den Schlüssel ins Schloss, ließ ihn ebenso leise zurückgleiten wie Woche um Woche seit gut einem Jahr.

Auf den Stufen nach oben nahm sie den Hut ab, öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. An der Tür zum Mansardenzimmer zögerte sie, dachte an die Papiere in ihrer Tasche und daran, was hinter der Tür lag.

Woche für Woche Heimlichkeiten. Wie lange bleiben sie noch verborgen – diese Geheimnisse? Oder jene anderen? Wie lange noch, ehe eine Verpflichtung aus ihnen erwächst, die ich nicht mehr lösen kann? Oder gar ein Skandal. Andererseits: Hat jemals ein Mensch seine Füße in eine Stadt gesetzt und versucht, einen Skandal vor die Richterbank der Leute und ihrer selbstgerechten Moral zu zerren, nur damit sie wenigstens beschäftigt wären?

Sie schob ihre Überlegungen und die Ironie beiseite, löste den strengen Knoten ihres Haars. Weich und in leichten Wellen fiel es vorne über die Schulter. Unter ihrem Griff gab die Klinke sanft nach, ohne Geräusch glitt die Tür auf. In dem großen Dachzimmer fiel Nanettes Blick unmittelbar auf die Gestalt, deren Rücken ihr zugewandt war. Schimmernd und in präzisen Falten legte sich der Stoff im Goldlicht der Kerzen über den Oberkörper, darunter zeichneten sich die Muskeln und eine beinahe perfekte Form ab.

Ihr Lächeln kehrte zurück. Sie wusste um die Vergänglichkeit dieser gestohlenen Momente, und sie wollte sie nicht trüben. Im Grau, im Dunkel ihres Alltags waren sie goldwarmer Kerzenschein. Regen, Wind, die Pflichten ihres Lebens zerrten daran, die Flamme flackerte, doch die Wärme, immerhin, erreichte ihre Haut.

Und nun glitt ihr Blick über jeden Zentimeter seines Körpers, wie er dort gegen den Beistelltisch gelehnt stand. Eine Sagengestalt aus einer Sagenwelt, in der die Abenteuer locken, bis die eigene Geschichte einen zurückreißt aus dem Traum.

Er wandte sich um und lächelte ihr zu. Wie den Hauch einer Feder spürte sie seinen Blick auf ihrem Gesicht, ihren Lippen. Sein Weinkelch wanderte zum Gruß in die Höhe. In seinen Augen glomm jenes Funkeln, das sie bereits bei der ersten Begegnung vor mehr als einem Jahr gelockt und herausgefordert hatte.

Nanette hob das Kinn, schritt auf ihn zu. Ihr Hut landete neben einer Silberschale auf dem Schränkchen. Sie berührte seine Hüfte. »Ich …«

»Du hast nur wenig Zeit«, übernahm er ihren Satz und zog sie an sich. »Oder ist es so, dass du mir wie immer nicht mehr Zeit gewähren willst?«

In den Wogen zwischen Schatten und Kerzenlicht tanzte ein herausforderndes Schmunzeln in einem seiner Mundwinkel, und sie kostete es. Sanft und fordernd zugleich küsste sie das Verlangen von seinen Lippen, erwiderte es, schmeckte dieselbe Gier, die in jeder Faser ihres Körpers prickelte. Ihre Hand glitt entlang der Linie seines Kinns in den Nacken, und Nanette genoss, wie er ihr noch näher kam. Auf Zehenspitzen streckte sie sich ihm entgegen. Hungrig erforschte sie seine Lippen, fand seine Zunge, schob ihre Sorgen beiseite, und damit alles, was außerhalb dieser verborgenen Kammer lag.

Er löste Knopf um Knopf. Seine Berührung spürte sie erst durch die Kleidung, dann auf der Haut. Vorbei an den Polstern, die sie unter den Stoffen trug, fanden seine Finger den Weg, schoben sie fort, fuhren entlang der Bögen ihrer Rippen nach oben. Seine Küsse erwiderten ihre, fachten den Hunger weiter an.

Lust glühte von ihrer Mitte aus durch den gesamten Körper. Sie zerrte am Saum seines Hemds, zog ihm den Stoff schließlich über den Kopf. Sie drängte sich gegen ihn, spürte seine Erregung an ihrem Körper, ihrer Hand. Ihre Finger wanderten von seinem Nabel tiefer und vorbei am Hosenbund, mit der anderen Hand löste sie den Verschluss. Er hob sie hoch und trug sie zum Bett in der Mitte des Raums.

Er streifte die Stoffe nach unten. Die Kuppe seines Daumens zeichnete den Schwung ihrer Lippen nach, die Linie ihrer Wange.

Gierig kostete Nanette seine Küsse, forderte, holte sich mehr. Unter den Handflächen samtige Haut, Hitze, die festen Muskeln seiner Schultern. Sie schob den Stoff seiner Hose über die Kurven seines Körpers. Dicht an dicht fühlte sie ihn und seine Erregtheit zwischen ihren Beinen und spürte ihre eigene Lust. Sie nahm seine Hand, führte sie über ihre Brust hinab, lenkte sie zu ihrer Mitte und über ihren Venushügel, bis er eintauchte und erkundete, wie feucht sie war, wie erregt.

Sein Atem stieß an ihren Hals, schickte ein weiteres Schaudern durch ihren Körper. Seine Zungenspitze glitt tiefer und über ihre Brüste hinab zu ihrem Nabel. Seine Hand tastete forschend. Gegen ihr Bein presste er seine Erregung, und sein Mund fand das Zentrum ihrer Lust. Sie schauderte, öffnete die Schenkel weiter, und sanft spreizte er sie noch ein wenig mehr. Seine Zunge tastete sich voran, suchte, traf die richtige Stelle und tauchte ein.

Sie wand sich unter seiner Berührung, zog ihn zu sich hoch, schmeckte sich selbst in seinen durstigen Küssen und schlang die Beine um ihn. Ihre Hand umfasste sein Glied, und sie genoss, wie sich seine Erregung steigerte, wie er stöhnte, wenn sie nach oben fuhr oder hinab. Sie drängte sich näher an ihn. Gierig öffnete sie die Lippen, fand seine Zunge und erwiderte seinen Kuss. Ihre Hand umfasste ihn fester, lenkte seine Erregtheit vom Hügel über ihre empfindlichste Stelle zu ihrer feuchtesten. Sie hob das Becken an, glitt über ihn, spürte, wie die Lust mit jedem Stoß durch jede Faser ihres Körpers prickelte. Bewegung um Bewegung schob sie ihn tiefer in sich. Sie schloss die Augen und schmeckte, roch, tastete, hörte sein Stöhnen, fühlte, wie sehr er sie begehrte, küsste, trank sich satt an der Fülle seiner und ihrer eigenen Lust und ließ sich fallen. Kam.

Beinahe fühlte es sich an, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht, und ein wenig musste Nanette schmunzeln. Andere, vielmehr: Die meisten Münchnerinnen und Bürger waren zu dieser Zeit noch in irgendeiner der Kirchen, sie dagegen … Wieder sah sie in jede Richtung, prüfte mehrfach, ob die Straße tatsächlich leer war. Auf ihrer Haut brannten die Küsse, die Berührungen, sein Atem, sein … Nanette spürte die Hitze in den Wangen. Harsch knallte der Novemberwind gegen sie und vertrieb die Wärme, nicht aber die Erinnerung. Sie zog ihren Hut tiefer ins Gesicht.

Auf dem zentralen Marktplatz blickte sie zur goldenen Marienfigur ganz oben auf der Säule. Die vier Engelsstatuen auf der bodennahen Umrandung kämpften noch immer unermüdlich gegen Hunger, Pest, Krieg und Ketzerei, dargestellt durch Drache, Basilisk, Löwe und Schlange. Immerhin musste sie sich jetzt am Sonntag nicht durch das dichte Gedränge zwischen Händlern mit ihren Eiern und Kartoffeln, Gemüse, Gewürzen und Blumen kämpfen. Nicht das erste Mal fragte Nanette sich, wie lange es noch dauern würde, bis der Markt gänzlich umgezogen war hinter den Alten Peter – oder vielmehr: unterhalb auf den neuen Viktualienmarkt. Schon kam der Turm der Peterskirche in Sicht. Als Wahrzeichen der ältesten Kirche Münchens trotzte er seit sieben Jahrhunderten allen Blitzen und Feuern.

Ein wenig später klopfte sie in der Färbergasse an ein unauffälliges Portal.

Wie immer glitt die Tür nur einen Spaltbreit auf. Wie immer breitete sich das Lächeln der Wächterin auf dem ganzen Gesicht aus und milderte die tiefen Schatten unter den Augen. Nanette schlüpfte ins Treppenhaus, das flirrend von Dunkelheit und Geheimnissen auf sie wartete. Zu dieser Stunde regierten der Duft von Seife und ein Hauch von Essig den mit dunkelrotem Samt ausgekleideten Gang.

Sie sog den Duft ein wie beim allerersten Mal in diesem Gebäude vor fünfeinhalb Jahren. Es war frisch renoviert gewesen dank Nanettes Vermittlung, obwohl zunächst kaum jemand einer alleinstehenden Geschäftsfrau in einem Umfeld wie diesem hatte helfen wollen. Durch Zufall hatte sie von den Versuchen erfahren, Madame Winkler über den Tisch zu ziehen. Ablehnung um Ablehnung erlebte auch Nanette immer wieder, nicht nur bei ihrer Ankunft damals in München. Ihr war schließlich gelungen, die Auftraggeberin mit den Handwerkern zusammenzubringen, die damals schon am Lilienpalais gute Arbeit geleistet hatten. Zusammen setzten sie und die Madame die Pläne erfolgreich um.

Nanette schmunzelte, als sie an all die Jahre zurückdachte mit all den überwundenen Schwierigkeiten. Frauen, die sich nicht dem Unwillen und den Einschränkungen durch ihre Kontrahenten beugten in einer Gesellschaft, die so sehr darum bemüht war, Frauen vorzuschreiben, was sie zu tun hatten, und ihnen einen Platz zuzuweisen, mit dem sie sich zu begnügen und den Herren zu gefallen hatten.

Anfangs hatten Nanette und die Madame gebangt, durchgehalten und sich Schritt für Schritt weiter gewagt mit ihren Verhandlungen, am Ende lag das Ergebnis vor ihnen.

Nanette empfand weit mehr als den Stolz darauf, anderen etwas abgerungen zu haben. Sie hatte die Madame vorangebracht, mitsamt ihrem Anliegen, und vieles gelernt darüber, wer zu einem stand und sich für das Richtige einsetzte. Keine von ihnen hatte das vergessen – oder würde es jemals.

Als eine der Ersten hatte Madame Winkler Nanette die fertigen Räume bestaunen lassen. So geheimnisvoll wie verlockend, so verheißungsvoll wie anregend luden sie dazu ein, lustvolle Momente zu erleben – und zwar für alle Beteiligten.

Nun stand die Geschäftsführerin des Institut de Nuit vor ihr.

»Wie immer?«, fragte Nanette. Ihr Blick verfing an der dunkel-düsteren Schönheit, die ihr gegenüberstand. Schwarze Locken kringelten sich an der Stirn und über die hohen Wangenknochen, im dunklen Flur wirkten die Augen wie Ebenholz. Nicht die kleinste Regung war in diesem Gesicht auszumachen. Sie zupfte die präzisen Falten ihres elfenbeinfarbenen Morgenrocks zurecht. Als sie die Lider hob, lag ein verschwörerisches Funkeln in ihren Augen. »Wie immer am Tag des Herrn bei den Damen. Unsere Nächte sind lang und nicht für den Schlaf gedacht«, äußerte Madame Winkler augenzwinkernd.

Zur Begrüßung fasste Nanette den Unterarm ihres Gegenübers, die Madame tat es ihr gleich. Das hatte sich seit den ersten Tagen schon im Vorläufer des Institut de Nuit nicht geändert. Ausgehend von zwei Zimmern in einem Palais der Promenadengasse hatte die Madame mit ihrer Geschäftspartnerin begonnen, Kontakte zu knüpfen. Und als weibliche Gründerin hatte sie damals Nanette begrüßt. Vertraut, fest, verbindlich. In anderer Kleidung allerdings. Nun berührte ein Morgenrock die Innenseite von Nanettes Arm, ebenso weich und seidig wie die Haut.

Die warme, raue Stimme der Frau war kaum mehr als ein Flüstern. »Folge mir!«

In dem schlichten Büro nahm Nanette Platz, Madame kam einen Moment später und legte ein in grobes Leinen gewickeltes Päckchen auf den Tisch. Sie schlug die Stoffe zurück. Schwarz und goldfarben war die Maske bestickt, und Nanette stellte sich vor, wie diese auf dem bevorstehenden Ball der Fürstin Windisch Johannas Gesichtszüge verbergen würde. Vorsichtig nahm sie die Larve zur Seite, darauf bedacht, die langen, schwarzen Federn, die von einer goldenen Brosche mit schwarzem Schmuckstein gehalten wurden, nicht zu beschädigen. Dann befühlte sie den blutroten Brokat des Kleides, hob sachte die nachtschwarze Spitze.

»Exquisit«, murmelte sie.

Madame lehnte sich ein wenig nach vorn und berührte ebenfalls den Stoff. Der Morgenrock öffnete sich ein Stück, feine Spitze rutschte über die dunkle Haut des Dekolletés. »Das Kleid ist ein Traum in Rot, ein Zauber aus Nacht und Verlockung. Ich hoffe, es bringt seiner Trägerin diesmal mehr Glück. Oder zumindest mehr Vergnügen.«

Nanette richtete sich auf. »Wie …«

»Ich bitte dich!«, fuhr Madame durch ihren Satz, und Nanette schmunzelte und setzte sich. »Für wen sollte das Kleid denn sein als für eure Johanna. Dass sie einen schlichten Kuss auf einem Ball derart büßen muss und mit Hausarrest bestraft wird – absolut unangemessen! Dabei hat sie noch nicht einmal ausgekostet, was es heißt … Dann hätte der Skandal sich wenigstens gelohnt. Nun ja. Diese erbärmliche, moralinsaure Gesellschaft. Ich hätte ihr Leidenschaft bis zur Neige gewünscht, nicht nur einen Windhauch davon. Und dann ausgerechnet mit diesem …«

»Aufgeblasenen, sülzenden Dampfplauderer«, seufzte Nanette. Sie stieß ihre Nägel in die Lehne des Stuhls und wünschte, es wären die Schultern dieses Schwächlings Friedrich Veidt Prinz zu Waldersee. »Die Herrschaften tun, was ihnen gefällt, aber die Frauen sollen Heilige sein und bestrafen sich mit Freude gegenseitig.«

Die Madame lachte auf. »Wie unfassbar langweilig das klingt: Heiligsprechung im Himmel. Und noch Ewigkeiten entfernt. Zumindest, solange Leben durch unsere Adern pulsiert und Küsse besser schmecken als Luft. Warum sollten wir uns mit ein paar Brotkrumen männlicher Gunst zufriedengeben?«

Nanette zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls: Ich hätte früher für Johanna da sein müssen. Sie ist erst seit dem Sommer hier, und auch wenn sie zwei Jahre älter ist als Isabella, hätte ich …«

Madame Winkler lachte auf. »Es ihr verbieten müssen? Sei nicht albern! Du weißt, das Feuer wird umso verlockender, je weiter man davon ferngehalten wird. Diese Erfahrungen kannst du niemandem ersparen. Nimm ihr die Angst, sei ehrlich zu ihr, sag ihr, was sie erwartet. Damit hilfst du ihr mehr.« Mit wissendem Lächeln seufzte Madame Winkler. »Gott bewahre, würden wir Weiber es wagen, diese Ordnung zu brechen, und uns einfach holen, was wir begehren.«

»Welch wilde Gedanken, erst recht im erzkatholischen München. Gibt es denn keinen, der euch allen hier die heiligen Regeln erklärt, darüber, was sich für eine Frau geziemt?« Nanette verzog den Mund, doch soweit sie im Gesicht ihres Gegenübers las, verriet die Ironie in ihrer Stimme sie ohnehin.

»Als wären wir belehrbar!« Madame winkte ab. »Diese eine Ungehörigkeit mehr in diesen Mauern … wen schert’s?«

Nanette hob eine Braue. »Die Frage ist, was geschieht, sollte jemand verrückt genug sein, diese Ungehörigkeit durch Münchens Straßen zu tragen.«

»Du meinst: dass wir uns holen, wonach wir uns sehnen, anstatt uns nur dem Willen und Zweck der Männer zu fügen. Und deren Launen«, sprach Madame Winkler den Gedanken zu Ende.

Nanette meinte, Bitterkeit darin zu hören, und forderte sie mit einer Geste auf, fortzufahren.

»Ich würde es allen wünschen. Immerhin findest du für deine Schützlinge stets einen Weg.« Jegliches Lächeln verschwand nun aus der Miene der Madame. »Ach, verflucht. Ich wünschte, mehr von uns würden dies wagen. Stattdessen fügen wir uns.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Eins meiner Mädchen hat noch immer ein blaues Auge, immerhin ist die Lippe fast verheilt. Ich bin froh, dass der junge Doktor von Seybach sich hier kümmert. Er ist ein Guter, selbst wenn er dem Hof noch so nahe ist und wir nur zu gut wissen, dass Macht und Geld korrumpieren. Sogar die Geschichten der Mädchen hört er sich an. Bei ihm scheinen immerhin nicht Ehrgeiz oder Geldgier im Vordergrund zu stehen.«

»Das will ich wohl meinen!« Nanette räusperte sich.

Madame winkte ab. »Ja, ja, ich weiß. Und wir wissen auch: In diesem Fall ist die Heimlichkeit so unschuldig wie beiderseits von Vorteil; praktische Erfahrung für den Arzt, gute und kundige Behandlung für die Mädchen.« Madame fuhr sich über den Mund. »Wie dem auch sei … Allein, dass du ihn zu uns geführt hast, lässt mich auf ewig in deiner Schuld stehen. Übrigens, nur um deine Neugier zu stillen: Kein einziger deiner jungen Herren war hier. Nicht der Arzt, nicht der Diplomat, nicht der Architekt. Der junge von Seybach ist von einem sehr soliden Freundeskreis umgeben, will ich meinen. Die Herren halten ihre Herzen gut fest«, bekräftigte sie. Sie deutete mit dem Kinn auf einen Papierfetzen auf dem Tisch. »Es wird dich interessieren, dass eins meiner Mädchen zum Hausbesuch bei diesem Witwer war.«

Nanette entzifferte die Krakelschrift. »Guter alter Name, noch bessere Verbindungen.«

»Verbindungen zu Menschen, die über die Kandidaten für die Nachfolge in Hofämter bestimmen.«

Nanette furchte die Stirn. »Denkst du, dieser sehr einsame Witwer ließe sich für den einen oder anderen Vorschlag erwärmen?«

»Wenn er klug vorgetragen wird«, erwiderte Madame und wischte kurz durch die Luft, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben. »Ehrlich: Natürlich lässt ein alleinstehender Mann sich gerne von weichen Lippen bezirzen, aber ich halte es für zielführender, wenn …« Sie hob die Arme und sah zu Nanette.

»Zielführender und direkter, wenn ein einsamer Mensch sein Abendbrot nicht allein, sondern in Gesellschaft eines geistreichen, aufstrebenden Hofbeamten verbringen würde?«, schlug Nanette vor. »Weil manche Steine nicht schnell genug einem steten Tropfen nachgeben?«

Madame nickte. »Kann man so sagen. Gute Gespräche verbinden, und du weißt selbst, wie oft Posten von Mann zu Mann und unter guten Bekannten vergeben werden. Der alte Hofkämmerer wird bald ersetzt, so könnte sich ein neuer in Stellung bringen.«

»Wie gut, dass ich zufällig einen tatkräftigen, aufstrebenden …« Nanette ließ den Satz offen. Ihre Gedanken trieben zurück zur vergangenen Stunde, zu dem Gefühl der Hitze, der Finger auf ihrer Haut.

»Mir scheint die Bekanntschaft recht inhaltsvoll und auf die wichtigen Attribute fokussiert«, fasste die Madame zusammen. »Wäre mit dieser Bekanntschaft nicht auch eine gute Zukunft möglich?«

Nanette schüttelte den Kopf. »Jetzt bin ich abhängig von meiner Anstellung im Lilienpalais und dann von dem, was mir dieser Bekannte als möglicher Ehemann zugesteht?«

»Wie lange wirst du noch im Lilienpalais sein, bevor du gehen musst? Die Nichte aus Königsberg ist jetzt da, aber auch bereits einundzwanzig. Isabella ist wie alt – achtzehn, neunzehn? Sie werden nicht ewig deine Schützlinge sein.«

»Viel Zeit bleibt mir nicht. Aber als ehemalige Gouvernante an der Seite eines hochrangigen Beamten zu leben, will ich für meine Zukunft nicht. Zudem schätze ich es durchaus, mein Bett die meiste Zeit nicht teilen zu müssen.«

»Es sei denn, es ist der Richtige, den wir alle zu finden hoffen«, lachte die Madame. »Wenn da nur nicht so viele Falsche wären.«

Nanette zwinkerte ihr zu und erhob sich. »Ich muss weiter. Ich halte die Augen offen und weiß zu schätzen, dass ich auf deine Augen und Ohren zählen kann. Sonstige Nachrichten?«

»Keine weiteren. Ich geb dem Sepperl was mit, sobald es Neues gibt oder Wichtiges oder beides.« Die Madame hob die Schultern. »Schickst du den Arzt?«

»Wie immer, selber Tag. Und du schweigst. Für den Finessensepperl stehen ohnehin in ganz München die Türen offen. Gibt es zufällig noch andere … Gerüchte?«, fiel Nanette ein, als sie schon halb zur Tür hinaus war.

»Du meinst die Gerüchte über anonyme Schreiberlinge?« Madame musterte sie aufmerksam. »Abgesehen von steigenden Zeitungsauflagen und begeisterten Leserinnen und Lesern für eine neue Reihe an Geschichten ist in der Stadt nichts zu hören. Oder denkst du, nach bald sieben Jahren fällt eine zu umtriebige Gouvernante in München auf?«

Nanette nickte. »Beinahe sieben Jahre, richtig. Jahre wie ein anderes Leben.« Ihr Blick glitt kurz in die Ferne.

»Wie viele Teile des Fortsetzungsromans durftest du heute beim Zeitungsverlag abgeben?«, holte Madame Winkler Nanettes Gedanken zurück.

»Ich muss erst noch. Zudem habe ich heute den Auftrag, für eine neue Geschichte zu verhandeln. Ich bin etwas zu früh dran. Den Redakteur treffe ich, wenn der Großteil seiner Sonntagsbesetzung bereits wieder auf dem Heimweg ist. Außerdem: Falls mir jemand folgt zum Verlag oder aus dem Verlag, ist es leichter, wenn ich auf meinem Weg an unerwarteten Orten verschwinde.« Schließlich straffte sie sich und deutete auf das Päckchen mit dem Kleid. »In gut einer halben Stunde hole ich es ab.«

Die Madame zog es zu sich, legte die Maske wieder vorsichtig auf den Brokat und schlug die Leinentücher um. »Fast wünschte ich, du würdest es vergessen.«

Zurück in den Straßen und Gassen fiel Nanette niemand auf. Bald erblickte sie die vertraute Front des Zeitungsverlags. Vorbei am Hauptportal des Gebäudes schlüpfte sie um die Ecke und zum Nebeneingang. Durch das Glas beobachtete sie, dass der Pförtner sie entdeckt hatte und sich von seinem Platz hochstemmte. Die Seiten der Zeitung, die vor ihm lagen, krumpelte er ineinander. Wie mit einem erhobenen, aber krummen Zeigestock stapfte er damit auf sie zu. Seine Augenbrauen stießen bis fast an den Schirm seiner Mütze. Nanette stoppte inmitten der Eingangshalle. An der Weste des Pförtners hielt ein goldener Knopf die dunkelblaue Uniform über dem Bauch zusammen. Kurz überlegte Nanette, wie lange das Garn die Spannung noch aushalten würde. Erst als der Mann vor ihr stand, krauste sich sein strenger Mund und wandelte sich in ein so breites Lächeln, dass sie die klaffende Lücke zwischen seinen hinteren Zähnen sehen konnte.

»Frau Nanette«, schnaufte er nach den paar Metern. »Meine Frau hat sich über dieses Lavendeln-Geblüm gefreut, da soll ich einen Gruß bestellen.« Der Portier sah sich um. Niemand war an diesem Sonntagvormittag in der Halle oder im angrenzenden Treppenhaus zu entdecken. Also zerrte er die Zeitung wieder auseinander und deutete auf den unteren Teil einer Seite. »Und dann soll ich Sie fragen, ob Sie nicht wüssten, wie es denn weitergeht? Sonntags liefern Sie doch immer den nächsten Teil dieser Fortsetzungsgeschichte. Meine Gutste und ich, wir reden von nix anderem, als wie sich das Rätsel lösen wird: Wird es diese Lehrerin in diesem Armenviertel in Berlin schaffen, ihre Schule zu retten? Und wer ist der heimliche Financier?« Sein Doppelkinn wackelte ein wenig. »Und wie nah das beieinanderliegt, diese Armut nicht weit vom preußischen Hof. Und dass unser Anonymus sich so gut auskennt dort. Freilich, lange kann die Geschichte nicht mehr dauern. Stellen Sie sich vor, unsere Tochter strengt sich nun glatt an und überlegt, ob sie nicht auch Erzieherin werden kann oder Lehrerin, aber in München freilich. Nach Berlin will sie nicht. Schon gut, dass wir in München sind, da ist’s schon besser hier bei uns.«

Nanette biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe und hielt ihre Miene, ihr Lächeln als Maske. Gustls Lächeln wurde noch ein wenig münchenseliger. Er beugte sich zu Nanette und flüsterte: »Aber wir können unmöglich auf die nächste Woche warten. Sie kennen doch den Fortgang, oder nicht? Und ich hab bewiesen, dass die Dinge bei mir bleiben, um die Sie mich bitten, nicht wahr?«

Nanette hielt seinem neugierigen Blick stand, über seine Begeisterung zu schmunzeln, erlaubte sie sich nicht. »Gustl, Sie wissen doch, dass der Autor unter allen Umständen unentdeckt bleiben will. Und ich bin lediglich die Botin. Ich kann noch nicht einmal sagen, wie diese Umschläge immer wieder in das Haus meiner Herrschaft gelangen oder weshalb ausgerechnet mir die Aufgabe zuteilwurde, die Texte zu überbringen. Ich erhalte die Anweisungen, was die Weitergabe betrifft und was ich mit den Zeitungen aushandeln darf. Aber was den Inhalt angeht, so besteht Anonymus auf das Geheimnis. Da darf ich nichts riskieren.« Ihre Worte löschten das Lächeln von seinen Lippen. Um ihn ein wenig zu trösten, drückte sie ihm die Hand. »Eins darf ich vielleicht verraten: Bis zum Ende sind es nur noch zwei Folgen. Allzu lange geht das Raten also nicht mehr.«

»Nur noch zwei Folgen, sagen Sie?« Der Portier entzog ihr die Hand. »Aber das ist ja … Das geht doch nicht! Kann er nicht noch ein wenig weiterschreiben, unser Anonymus? Bitten Sie ihn darum! Wir lesen die Geschichte so gern, und die Leser unserer Druckschrift auch.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf den gegenüberliegenden Teil der Halle.

Nanette wusste mittlerweile, dass hinter der Durchgangstür die Post angeliefert wurde. Eine Wand war mit kleinen Fächern aus Holz ausgekleidet, an den anderen stapelten sich die Postsäcke. Sobald die Fächer bestückt waren, ratterten die Rollwagen mit Kisten durch die Etagen und Gänge des Verlags. Papiere und Poststücke wurden an die Schreibtische verteilt.

»Die Münchner bringen sie sogar selbst vorbei. So viele Briefe und Bitten, wie sehr sie die Fortsetzungsgeschichte doch ein wenig schneller gedruckt sehen mögen.« Er schüttelte leichthin den Kopf, als würde das die Grammatik in seinem eigenwilligen Dialekt besser zusammenwürfeln. »Da seh’n Sie schon, ich bin gewiss nicht der Einzige mit der Ungeduld. Die Geschichte muss also unbedingt weitergehen! Er kann Ihnen diese Bitte doch nicht verwehren. Schließlich waren Sie als seine Botin mutig genug, einfach den Weg zum Redakteur zu suchen. Das nenn ich Schneid.«

Nanette zwinkerte ihm nach kurzem Zögern zu. »Der Name von Seybach öffnet so manche Tür, selbst für die Gouvernante.«

Gustls Gesicht verkrumpelte sich. »Ist einer der Herren etwa Anonymus?«

»Das wäre zu naheliegend, nicht?« Sie schüttelte den Kopf, verbarg ihre Enttäuschung, dass er auf die Grafen getippt hatte. Das Lob für und die Neugier auf weitere Geschichten nahm sie dennoch gerne mit. »Nein, da dürfen Sie ganz sicher sein. Die Geschichten stammen nicht aus der Feder eines der Herren des Lilienpalais. Und keine Sorge, es wird etwas Neues geben. Aber bitte! Das muss unbedingt in diesen Räumen bleiben! Heute bin ich hier, um mein …«, sie biss sich auf die Unterlippe und verfluchte sich innerlich, »… um das Anliegen unseres Anonymus dem zuständigen Redakteur anzutragen und zu verhandeln«, verbesserte sie sich hastig. Sie musterte ihn, vergewisserte sich, dass er ihr Zögern nicht bemerkt hatte.

Auf der Miene des Portiers zeigte sich zum Glück lediglich Bedauern. »Oje, Frau Nanette, ausgerechnet heute ist der Herr von Mayrhausen bereits fort – der Bote seines Hauses war hier. Irgendwas Pressantes. Und auch sonst ist keiner in seinem Compartement anwesend. Die Setzer und Drucker und die Druckmaschinen soll’n keinen Schmarrn machen – das muss heut auch ohne ihn gehen, hat er g’sagt. Da wird das Anliegen unseres verehrten Schreibers wohl bis nächste Woche warten müssen.«

Kälte schoss in Nanettes Hände und tausend Gedanken durch ihr Hirn. Ohne neue Vereinbarung? Ging sie, war weiter nichts als Ungewissheit in ihren Taschen, mitsamt der Pflicht und dem Risiko, sich nächste Woche erneut auf den Weg zu machen. Jeder Gang eine Gelegenheit, sie zu sehen, ihr zu folgen, Fragen wachsen zu lassen, was sie denn überhaupt im Zeitungsverlag wollte. Eine Gelegenheit, die sie so selten wie möglich bieten durfte.

Wieder fasste sie in die Rocktasche und tastete nach den Bögen. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist unmöglich. Ich kann …« Sie hielt inne. »Das kann nicht warten.«

»Aber es hilft ja nix, Frau Nanette.« Gustl zuckte mit den Schultern. »Mit dem Stuhl oder dem Schreibtisch des Redakteurs allein lässt sich nun ja auch recht schlecht verhandeln.« Er lachte kurz über seinen Scherz und legte sich die Hand auf den wohlgerundeten Bauch. »Das wäre, als wie wenn Sie oder eins von uns gradheraus mit dem Verleger sprechen wollten. Nun ja, unsereins kommt ja erst gar nicht so weit.«

Nanette straffte sich. Eine Idee feuerte durch ihren Kopf, und als könnte der Portier Gedanken lesen, klappte sein Kinn nach unten.

»Gustl, sagen Sie  …«

»O nein, nein, auf gar keinen Fall, Frau Nanette«, unterbrach er sie. »Sie dürfen da nicht hoch. Was meinen Sie, was da los wäre? Was das für mich bedeutet, wenn man herausfindet, dass ich  …«

Sie hob ihren Zeigefinger. »Wenn man herausfindet … Sie sagen es, Gustl. Aber woher sollte denn auch nur irgendjemand wissen, dass ich mich nicht einfach im Gebäude verlaufen habe, nachdem Herr von Mayrhausen nicht zu finden war?« Wieder griff sie nach seiner Hand, dieses Mal mit beiden Händen. »Gustl, Sie möchten doch das Ende der Geschichte erfahren, nicht wahr? Und vielleicht auch, wer das Mädchen mit dem gebrochenen Arm ist und was mit ihm geschieht, nachdem die Lehrerin sie in diesem halb verfallenen Bretterverschlag entdeckt hat – in der Nähe des Verstecks, in dem immer der Geldbetrag für sie hinterlegt ist. Und das ist der einzige Weg dazu.

Was, glauben Sie, wird passieren, wenn ich meinen Auftrag nicht erfüllen kann? Womöglich ist unser Anonymus so verärgert darüber, dass er sogar ganz und sogleich die Geschichte beendet.«

Der Portier schüttelte den Kopf. Seine Augenbrauen wanderten aufeinander zu, als könnte er so die Teile des Fortsetzungsromans zusammenhalten.

Nanette deutete auf das Treppenhaus. »Ich finde meinen Weg, Gustl, vielen Dank! Und ich verspreche, ich werde Sie nicht verpfeifen.«

»Und die Geschichte geht weiter?«, hakte er nach. »Ganz gewiss?«

»Versprochen!« Sie nickte. »Sagen Sie mir nur, wo genau ich den Verleger finde.«

Dank Gustls Beschreibung erreichte Nanette heute die oberste Etage statt der Redaktionsbureaus im ersten Geschoss. Die Fensterfront zeigte auf die Straße, an der gegenüberliegenden Wand erblickte sie die dick gedruckten Überschriften, die Textreihen in akkuraten Blöcken, die Namen der Autoren in feinerem Druck. Die Zeitungsartikel schimmerten in Glasrahmen, spiegelten teilweise den Raum. Über die Arbeitsplätze und Aktenschränke mit der kniehohen Umrahmung hinweg hielt sie Ausschau bis ans andere Ende des Flurs.

Dort hinter den zehn Doppelreihen der Schreibtische war ein Bereich wie eine Art Kasten abgesetzt. Durch die Scheiben machte Nanette bereits den massiven Holzschreibtisch des Verlegers aus, der mindestens doppelt so groß war wie die Arbeitstische seiner Angestellten. Der Raum selbst war leer.

Überhaupt war niemand in dem Abteil zu entdecken. Sie fluchte leise. Kurz vor dem Gang zwischen den Schreibtischen hielt sie inne, drehte sich um, um zu gehen, und machte doch wieder einen Schritt zurück. Sie ballte die Hände. Einen Moment später schrak sie zusammen.

Ein zweites Mal donnerte eine Stimme durch den gesamten Raum. »He da!«

Erst jetzt fiel ihr der Schreibtisch unmittelbar vor dem Verlegerbureau auf, an dem sich ein Mann in dunklem Gehrock aufrichtete. Er warf einen Stift auf die Arbeitsfläche, hatte offenbar gerade eine Notiz verfasst.

Vielleicht ist er der Sekretär des Herausgebers, überlegte Nanette und musterte ihn. Vielleicht kann er dem Verleger meine … Ihr Gedanke endete mit dem nächsten Blick auf seine Miene. Vieles spiegelte sich dort – Freundlichkeit und Entgegenkommen allerdings nicht.

Ihre Nägel gruben sich schmerzhaft in die Hand.

»He, Gesindel!« Noch einmal adressierte er seinen Ruf in ihre Richtung, lauter diesmal und ärgerlicher, und marschierte ihr entgegen. Der Gehrock war aus einem Stoff, der beinahe so schwarz schimmerte wie das Haar und der Oberlippenbart des Mannes. »Hier hat niemand Dahergelaufenes etwas zu suchen. Was erlauben Sie sich? Raus hier, aber geschwind!« Mit einer harschen Geste deutete er zum Ausgang.

Hitze schoss in Nanettes Wangen. Seine Beleidigungen schmerzten und zündeten gleichermaßen Wut in ihr. Dahergelaufen? Fest presste sie die Lippen aufeinander, dann richtete sie sich auf. Dieser Anzugträger in seinem feinen Zwirn, dieser Emporkömmling weiß nicht, wer ich bin, natürlich nicht! Und er glaubt einfach, es wäre sein Recht, mich zu verurteilen und mir Befehle zu erteilen. Verflucht noch eins! Nanette wusste unmittelbar: Mit aller Leidenschaft würde sie diesen Menschen mitsamt seinem Hochmut verachten. Von jetzt an und für immer.

Und es steht viel zu viel auf dem Spiel, um mich einfach fortschicken zu lassen, schoss ihr durch den Kopf. Nicht allein wegen der Geschichten in den versiegelten Bögen, sondern auch wegen Anonymus’ Zukunft.

Mit jedem Schritt, den er näher kam, schwor sich Nanette, dass sie nicht einen Fußbreit zurückweichen würde.

Sie räusperte sich. »Nein«, sagte sie und blieb mitten im Raum stehen. Ein paar Armlängen trennten sie jetzt noch voneinander. In seinen Augen funkelte Empörung in Gold oder Braun, beinahe anziehend zu dem dunkleren Ton seiner Haut. Wie Glut, die mal heller, mal dunkler und kaum wahrnehmbar glomm. Sie unterdrückte ein zufriedenes Schmunzeln. Widerworte waren ihm wohl neu. Aus ihrer Rocktasche zog sie die versiegelten Seiten und hielt sie vor sich. »Was ich hier habe, ist, was die Leser wollen. Vielleicht fehlt Ihnen als Sekretär dafür die Einbildungskraft oder das Wissen, wie Zeitungen arbeiten und wirtschaften.«

Er stutzte, und die Empörung auf seinem Gesicht wandelte sich zu Ärger, er öffnete den Mund. »Sekretär?«, wiederholte er.

Nanette war schneller. »Besser, Sie hören mich an und überbringen Ihrem Dienstherrn meine Worte. Das ist wohl das Mindeste«, beeilte sie sich. Mit klopfendem Herzen packte sie die Papiere fester, damit er ihr Zittern nicht sah. Kühn streckte sie die gefalteten Schriftstücke höher. »Ansonsten schlägt eine der anderen Zeitungsblätter in Zukunft Gewinn aus diesen Geschichten.«

Mit Mühe widerstand Nanette der Versuchung, herumzuwirbeln und ihn einfach stehen zu lassen. Sie wollte diesem Blick aus seinen braungoldenen Augen entgehen, der von ihren Fußspitzen bis zu ihrem Scheitel oder, besser gesagt, ihrer Hutkrempe, wanderte.

Nanette setzte zu weiteren Worten an, doch diesmal kam er ihr zuvor. Seine Stimme rollte wie eine Art Donner über ihre Haut und bis darunter. Seine Worte und die Hochnäsigkeit seines Tonfalls schürten weiter die Wut. So ruhig wie möglich versuchte sie zu atmen. Nanette klammerte sich an einen Gedanken. Worte. Die Presse war die Zukunft. Sie setzte ein Lächeln auf, bemüht, ihre Gefühle dahinter zu verbergen. Das Wort war eine Waffe, die viele unterschätzten – genau, wie im richtigen Moment zu schweigen.

2

Ferdinand

Er hatte sie sofort bemerkt und hielt inne. Noch über den Schreibtisch gebeugt, setzte Ferdinand von Rückl den Stift ab, mitten im Wort, hob den Kopf nur leicht, verharrte und beobachtete. Am anderen Ende der Etage stand sie im Raum, die verzierten Holzsäulen des Portals rahmten sie ein. Sie marschierte in den Gang, trat zwischen die Schreibtischreihen und ging nicht außen herum, wie es Dienstboten zustand. Nicht wie die Gouvernante, als die ihre Kleidung sie auswies.

Gerade war er dabei gewesen, einen Vermerk zu hinterlassen, bevor er sich auf den Nachhauseweg machen wollte. Und nun … Der Kragen seines Hemds engte ihn plötzlich ein, und er merkte, wie sein Puls beschleunigte, mit jedem Schritt, mit dem sie sich näherte. Unerhört! Eine wie sie wagte es, sich unaufgefordert zu nähern. Er trat in die Mitte des Gangs und dieser Impertinenz entgegen. Unbeeindruckt von seiner Erscheinung ging sie weiter, als müsse sie nie auf eine Erlaubnis warten.

Wie sie sich umsieht. Wie ein Sturm, der kurz noch weitere Kraft sammelt, bevor er alles mit sich reißt, dachte er. Sein Blick verfing sich an ihr, wanderte über das Schwarz der hochgeknöpften gestreiften Weste und Bluse darunter, den bodenlangen, glatten Rock, der Stoff von angemessener Qualität, der Schnitt unmöglich. Über ihr Erscheinungsbild zog er seine Augenbrauen noch ein Stück weiter hoch.

Wer zum Teufel glaubte sie zu sein? Unverschämt! Eine Schreibtischlänge entfernt von ihr blieb er stehen.

Ferdinand von Rückl wusste nicht, was er erwartet hatte. Ihre Züge – und auch, was er darauf las – überraschten ihn. Glatt, mit einem leichten Schimmer, über den Wangen ein Hauch von Rot, wirkte ihre Haut, ihre ganze Erscheinung jünger, als die grauen Haare vorgaben. In den Augen brannte Entschlossenheit und … er meinte, Wut zu sehen.

Auf den Bögen, die sie ihm entgegenstreckte, leuchtete ein blutrotes Siegel. Er roch Lavendel und Seife und etwas wie Rauch. Sie ignorierte seine Anweisung, zu verschwinden, und hielt ihm ihre Forderungen dagegen, als wäre er ein Schuljunge. Schon über den Inhalt, mehr noch über ihren dreisten Ton furchte er die Stirn.

Wie erfolgreich muss ein Autor wie dieser Anonymus sein, wenn er es sich leisten kann, eine derart unverschämte Person in seinem Namen auftreten zu lassen?, überlegte er. Gleichzeitig rechnete er in Gedanken durch, was es bedeutete, wenn eine andere Zeitung die Option nutzte.

Er schnappte nach Luft. »Genug!«, wies er sie zurecht. »Das hier ist sicher nicht Ihr Platz, das Wort zu führen.«

»Ach«, sagte sie, streckte die Papiere noch ein wenig höher. »Seit dem zweiten Teil der Fortsetzungsreihe haben die Abonnements Ihrer Zeitung um knapp dreiundzwanzig Prozent zugenommen. Und die Absatzzahlen der Sonntagszeitung mit den Anonymus-Geschichten liegen nun mit siebzehn Prozent weit über denen der Vormonate.«

Ferdinand von Rückl verschluckte sich und hustete. »Woher …« Er räusperte sich erneut, dann winkte er ab. »Und wohin soll das führen, gute Frau? Was versteht eine Gouvernante wie Sie davon? Freilich sind diese Zahlen wichtig, aber nichts als Zufall. Sie glauben doch selbst nicht, dass eine alberne kleine Geschichte eine derartige Auswirkung auf die Auflage der Zeitung hat. Wir informieren hier über die Geschehnisse in der Welt und in unserem Königreich.«

Sie verdrehte die Augen, als spräche er von einer Lappalie. »Für die neue Reihe, bestehend aus acht Geschichten, verlangt der Autor das doppelte Honorar. Ein wirkliches Honorar, nicht diesen Hungerlohn wie für die nun abgeschlossene Geschichte. Sehen Sie es als Entgegenkommen meines Auftraggebers. Vermutlich ist seine Arbeit den anderen Blättern noch mehr wert. Schließlich liest selbst die Königin die Erzählungen.«

Kalt wie Eis klirrte sein Lachen im Raum, und er bemerkte, dass sich auf ihrer Miene rein gar nichts regte. Nicht einfach einzuschüchtern, ging ihm durch den Kopf. Ihre nüchterne Sturheit und dass sie wagte, zu argumentieren, brachte ihn auf und reizte seine Neugier gleichermaßen.

»Die Königin?«, spottete er. »Therese von Bayern hat wohl Besseres …«

»Hätten Sie gerne eine Empfehlung von ihr?« Sie trat näher, forderte ihn mit jedem Schritt heraus, den Kopf schief gelegt, die Augen schmal. »Glauben Sie mir: Meinen Worten folgen Taten.« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern und jagte ihm Schauer vom Nacken bis zu den Zehenspitzen. Im gleichen Moment zog sie die Papiere zurück und steckte sie in die Tasche ihres lächerlich unförmig geschneiderten Rocks, der wirkte, als wären ihre Proportionen verrutscht. Sie zuckte mit den Schultern. »Nun denn.«

Ferdinand von Rückl tat einen Schritt auf sie zu und hob die Hand. Die Hitze ihres Körpers strahlte bis auf seine Haut. »Einen Moment!«

Sie warf ihm einen Blick zu – voller Herablassung. Kurz glaubte er, sie würde blass, doch sofort wurde ihre Miene wieder hart und undurchschaubar. Dann wirbelte sie herum und drehte ihm den Rücken zu. Ferdinand traute seinen Augen nicht. Ihr Gesicht brannte sich fest in sein Denken, dieses stechende Grün oder Blau ihrer Augen … Wer zur Hölle sollte das schon unterscheiden? Die schmalen Lippen mit diesem feinen Schwung. Er hätte schwören können, sie waren anfangs eher roséfarben gewesen. Jetzt waren sie rot, feuerrot. Die Person marschierte zurück durch den Gang und auf das Treppenhaus zu.

»Nun warten Sie!«, presste er hervor. Dass sie vorgab, seine Worte nicht zu hören, befeuerte seinen Ärger, und jeder Schritt, den sie tat, war wie Öl darauf.

Die Röcke bauschten sich um ihre Beine.

»Halt!«, rief er noch ein weiteres Mal und marschierte ihr schließlich hinterher. »Ich höre Sie an!«, sagte er und holte sie am Durchgang mit den verzierten Holzsäulen ein. Er fühlte Hitze in den Wangen. Ein Mehr an verkauften Zeitungen ist lohnender als Wut, begründete er vor sich, weshalb er ihr folgte. »Bitte.«

Erst jetzt drehte sie sich wieder zu ihm, und was immer sie dachte, ihre Miene verriet nicht das Geringste. Keine Überheblichkeit, keinen Triumph, weil er ihr gefolgt war, keine Freude, keine Unruhe oder Sorgen, falls er sie abwies. Nichts.

Selbst meine männlichen Verhandlungspartner verraten sich irgendwann, aber sie …

Sie hob die Augenbraue.

Ferdinand räusperte sich und streckte die Hand in ihre Richtung, die Handfläche geöffnet. »Geben Sie mir die Texte. Dann sehen wir weiter.«

Weiterhin blieb ihr Gesicht ausdruckslos. »In Ihrem Nachrichtenblatt hatten Sie die letzten Wochen über Gelegenheit, die Geschichten zu lesen und deren Qualität zu beurteilen.« Sie musterte ihn von oben bis unten, deutete dann nach hinten in Richtung des Verlegerbureaus. »Haben Sie überhaupt das Recht, Verhandlungen in diesen Dingen zu führen, oder verschwenden Sie meine Zeit? Ich will den Verleger sprechen und einen handfesten Vertrag, nicht einen Handlanger, der mir aus Langeweile die Zeit stiehlt und die Geschichten am Ende noch als die seinen ausgibt.«

Einen Moment lang starrte er sie an. »Was denken Sie denn von mir?«

»Was sollte ich von Ihnen denken?«, gab sie zurück. »Sie sprechen davon, dass Sie die Texte lesen wollen, aber nicht, ob Sie annähernd in der Position sind, in Verhandlungen zu treten, überhaupt Einblick und Verfügungsrecht über die Ausgaben des Verlags zu haben und die Forderungen von Anonymus zu erfüllen. Mit anderen Worten: Sie verschwenden meine Zeit.« Den letzten Satz sprach sie ruhig, und sie wich keinen Fußbreit vor ihm zurück.

Ferdinand setzte zu einer Erwiderung an, schloss den Mund wieder. In der Stille des Raums lenkte er seine Schritte zurück. Am Schreibtisch wandte er sich zu ihr um. Gegen die Kante gelehnt, begegnete er ihrem Blick, den Fragen, dem Abwägen und Abwarten darin. Wie eine Jägerin auf der Lauer, kam ihm in den Sinn. Noch einmal hob er den Arm und hielt die Handfläche auf. »Ich darf, sofern die Texte mich überzeugen.«

Kurz wurden ihre Augen schmaler, sie trat ohne ein weiteres Wort auf ihn zu. Ganz leicht streiften ihre Finger die seinen, als sie die Seiten übergab. Stirnrunzelnd und vorsichtig brach er das Siegel. »Dafür will er das Doppelte an Honorar? Das kann nicht mehr sein als ein erster Teil.« Er begann zu lesen.

»Natürlich. Und zwar mit Recht. Weshalb sollte es mehr sein als ein erster Teil? Es ist der Auftakt einer neuen Serie in acht Kapiteln«, erwiderte sie, doch seine Blicke flogen weiter über die Zeilen, und er hörte nur noch halb, was sie sagte. Jeder Satz zog ihn tiefer in die Geschichte. Er wendete die erste Seite um, legte sie kurz darauf auf den Schreibtisch hinter sich, dann die folgende und nächste, und der Stapel gelesener Blätter wuchs. Zwischen seinen Fingern raschelte das letzte beschriebene Stück Papier, und noch einmal befühlte er den Umfang der Bögen. »Herz- und stichfest«, las er laut. »Was soll das sein? Ausgebildet im Fechten, Jagen, Reiten mit den Pagen am Königshof, durchkreuzt Julie die Pläne ihres Vaters und die seines Vorgesetzten und flieht am Tag ihrer Hochzeit aus Paris mit einer Truppe, die sich mit Darbietungen von Degenkämpfen durchschlägt. Wie soll das gehen – oder weitergehen oder auch nur irgendwie gut gehen? Eine Frau allein auf den Straßen Frankreichs, die an der Oper gefeiert wird. Ist da nicht noch mehr?«, murmelte er. Als er aufsah, glaubte er, ein Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen, und etwas blitzte in ihren Augen, in diesem grünen Grau oder Blau, diesem stechenden Blick.

Sie griff nach den Seiten, schnappte ihm auch die eben gelesene Zusammenfassung aus der Hand. »Die nächste Folge wird bis Mitte der Woche hier sein, und die weiteren bis zur Hälfte der Erzählung zwei Wochen später«, erklärte sie. »Und wie beim letzten Mal nehme ich das Halbteil des Vorschusses jetzt mit. Den Rest des Honorars akzeptiert der Autor mit dem Ende der Geschichte.«

Unmittelbar zerschnitt ihr Einwurf die lebhafte Welt, in die ihn die Worte des Autors gezogen hatte.

»Ach, wie gnädig, dass Sie das akzeptieren«, schnappte er. Der Sarkasmus wetzte nicht nur seine Worte, auch sein Ton schnitt schärfer. Er drehte sich zur Fensterfront. »Selbstverständlich hat die ganze Welt die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte nur auf ihn gewartet. Ein Wunder, dass wir ohne seine Worte unsere Papiere füllen konnten.«

Als er sich ihr wieder zuwandte, war das Einzige, das sich verändert hatte, ihre Augenbraue, die erneut nach oben gewandert war. Wie bestimmt diese Frau ihre Forderung vorträgt. Als wäre ihr Auftraggeber nicht angewiesen auf Lohn für seine Schreiberei, echauffierte er sich in Gedanken. Die konkurrierenden Zeitungen fielen ihm ein, und er versuchte, seine Wut über ihr Auftreten zu zügeln.

»Also?«, fragte sie, und ihre Hand mit den Bögen glitt in Richtung ihrer Rocktasche. »Wenn die Geschichte nicht hier …«

»Drei Folgen«, unterbrach er sie. »Vielleicht kann Ihr Autor mit seinem Anliegen ein anderes Blatt über den Tisch ziehen. Aber wir sind die größte Zeitung in München. Wir nehmen drei Folgen, und dann sehen wir weiter, ob es acht werden. Und die Taler …« Er zögerte kurz. »Für die erste Folge und die zweite zahlen wir sofort. Für den dritten Teil erfolgt die Zahlung nach Ablieferung. Wenn das Ihrem Autor nicht passt, soll er sehen, was die anderen zahlen.« Ferdinand von Rückl verschränkte die Arme vor der Brust. »Oder er kann sich bei seiner Botin bedanken, deren Unverfrorenheit ihn beinahe den Auftrag gekostet hat.«

Endlich zeigte sich auf ihrem Gesicht eine Regung. Statt der von ihm erhofften Überraschung oder einem Anflug von Demut meinte er etwas zwischen Wut und Verachtung zu erkennen.

Ferdinand verkniff sich jegliches Geräusch des Unmuts, ebenso aber das triumphierende Grinsen darüber, ihr überhaupt diese Reaktion auf sein Angebot entlockt zu haben. So wie sie die Lippen aufeinanderpresst, weiß sie wohl, wie unklug es wäre, zu hastig abzulehnen, und sie ist bei Weitem nicht so frei, wie sie vorgibt. Also gibt es hier doch einen wunden Punkt, oder besser gesagt: Spielraum.

Er streckte die Hand in ihre Richtung. »Kommen wir ins Geschäft?«

Sie zögerte einen Moment, holte Luft, dann streckte sie ihm mit der einen Hand die Seiten mit dem gebrochenen Siegel entgegen, mit der anderen schlug sie ein. Warm und zugleich fest berührte ihre Handfläche die seine. Durch seinen Körper brandete Hitze. Kurz verstärkte die Frau den Druck ihres Handschlags, und ein Kribbeln lief durch seinen Arm.

Und einen Moment später – oder eine Ewigkeit oder wie lange auch immer es war – durchwebte ihr Duft den Raum, ihre Wärme spürte Ferdinand von Rückl auf der Haut. Die Bögen mit der ersten Folge knisterten in seiner Hand, das Säckchen mit den Talern war etwas leichter.

Ihm fiel etwas ein, und der späte Gedanke zündete wie Feuerhölzer unter seinen Fingernägeln. Er wendete und drehte die Papiere, überflog suchend noch einmal jeden Seitenrand, jedes Seitenende nach einer Notiz.

Ich kenne nicht einmal ihren Namen, noch weiß ich, wie sie zu erreichen ist. Oder dieser Autor. Kurz schüttelte er den Kopf. Ich denke, ein ernsthaftes Gespräch mit den verantwortlichen Redakteuren ist überfällig. Mayrhausen … was nimmt er sich heraus. Und überhaupt: Anonymus, was für ein armseliges Pseudonym.

3

Carl

»Hast du schon gehört?«

Carl von Seybach schwenkte den Blick über den Rand der Zeitung ans gegenüberliegende Ende des Tischs zu Isabella. Seine Tochter brach kleine Stücke von einem Croissant und sah ihn erwartungsvoll an. Sie strich den losen Zopf ihrer dunklen Haare beiläufig zurück über die Schulter. Maximilian, sein Sohn, und seine Nichte Johanna richteten ihre Aufmerksamkeit ebenfalls von ihren Frühstückstellern auf die Achtzehnjährige. Angesichts der unerwarteten Ruhestörung am Frühstückstisch verzog Carls Mutter Henriette die Miene. Schon lange war ihr Haar weiß und gab ihr immerhin den Anschein von Milde. Das Schwarz ihrer Witwenkleidung stand dazu im starken Kontrast. Die Gouvernante, mit einem Stuhl Abstand zu seiner Mutter, schien zu schmunzeln und mit leicht gesenktem Kopf die Runde zu beobachten.

Carl ignorierte den kleinen Stich, den er auf Höhe seines Herzens spürte. Er wünschte, seine verstorbene Eloise könnte sie alle gemeinsam am Tisch erleben, und er könnte ihre Hand drücken und ihr zuzwinkern, während die Kinder von ihren Erlebnissen erzählten.

Er versuchte, ein strengeres Gesicht aufzusetzen. »Was hab ich gehört?«

»Ach, Papa, vom Leben natürlich!«, griff Isabelle seine Frage mit sanftem Scherz auf. »Es gibt doch mehr als immer nur deinen König. Es gibt Theater und bald sogar Konzerte und Abende mit Tanz. Vor allem gibt es sagenhafte Bälle in unserer Stadt – Maskenbälle. Also: Hast du davon gehört? Es ist ja nun bald mehr als eine Woche her.« Maximilian neben ihr grinste und verdrehte die Augen. »Du tust ja gerade so, als ob es dein erster Ball gewesen wäre. Es war doch nur ein weiterer anstrengender Abend in einer Kette von Bällen. Und du schwärmst nach einer Woche immer noch. Oh, Moment, warte! Tatsächlich und dank einer Cousine, die alt genug ist, Bälle offiziell besuchen zu dürfen, ist es dein erster Ball gewesen.«

Nach einem Blick auf Henriette, die mit Marmelade und einem Hefegebäck beschäftigt war, schnitt Isabella in Richtung ihres Bruders zwinkernd eine Grimasse, was der mit einem Lächeln abtat.

»Was verstehst du schon davon. Es war ein Maskenball!« Das letzte Wort betonte sie besonders. Kurz zuckte Isabellas Blick zu Johanna. Carl kannte seine Tochter gut genug, um zu wissen, wie sehr sie mit ihrer Cousine litt, die immer noch unter Hausarrest stand.

Über das Gesicht seiner Mutter dagegen huschte ein Ausdruck des Tadels. »Maskenball.« Wie eine versalzene Speise stieß Henriette das Wort von sich. »Die Anwesenheit bei gesellschaftlichen Ereignissen ist eure Pflicht als Töchter des Hauses. Wie sonst wollt ihr einen angemessenen Ehemann finden? Sich im Vergnügen zu verlieren und den Verlockungen nachzugeben, hat seinen Preis.«

Die Gouvernante lehnte sich vor, fasste nach der Kanne mit heißem Wasser. »Und wie wichtig, dass der Preis bezahlt wird.« Die Stimme kaum mehr als ein Flüstern, den Blick auf Henriette, goss sie ihre Tasse auf. »Zumindest von dem einen Teil der Gesellschaft dafür umso höher. Wo kämen wir hin ohne diese …« Sie räusperte sich. »Gerechtigkeit?« Carl entging nach all seinen Jahren als Diplomat am Königshof nicht, wie sich der Mundwinkel der Gouvernante leicht hob und feinen Spott verriet, wie seine Kinder kurz innehielten, aufsahen, bis zu Henriettes Räuspern.

Isabella lehnte sich zu seiner Mutter. »Aber jede Pflicht lässt sich mit ein wenig Freude besser erfüllen, ist es nicht so? Damit wir besser tanzen, besser Konversation führen, eine bessere Partie sind.« Seine Tochter lächelte noch breiter. »Auch auf einem Maskenball. Umso wichtiger zu wissen, was dort alles war und wer.«

Henriette starrte auf Johanna. Carl bemerkte, wie sie die Brauen hochzog, die Augen verengte. Als wollte sie Johanna erneut tadeln für diesen einen Kuss, überlegte Carl. Oder dafür, dass Johanna sich als Frau dasselbe Recht herausnahm und dasselbe genoss wie jeder der Männer, die sogar protzen durften damit und gefeiert wurden. War es, weil das Henriette selbst nie gegönnt gewesen war? Oder lag es daran, dass Johanna trotz Kuss keinen Verlobungsring erhalten hatte? Carl vermied, die Hand zur Faust zu ballen beim Gedanken an diesen selbstsüchtigen Prinzen zu Waldersee. Dessen kleine Intrige und Rücksichtslosigkeit hatten Johanna überhaupt erst in diese Lage gebracht.

Johanna nestelte an der Spitze ihres waldgrünen Kleides, winkte ab. »Schon gut, Isabella, erzähl ruhig, es macht mir nichts aus. Ich hatte auch eine gute Nacht und bin durch meine Träume getanzt.« Johanna schob die Hand vor ihr blasses Gesicht und verbarg ein Gähnen.

Maximilian stöhnte. »Bälle! Was ihr nur immer damit habt. Schon vom Gedanken daran tut mir alles weh. Und dich, liebe Cousine, scheint allein der Gedanke daran zu ermüden. Da ist es wirklich besser, wir meiden diese Bälle.« Augenzwinkernd rieb er das Bein mit der Narbe von der alten Verletzung. Carl erinnerte sich nicht mehr, wie viele Jahre der Reitunfall bereits zurücklag.

»Als ob du dabei kein Vergnügen hättest! Allein schon, wenn du dich mit Leopold und Alexander mit euren ekelhaften Getränken zusammenklumpst und ihr eure Weisheiten austauscht. Und du kannst mir nicht erzählen, die Musik und die ganze Pracht der Säle und wie elegant sich jede und jeder herausputzt gingen an dir vorbei!«, neckte Isabella.

»Ich glaube ja, dein Bruder hofft, Helene von Riepenhoff ginge schnell genug an ihm vorbei«, warf Johanna ein. »Ich habe Menschen gesehen, die sich für Bäume mehr begeistern konnten oder für Holz …«

Ein Klopfen unterbrach die Worte. »Still! Haben wir diesen Ball nicht schon zur Genüge besprochen?« Henriette von Seybach strich mit einer Hand eine Strähne ihres weißen Haares zurück, mit der anderen legte sie ihren Gehstock wieder quer über den Sitz des Stuhls neben sich. Carl erinnerte sich daran, wie seine Mutter diesen nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte. Feine Furchen zogen sich durch das Holz, obwohl es glatt schien, matt, irgendwie zäh nach den vielen Jahren. »Kurz nach der Rückkehr eures Vaters gibt es wohl auch noch andere Themen am Frühstückstisch«, wies sie Johanna zurecht.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Carl, wie sich die Gouvernante auf ihrem Stuhl etwas nach hinten lehnte und Johanna und Isabella fixierte. Zuvor hatte sie über die Worte der beiden geschmunzelt, nun war ihre Miene ausdruckslos. Sie räusperte sich. »Die Damen werden heute gleich noch einmal Konversation üben vor dem Ausflug von Isabella und mir in die Glyptothek. Nur schade, dass Johanna wegen des Hausarrests die eben eingetroffenen ergänzenden Giebelfiguren des Aphaiatempels von Ägina entgehen, ebenso die außergewöhnlichen Skulpturen, die König Ludwig I. in München in diesem Museumsbau zusammenbringt.« Nanette wandte sich in seine Richtung. »Und dank der Nähe zum Königshof können wir sie weit vor der Freigabe für das allgemeine Publikum besichtigen.«