Wirbel um die Komtess - Hannah Conrad - E-Book

Wirbel um die Komtess E-Book

Hannah Conrad

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Beschreibung

Vorhang auf für verbotene Leidenschaften und die ganz große Liebe!

Augenscheinlich ist Isabella von Seybach bereit für die kommende Ballsaison. Bereit für atemberaubende Kleider, rauschende Feste und die Suche nach einem Ehemann. Insgeheim schmiedet sie aber ganz andere Pläne: Sie will ihre Leidenschaft für das Theater ausleben! Als Rudolf Heiland, Hofschauspieler und der wohl begehrenswerteste Mann Münchens, Isabella seine verruchte und aufregende Welt zeigt, kann sie nicht widerstehen. Ihr engster Vertrauter Leopold von Löwenstein plant inzwischen seine eigene Zukunft – ohne Isabella. Das weckt Gefühle in ihr, die sie lange vor sich selbst versteckt hat. Isabella muss sich entscheiden. Für was – und vor allem für wen – schlägt ihr Herz wirklich?

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DASBUCH

Augenscheinlich ist Isabella von Seybach bereit für die kommende Ballsaison. Bereit für atemberaubende Kleider, rauschende Feste und die Suche nach einem Ehemann. Insgeheim schmiedet sie aber ganz andere Pläne: Sie will ihre Leidenschaft für das Theater ausleben! Als Rudolf Heiland, Hofschauspieler und der wohl begehrenswerteste Mann Münchens, Isabella seine verruchte und aufregende Welt zeigt, kann sie nicht widerstehen. Ihr engster Vertrauter Leopold von Löwenstein plant inzwischen seine eigene Zukunft – ohne Isabella. Das weckt Gefühle in ihr, die sie lange vor sich selbst versteckt hat. Isabella muss sich entscheiden. Für was – und vor allem für wen – schlägt ihr Herz wirklich?

DIEAUTORIN

Hannah Conrad hat bereits viele erfolgreiche Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie studierte Germanistik und Kulturjournalismus, wurde mit dem DeLiA-Literaturpreis sowie dem Selfpublisher-Preis ausgezeichnet und hat einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen. Ihre Reisen nutzt sie gerne zur Recherche zu ihren Romanen, und sie ist in mehreren Städten Deutschlands zu Hause. Hinter Hannah Conrad verbergen sich vier Autorinnen: Laila El Omari, Frieda Bergmann, Monika Pfundmeier und Persephone Haasis.

HANNAHCONRAD

WIRBELUMDIEKOMTESS

Das Lilienpalais

Band 3

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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Originalausgabe 05/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Bettina Querfurth.

Redaktion: Regine Weisbrod

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design unter Verwendung von Arcangel/Shelley Richmond; Shutterstock.com/Marina AFONSHINA

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28924-9V001

www.heyne.de

München

Zum Ball lädt ein

Das Haus von Seybach

Henriette von Seybach:

Gräfin, verwitwet, Mutter von Carl von Seybach

Carl von Seybach:

Graf, Witwer, Obersthofmeister & Berater des Königs

Eloise von Seybach:

Carls an Schwindsucht verstorbene Ehefrau

Maximilian von Seybach:

Erbgraf, ältester Sohn von Carl, Arzt

Isabella von Seybach:

jüngste Tochter von Carl, »Nesthäkchen«

Johanna von Seybach:

Carls Nichte aus Königsberg, (Preußen)

Nanette:

Gouvernante des Hauses von Seybach

Auf die Tanzkarte möchten

Alexander von Reuss:

Erbgraf des Hauses von Reuss

Leopold von Löwenstein:

angehender Diplomat und Freund seit Kindertagen

Ferdinand v. Rückl:

Adliger, dessen Worte Stadt und Königreich bewegen*

Sophie de Neuville:

Erbin mit eigenwilligen Plänen

Julie von Hegenberg:

Adlige mit vielfältigen Interessen

Richard von Cranichsberg zu Treutheim:

Adliger mit märchenhaftem Vermögen

Louisa:

Dienstbotin im Hause von Seybach

Unverzichtbar im Hintergrund sind

Afra Haberl:

Hausdame, Vorsteherin des weiblichen Gesindes

Finni:

Kammerzofe

Albrecht:

Kammerdiener

Matthias:

Lakai

Joseph (Sepp):

Hausvorstand

Berti:

Köchin

Xaver:

Kutscher

Anna, Cilli & Bärbel:

Stubenmädchen

Gretel & Annelies:

Küchenhilfen

Georg (Schorsch):

Stalljunge

Anton:

Gärtner

Kätt:

neu in München, Hausmädchen*

In besonderen Rollen

5 Hunde:

Napoleon, Antoinette, Ludovika, Henry, Caesar

Mit * markierte Personen tauchen in den anderen Bänden auf.

»Tanz um die Welt, dann erkennst du, wohin dein Herz gehört.«

NANETTE

München, September 1828

1

Isabella

»Du darfst mich nicht verraten. Hörst du?«

Isabella ging in die Hocke und kraulte Napoleon hinter den Ohren. Sofort stellte der Malteserhund sein Fiepen ein. Sie ließ sich auf den Boden nieder, und er kuschelte den Kopf in ihre Handfläche. Fast schien es, als wolle er gleich am ersten Abend alle Streicheleinheiten nachholen, auf die er in den vergangenen Wochen hatte verzichten müssen.

»Ich gehe nicht mehr so lange weg. Versprochen!«, flüsterte Isabella. Mit der Hand strich sie über das weiche Fell und warf einen Blick auf die verschnörkelten Zeiger der Uhr auf ihrer Kommode. Kurz vor elf. Nun musste sie wirklich los. Zweimal hatte sie sich bereits angeschickt, ihr Zimmer zu verlassen, und immer hatte Napoleon so ein Theater gemacht, dass sie sich zu ihm gesetzt hatte, um ihn zu beruhigen. Seit ihrer Rückkehr aus Italien am frühen Nachmittag war er nicht von ihrer Seite gewichen, und offenbar hatte er auch weiterhin nicht vor, sie allein irgendwohin gehen zu lassen.

Isabella drückte sich hoch und zupfte ihr fliederfarbenes Nachthemd zurecht. Sogleich sprang Napoleon auf, lief vor ihren Füßen hin und her und wedelte freudig mit dem Schwanz. Mit dem Kopf stupste er gegen ihr Schienbein, und ihr Herz schmolz.

»In Ordnung«, seufzte sie, »ich nehme dich mit.« Mahnend hob sie den Zeigefinger. »Du darfst aber nicht bellen. Hörst du? Keinen Laut.«

Napoleon blieb stehen und legte den Kopf schief, als hätte er verstanden, dass ihm eine Mission bevorstand, die größter Geheimhaltung bedurfte.

Isabella holte tief Luft. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie legte sich die Hand an die Brust, als könne sie es auf diese Weise beruhigen. Sie warf sich ein Tuch über die Schultern, ergriff das Bündel, das auf dem gestreiften Sessel lag, öffnete ihre Zimmertür einen Spalt, ließ den Hund nach draußen schlüpfen und schob sich selbst hinterher. Leise schloss sie die Tür und horchte. Alles war ruhig. Die Bewohner des Lilienpalais schienen tief und fest zu schlafen.

Bis jetzt war es immer gut gegangen, dann wird es das auch heute, beruhigte sie sich, als sie den Gang hinunterhuschte. Sie erreichte die Treppe zum Dachgeschoss und erklomm barfuß die Stufen. Napoleons Pfoten tapsten auf den Holzdielen.

Es war leichtsinnig, geradezu töricht, den Hund mitzunehmen, aber hatte sie eine Wahl gehabt? Nein! Die Gefahr war groß, dass sein Fiepen oder – Gott bewahre – Kratzen an der Tür die Großmutter aufwecken würde.

Nichts verabscheute Henriette von Seybach so sehr wie ungehorsame Hunde. Außer vielleicht aufmüpfiges Dienstpersonal oder einen Fleck auf dem Tafelsilber. Isabella wusste allerdings, dass ihre Großmama des Nachts herumstreunende Enkelinnen noch weniger gutheißen würde als nachlässig poliertes Besteck. Nicht nur deswegen galt es die Entdeckung ihrer nächtlichen Partie unbedingt zu vermeiden. Sie hoffte, dass Großmutters Schlaf durch den erlesenen Wein, den Papa zur Feier der Rückkehr seines Nesthäkchens hatte öffnen lassen, etwas tiefer als gewöhnlich war und auch niemand sonst im Haus die Schritte auf den Stufen hören würde.

Oben hielt sie kurz inne und lauschte, ob sich im Haus jemand regte. Sie hörte nichts. Jedenfalls nichts, was darauf hindeutete, dass ein Familienmitglied oder einer der Angestellten erwacht war. Ein Balken über ihr knarrte, aus einem der Zimmer ertönte ein Schnarchen. Sie hatte es fast geschafft! Vor ihr lag das Dachfenster im Flur zwischen Speicher und Dienstbotenunterkünften.

Die Scharniere quietschten verräterisch, als sie den Knauf drehte und das Fenster ein Stück aufzog. Isabella atmete aus und hob den Rahmen an, bis dieser ganz offen stand. Wieder horchte sie. Durch die Sprossenfenster malte der Septembermond Vierecke auf den Holzboden der Dachgaube.

»Eine junge Dame muss die Contenance wahren«, pflegte ihre Großmutter stets zu sagen.

»Du musst dich vorsehen und immer achtgeben, was du tust. Alles wird wahrgenommen und beurteilt«, hatte ihr ihre Cousine Johanna mit auf den Weg gegeben.

Und ihre Gouvernante Nanette erinnerte sie des Öfteren: »Eine Dame bewegt sich leise und würdevoll.«

Ihr Bruder Maximilian hingegen hatte ihr beigebracht: »Du kannst alles machen, du darfst dich bloß nicht erwischen lassen!«

Die Lebensnähe dieser Ratschläge kam ihr in den Sinn, als sie mit Contenance die Truhe mit den Dienstbotenuniformen in die Dachgaube schob, achtsam auf dieselbe stieg, sich leise – und bestimmt auch würdevoll – auf die Fensterbank setzte und ihre Beine nach draußen schwang. »Wir dürfen uns nicht erwischen lassen«, flüsterte sie Napoleon zu, knotete ihren Beutel auf und warf ihm ein Stück Fleischwurst zu. Dann glitt sie hinaus aufs Dach.

Von außen zog sie das Fenster heran und hielt kurz inne, als sie ihr Spiegelbild in der Scheibe sah. »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher«, hatte Papa bei der Begrüßung gesagt. Und nun sah sie es selbst: die schlanke Gestalt, das diamantförmige Gesicht, die dunklen, welligen Haare. Nur ihre Augenfarbe hatte sie von Vater geerbt. Lupinenblau, so hatte Mama die Farbe einmal genannt.

Sie atmete tief durch. Zwischenzeitlich hatte sie geglaubt, nie hier draußen anzukommen.

Ein rotes Dachziegelmeer erstreckte sich rechts und links von ihr. Schnee, Regen und Wind hatten den gebrannten Ton rau werden lassen. Die Sonne hatte diesen ganzen Septembertag auf München geschienen. Isabella spürte einen Rest Spätsommerwärme unter den nackten Füßen. Sie schob sich ein Stück nach vorne, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief ein. Genau so hatte sie sie in Erinnerung gehabt: die Münchner Nacht mit dem herbstlichen Duft der Hofgartenbäume, der maischigen Süße von den Brauereien und dem beißenden Rauch der Holzöfen. Der Wind strich ihr übers Gesicht und über die Schultern, die nur von ihrem Nachthemd und einem Tuch bedeckt wurden. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Als wollte sie der Nachthimmel zu Hause begrüßen, leuchteten ihr alle Sterne entgegen, und auch der Mond stand hell und klar über der nahen königlichen Residenz.

»Willkommen daheim«, sagte sie zu sich selbst.

Isabella hatte die vergangenen Wochen mit ihrer Tante auf der »Petit Tour« verbracht. So nannte sie die Italienreise, die sie lange herbeigesehnt hatte. Schon als Fünfjährige hatte sie ihrem Vater in den Ohren gelegen, sie wolle mit ihm auf Expedition gehen, hatte sich an sein Bein geklammert, wenn die Bediensteten die Koffer und Truhen durch die Eingangshalle zur Kutsche getragen hatten. Sie wollte nicht immer nur aus seinen Erzählungen von der Akropolis, dem Louvre oder den Pyramiden erfahren. Vielmehr wollte sie dies alles mit eigenen Augen sehen. Wieso sollten sich die jungen Männer Münchens aufmachen, um die Kulturschätze vergangener Zeiten zu besuchen, während sie nur im Salon sitzen und Deckchen besticken sollte? Die Freunde ihres Bruders reisten monatelang von Griechenland bis London, von Rom bis Amsterdam, einige wagten sich sogar bis ins Heilige Land oder nach Kairo vor. Und sie durfte ohne Gouvernante noch nicht einmal spazieren gehen. Doch so sehr sie auch gebettelt hatte, der Vater war hart geblieben. Als dann im Sommer ihr geliebter Caesar, ein irischer Setter, gestorben war und Tante Marie sich als Reisegefährtin und Aufpasserin erboten hatte, hatte Papa sein Einverständnis gegeben. Endlich! Zwar nur für ein paar Wochen und nur für die Italienreise, aber es war ein Anfang. Nun hatte sie selbst Genua und Bologna besucht, den Ponte Vecchio in Florenz überschritten und im Konservatorenpalast in Rom den Dornauszieher und die kapitolinische Wölfin bestaunen können.

Das gesamte Abendessen lang hatte sie von den Gasthöfen und Hotels berichtet, von den unbekannten Speisen geschwärmt, die Berti unbedingt einmal nachkochen müsse. Von dieser Idee war auch ihre Cousine Johanna sehr angetan, die mit ihrem Mann Alexander zum Familiendiner gekommen war, um Isabella willkommen zu heißen. Großmutter hatte mit ihrem Stock auf das Eichenparkett gedonnert, als ihre Enkelin gescherzt hatte, dass sie jetzt wisse, warum man Kutschen als »Knochenknacker« oder »Marterkasten« bezeichnete.

Als Tante Marie hinzugefügt hatte, dass ihr Kutscher Sebastian das Gepäck mit Ketten gesichert habe, damit die Briganten, die gefürchteten Straßenräuber, sie nicht einfach kappen könnten, wie es bei den für gewöhnlich verwendeten Lederriemen ein Leichtes gewesen wäre, hatte sich ihre zukünftige Schwägerin Louisa Luft zufächeln müssen. Ihr Bruder Maximilian hatte seinerseits Reisegeschichten beigesteuert, und auch Papa hatte sich zu der einen oder anderen Anekdote hinreißen lassen. Nach dem Dessert hatte Henriette von Seybach festgestellt, dass die Enkelin nunmehr ihre Abenteuerlust habe stillen können und es endlich Zeit wäre, sich den gesellschaftlichen Aktivitäten zu widmen. Isabella hatte ein Lächeln aufgesetzt, und offenbar hatte Großmutter dies als Zustimmung interpretiert und nicht bemerkt, dass dieses Lächeln nur Teil von Isabellas Plan war. Ihres großen und vielschichtigen Planes. Keine Aufmerksamkeit zu erregen und die brave Debütantin zu spielen, gehörte dazu.

Sie richtete sich auf und balancierte an den Dachluken entlang in Richtung Schornstein. Auf dieser Seite lagen die Speicherräume mit den Möbeln der Urgroßeltern, den Uniformen des verstorbenen Großvaters und dem Spielzeug. Sie konnte also vor den Fenstern vorbeispazieren, ohne dass sie Gefahr lief, entdeckt zu werden.

Noch ein paar Schritte und ein kurzer Aufstieg, dann hatte Isabella ihr Ziel erreicht: die Plattform zwischen den Schornsteinen. Jemand hatte auf dem Dach des Lilienpalais ein hölzernes Podest errichtet, das den letzten von Seybach’schen Kamin mit dem ersten von Löwenstein’schen verband. Vielleicht der Rauchfangkehrer, damit er seiner Arbeit leichter nachgehen konnte. Vielleicht stammte es auch von den Dachdeckern, und man hatte schlicht vergessen, es abzureißen. Wie auch immer, für Isabella war die Plattform ein Glücksfall. Sie war groß genug, dass sich zwei Menschen darauf ausstrecken und in den Himmel schauen konnten. Eine gezimmerte Insel mitten im vornehmsten Teil Münchens, nur wenige Steinwürfe von der königlichen Residenz entfernt, aber Welten von Benimmregeln, Stickrahmenbildern und Debütantinnenplänen. Zudem waren die Holzdielen zweifelsohne bequemer als die Dachziegel, und man musste sich auf der Plattform nicht so vorsehen wie auf den Schrägen.

Zwar trugen die Palais der Ludwigstraße allesamt flachere Dächer, dennoch bestand immer die Gefahr, auf den Ziegeln auszurutschen, und Großmutter würde es ihr niemals verzeihen, wenn sie durch einen Dachsturz ums Leben käme. Bestimmt würde sie ihr auch auf dem Totenbett noch Vorhaltungen machen: »Isabella, solch ein Tod geziemt sich nicht für eine junge Dame. Man stirbt nach langer Malaise im Bett. Einen Reitunfall kann ich noch akzeptieren. C’est l’exception qui confirme la règle. Aber nachtwandeln und zu Tode stürzen, das schickt sich nicht. Bitte denke doch an deine Familie.«

Isabella lächelte. Sogar das hatte sie vermisst, die nie enden wollenden Ermahnungen ihrer Großmama. Deswegen war sie auch – nachdem sie ihren Vater, den Obersthofmeister Carl von Seybach, ihren Bruder Maximilian, seine Verlobte Louisa und ihre Gouvernante Nanette stürmisch begrüßt hatte – noch einmal zu ihrer Großmutter gegangen und hatte ihr einen Kuss auf die faltige Wange gedrückt. Dies hatte die alte Dame kurz erstarren lassen, und ihre Hand hatte sich fester um den Knauf ihres Stockes geschlossen. Eine Ermahnung war ihr jedoch nicht über die Lippen gekommen. Dafür hatte sie diese Liebesbezeugung wohl zu sehr überrascht oder – im Geheimen – erfreut.

Ein paar Schritte noch, dann würde Isabella sich auf alle viere niederlassen und zur Plattform klettern. Sie hatte sich kaum auf die Hände gestützt, da vernahm sie ein leises Knarren und kurz darauf ein Ächzen. Sie war nicht allein.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Hatte er es also nicht vergessen. Mühelos krabbelte sie zum Schornstein und richtete sich auf.

»Buona sera, mia cara«, sagte er.

Der warme Klang seiner Stimme ließ sie innehalten. Wie hatte sie ihn vermisst.

»Buona sera … Was heißt ›Eure Exzellenz‹ auf Italienisch?«

»Sua Eccellenza … denke ich … Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg«, sagte Leopold von Löwenstein.

»Da habe ich heute anderes vernommen«, meinte Isabella. »Seine Majestät hat dich als bisher jüngsten Vertreter Bayerns nach Frankfurt berufen, und sogar ich weiß, dass diese Ehre nur den hoffnungsvollsten Kandidaten gebührt.«

Er legte den Kopf zur Seite, wie er das immer tat, wenn er sich geschmeichelt fühlte, es aber nicht zugeben wollte.

»Und fürs Protokoll: Ich werde dich niemals ernsthaft ›Exzellenz‹ nennen.«

»Kommst du irgendwann hoch? Oder willst du die halbe Nacht dort vorne verbringen?« Leopold streckte die Hand aus und half ihr auf die Plattform. Isabella ließ sich neben ihm auf dem hölzernen Podest nieder. Eine Weile hielt er ihre Hand noch fest. Mit dem Daumen strich er ihr über den Handrücken. Sie schloss ihre Finger fest um seine. Sein Lächeln war vertraut und liebevoll, und Isabella durchströmte das Gefühl, nun tatsächlich zu Hause zu sein.

Leopold von Löwenstein. Die Haare mandelbraun, ebenso die Augen, der Körper schlank. Leopold: Reiter, Ruderer, Komplize und Vertrauter. Er überragte sie immer noch um einen Kopf, und daran würde sich wohl nichts mehr ändern. Mit neunzehn war sie das, was man ausgewachsen nannte.

Sein Blick fand den ihren, und ein Kribbeln überzog ihre Haut von den Schultern bis zu den Zehen.

Sie löste ihre Hand, schlang sie um ihre angezogenen Knie und schüttelte den Kopf. »Nicht einmal Caesar konnte so treuherzig …«

Leopold legte ihr den Finger auf die Lippen und hieß sie verstummen.

Isabella kniff die Augen zusammen, als er sich hochdrückte und zum Schornstein begab. In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, was Leopold tat, offenbar nestelte er an einer Schnur. Er zog etwas hinter dem gemauerten Kamin hervor und schob es sanft in ihre Richtung. War das …?

»Willkommen daheim!«, sagte Leopold heiser.

»Ein Ballon!«, rief Isabella verzückt aus. »Oh, wie wunderbar!«

Ein Miniaturheißluftballon in Rot und Blau glitt auf sie zu oder wurde vielmehr von Leopold in ihre Richtung geleitet. Ein kleines Wunder in dieser ohnehin schon besonderen Nacht.

»Du musst ihn aufhalten!«, sagte er. »Sonst fliegt unser Willkommensmahl davon.«

Sie streckte die Hände aus, zog den Ballon zu sich her und löste ein Kistchen aus den Tragschnüren unterhalb der luftgefüllten Hülle. Isabella betrachtete die dunkelblaue Schachtel, die mit goldenen Lettern verziert war. Vorsichtig öffnete sie den Deckel. Schokoladenduft strömte ihr entgegen.

»Die habe ich von Armansperg persönlich bekommen. Und ich habe sie mir für einen speziellen Moment aufgehoben.«

Isabellas Mund verzog sich zu einem Lächeln. Es war in der Tat eine Besonderheit, dass der Außenminister, den ihr Papa als spröde und unnahbar beschrieb, Leopold auf diese Art auszeichnete. Und dass Leopold diese Kostbarkeit mit ihr teilen wollte, erfüllte sie mit Dankbarkeit.

»Die sind aus Brüssel und damit weiter gereist als die meisten Münchnerinnen. Ich dachte, das passt ganz gut.«

Leopold entfernte das schützende Papier, und Isabella wählte nach langem Überlegen eine schokoladenumhüllte Kugel, die mit zarten Streifen verziert war. Leopold entnahm der Packung eine viereckige Praline mit Walnussdekoration.

»Auf die weit gereisteste Frau, die ich kenne.«

»Auf den Mann, der Bayern bald in der ganzen Welt vertreten wird – und der seine Grammatik nicht beherrscht. Weit gereistest. Wirklich?«

»Das ist eine Wortneuschöpfung, gerade du solltest sie zu schätzen wissen.«

Isabella wiegte den Kopf, als müsse sie nachdenken. Ein Schmunzeln umspielte Leopolds Mund. Er hielt die Praline hoch, und sie stupste mit ihrer dagegen. Dann genossen sie die luxuriöse Süßigkeit. Isabella ließ die Schokolade langsam auf der Zunge zergehen und versuchte jedes Gramm der Süße voll auszukosten. Eine Praline aus Brüssel. Gebracht von einem Heißluftballon. Grandios!

»Wie weit bist du mit deinen Plänen?«, fragte sie.

»Es nimmt Form an. Der alte von Hegenberg überlässt mir eine Scheune in Schwabing. Da kann ich tüfteln, wann immer ich dafür Zeit finde.« Er lächelte versonnen. »Und irgendwann nehme ich dich dann mit. Im großen Bruder dieses Pralinenluftschiffs!«

»Ich kann es kaum erwarten.«

»Ein wenig musst du deine Ungeduld noch zügeln. Ich bin dabei, das Material zu organisieren. Bis zum ersten Flugversuch werden Monate vergehen.«

»Stimmt, von Frankfurt aus wirst du schlecht bauen können!«, seufzte sie.

»Woher weißt du eigentlich, dass ich zum Bundestag berufen wurde? Die Nachricht ist noch keinen halben Tag alt.«

»Es wäre einfacher, wenn du mich fragst, wer es mir gegenüber heute noch nicht erwähnt hat. Mein Vater hat so geschwärmt, als wäre er selbst befördert worden. Maximilian bedauert, dass er dich nur noch selten sehen wird, und Großmutter hat die ihr bekannten Frankfurter Familien aufgezählt, die Töchter im heiratsfähigen Alter haben.«

Leopold zuckte mit den Schultern, als könne er dadurch die Enttäuschung abschütteln, dass er ihr diese Botschaft nicht selbst hatte verkünden können.

Sie stupste mit ihrem Kopf gegen seinen Oberarm. Dann richtete sie sich auf und reckte den Hals. »Du bist ja immer noch so riesig. Zwingt dich die Last deiner neuen Aufgaben nicht in die Knie?«

Er grinste. »Nein, die Arbeit über den Akten hat mich nicht zusammenschrumpfen lassen.« Er zeigte auf seinen Rücken. »Bucklig bin ich glücklicherweise auch noch nicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Schön, dass du wieder da bist. Und noch dazu in einem Stück. Nach dem, was du geschrieben hast, hatte ich Bedenken.«

»Hättest du nicht haben müssen. Tante Maries Kutscher hätte jeden in die Flucht geschlagen, der uns zu nahe gekommen wäre. Leider hatte er nie Gelegenheit dazu.« Allein bei der Vorstellung stahl sich ein Grinsen auf Isabellas Gesicht.

Er wiederholte ihr »leider« mit einem spöttischen Kopfschütteln. »Das ist in der Tat tragisch.«

»Für die Räuber ist es gut. Tante Marie bestand darauf, dass wir unser eigenes Bettzeug mitnehmen, wegen des Ungeziefers. Und Becher und Teller und was weiß ich noch. Wenn es also keine Briganten gewesen wären, die großen Wert auf Komfort bei der Nachtruhe legten, wären sie wohl ziemlich enttäuscht worden.« Sie kniff die Augen zusammen. »Außerdem hat Papa gesagt, die Straßenräuber, die seine Schwester und mich rauben, bringen uns am nächsten Morgen freiwillig zurück.«

Leopold prustete los. »Ich habe mir auch weniger um dich Sorgen gemacht als um die armen Briganten. Du hättest so lange den Sommernachtstraum rezitiert, bis der Hauptmann das Weite gesucht hätte, und dann hättest du seinen Haufen übernommen und Angst und Schrecken zwischen Florenz und Terracina verbreitet.«

Sie nickte gespielt ernsthaft. »Das hätte ich wirklich tun sollen. In Rom habe ich erfahren, dass es die Räuber vor allem auf die einheimischen Kaufleute abgesehen haben. Das ist doch ungerecht. Haben die keine Ehre im Leib?«

»Das ist wirklich unerhört!« Leopold schlug mit der Hand auf sein Knie, als könne er seiner Empörung kaum Herr werden. »Ich werde gleich morgen eine Depesche an unsere Gesandtschaften in den italienischen Staaten abschicken, sie sollen sich dieser Missstände umgehend annehmen. Erbitte mehr Überfälle auf Touristen. Umgehenden Kontakt mit Verantwortlichen aufnehmen. Was meinst du? Unterhalten Räuber eigene Telegrafenstationen?«

»Sie sollten es tun! Meine Räuberbande hätte mindestens zwei. Dann würden wir unser Lager nur verlassen, wenn wir fette Beute zu erwarten hätten.«

Er lachte.

Wie hatte sie diese Frotzeleien vermisst! Der Nachtwind strich ihr übers Gesicht, und sie rutschte etwas näher an ihren Freund heran, um seine Wärme zu spüren.

Er bot ihr seine Jacke an, aber sie schüttelte den Kopf und zog ihren Schal etwas fester um ihre Schultern.

»Was ist eigentlich mit deinen hochfliegenden Plänen?«, fragte er.

»Zunächst zur Beute.« Isabella lächelte geheimnisvoll, griff nach dem verknoteten Tuch, das neben ihr auf dem Podest lag, und kramte darin. Sie zog eine Stoffserviette heraus, breitete sie aus und legte Bertis Schätze darauf: ein Stück Weichkäse, etwas Brot, mehrere Scheiben Zitronenkuchen und die restliche Fleischwurst.

»Oh, Berti bekommt immer noch die Lieferungen von ihrem Bruder«, jubilierte Leopold. Dann hielt er inne und betrachtete die abgerissene Wurst.

»Das ist mein Wegzoll gewesen. Ich musste verhindern, dass Napoleon die ganze Familie zusammenfiept.«

»In diesem Fall teile ich gerne mit Napoleon. Außerdem fühle ich mich geehrt, dass du daran gedacht hast.«

Die Fleischwurst hatte Isabella vor dem Zubettgehen aus der Speisekammer gemopst. Wobei gemopst nicht ganz korrekt war: Die Köchin, die jeder – außer Großmama – nur Berti nannte, hatte »ihrem Mädchen« einen ganzen Ring davon zugesteckt, als Isabella nach dem Abendmahl noch einmal in den Dienstbotentrakt geschlichen war, um ihren Hunden Ludovika und Henry einen Willkommensbesuch abzustatten. Ihre heiß geliebten Streuner waren seit einem Vorfall, der Großmutters Lieblingskissen, ein Mahagonitischbein und ein mehrmals gehobenes Hundebeinchen involviert hatte, in den hochherrschaftlichen Räumen nicht mehr geduldet. Dieses Privileg genossen allein Napoleon und Antoinette.

Leopold nickte und nahm sich ein Stück. Ihm musste sie nichts von den Sehenswürdigkeiten der italienischen Renaissancestädte erzählen, das hatte sie in ihren Briefen bereits ausführlich getan. Überdies hatte er sie selbst auf seiner Kavalierstour gesehen. Auch war es nicht nötig, dass er ihr von seinem Aufenthalt in Wien und den dortigen Verhandlungen berichtete. Aus seinen Antworten wusste sie über all dies Bescheid. Er hatte ihr vor der Reise die Adressen der bayrischen Gesandtschaften in Turin, Florenz und Rom gegeben, und Isabella hatte sich ebendort jeweils einen Stapel Briefe abholen können. Tante Marie hatte diskret geschwiegen, wenn ihre Nichte im Hotelzimmer saß und in Leopolds Zeilen versank, doch Isabella hatte sie aufgeklärt, dass er als Bruder ihrer besten Freundin Amalie auch quasi ihr Bruder sei. Was sie ihrer Tante verschwieg, war, dass sie vor zwei Jahren begonnen hatte, ihren Wunschbruder, der nicht unter dem von Seybach’schen Dach wohnte, auf demselben zu treffen. Dafür hätte auch die progressiv denkende Tante kaum Verständnis gezeigt. Aber wenn die Gesellschaft schon so strenge Regeln aufstellte und so peinlich genau auf deren Einhaltung pochte, musste man eben einfallsreich werden und Wege finden, seinen Ruf zu wahren und dennoch nach seiner Façon zu leben.

»Ich habe auch etwas für dich«, sagte sie und zog ein Päckchen aus dem Beutel.

Leopold richtete sich auf, nahm die Schachtel entgegen und behutsam den Deckel ab. Sie glaubte zu sehen, wie seine Augen aufleuchteten.

In Rom hatte Isabella die Dependance eines französischen Parfümeurs besucht und für sich, Amalie, Johanna und auch Louisa ein Parfum erstanden. Bei einem für Männer kreierten Duft aus Lavendel, Minze und Orange hatte sie sofort an Leopold denken müssen.

»Gefällt es dir?«, fragte sie, als er die Glaskugel anhob, die das Fläschchen verschloss, und daran schnupperte.

Er nickte. »Das ist ganz wunderbar.«

Sie atmete erleichtert aus. »Tante Marie hat mir Vorhaltungen gemacht. Sie meinte: ›Ein solch privates Geschenk geziemt sich nicht!‹ Aber ich habe es trotzdem erworben, weil ich mich andernfalls die ganze Fahrt über geärgert hätte. Ich bin so froh, dass du es magst.«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sah ihr in die Augen. Isabellas Magen reagierte mit einem freudigen Kribbeln.

»Vielen, vielen Dank. Und jetzt, da ich weiß, dass du auch noch Ärger auf dich genommen hast, um es zu erstehen, werde ich es noch mehr schätzen.«

»Schätzen ist gut, tragen wäre noch besser«, zog sie ihn auf und knuffte ihn freundschaftlich gegen den Arm.

Leopold öffnete erneut den Flakon und führte ihn an die Nase, um ihn dann wieder vorsichtig in die Verpackung zu legen.

»Was bist du nun eigentlich genau?«, fragte Isabella, nachdem sie sich ein Stückchen Zitronenkuchen genommen hatte. »Also, wie nennt man dich, wenn du im Ministerium bist?«

»Ich bin Sekretär des Außenministers. Attaché, um genau zu sein.«

»Mensch, Leopold, das ist ja fabelhaft! Ich gratuliere dir. Unglaublich! Bald wirst du Unsere Majestät in London vertreten. Oder in Übersee. Aber, wie ich schon sagte, Exzellenz werde ich dich trotzdem nicht nennen.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Das habe ich auch nicht erwartet.« Er hielt ihr erneut die Schachtel hin, und Isabella nahm sich eine Praline mit roséfarbener Glasur. »Wie geht es deiner Familie?«

»Da hat sich kaum etwas geändert. Maximilian hat mich beim Abendmahl über alle Ereignisse rund um die Residenz beziehungsweise rund um die anderen Hochwohlgeborenen aufgeklärt. Und Großmutter hat sich darauf verlegt, mir die heiratsfähigen Junggesellen aufzuzählen.« Sie verdrehte die Augen.

»Das scheint heute ein beliebtes Thema beim Diner gewesen zu sein«, sagte Leopold. »Nur hat sich meine Frau Mama nicht ausschließlich mit dem Aufzählen der heiratsfähigen Damen zufriedengegeben. Sie hat mir den Stammbaum und die Anzahl der infrage kommenden Schwestern – so es welche gab – gleich mitgeliefert.«

Isabellas Magen zog sich zusammen. Bisher hatte Leopold die Bestrebungen seiner Mutter abgetan, lange würde er dies allerdings nicht durchhalten können. Vor allem, nachdem seine besten Freunde, Maximilian und Alexander, die Damen ihres Herzens gefunden hatten. Bei Leopold konnte und wollte sie sich nicht vorstellen, dass er sich eine Frau nahm. Sie war nicht bereit, ihren Herzensbruder zu teilen. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht an ihrem ersten gemeinsamen Abend nach so langer Zeit.

Leopold seufzte. »Fast hatte ich Angst, dass sie in der Bibliothek noch die Porträts der jungen Damen aufgereiht hat.«

»Porträts der Debütantinnen?« Isabellas Augen blitzten. »Das wäre doch amüsant. Oder noch besser: Stell dir vor, es würden zur Abwechslung einmal die Damen ihre Aufwartung machen. Euer Salon voll mit adligen Töchtern, die versuchen, dich mit ihrem Liebreiz und ihrem Witz zu beeindrucken. Und am Ende gehst du zu der Bücherwand, legst die Porträts mancher Damen um und sagst: ›Die Damen, deren Porträts jetzt noch stehen, dürfen beim nächsten Ball auf einen Tanz hoffen. Den anderen Damen: herzlichen Dank.‹«

Leopold hob die Augenbrauen und musterte sie kurz. »Du bist ziemlich grausam. Die armen Frauen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Momentan ist es doch nicht anders, nur dass es die Männer sind, die derzeit so behandelt werden, und dass keine Bilder umgelegt werden. Ich prophezeie dir, in ein paar Jahren wird das genau so ablaufen. Frauen werden um die Hand der Männer anhalten. Maria Theresia und Katharina von Russland waren nur der Anfang, bald werden viele Frauen auf den Thronen der Großmächte sitzen. Vielleicht werden es sogar Bürgerliche sein – wie in den Vereinigten Staaten.«

»John Quincy Adams ist ein Mann, nach allem, was man hört, und auch bei seinen Vorgängern bin ich mir dessen ziemlich sicher.«

»Findest du meine Vorstellung so abwegig?« Isabella sah ihn herausfordernd an.

»Nein, im Gegenteil«, beeilte er sich zu beteuern. »Ich finde sie großartig. Und es würde mir gefallen, wenn eine Frau sich vor die Versammlung in Frankfurt stellt und Metternich einmal die Leviten liest. Ich wundere mich nur ein wenig, dass du dich so für Politik interessierst.«

»Nicht mehr oder weniger als sonst.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber ich muss doch etwas zum Reden haben, wenn ich mich auf den Bällen nach einem geeigneten Ehemann umsehen soll.«

»Meine Mutter setzt bei meiner Schwester eher auf Kunst und Literatur.«

»So ist es meistens und dabei doch irgendwie schade, oder nicht? Ich will nicht auf diese Bereiche beschränkt werden. Und wenn du von Politik erzählst, höre ich dir gern zu.« Isabella griff wieder in die Pralinenschachtel. »Außerdem will ich mich abheben.«

»Das tust du ohnehin. Ich kenne keine andere Münchner Adelstochter, die Italien bereist hat. Nach allem, was ich gehört habe, sind die Junggesellen sehr gespannt auf dich. Schönheit und Bildung haben fast alle der Debütantinnen. Aber was Weltgewandtheit und Reiseerfahrung angeht, lässt du sie weit hinter dir.« Leopold sah sie an, und sie hatte das Gefühl, dass Stolz in seiner Stimme mitschwang. »Kein Mann in München wird eine andere ansehen, bevor er nicht mit dir getanzt und um deine Gunst geworben hat.«

»Da irrst du dich. Zuerst tanzen sie mit Julie von Hegenberg. Dem Stern aller Ballnächte.« Isabella verlieh ihrer Stimme einen ironischen Singsang. Großmutter hatte ihr alle Von-Hegenberg-Schwestern stets als leuchtendes Beispiel genannt, wenn sie sich – und das kam oft vor – über die Unzulänglichkeiten ihrer Enkelin beschwert hatte. Gerade Julie von Hegenberg! Dieses elfengleiche Manieren-und-Charme-Exempel, das sich nie einen Fehler leistete und immer das Richtige sagte und tat. Fürchterlich! Oder vielleicht eher bedauernswert?

»Ich denke, du irrst dich. Ich höre nämlich, was man so redet, und die jungen Männer sind sehr angetan, dass es in den Reihen der Debütantinnen eine Frau gibt, die Schönheit, Geist und Abenteuerlust vereint.« Er verzog spöttisch den Mund. »Bis auf Karl Theodor von Arendshorst vielleicht, der leidet unter Reisekrankheit und wird einen großen Bogen um dich machen. Aus Furcht, dass du am Reisen Geschmack gefunden hast.«

»Aber das ist ja ganz furchtbar.« Isabella riss die Augen weit auf und zog die Stirn in Falten.

»Ach, Arendshorst hat dein Interesse geweckt? Das hätte ich nicht gedacht.« Leopold zwinkerte belustigt.

»Nein, das ist es nicht. Es ist das Interesse der anderen, das mir Sorgen bereitet.« Sie zog die Unterlippe nach innen und kaute darauf herum. Viele interessierte Bewerber und am Ende noch einer, der womöglich als Ehemann infrage kam, waren das Letzte, was sie jetzt wollte. Wenn sie auf dieser Reise eine Gewissheit erlangt hatte, dann diese.

Leopold schmunzelte. »Meine Mutter sorgt sich, dass Amalie niemanden abbekommt, und wir auf die zweite Saison hoffen müssen. Sie hält die Arme beim Essen kurz und lässt sie Fingerhüte tragen, damit ihre Fingerkuppen unter den Handschuhen schmal aussehen. Du bist die einzige Debütantin in München, ach nein, im gesamten Deutschen Bund, vielleicht in ganz Europa, die Angst hat, womöglich zu viele Verehrer zu haben.«

»Ich bin auch die einzige Debütantin, die andere Ambitionen hat. Amalie ist doch seit Jahren in Friedi verliebt – und er in sie. Die Frage ist nur, wie oft er sich traut, sich in ihre Tanzkarte einzutragen.« Sie sah Leopold an. »Was ist eigentlich mit dir? Hast du ein Auge auf eine der hoffnungsvollen Debütantinnen geworfen?«

Er ließ den Kopf in den Nacken fallen. »Beide Augen ruhen momentan auf den Akten, die mir mein Vorgesetzter übertragen hat. Ich habe keine Zeit, mich um die schönen Münchnerinnen zu kümmern.«

»Wenn es nach deiner Mutter geht, sollst du dich auch nur um die schönen adligen Münchnerinnen kümmern. Kümmerst du dich etwa um andere?«

»Komtess von Seybach, wo führen Ihre Gedanken Sie nur immer hin?«

»Lenk nicht ab, was ist jetzt? Oder vielmehr, wer ist es?« Sie richtete sich auf und sah ihn forsch an. Dabei hoffte sie, dass er es bei seiner vehementen Ablehnung belassen würde.

»Ich habe gerade wirklich keine Zeit, mich damit zu beschäftigen«, sagte er, und Isabella merkte, wie sie sich innerlich entspannte. »In den nächsten Wochen geht es für mich entweder nach Wien oder nach Frankfurt«, fuhr er fort, »und ich muss nicht nur meine Akten kennen, sondern auch die der Donaumonarchie, damit sie uns bei den Verhandlungen nicht über den Tisch ziehen. Demnächst stehen Treffen mit England und Russland an. Irgendwann wird sich eine junge Dame finden, vor der es mir nicht graut, wenn ich nach Hause komme, und die mit mir das Fortbestehen derer von Löwenstein sichert. Und ob sich das diese Saison ergibt oder in der nächsten, wird sich zeigen.«

»Das ist alles? Das sind deine Ansprüche? Dass deine Zukünftige kleine von Löwensteins in die Welt setzt und der Spiegel nicht zerspringt, wenn sie vorbeigeht?«

Müsste sie diese Ankündigung nicht eigentlich frohgemut stimmen? Doch irgendwie tat sie das nicht, und Isabella konnte selbst nicht sagen, wieso. Schließlich würde ihr eine solche Frau den Rang als Vertraute nicht streitig machen.

»Es wäre von Vorteil, wenn sie etwas Humor hat und nicht nur über Literatur plaudern kann. Im Ernst, Isa, ich werde diese Frau kaum sehen. Ich werde im Dienste Seiner Majestät unterwegs sein, und mein Herz brennt für Bayern.«

»Ich kann das gar nicht hören! Weißt du was?« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich werde mich für dich umsehen. Wir beide vereinbaren ein geheimes Zeichen, dann werde ich mit den Damen parlieren, und wenn ich eine Kandidatin aufgespürt habe, gebe ich dir ein Signal, und du trägst dich in ihre Tanzkarte ein.«

»Das klingt nach einem fulminanten Plan.«

Isabella fand das auch. So ergab sich für sie wenigstens eine kleine Chance, dass sich Leopold nicht an eine der adligen Zuchtstuten binden würde, die seine Mutter für ihn auswählen würde. Zuchtstuten, so nannte ihre Gouvernante Nanette die Debütantinnen der Saison, und es wunderte sie, dass ihr gerade diese Bezeichnung durch den Kopf schwirrte. Am liebsten wäre es ihr, sie fände niemanden. Weder für sich noch für Leopold. Dann würden sie noch ewig hier auf dem Dach sitzen können – ungestört von irgendwelchen Ehegatten oder Ehegattinnen.

Leopold musterte sie, zwischen interessiert und amüsiert. »Noch einmal zu dir: Du hast mir immer noch nicht verraten, warum du dich diese Saison nicht binden willst.«

»Die ganze Welt ist eine Bühne, Leo, und all die Menschen sind nur Schauspieler.« Sie zwinkerte. »Und jetzt muss ich los, damit ich morgen ausgeschlafen bin, um die anständige Tochter zu spielen. Außerdem habe ich in den nächsten Tagen Termine, die ich nicht aufschieben kann – und den Tee mit deiner Schwester natürlich.«

»Und von mindestens einem deiner Termine hat deine Großmutter nicht den Hauch einer Ahnung, vermute ich.«

»Wie gut du mich kennst«, sagte Isabella mit einem verschmitzten Lächeln und drückte sich hoch.

Leopold griff nach ihrer Hand. »Sieh dich vor, du Abenteuerprinzessin.« Er zwinkerte ihr ermunternd zu, und trotzdem lag da Sorge in seinem Blick.

»Was ich vorhabe, ist weniger gefährlich, als sich in einem Korb an einen mit heißer Luft gefüllten Stoffsack zu hängen und abzuheben«, sagte sie mit geschürzten Lippen. »Aber genauso spannend. Außerdem habe ich nicht vor abzuheben und abzustürzen. Ich werde fliegen, und für meine Landung gedenke ich allerlei Vorkehrungen zu treffen, damit diese sanft erfolgt.«

»Stürze auf dem glatten Parkett der Münchner Gesellschaft können schmerzhaft sein. Vor allem, wenn man hoch oben auf einer Bühne steht und fällt.« Er hob die Augenbrauen und schien auf ihre Reaktion zu warten.

Isabella sah ihm in die Augen. Bisher hatte sie niemanden in ihre Pläne eingeweiht, auch gegenüber Leopold hatte sie nur Andeutungen darüber gemacht, dass sie in diesem Herbst tatsächlich bei einem Theater vorsprechen wollte. Doch vor ihm konnte sie nichts verbergen, er las in ihr wie in einem offenen Dramentext. Einen Moment lang genoss sie noch das Gefühl der Vertrautheit. Dann drückte sie seine Hand.

»Ich gedenke nicht zu stürzen oder zu fallen.« Sie begann ihren Abstieg. »Buona notte, mein lieber Bedenkenträger.«

»Ich weiß, dass du fliegen wirst, aber wenn doch etwas schiefgeht, fange ich dich auf«, hörte sie ihn hinter sich. Normalerweise hätte sie ihm etwas Freches entgegnet. Und doch fühlte es sich schön an, zu wissen, dass da jemand war, der für sie da sein wollte, sollten sich alle Vorkehrungen als unzureichend erweisen.

2

Isabella

Isabella hatte von klein auf gewusst, dass jede Saison ihre Favoriten hatte. Sobald die Debütantinnen die Tanzschuhe von den Füßen gestreift und sich notdürftig von der Ballnacht erholt hatten, erhofften sie den Besuch eines Herrn, den sie am Vorabend beeindruckt, womöglich sogar fasziniert hatten. Dass sie in den Genuss dieser Aufwartung kamen, war insbesondere den Münchner Schneidern und Kleidermacherinnen zu verdanken, denen vor Beginn der Ballsaison die Hauptrolle zukam. Musste man unterm Jahr Tage auf einen Termin warten, war es in den Wochen vor dem ersten Ball unmöglich, eine dieser Nähkünstlerinnen ins Haus zu bekommen, wenn man dies nicht Monate im Voraus vereinbart hatte.

Henriette von Seybach hatte selbstverständlich vorgesorgt und bereits vor Isabellas Abreise die Hoflieferantin Frau Wertmann bestellt, damit sich diese nicht nur um das Hochzeitskleid für Maximilians Braut Louisa, sondern auch um die Ballgarderobe der Enkelin kümmerte. Isabella vermochte sich nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn ein Achsbruch oder anderweitig Unvorhergesehenes ihre Ankunft verzögert hätte. Großmutter hätte vermutlich einen Stoßtrupp entsandt, der die Enkelin aus der havarierten Kutsche und vor die Schneiderin gezerrt hätte. Glücklicherweise hatte für solche Maßnahmen keine Notwendigkeit bestanden, und so fand sich Isabella am Donnerstagmorgen im Blauen Salon ein, bereit für ihren Termin mit der Kleidermacherin, die auch die Garderobe der Königin anfertigte.

Seide in Byzantinischblau, Jadegrün, Sienagelb, Stoffe mit Rosen-Iris-Muster, griechische Nadelspitze und Brüsseler Spitzen bedeckten den Kirschbaumtisch. Auf der Sitzbank lagen Rot- und Violetttöne sowie weitere Spitzenbänder drapiert. Ein Stoff, der sie an die Farbe reifer Äpfel erinnerte, hatte es Isabella besonders angetan. Und selbstverständlich der himmelblaue Stoff mit den Lilien. Der war wie für sie gemacht! Sie reckte den Kopf, um zu erkennen, welche Farben und Muster sie noch zur Auswahl hatte.

»Sie müssen schon stillhalten, wenn ich Ihre Maße nehme. Schließlich wollen Sie ja wohl nicht, dass die Ärmel unterschiedlich lang sind oder sich Ihr Kleid auf dem Rücken ausbeult.« Die Schneiderin ließ das Maßband sinken.

»Dann würden sich auf jeden Fall alle an mich erinnern.« Isabella lächelte schelmisch.

Louisa, die sich auf einem Sessel neben dem Fenster niedergelassen hatte, kicherte, und auch Nanette verkniff sich ein Lachen. Großmutter sah mahnend auf die drei Frauen. Louisa setzte sich ein wenig aufrechter hin. Nanettes Mundwinkel verzogen sich spöttisch.

Frau Wertmann legte ihr Maßband um Isabellas Brust, und sie zwang sich, still zu stehen. Ohne den Kopf zu bewegen, versuchte sie einen weiteren Blick auf die Stoffe zu erhaschen.

»Dieser Stoff hat etwas von Romeo und Julia.« Nanette hob das geblümte Tuch hoch. »Findest du nicht?«

»Ich habe an Ophelia gedacht, aber ich will ja nicht dem Wahnsinn verfallen. Und Gift nehmen oder mich erstechen will ich gewiss ebenfalls nicht.« Isabella besann sich darauf, dass die Schneiderin ihre Aufgabe erledigen musste, stellte sämtliche Zappeleien ein, drückte den Rücken durch und wartete regungslos ab, bis Frau Wertmann ihr Maßband an ihren Armen entlanggezogen hatte und die Angaben in ihr Notizbuch eintrug.

Die Schneiderin maß als Nächstes Isabellas Taille, stutzte und notierte den Wert.

»Die Taille müssen wir vor dem Ball naturgemäß etwas enger nähen, da die Debütantinnen vor Aufregung immer an Gewicht verlieren«, sagte die Hoflieferantin.

»Wollen Sie damit andeuten, dass meine Enkelin zu dick ist?« Großmutter sah von den Stoffen auf.

»Mitnichten. Um die Mittagszeit sind die Maße häufig etwas verzerrt.« Die Schneiderin lächelte. »Ihre Enkelin ist en beauté. Sie verfügt über die perfekte Silhouette. Schmale Taille, weibliche Rundungen und ebenmäßige Gesichtszüge.«

Frau Wertmann rollte ihr Maßband ein. »Darf ich Ihnen nun die Stoffe präsentieren?«

»Ich bitte darum.« Großmutter ließ sich auf einem der Sessel nieder. Ihr schwarzes Witwenkleid raschelte. »Und wenn wir mit der Auswahl für meine Enkelin fertig sind, benötigen wir auch für die Braut meines Enkels noch Ballgarderobe. Die Frau des künftigen Familienoberhaupts sollte jede Saison durch exquisite Kleidung von sich reden machen.«

Für dieses Ansinnen hätte Isabella ihre Großmutter am liebsten fest umarmt, im Moment hielt sie sich vorsichtshalber zurück.

»Großmutter, was soll ich wählen? Eher den jadegrünen oder vielleicht doch den saphirblauen? Was, denkst du, ist angemessener?« Vor einem halben Jahr hätte Isabella eine Frage wie diese nicht über die Lippen gebracht. Sie lächelte in sich hinein.

Ihre Großmutter besah sich die Stoffe. »Wir sollten beide nehmen. Und selbstverständlich die Lilien.«

Isabella nickte und musste unvermittelt schlucken. Alle anderen Debütantinnen erlebten diesen Moment mit ihrer Mutter. Sie schielte zu dem kleinen Bild ihrer verstorbenen Mama und biss sich auf die Lippen, als sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. So viele Jahre war sie schon nicht mehr da, und gerade hätte Isabella alles darum gegeben, dass sie mit ihr die Stoffe auswählte und sie auf die Bälle begleitete. Mama hatte Lilien so sehr geliebt, dass sie nun im Hausnamen verewigt waren. Auch in der Bodenvase unter dem Porträt Eloises von Seybach in der Eingangshalle blühten immer ihre Lieblingsblumen. Dass Isabellas Wahl auf den Lilienstoff fallen würde, stand außer Frage. Sie wandte sich kurz ab, wischte sich eine einzelne Träne aus dem Auge und atmete durch. Niemand sollte bemerken, wie ihr gerade zumute war.

»Es hat durchaus Vorteile, wenn man nicht dem gängigen Ideal entspricht«, meinte Isabella trocken. »Wenigstens könnte ich dann sicher sein, dass sich der junge Mann meines Charakters wegen für mich interessiert.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Henriette von Seybach sah von den Stoffen auf und zu ihrer Enkelin hin.

»Für junge Männer gilt Schönheit mehr als Esprit und Charme, und dies wird sich nie ändern«, sagte Nanette in einem Ton, den Isabella nicht recht zu deuten wusste, und befühlte den jadegrünen Seidenstoff. Die Sonne schien durchs Fenster herein. Nanette schob sich eine graue Strähne hinters Ohr.

»Da haben Sie wohl recht«, sagte die Schneiderin. »Solange die Töchter schön und anmutig sind, haben sie sich am Ende der Saison eine erstklassige Verlobung gesichert. Damit beruhige ich immer die Mütter der Damen, die keine hohe Mitgift zu erwarten haben. Schönheit zählt mehr als Reichtum und Stellung und ein tadelloser Stammbaum.«

Isabella hatte bemerkt, wie Louisa bei der Erwähnung der Herkunft zusammengezuckt war. Wie immer, wenn sie sich nicht wohlfühlte, betastete sie ihre blonden Haare, als wollte sie sichergehen, dass sich keine Strähne aus dem Dutt gelöst hatte, und zupfte an ihrem Kleid, das weich über ihre Figur fiel. Vor wenigen Monaten noch hatte sie als Dienstmädchen im Hause von Seybach gearbeitet, bevor sich Maximilian in sie verliebt und Vater und Großmutter vor ein Fait accompli gestellt hatte. Sie oder keine, hatte ihr Bruder gesagt, und letztendlich hatten sie seine Wahl akzeptiert. Isabella fand, dass sich Louisa in ihrer neuen Stellung großartig machte, allerdings wusste sie, dass ihre Schwägerin immer noch mit ihrer Rolle haderte. Bemerkungen wie die der Schneiderin trafen sie ins Mark.

»Einem Haushalt vorzustehen kann man lernen, sich zu lieben nicht«, sagte Isabella.

Die Schneiderin nahm ihr Notizbuch und überprüfte ihre Eintragungen. »Die Fürstin Windisch pflegt zu betonen, Liebe sei etwas für Stubenmädel.« Im Spiegel sah Isabella, wie sich Louisas Hand um die Armlehne schloss.

»Und für Erbgrafen«, entgegnete Isabella. »Ist das nicht vorzüglich? Mein Bruder ist seinem Herzen gefolgt.«

»Dafür bedarf es Courage«, meinte Frau Wertmann.

»Sie nennen es Courage, ich nenne es Intelligenz und Herzensbildung«, antwortete Isabella.

»Fortschritt«, fiel Nanette ein. »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wir haben einen künftigen Hausherrn, der diese Werte lebt.«

Isabella sah auf ihre Gouvernante und stellte sich vor, wie Nanette eine Trikolore schwenkend die Revolutionstruppen nach Versailles führte. Bestimmt hätte sie das getan, wenn sie damals schon gelebt hätte. Die Pariser wären schon allein deswegen mitgegangen, weil sich niemand getraut hätte, Nanette zu widersprechen. Obwohl sie jünger wirkte, wenn sie lachte, verliehen ihr die grauen Strähnen, die ihr Haar durchzogen, eine Autorität, die kein Mensch infrage stellte. Ausgenommen Henriette von Seybach.

Großmutters Stock donnerte auf das Parkett. »Ich muss doch sehr bitten! Wir haben Reputation und Stammbaum genug, um zwei Familien zu equipieren. Meine Schwiegerenkelin ist eine von Seybach, dafür bedarf es keiner weiteren Erklärung.« Damit wandte sie sich wieder den Stoffen zu.

Großmama verhielt sich sonst gegenüber Außenstehenden distanziert. So gerne man sich den Tratsch über andere Familien anhörte, man wollte doch selbst keinesfalls zum Gegenstand eines solchen werden.

Isabella musste lächeln. Sie rechnete es ihrer Großmutter hoch an, dass sie sich so für Louisa einsetzte. Ein Seitenblick verriet ihr, dass auch ihre Schwägerin die Worte der Matriarchin überrascht und dankbar aufnahm. Dennoch schien es Isabella geraten, ein anderes Gesprächsthema zu suchen.

»Wenn es weiter so regnet, wird meine Haut bis zum ersten Ball wieder ganz blass sein«, sagte sie.

Prompt betrachtete Frau Wertmann Isabellas Wangen und Nase.

Obwohl sie während ihrer Italienreise immer einen Sonnenschirm getragen und sich, sofern möglich, im Schatten aufgehalten hatte, hatte ihre Haut einen sanften Bronzeton angenommen. Sie wusste, dass das nicht als chic galt, aber sie mochte diese zarte Tönung. Henriette von Seybach hatte Isabellas Teint schon bei der Ankunft beanstandet. Dass die Schneiderin Ähnliches dachte, stand zu vermuten.

»Keine Angst«, sagte Isabella und lächelte, weil ihr das Ablenkungsmanöver geglückt war, »ich werde die blasseste Dame auf allen Bällen sein. Irgendeiner wird schon mit mir tanzen. Vielleicht einer, der neben meiner Taille und meinen Zügen auch bemerkt, dass ich Montgelas von Metternich unterscheiden kann und nicht nur über Kunst zu parlieren weiß.«

»Sie lassen sich wirklich nicht leicht entmutigen«, sagte die Schneiderin. »Den anderen Damen muss man immer raten, dass es besser ist, mit einem der weniger interessanten Herren zu tanzen, als die Wanddekoration zu geben. Wer zum ersten Ball nicht oft auf der Tanzfläche erscheint, wird dies auch auf den folgenden Bällen nicht tun.«

»Also, ich warte lieber eine Saison ab, bevor ich mir die zweite Wahl abhole.« Isabella stemmte die Arme in die Hüften und ließ zu, dass Louisa ihr einen eisvogelblauen Stoff neben das Gesicht hielt, um zu prüfen, ob ihr die Farbe stand.

Großmutter blickte verwirrt auf Isabella, und diese sah das mit Genugtuung, denn genau diese Reaktion hatte sie sich erhofft. Nun konnte sie ihre Haltung erklären und damit einen weiteren Teil ihres Plans anstoßen. »Schließlich soll ich mein ganzes Leben mit diesem Mann verbringen und meine Interessen nach denen meines Ehemanns richten. Was ist da schon eine Saison, die ins Land geht?« Sie beobachtete, wie Großmutter auf diese Aussage reagierte, und als Henriette von Seybach nicht sofort protestierte, fuhr sie fort. »Lieber einen Mann aus dem Briefadel, mit dem ich lachen kann, als einen Fürsten, der mich zu Tode langweilt. Ich muss mir schon genau ansehen, wer mir da ein Leben lang jeden Abend gegenübersitzt.«

»Vor allem wird er dir nicht nur gegenübersitzen«, flüsterte Louisa neben Isabellas Ohr, und die beiden Frauen kicherten. Nanette, die hinter dem Rücken der Großmutter stand, schmunzelte.

Auf Großmutters Stirn erschien eine steile Falte, die bestimmt von der Erwähnung des Briefadels herrührte.

»Es ist so erfrischend, wie fröhlich und entspannt es in Ihrem Hause zugeht«, sagte Frau Wertmann. »Viele Familien, damit meine ich insbesondere die Mütter, machen sich Gedanken, dass dies eine schwierige Saison wird.«

»Wie meinen Sie?« Großmutter legte die Spitze ab und drehte sich herum.

»Nun, in den meisten Familien sind es die nachgeborenen Söhne, die nach einer Partie suchen. Erben sind selten. Alles schöne Gesichter, aber kaum Geld für einen angemessenen Lebensstil.« Die Schneiderin überprüfte, ob sie alle Maße notiert hatte.

»Meine Enkelin ist eine glänzende Partie, selbst wenn es nur einen infrage kommenden Mann geben sollte.« Großmutter richtete sich auf. Gleichwohl konnte Isabella wetten, dass sie – die Behauptung der Schneiderin überprüfend – in Gedanken alle entsprechenden Münchner Familien durchging.

»Da scheint ganz München d’accord zu gehen«, sagte Frau Wertmann. »Komtess Isabella ist ein weiterer Grund, weshalb die anderen Mütter bangen. Zumal sie durch ihre Reise als Amazone gilt, die viele Männer nur zu gern an ihrer Seite sähen.«

Isabella konnte der Großmutter ansehen, dass »Amazone«, so positiv der Begriff in der Gesellschaft besetzt war, nicht das Attribut war, das sie in Zusammenhang mit ihrer Enkelin hören wollte. Auch Isabellas Begeisterung darüber, als begehrteste Debütantin gehandelt zu werden, hielt sich in Grenzen. Das lief ihrem Plan zuwider.

»Oh, die Herren werden sehen, dass ich eine eigene Meinung vertrete und es gewohnt bin, ein freies Wort zu führen. Ansonsten bin ich erzogen, meine Aufgaben als Hausherrin angemessen auszufüllen. Meine Großmutter hat mich meinen Freiheitsgeist ausleben lassen. Nun bin ich bereit für die Obliegenheiten, die mir durch mein Geschlecht zugeteilt wurden.«

Nanette hob die Augenbrauen und starrte Isabella argwöhnisch an, und Isabella quittierte diesen Blick mit einem Lächeln. Etwas im Gesicht der Gouvernante veränderte sich, und Isabella war sich sicher, dass sich diese ihr Gehirn nach dem Grund für die ungewohnten Reden ihrer Schutzbefohlenen zermarterte. Lange würde sie das nicht mehr tun müssen, denn Nanettes Hilfe war für das Gelingen ihres Theatervorhabens unabdingbar. Und sie wusste, dass sie in ihrer Gouvernante jemanden hatte, der beides konnte: unterstützen und schweigen.

Bei Großmutter schienen die Worte die angestrebte Wirkung zu zeigen. Sie schien tatsächlich zu glauben, dass die Reise ihre Enkeltochter geläutert, gezähmt und auf den nächsten Schritt im Leben vorbereitet hatte.

»Ich gehe davon aus, dass Sie diese Farben und Stoffe ausschließlich für uns verwenden?« Die Strenge in der Stimme ihrer Großmutter half Isabella, sich zusammenzunehmen.

»Selbstverständlich«, erwiderte die Schneiderin. »Schnitt und Stoff – alles soll einzigartig sein.«

»Haben Sie den auch in Violett?«, fragte Isabella und zeigte auf einen gestreiften Stoff.

»In der Tat. Allerdings hat diesen bereits Ihre Nachbarin, die Komtess von Löwenstein, für sich reserviert.«

»Ach, für Amalie verzichte ich gerne«, sagte Isabella. »Die Arme wird von ihrer Mutter ohnehin schon so getriezt. Sie muss sich mit dem Essen disziplinieren, muss im Korsett schlafen und enge Fingerhüte tragen, damit ihre Finger schmal aussehen.«

»Hattest du schon Gelegenheit, mit ihr zu sprechen? Ich denke, ihr seht euch erst morgen zum Tee?« Großmutter entging nichts.

»Das mit dem Korsett musste sie schon vor meiner Abreise tun«, entgegnete Isabella schnell. Nach der Zeit mit Tante Marie, in der sie frei hatte drauflosreden können, musste sie sich erst wieder daran gewöhnen, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. »Ich nehme an, dass sich das so kurz vor Beginn der Saison nicht geändert hat. Zudem denke ich, dass Amalie als eine der Ersten einen grandiosen Ehemann abbekommen wird.«

Sie sah ihre Großmutter unschuldig an, deutete auf einen weißen Stoff mit Röschen und bat die Schneiderin, diesen auszurollen.

»Morgen Nachmittag muss ich Amalie unbedingt fragen, welche Muster sie sich ausgewählt hat.« Isabella strahlte Louisa und ihre Gouvernante an. Nanette schüttelte den Kopf, aber ihre Mundwinkel hoben sich zu einem angedeuteten Lächeln.

»Oh, die Gräfin hat keine Kosten gescheut, um ihre Tochter in einem vorteilhaften Licht zu präsentierten«, warf die Schneiderin ein, und Isabella störte es, dass die ganze Welt annahm, Amalie bräuchte umfassende Unterstützung bei der Suche nach einem Ehemann.

»Wenigstens bei ihrem Sohn muss sich Gräfin Löwenstein keine Sorgen machen«, fuhr Frau Wertmann fort. »Sie hat mir anvertraut, dass er Julie von Hegenberg den Hof macht.«

»Eine wahrlich glänzende Partie«, sagte Henriette von Seybach. »Und noch vor dem ersten Ball. Sehr vorausschauend.«

Isabella drehte sich der Magen um. Und das nicht nur wegen der Bemerkung ihrer Großmutter. Von allen Debütantinnen konnte Leopold unmöglich die von Hegenberg ins Auge fassen! Die passte gar nicht zu ihm!

Die Schneiderin lächelte. »Natürlich ist das alles noch kein sujet de conversation. Aber man geht davon aus, dass er schon bald bei ihren Eltern vorsprechen wird.«

»Julie von Hegenberg ist doch noch viel zu jung zum Heiraten«, warf Isabella ein, obwohl sie es besser wusste.

»Oh nein, sie ist nur ein Jahr jünger als Sie, Komtess. Die weiße Seide mit den Röschen?« Großmutter nickte, und die Schneiderin hielt die Stoffwahl in ihrem Buch fest.

Isabella war nach wie vor in Gedanken bei Leopold und Julie. Warum hatte er ihr vorgestern Abend nichts von ihr gesagt? Oder war eine Vermählung mit Julie von Hegenberg auf dem Mist seiner Mutter gewachsen, und er wusste noch gar nichts von seinem Glück? Trotz ihres Unmuts musste Isabella fast lachen. Tante Maries Kutscher hatte diesen Ausdruck häufig verwendet, und selbstverständlich durfte sie so etwas hier nicht aussprechen, aber wie sollte man solch ein Ärgernis sonst benennen? Als ob Leopold so eine Puppe heiraten wollte. Isabella nahm sich vor, ihn bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen.

Eine Stunde später hatte auch Louisa zwei neue Kleider in Auftrag gegeben, und Isabella würde bald über eine stattliche Anzahl an neuen Ballkleidern samt Fächern und Mäntel verfügen, für die sie in Kürze einen Anprobetermin haben würde.

Kaum war die Kleidermacherin gegangen, ließ sich Großmutter ihr schwarzes Büchlein bringen, in dem sie die Namen der für Isabella infrage kommenden Junggesellen notiert hatte, und zog sich mit dem Gothaischen Genealogischen Hof-Kalender zurück, um zu überprüfen, ob ihr ein Mann entgangen war, der für ihre Enkelin eine angemessene Partie darstellte. Louisa suchte Maximilian auf, wahrscheinlich, um ihm von der Wandlung seiner Großmutter zu berichten, und Nanette kündigte an, noch Erledigungen in der Stadt zu haben.

Isabella begab sich mit ihrer Iphigenie-Ausgabe in den Garten. Eigentlich hatte sie in ihrem Zimmer lernen wollen. Aber sie hoffte, dass Leopold draußen vorbeireiten würde, damit sie ihn nach den Heiratsplänen seiner Mutter fragen konnte. Leider passierten weder Amalie noch Leopold das Tor, das zum Englischen Garten hinausging, und so musste sie irgendwann mit sicherer Textkenntnis, aber ohne Informationen über das nachbarliche Liebesleben wieder zurück ins Haus.

3

Isabella

Isabella saß auf ihrer Ottomane mit dem roséfarbenen Bezug, vor sich eine Ausgabe von Goethes Iphigenie auf Tauris und Shakespeares Viel Lärm um nichts. Zweimal war sie die ausgewählten Szenen bereits durchgegangen, kannte die Worte längst in- und auswendig. Trotzdem wollte sie nun Durchlauf Nummer drei beginnen. Üben, üben, üben. Fleiß, Fleiß, Fleiß. Nur, wer exzellent vorbereitet ist, kann unbefangen spielen. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Isabella nahm einen Würfel Fleischwurst vom Teller und warf ihn Antoinette zu, um gleich darauf einen an Napoleon zu verfüttern. Erwartungsvoll bauten sich die Hunde vor der Sitzgelegenheit auf und wedelten mit den Schwänzen.

Es klopfte. Isabella schob die Dramenbände unter das Kissen und rief »Herein!«

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ihre Zofe Finni schob diese mithilfe ihres verlängerten Rückens auf, drehte sich und trat mit einem Wäschekorb beladen ins Zimmer.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe.«

»Das macht doch nichts.« Isabella lächelte. »Eigentlich sollte ich zu dieser Zeit in der Bibliothek sein, damit ihr ungestört eurer Arbeit nachgehen könnt.«

»Ich kann später wiederkommen, Komtess«, meinte Finni und wandte sich zum Gehen.

»Ach nein, bleib doch. Dann können wir endlich ein wenig reden. Die letzten Tage sind wir gar nicht dazu gekommen.«

Finni stellte den Korb auf einen Hocker, knickste und öffnete die Türen des weißen Schrankes, in dem sich Isabellas Kleidung für den Alltag befand. Seltsam! Vor ihrer Reise hatten Finni und sie das Ankleiden und Frisieren immer für einen ausgiebigen Plausch genutzt. Schrankeinräumen eignete sich für diesen genauso, fand Isabella. Normalerweise sprudelte ihre Kammerzofe vor Neuigkeiten, und ihr Mundwerk wollte nicht stillstehen, bis sie nicht alle tagesaktuellen Ereignisse aus der Dienstbotenetage erzählt hatte. Isabella hatte sich dann mit dem Neuesten revanchiert, das sie von ihren Freundinnen am Nachmittag erfahren hatte, beziehungsweise mit dem, was sie selbst erlebt hatte. Eigentlich müsste es heißen, mit ihrer Freundin Amalie und den anderen Komtessen. Wenn sie es recht bedachte, war Amalie wirklich die Einzige aus diesem Kreis, die sie ihre Freundin nennen konnte. Wahrscheinlich, weil sie Leopold so ähnlich war. Selbstverständlich war der ihr bester Freund. Aber das war wieder etwas, was man heimlich handhaben musste. Wie so vieles in dieser Gesellschaft, in der die Männer alles Mögliche und Unmögliche durften und den Frauen das gleiche Tun als unschicklich ausgelegt wurde. Oh, wie sie diese Regeln verabscheute!

Isabella besann sich darauf, dass Finni immer noch im Zimmer war. Sie legte den Kopf zur Seite und beobachtete ihre Zofe, wie sie die Hemdchen einsortierte und dabei Kleidungsstücke ordnete und umschichtete. Sie tat das »mit Nachdruck«, wie es Leopold formulieren würde. Man könnte auch einfach sagen, Finni war stinksauer. Anderweitig vermochte Isabella sich nicht zu erklären, weshalb sie die Wäschestapel mit diesem grantig-versteinerten Gesichtsausdruck herausnahm, die frischen Sachen darauf drückte und diese wieder auf das Bord zurückknallte. Nun machte Wäsche beim In-den-Schrank-Legen zwar kein Geräusch. Würde diese Tätigkeit mit einem solchen einhergehen, man hätte das Einräumen der Kleidungsstücke durch das halbe Haus gehört, dessen war sich Isabella sicher.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie, obwohl sie sah, dass dies eindeutig nicht der Fall war.

»Aber selbstverständlich!« Finni drehte sich nicht um und fuhr fort, die Wäsche zu traktieren.

Diese Antwort machte Isabella endgültig klar, dass etwas im Argen lag und dass sie wohl die Schuld daran trug. Wenn es Hader zwischen den Dienstboten gegeben hätte oder Finni von Frau Haberl zurechtgewiesen worden wäre, hätte sich ihre Kammerzofe ihr umgehend anvertraut. Eine Antwort, die derart kurz daherkam, war Isabella nicht gewöhnt, und sie mochte Finni so gerne, dass sie es nur schwer ertragen konnte, wenn diese ihr gram war.

»Könnten wir es bitte aus der Welt schaffen?«, fragte sie unumwunden.

»Ich wüsste nicht, was, Komtess.«

Strümpfe landeten unsanft in einer Schublade. Die Zofe atmete tief durch und machte sich daran, die Kleidung ordentlich einzuräumen, damit der Zustand der Lade einer Kontrolle durch die Hausdame standhalten würde.

»Irgendetwas hast du.« Als Finni nicht reagierte, fuhr sie fort. »Ich habe aber keine Ahnung, was ich getan haben könnte, deswegen musst du es mir bitte sagen, damit wir das aus der Welt räumen können.«

Finni schnaufte. »Sie fallen auf. Sie erregen Aufmerksamkeit. Man redet über Sie.«

Falten bildeten sich auf Isabellas Stirn. Das war das Letzte, was sie erwartet hätte. Sie tat doch ihr Bestes, nicht aufzufallen, niemandes Aufmerksamkeit und noch weniger Argwohn zu erregen. Was hatte sie falsch gemacht? Und vor allem, wer sprach darüber?

»Wie meinst du das?«

»Seit Sie wiedergekommen sind, führen Sie etwas im Schilde, und Sie stellen sich dabei – verzeihen Sie mir – nicht gerade geschickt an.«

Panik erfasste Isabella. Hatte sie jemand aufs Dach klettern sehen? O Gott! Hatte sie dieser Jemand bereits bei Großmutter angeschwärzt?

Finni wirbelte herum. In ihrem Gesicht spiegelten sich Wut, Trauer oder Enttäuschung. Vielleicht auch alles zusammen. Isabella war sich nicht sicher.

»Warum vertrauen Sie mir nicht mehr?«

Verdutzt sah Isabella ihrer Zofe in die Augen. Daher wehte also der Wind. »Aber Finni! Das ist doch völliger Humbug. Wie kommst du denn auf so etwas? Ich vertraue dir mehr als jedem anderen, der in diesem Haus beschäftigt ist, das weißt du.« Mit Ausnahme von Nanette vielleicht, aber sie sah Nanette mehr als Familienmitglied und nicht so sehr als jemanden, der dafür entlohnt wurde, Dienst im Lilienpalais zu tun.

Isabella atmete durch. Sie musste die Sache mit Finni hinbiegen und herausfinden, wer sie wo gesehen hatte. Und sie musste in Zukunft noch unauffälliger agieren. Unter keinen Umständen wollte sie ihre Dachtreffen mit Leopold aufgeben.

Während sie noch grübelte, war bei Finni offenbar der Punkt erreicht, an dem sie sich nicht mehr zurückhalten konnte. »Seit Tagen schleichen Sie im Dienstbotentrakt herum. Das bleibt nicht unbemerkt. Was auch immer Sie da unten wollen, ich könnte es Ihnen bringen oder es für Sie herausfinden, und zwar ohne, dass jemand Verdacht schöpft. Wieso betrauen Sie mich nicht mit dieser Aufgabe?« Finni sah Isabella an.

»Es geht also nicht um das Dach?« Die Erleichterung ließ Isabella gegen das Rückenkissen sinken.

»Welches Dach?« Finni kniff die Augen zusammen.

»Das Kutschendach … da bin ich neulich … ach, nicht so wichtig.« Isabella räusperte sich. »Wie kommst du darauf, dass ich dir nicht vertraue?«

Finnis Hände zitterten. »Weil Sie mich hiergelassen haben, anstatt mich mitzunehmen. Auf Ihre Fahrt.«