Eine fast perfekte Debütantin - Hannah Conrad - E-Book
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Eine fast perfekte Debütantin E-Book

Hannah Conrad

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Beschreibung

Große Liebe und große Skandale liegen nah beieinander …

München, 1827: Johanna von Seybach zieht aus Königsberg ins prachtvolle Lilienpalais zur Familie ihres Onkels. Eine aufregende Ballsaison erwartet sie! Schon bevor sie ihr offizielles Debüt gibt, scheint ihr ein Antrag von Friedrich Veidt, dem begehrtesten Junggesellen, sicher zu sein. Doch dann lässt sie sich zu einem Moment der Leidenschaft hinreißen, und mit einem Mal ist ihr guter Ruf zerstört. Friedrich lässt sie fallen, und Johannas Herz ist gebrochen. Wer wird sie nach diesem Skandal noch heiraten wollen? Da trifft sie auf einem rauschenden Maskenball auf Alexander von Reuss. Noch an diesem Abend kommen sie sich näher als erlaubt, erleben sinnliche Augenblicke voller Hingabe. Doch Johannas Skandal schlägt so hohe Wellen, dass vielleicht nicht einmal die wahre Liebe sie noch retten kann.

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Seitenzahl: 414

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DASBUCH

München, 1827: Johanna von Seybach zieht aus Königsberg ins prachtvolle Lilienpalais zur Familie ihres Onkels. Noch bevor sie ihr offizielles Debüt in der Gesellschaft gibt, scheint ihr ein Antrag von Friedrich Veidt, dem begehrtesten Junggesellen, sicher zu sein. Doch dann lässt sie sich zu einem Moment der Leidenschaft hinreißen, und mit einem Mal ist ihr guter Ruf zerstört. Auf einem rauschenden Maskenball begegnet sie einem Mann mit strahlenden Augen, den sie zu erkennen meint. Heimlich trifft sie sich immer wieder mit ihm, und sie erleben verbotene Momente voller Hingabe. Doch Johannas Skandal schlägt so hohe Wellen, dass vielleicht nicht einmal die wahre Liebe sie retten kann.

DIEAUTORIN

Hannah Conrad hat bereits viele erfolgreiche Romane in verschiedenen Genres veröffentlicht. Sie studierte Germanistik und Kulturjournalismus, wurde mit dem DeLiA-Literaturpreis sowie dem Selfpublisher-Preis ausgezeichnet und hat einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen. Ihre Reisen nutzt sie gerne zur Recherche zu ihren Romanen, und sie ist in mehreren Städten Deutschlands zu Hause. Hinter Hannah Conrad verbergen sich vier Autorinnen: Laila El Omari, Frieda Bergmann, Monika Pfundmeier und Persephone Haasis.

HANNAH

CONRAD

EINEFAST

PERFEKTE

DEBÜTANTIN

Das Lilienpalais

Band 1

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 11/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28908-9V002

www.heyne.de

München

Zum Ball lädt ein

Das Haus von Seybach

Henriette von Seybach;

Gräfin, verwitwet, Mutter von Carl v. Seybach

Carl von Seybach;

Graf, Witwer, Obersthofmeister & Berater des Königs

Eloise von Seybach;

Carls an Schwindsucht verstorbene Ehefrau

Maximilian von Seybach;

Erbgraf, ältester Sohn von Carl, Arzt

Isabella von Seybach;

jüngste Tochter von Carl, »Nesthäkchen«

Johanna von Seybach;

Carls Nichte aus Königsberg (Preußen)

Nanette;

Gouvernante des Hauses von Seybach

Auf die Tanzkarte möchten

Alexander von Reuss;

Erbgraf des Hauses von Reuss

Leopold von Löwenstein;

angehender Diplomat und Freund seit Kindertagen

Ferdinand v. Rückl;

Adliger, dessen Worte Stadt und Königreich bewegen*

Sophie de Neuville;

Erbin mit eigenwilligen Plänen*

Julie von Hegenberg;

Adlige mit vielfältigen Interessen

Richard von Cranichsberg zu Treutheim;

Adliger mit märchenhaftem Vermögen*

Louisa;

Dienstbotin im Haus von Seybach

Unverzichtbar im Hintergrund sind

Afra Haberl;

Hausdame, Vorsteherin des weiblichen Gesindes

Finni;

Kammerzofe

Albrecht;

Kammerdiener*

Matthias;

Lakai*

Joseph (Sepp);

Hausvorstand

Berti;

Köchin

Xaver;

Kutscher

Anna, Cilli & Bärbel;

Stubenmädchen

Gretel & Annelies;

Küchenhilfen*

Georg (Schorsch);

Stalljunge

Anton;

Gärtner*

Kätt;

neu in München, Hausmädchen*

In besonderen Rollen

5 Hunde: Napoleon, Antoinette, Ludovika, Henry, Caesar*

Mit * markierte Personen tauchen in den anderen Bänden auf.

»Wahre Größe kann im Schutz einer Maske wachsen, aber sich nicht für immer dahinter verbergen.«

NANETTE

MÜNCHEN, JULI 1827 …

1

Johanna

»Halte dich gerade, Mädchen, um des lieben Himmels willen!« Henriette von Seybach stieß den Stock auf den Boden, und Johanna drückte unweigerlich den Rücken durch. Ihre Großmutter ging um sie herum, langsam, als begutachtete sie ein Pferd, machte dazu ein paar recht passende Schnalzlaute und stieß den Stock schließlich ein weiteres Mal so kräftig auf den Marmorboden, dass Johanna zusammenzuckte.

»Gräfin von Seybach, lassen Sie sie doch erst einmal ankommen«, sagte einer der beiden dunkelhaarigen jungen Männer, die gerade in die Eingangshalle traten.

»Eben«, kam es von seinem Begleiter. »Sie ist ja kaum zur Tür herein.«

»An deinen Cousin Maximilian erinnerst du dich ja gewiss noch«, sagte die Großmutter und deutete auf den, der zuletzt gesprochen hatte. »Und der junge Herr neben ihm, der gerade gehen möchte, ist der Graf von Reuss. Ich frage mich, ob er hier wohl demnächst als Dauerkonversationspartner ein Zimmer im Lilienpalais beziehen möchte. Fehlt nur noch der Dritte im Bunde, der junge Herr von Löwenstein, aber ihn halten wohl die diplomatischen Angelegenheiten des Landes beschäftigt.«

Johanna begegnete erst dem Blick ihres Cousins, dann dem seines Freundes – hielt diesen einen Moment länger fest, als statthaft war. In den braunen Augen des Grafen von Reuss meinte sie einen gewissen Schalk zu erkennen, und als er lächelte, konnte sie nicht anders, als es zu erwidern. Er war attraktiv und wirkte auf eine weltgewandte Art elegant in dem dunklen Rock, der ihm wie auf den Leib geschneidert saß. Alexander von Reuss blieb am Fuß der Treppe stehen, sein Blick hielt immer noch den Johannas, und kurz war es ihr, als wollte der junge Graf etwas sagen, als die resolute Stimme der Großmutter erneut erklang und der Moment erwartungsvoller Stille zerstob.

»Geh und sag deinem Vater Bescheid, dass deine Cousine angekommen ist«, befahl Henriette von Seybach, an Maximilian gewandt. Dabei schlug sie die Stockspitze gegen den Saum von Johannas Kleid, als müsste sie verdeutlichen, wer gemeint war.

Maximilian verdrehte die Augen, sagte aber nichts, sondern verließ kopfschüttelnd die feudale Eingangshalle.

»Und du!«, dieses Mal verfehlte die Stockspitze Johannas Fuß nur knapp, »Haltung, habe ich gesagt! Starren ist zutiefst unhöflich.«

Folgsam senkte Johanna die Lider und sah zu Boden, hörte, wie sich Maximilians Schritte sowie die des jungen Grafen von Reuss entfernten. Sie wollte wieder fort, wollte nach Hause, nach Königsberg, wollte es so unbedingt, dass sie gar für einen Moment die Augen schloss, als bedürfte es nur eines Blinzelns, und sie stünde wieder in ihrem Zimmer, inmitten von Wärme und Vertrautheit. Dann verflog dieser flüchtige Moment, und sie war wieder hier, in jener marmorglänzenden Halle, die Entree und Wintergarten zugleich war. Vorsichtig, stets in Erwartung einer weiteren Ermahnung, hob Johanna den Blick, ließ ihn über üppig aus Kübeln wachsendes Grün wandern, über ein mit roter, golddurchwirkter Seide bezogenes Kanapee, über die schön geschwungene Treppe, die zu einer Galerie in der Beletage und einer weiteren im zweiten Stockwerk führte. Johanna hob den Blick noch weiter und sah in die prachtvolle Glaskuppel, die durch mehrfaches Brechen aus dem einfallenden Sonnenlicht eine funkelnde Kaskade machte.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, hörte sie eine Männerstimme sagen und wandte den Kopf. Ihren Onkel Carl hatte sie seit mehreren Jahren nicht gesehen, verändert hatte er sich indes nicht. Schlank, hochgewachsen, aristokratische Züge, braune Augen. Nur Haar und Schnurrbart waren mittlerweile vollständig ergraut. Er betrachtete sie nachdenklich, schüttelte dann leicht den Kopf und sagte schließlich: »Was mache ich jetzt mit dir, hm?«

Da Johanna darauf schlechterdings keine Antwort geben konnte, schwieg sie.

»Ich habe ja gleich gesagt«, ereiferte sich ihre Großmutter, »dass Constantin diese Frau niemals hätte heiraten dürfen.« Constantin war Johannas Vater, diese Frau ihre Mutter. »So ein Irrsinn. Was hat er bei den Missionaren in Afrika zu suchen? Das war doch niemals seine Idee.«

»Nun ja«, wagte Johanna einzuwenden, »streng genommen …«

Der Knall, mit dem der Stock auf den Boden gestoßen wurde, brachte sie zum Schweigen. »Sprich erst, wenn du angesprochen wirst!«

Wie bitte? War sie hier auf einem Kasernenhof? Ihre Eltern hatten ihr nicht einmal im Kleinkindalter den Mund verboten.

»Aber du«, die Großmutter stieß den Finger in Carls Richtung, »hast mir ja in den Ohren gelegen, den Jungen heiraten zu lassen.«

»Der Junge«, gab Carl gereizt zurück, »hatte da bereits die dreißig überschritten, und nach all seinen Eskapaden können wir froh sein, dass er überhaupt geheiratet hat.« Im selben Moment wurde ihm offenbar bewusst, dass dergleichen Anspielungen über die Eltern sich in Gegenwart der – unverheirateten! – Tochter keineswegs gehörten, und er räusperte sich so laut, als könne er damit das Gesagte im Nachhinein übertönen.

Ehe Henriette von Seybach antworten konnte, waren eilige Schritte zu hören. »Antoinette! Bei Fuß.«

Die Angesprochene – ein Hund, der eher an ein flauschiges weißes Fellknäuel erinnerte als an französische Eleganz – sah diesen Befehl offenkundig eher als Empfehlung an, denn sie flitzte um die Ecke, schlitterte auf dem glatten Marmor und landete in Henriette von Seybachs ausladenden dunklen Röcken. Glücklicherweise war der Hund zu flink für den Stock, mit dem die alte Frau entrüstet nach ihm schlug, und im nächsten Moment kam auch schon eine junge Frau in das Entree gelaufen, Johannas Cousine Isabella, das achtzehnjährige Nesthäkchen der Familie.

»Antoinette! Großmutter, tu ihr nicht weh!« Sie kniete sich hin und fischte unter dem Kleid der Großmutter nach dem Hund. Johanna spürte, wie ein heftiger Lachreiz in ihr aufstieg, und biss sich auf die Unterlippe, um der Situation mit dem nötigen Ernst zu begegnen.

Eine Frau betrat die Eingangshalle, erfasste die Situation mit einem Blick. »Isabella! Was ist das für ein Benehmen? Sofort stehst du auf.«

Johannas Cousine kam auf die Beine und versuchte, den Hund zu halten, der sich in ihren Armen wand.

»Schaff diese Promenadenmischung aus dem Haus!«, schimpfte Henriette von Seybach, während sie mühevoll ihre Röcke und Unterröcke ordnete. »Und dann dieser französische Name! Du bist wohl toll!«

Johannas Gesicht war ganz heiß vor Anstrengung, nicht zu lachen. Sie sah die Frau an, die nun vor Isabella stand und sie prüfend musterte.

»Der Hund bleibt«, mischte sich Carl ein. »Darüber haben wir gesprochen. Wenn es Isabella gefällt, Hunde zu halten, dann mag sie das tun. Das schult das Gefühl für Erziehung und Verantwortung, nicht wahr, mein Liebes?« Sein Blick, der vorher noch so unschlüssig auf Johanna geruht hatte, wurde ganz weich vor väterlicher Zuneigung, als er nun seine Tochter ansah.

»Vor allem Erziehung«, murmelte Henriette von Seybach. Dann straffte sie sich. »Nanette!« Die Fremde blickte auf, und ihr Blick traf den Johannas. »Meine Enkelin Johanna von Seybach. Ich nehme an, die Räumlichkeiten sind vorbereitet?«

»Ja, gnädige Frau.« Ein subtiler, kaum merklicher Spott lag in den Worten, und Johanna fragte sich, ob nur sie ihn wahrnahm. Die Großmutter würde so ein Verhalten gewiss nicht dulden.

»Johanna, das ist Nanette, die Gouvernante.«

Mit einer leichten Neigung des Kopfes begrüßte sie die Frau, während sie überlegte, woher – um alles in der Welt! – ihr dieses Gesicht bekannt vorkam. Die Gouvernante mochte um die vierzig sein und sprach mit einem leichten Münchner Zungenschlag. Johanna forschte in Nanettes Zügen nach einer Spur des Wiedererkennens. Sie waren sich doch schon begegnet, nicht wahr? Die stumme Frage löste keinen Widerhall im Gesicht der Frau aus.

»Wo ist Maximilian?«, fragte die Großmutter an Carl gewandt. »Er sollte dir doch nur eben Bescheid geben.«

Carl sah sich um, und Johanna fragte sich, ob dieser Ausdruck von Ratlosigkeit womöglich gar nicht ihr geschuldet gewesen war, sondern seine Miene fortwährend prägte. Sein Blick wanderte zur Treppe, dann zur Kommode und blieb daran hängen, als stünde zu befürchten, Maximilian könne jeden Moment wie ein Schachtelteufel daraus hervorspringen.

»Dieser Kerl!«, stieß Henriette von Seybach hervor. »Schäkert wohl wieder mit den Dienstmädchen.«

»Aber Großmutter!« Isabella riss die blauen Augen in einem so gekonnt schockierten Ausdruck auf, als stünde sie auf einer Theaterbühne.

»Oh, entschuldige bitte, mein Kind.« Die Großmutter wandte sich an Nanette und winkte ungeduldig zur Treppe. Die Gouvernante sagte nichts, hob nur die Brauen, und es wirkte wie ein stummes Kräftemessen. »Bringen Sie meine Enkelin – diese hier«, Henriette von Seybach stieß den Stock in Johannas Richtung, als könne ein Zweifel daran bestehen, welche der beiden jungen Frauen gemeint war, »auf ihr Zimmer. Und machen Sie sie mit den Tagesabläufen vertraut.« Henriette von Seybach nickte Johanna noch einmal knapp zu, dann verließ sie die Halle.

Einen Moment lang sah Nanette ihr nach. Schließlich wandte sie sich ab, und ihr Blick begegnete dem Carls, der ihn kurz erwiderte, ehe er Isabella und Johanna ansah. »Nun«, er räusperte sich, »dann sehen wir uns beim Abendessen, ich muss noch einmal kurz in die Residenz.« Wieder ein knappes Nicken in Johannas Richtung. »Ich empfehle mich.«

Isabella hielt immer noch den Hund im Arm. »Wir teilen uns übrigens ein Ankleidezimmer. Am besten stellen wir direkt die Regeln auf. Da ich die älteren Rechte daran besitze, ist klar, dass ich immer den Vortritt habe.«

Johanna zuckte mit den Schultern. Ihr war es gleich. »Gewiss.«

»Dann bin ich sicher, wir verstehen uns bestens.«

»Fräulein von Seybach«, war Nanettes dunkle Stimme zu vernehmen. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Johannas Blick fiel auf das goldgerahmte, lebensgroße Porträt von Eloise von Seybach, frühere Komtess von Hohenfels und verstorbene Ehefrau ihres Onkels Carl, das links der Treppe hing. Als Johanna das letzte Mal in München gewesen war – acht Jahre war das nun schon her –, hatte sie noch gelebt. Unter dem Porträt stand eine Bodenvase mit Lilien, Eloises Lieblingsblumen, nach denen auch dieses Haus benannt war – das Lilienpalais. Johannas Mutter hatte dies mit den Worten kommentiert: »Das war gewiss wieder so eine Überspanntheit von Carl.«

Isabella schloss sich ihnen an, als sie die Treppe hochgingen und die Galerie der Beletage betraten. Johanna hielt inne und sah von oben in die Eingangshalle, die wie ein Lichthof mitten im Haus lag. Diese Glaskuppel war wirklich famos und schuf mit den geschmackvoll arrangierten Pflanzen eine Atmosphäre lichtdurchfluteter Eleganz. Hier ließ sich gewiss wunderbar eine Staffelei aufstellen und in Gartenatmosphäre malen. Allerdings konnte sie sich schon jetzt lebhaft die missbilligende Miene der Großmutter vorstellen, wenn sie Gäste ins Haus führte und Johanna farbenbekleckst mit Pinsel und Malerpalette in der Eingangshalle stand.

»Junge Dame?«, brachte Nanette sich in Erinnerung. »Hier entlang.«

Johanna folgte ihr eine weitere Treppe hoch, durch Korridore, vorbei an Türen und Erkern. Schmerzlich vermisste sie ihr Zuhause, die vertrauten Flure und Zimmer, die weitläufig, aber nicht so überdimensioniert waren. Ein Zuhause, in dem man sich nicht erst in den Korridoren orientieren musste, um den Weg in sein Zimmer zu finden. Das frühere Haus der Münchner Familie war auch groß gewesen, aber Johanna hatte es nicht so weitläufig in Erinnerung. In diesem hier wohnte die Familie seit zwei Jahren, und offenbar war alles darauf angelegt, möglichst weite Wege zurücklegen zu müssen.

Nanette stieß die Tür zu einem Zimmer auf, in das Johannas Zimmer daheim zweimal reingepasst hätte. Es war ein schöner Raum, eingerichtet mit Möbeln in schimmerndem Rosenholz und cremeweißen Vorhängen mit grünen Quasten und Troddeln vor den Fenstern. Über das breite Schlittenbett zu ihrer Linken spannte sich ein Baldachin aus grünem Brokat, und auf dem Parkettboden lag ein teuer aussehender Teppich, auf dem eine Sitzecke angeordnet war. Die Wände zierte eine schimmernde grüne Seidentapete, die in sich gemustert war. »Und?«, fragte Isabella. »Was sagst du?«

»Sehr hübsch«, gab Johanna die einzig mögliche Antwort. Es war ja auch in der Tat ein schöner Raum. Einer, in dem man Ferien machte und sich ein wenig hochherrschaftlich fühlen konnte, allerdings gewiss nicht geeignet, um dauerhaft darin zu wohnen und sich wohlzufühlen. Seufzend ging Johanna zum Bett, berührte die an die Pfosten gebundenen Vorhänge.

Isabella setzte den Hund ab und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Sie hatte die Augen leicht verengt und schnupperte. Johanna sah sie an, hob fragend eine Braue, und ihre Cousine wurde rot. Nun war auch Nanette aufmerksam geworden.

»Hast du uns etwas mitzuteilen, Isabella?«

»Ludovika hat sich vorhin hinter dem Vorhang … Aber ich habe alles sauber gemacht. Man riecht doch nichts, oder?«

»Der Hund«, erklärte Nanette auf Johannas fragenden und vermutlich recht entgeistert wirkenden Blick hin – hatte sie doch geglaubt, Ludovika sei ein Dienstmädchen. »Lass deine Großmutter nicht hören, dass du den Hund nach der Prinzessin benannt hast. Sie scheint über Napoleon noch nicht hinweg zu sein.«

»Ludovika ist unten bei den Dienstboten«, erklärte Isabella. »Ich hoffe, Großmutter bekommt sie vorläufig nicht zu Gesicht.«

»Wieso war der Hund überhaupt hier im Zimmer?«, fragte Nanette.

»Sie ist durchs Ankleidezimmer, als ich sie kurz bei mir hatte. Irgendwie schafft sie es wohl, die Klinke herunterzudrücken.«

»Sieh zu, dass du sie stubenrein bekommst. Wenn ihr so ein Malheur in einem der Salons passiert, kann vermutlich nicht einmal dein Vater sie noch retten.«

Johanna ging im Zimmer umher, schnupperte argwöhnisch. Sie mochte Hunde, aber das ging ihr dann doch zu weit. Allerdings war nichts zu riechen, selbst in der Nähe der Fenster. Sofern diese Vorhänge gemeint gewesen waren und nicht die am Bett. Aber Johanna fragte nicht, da sie die Antwort lieber gar nicht wissen wollte. Sie setzte ihren Rundgang durch das Zimmer fort, blieb vor dem Sekretär stehen, der Büttenpapier und Schreibfedern enthielt. Da konnte sie ihren Eltern gleich einen langen und anklagenden Brief schreiben. Wieso hatten sie nicht warten können, bis sie verheiratet war? All die Jahre war die Mission ohne die wohltätigen Werke Constantins und Mathildes von Seybach ausgekommen, und nun war es auf einmal alles so eilig?

»Es wird dir in München gefallen«, hatte ihre Mutter gesagt. »Carl hat so gute Beziehungen bei Hofe, du wirst eine großartige Partie machen. Und dann kommen wir, damit ich dein Kleid mit dir aussuche.«

Johanna jedoch hatte keinen Sinn gehabt für diese Art von Beschwichtigung und Schönrederei. Es blieb ja doch letzten Endes bei dem Umstand, dass man sie fortschickte, weil es die Eltern in die Ferne zog.

»Und wenn wir sie mitnehmen?«, hatte ihr Vater eingewandt, dem es wohl angesichts von Johannas verzweifeltem Blick das Herz brach.

»Bist du von Sinnen?«, hatte ihre Mutter entgegnet. »Was soll das Mädchen denn in Afrika? Einen Missionar heiraten?«

Sie hatten über sie gesprochen, als sei sie gar nicht da. Als ginge es sie nichts an, was da über sie entschieden wurde. Es war beschlossene Sache, man schickte sie nach München, am selben Tag, an dem die Eltern zu ihrer Reise aufbrachen. Die Mutter hatte noch viele gute Ratschläge für sie parat gehabt. Die Gesellschaft in München, so ihre Worte, sei mondäner als die in Königsberg. Das mochte stimmen, aber Königsberg war lebendiger, aufregender, und zudem war man von dort aus recht schnell in Berlin. Doch natürlich betonte ihre Mutter all die Vorteile, die München bot, vergaß aber nie hinzuzufügen, sie müsse aufpassen und immer auf sich achtgeben. Johanna wusste das alles, sie kannte die Regeln einer Gesellschaft, in der ein zu keckes Lächeln oder ein offenherziger Blick über die Schulter den Ruf für immer ruinieren konnte. Sie war es nicht anders gewöhnt, als stets auf der Hut zu sein.

»Möchten Sie jetzt schon den Tagesablauf besprechen oder sich lieber erst ein wenig ausruhen und frisch machen?«, fragte Nanette, während Isabella versuchte, den kleinen Hund mit gutem Zureden unter dem Bett hervorzulocken. Na, hoffentlich war wenigstens Antoinette stubenrein.

»Ich möchte mich gerne ein wenig ausruhen«, antwortete Johanna, weniger, weil sie das Bedürfnis nach Ruhe verspürte, sondern vielmehr, weil ihr nicht danach war, langatmige Tagespläne durchzugehen. Sie brauchte Zeit, um erst einmal richtig anzukommen, und würde sich lieber einige Tage einleben, ehe sich gleich der Etikette des Hauses und einer strikten Planung zu unterwerfen.

Endlich hatte Isabella Erfolg mit ihren Bemühungen, nahm den Hund auf den Arm und ging zur Tür.

Nanette machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen, und da war sie wieder, diese kleine Spur von Unbehagen, wenn man eine Erinnerung zum Greifen nah glaubte und sie sich doch wieder entzog. »Sagen Sie, waren Sie je in Königsberg?« Aufmerksam betrachtete Johanna die Frau. Weiteten sich die Augen nicht kaum merklich? War da nicht eine Spur forschender Wachsamkeit im Blick?

Nanettes Lippen öffneten sich, die Mundwinkel hoben sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Was sollte ich wohl in Königsberg?«

2

Johanna

Johanna hatte sich frisch gemacht und saß nun an ihrer Frisierkommode, betrachtete im Spiegel ihr blasses Gesicht, in dem sich die nahezu schlaflose Nacht in den dunklen Schatten unter den Augen zeigte. Ihr Blick wanderte ein weiteres Mal durch das Zimmer, verweilte kurz auf einem Gemälde an der Wand, das den sommerlichen Garten vor einem kleinen Lustschloss zeigte, glitt weiter bis zum Fenster, dessen Ausblick auf das Palais der Nachbarn das Gegenteil der erbaulichen Szenerie war. In Königsberg hatte sie von ihrem Fenster aus in den Garten sehen können, hatte im Frühjahr das sprießende Grün sowie die Kirsch- und Apfelblüte bewundern können, im Sommer das Farbenspiel der Blumen in goldenem Licht, hatte hinausblicken können in das Bunt des Herbstes und die weiße Pracht des Winters. Hier jedoch schaute sie auf eine Hauswand und mit Vorhängen verhängte Fenster.

Seufzend wandte sich Johanna ihrem Spiegelbild zu, überprüfte, ob die Frisur noch richtig saß, steckte eine Spange in ihrem honigblonden Haar wieder fest. Sie betrachtete das Armband mit grün schimmerndem Opal – »die Farbe deiner Augen«, waren die Worte ihre Mutter dazu gewesen, als sie es ihr wenige Wochen vor ihrem Aufbruch nach München geschenkt hatte.

Kurz darauf wurde an die Tür geklopft, und auf Johannas »Herein« betrat eine junge Frau die Tür, gekleidet in eine graue Dienstbotentracht mit feinen schwarzen Streifen, das adrett frisierte rotblonde Haar unter einer Haube.

»Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Ich bin die Finni, die Kammerzofe der Damen des Hauses. Gräfin von Seybach schickt mich, damit ich Ihnen helfe, sich für den Nachmittagskaffee umzukleiden.«

Finni? Was war denn das für ein Name?

»Guten Tag«, antwortete Johanna in ihrem Königsberger Zungenschlag.

»Haben Sie einen bestimmten Wunsch, oder soll ich das Kleid für Sie aussuchen?«

Das war auch daheim Aufgabe der Zofe, und so bedeutete Johanna der jungen Frau mit einem Nicken, dass sie ihr die Wahl überließ. Sie trug immer noch ihr schlichtes taubenblaues Reisekostüm, und so erhob sie sich, während Finni in das angrenzende Ankleidezimmer ging. Ihr Gepäck war Johanna vorausgeschickt und sämtliche Kleidung – wie sie nun bemerkte, als sie den Raum ebenfalls betrat – ordentlich in die Schränke geräumt worden. Finni hatte bereits mit geübtem Blick eine Entscheidung getroffen und holte ein Kleid aus feiner altrosa Seide heraus. Dann machte sie sich daran, alles bereitzulegen, ehe sie Johanna aus ihrer Kleidung half.

Die Zofe schnürte das Korsett über dem feinen Hemdchen, bis es biegsam Johannas Figur umschloss. Danach half sie ihr in Unterkleid und in die Unterröcke, die leise raschelten und sich kühl auf Johannas Haut anfühlten. Schließlich folgte das Kleid, dessen kleine Häkchen Finni im Rücken schloss, ehe sie die Volants ordnete, einige der winzigen Rüschen um das Dekolleté zurechtzupfte, Johanna noch einmal prüfend ansah und dann nickte.

Die Tür auf der anderen Seite des Ankleidezimmers flog auf, und Isabella trat ein. »Ah, habe ich doch richtig gehört.« Sie betrachtete Johanna mit geschürzten Lippen. »Ja, sehr hübsch«, war ihr abschließendes Urteil. »Komm, gehen wir. Großmutter wird sehr ungehalten, wenn wir zu spät zum Kaffee erscheinen.«

»Sollte ich nicht erst mit der Gouvernante – Nanette? – den Tagesablauf durchgehen?«

»Großmutter hat gerade mit ihr gesprochen, sie macht das nach der Kaffeestunde dann ganz in Ruhe. Immerhin ist das nichts, was man in wenigen Minuten abhandeln kann.«

Das klang nach einem sehr ermüdenden Vortrag, und Johanna seufzte verhalten. Während die Zofe sich daranmachte, die Kleidung aufzuräumen, verließen die beiden jungen Frauen den Ankleideraum, durchquerten Johannas Zimmer und traten auf den Korridor.

»Wir gehen übermorgen auf einen Tanzabend«, plauderte Isabella, während sie zur Treppe gingen. »Ich hoffe, du hast ausreichend Abendkleider dabei, ansonsten müssen wir dringend die Schneiderin rufen. Die kann zwar bis übermorgen auch nicht zaubern, aber vielleicht kann ich dir sonst mit einer Robe von mir aushelfen, und für die kommenden Bälle bist du dann ausgestattet.«

»Ich habe Ballkleider dabei.« Ihre Mutter hatte sie vor der Abreise mit allem ausgestattet, was Johanna nach deren Dafürhalten brauchte, wenn sie in einer Metropole wie München bestehen wollte. Immerhin gab es ja die Möglichkeit, auf den König selbst zu treffen!

»Seid ihr denn modisch auch schon auf dem neuesten Stand?«, fragte Isabella. »Ostpreußen gilt ja in diesen Dingen immer als etwas, hm, hinterwäldlerisch.«

»Königsberg ist nun alles andere als hinterwäldlerisch!«

»Ich wollte dir nicht zu nahetreten.«

Johanna neigte nur mit einer knappen Geste den Kopf.

»Aber das hier«, machte Isabella einen erneuten Versuch, »das ist schon etwas anderes als in den meisten Teilen des Reiches. Wir sind hier der Mode voraus, musst du wissen.«

»Meine Mutter hat eine Schneiderin kommen lassen, die für den Hochadel Kleidung fertigt.« Ein wenig ärgerte es Johanna, dass sie sich hier erklären musste, als käme sie aus einem Dorf im Nirgendwo. Das kannte sie von daheim nicht, dort hatte sie immer als modern und elegant gegolten.

»Ich möchte nur, dass du dich wohlfühlst und einen guten Eindruck machst«, beeilte sich Isabella zu sagen und klang dabei aufrichtig. »Und was in den Ostprovinzen als sehr modern gilt, ist hier vielleicht schon vorletzte Saison. Unsere Kleider werden von Frau Wertmann gefertigt, sie ist Hoflieferantin.«

Sie stiegen die Treppe hinab in die Beletage. »Zum nachmittäglichen Kaffee finden wir uns heute im Großen Salon ein.«

Ein Kläffen war zu hören, dann ein erschrockener Schrei, dem ein lautes Scheppern folgte. »I werd noch narrisch!«, schimpfte eine Frauenstimme.

»Ach«, sagte Isabella, »da sehe ich wohl besser mal …« Der Rest des Satzes verklang, als sie davoneilte und Johanna einfach stehen ließ.

Und jetzt? Da Johanna keine Ahnung hatte, wie sie in diesem weitläufigen Haus zum Großen Salon gelangte, sie aber auch nicht hinter ihrer Cousine herlaufen würde – mit undamenhaft hochgerafften Röcken! –, blieb sie stehen und wartete darauf, dass Isabella zurückkehrte. Sie sah sich die Bilder an den Wänden an, ließ den Blick hochgleiten zur Stuckdecke und schließlich hinunter zu den Fußleisten.

»Suchst du etwas?«, hörte sie eine Männerstimme und fuhr zusammen. Maximilian kam die Treppe hinunter und betrachtete sie mit distanziertem Interesse. Er hinkte leicht, das Überbleibsel eines Reitunfalls in seiner Jugend.

»Hm, ich warte auf Isabella.«

»Wo ist sie?«

»Sie wollte mich eigentlich zum Salon bringen für den Nachmittagskaffee, aber dann war da irgendein Malheur mit einem Hund.«

»Ach, Isabella und ihre Hunde.« Maximilian wirkte belustigt. »Wenn das der Grund für den Lärm eben war, kann das dauern. Findest du den Weg allein?«

»Ich befürchte nicht. Willst du mir deine Hilfe anbieten?«

»Bedaure, ich muss passen. Wenn Großmutter mich sieht, nötigt sie mir die tödlich langweilige Kaffeestunde auf.«

»Das heißt, du lässt mich hier einfach so stehen?«

»Ich könnte dir den Weg beschreiben.«

»Besonders galant bist du nicht, ja?«

»Bisher kamen keine Klagen.« Er lächelte schief, und Johanna konnte sich gut vorstellen, dass er damit schon so manch einer jungen Dame weiche Knie beschert hatte.

»Nun gut, dann beschreib mir den Weg.«

Maximilian wollte gerade ansetzen, als Isabella zurückkehrte, einen Malteser im Arm. »Ah, du bist noch hier, dachte ich es mir doch.«

»Nun denn, meine Damen.« Maximilian deutete eine Verbeugung an. »Ich empfehle mich.«

»Entschuldige bitte«, sagte Isabella zu Johanna. »So ein Theater!«

»Maximilian!« Die Stimme der Großmutter durchschnitt Isabellas Worte mit der Schärfe eines Armeesäbels.

Johanna fuhr zusammen, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt, während sich Maximilian langsam umdrehte, die Miene von einer stummen Resignation gezeichnet. Isabella hingegen wirkte ein klein wenig schadenfroh, als sie ihren Bruder ansah und ihm zuzwinkerte. Wie die Großmutter es trotz ihres Stockes geschafft hatte, sich unbemerkt zu nähern, war Johanna ein Rätsel. War die Gehhilfe womöglich nur Staffage?

»Wohin des Weges, junger Mann?«, fragte Henriette von Seybach.

»Ich habe noch einen Termin.«

»Ganz recht, und zwar mit Gräfin von Barnim und ihrer reizenden Tochter Katharina.«

Maximilian antwortete nicht, murmelte dann etwas, das wenig schmeichelhaft klang, und schloss sich Johanna und Isabella an, die wiederum der Großmutter folgten, welche entschiedenen Schrittes voranging. Dann blieb sie so abrupt stehen und drehte sich zu ihnen um, dass Johanna beinahe in sie hineingelaufen wäre.

»Und was dich betrifft, junge Dame«, der Stock stieß gegen Johannas Rocksaum, »ich vermute, auch bei euch in Königsberg lernt man, die Uhr zu lesen?«

Johanna fing Isabellas Blick auf, las die stumme Bitte darin. Da sie nicht wusste, wie weit Henriette von Seybachs Duldung für die Eigenheiten der Hunde ging, antwortete sie: »Es tut mir leid.«

»Angesichts dessen, dass du gerade erst angekommen bist, möchte ich dir das Versäumnis heute nachsehen. Isabella, der Hund kommt nicht an die Kaffeetafel.«

»Aber er …«

»Nicht auf zehn Schritte!«

Isabella setzte den Hund auf den Boden.

»Und nun bitte Haltung! Grâce, mesdames.« Henriette von Seybach musterte ihre Enkelin kritisch. »Ja, genau so bleibst du, wenn du in den Salon kommst. Das Kinn nicht ganz so hoch, das wirkt aufsässig.« Die alte Dame verengte prüfend die Augen. Dann wandte sie sich zu Johanna um, maß sie stumm, ehe sie knapp nickte.

»Ist es wirklich notwendig, dass Johanna und ich danebensitzen, während Max um Katharina herumbalzen muss?«, fragte Isabella und fing sich einen bösen Blick ihres Bruders ein. »Ich könnte mit ihr doch in der Zeit, den, hm, den … den Tagesplan durchgehen.«

»Das erledigt Nanette später. Und du wirst mitnichten einfach nur danebensitzen, sondern dich zusammen mit deiner Cousine bei Frau von Barnim um einen guten Eindruck bemühen.«

Isabella krauste fragend die Stirn, und jetzt war es Maximilian, der antwortete – ein winziges, sardonisches Lächeln in den Mundwinkeln. »Schwesterchen, ist dir gar entfallen, dass Katharina noch zwei ältere Brüder hat?«

»Oh«, stöhnte Isabella verhalten, während sie der Großmutter zum Großen Salon folgten, in dem bereits auf einem weißgoldenen, von mit rotem Samt bezogenen Stühlen umstandenen Tisch die Kaffeetafel aufgebaut worden war.

Es war ein prachtvoller Salon mit hohen Fenstern, Kommoden aus poliertem Wurzelholz, edlen Teppichen, einer Sitzgruppe aus zwei breiten, cremeweißen Kanapees mit roten Kissen. An den Fenstern waren rotsamtene Vorhänge gerafft, und die Wände zierten Porträts. Rechts neben der Sitzgruppe befand sich ein Kamin, der im Winter gewiss für anheimelnde Behaglichkeit sorgte.

»Das«, erklärte Isabella, »ist unser Großer Salon und gleichzeitig das Musikzimmer.« Sie nickte zum Pianoforte hin und zu der Harfe in einer Ecke des Zimmers.

Da der kleine Hund auf ausdrücklichen Wunsch der Großmutter ausgesperrt werden musste, war die Tür rasch geschlossen worden, ehe er mit hindurchschlüpfen konnte. Kurz befürchtete Johanna, er würde an der Tür kratzen und jaulen, aber es war nichts zu hören. Sie ließen sich auf den Kanapees nieder, um auf die Gäste zu warten. Das alles erschien Johanna unerträglich steif. Natürlich hatten sie auch in ihrer Königsberger Stadtvilla Gäste empfangen, aber da waren die Umgangsformen nie so starr gewesen. Und wenn sie auf ihrem Landsitz waren, war es noch weniger förmlich. Jähes Heimweh stieg in Johanna auf, und sie seufzte.

»Eine Dame zeigt keine Langeweile«, wies Henriette von Seybach sie zurecht.

Unvermittelt verbarg Isabella ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand. »Verzeihung«, sagte sie dabei.

Ehe ihre Großmutter zu einem Vortrag ansetzen konnte – und die Art, in der sie tief Luft holte, zeigte, dass sie gerade im Begriff schien, genau das zu tun –, trat ein Dienstmädchen ein und meldete das Eintreffen der Gräfin von Barnim nebst Tochter Katharina.

Sie erhoben sich – das Hinsetzen hatte sich nach Johannas Dafürhalten kaum gelohnt –, als eine Dame in den Raum geführt wurde, die fast so groß war wie Maximilian. An ihrer Seite eine junge Frau in Johannas Alter, aschblond und durchaus hübsch.

»Meine liebe Henriette.« Die Frau hatte, wie Johanna schon bald feststellte, eine enervierende Art, immer ein Wort im Satz zu betonen. Obwohl die Familien sich augenscheinlich gut kannten, wurde Katharina rot, als sie Maximilian begrüßte. Es war eben doch etwas anderes, einander bei gesellschaftlichen Anlässen zu begegnen oder aber mit dem sehr konkreten Anliegen, eine mögliche Eheschließung auszuloten.

»Meine Enkelin Johanna«, stellte ihre Großmutter sie vor. »Die Tochter meines Jüngsten aus Königsberg.«

Johanna grüßte artig, während Gräfin von Barnim sie neugierig musterte.

»Ah, ma chère«, sagte die Frau schließlich mit übertriebenem Entzücken und wandte sich danach an Henriette von Seybach. »Elle est adorable.«

Sie setzten sich an den Tisch, der mit feinstem Meißner Porzellan gedeckt worden war. In diesem Raum schien alles auf die Farben Weiß, Gold und Rot abgestimmt zu sein, und so hatte auch das Geschirr einen Goldrand. Das Stubenmädchen Anna bediente bei Tisch, auch sie in der grauen Dienstbotentracht mit den feinen schwarzen Streifen und der weißen Schürze. Die Haube auf dem Kopf war in koketter Weise ein klein wenig schief aufgesetzt, und Johanna hoffte, die Großmutter würde dies nicht bemerken – ebenso wenig den Umstand, dass Anna ein klein wenig errötete, als ihr Blick den Maximilians traf. Besorgt sah Johanna ihre Großmutter an, aber die zeigte keine Regung, sondern war bereits in ein anregendes Gespräch mit Gräfin von Barnim vertieft und unterbrach es nur, um anzumerken, dass bitte für jede Dame nur ein kleines Stück Kuchen auf den Teller gegeben werde – immerhin galt es, auf die Figur zu achten.

Sehnsuchtsvoll seufzend sah Isabella zu Maximilian, für den dergleichen Beschränkungen nicht galten. Offenbar stand bei ihm nicht zu befürchten, er könne seine schlanke Gestalt einbüßen. Und selbst wenn, dann war das wohl halb so schlimm, denn als Mann hatte er schließlich noch genug anderes zu bieten. Johanna aß nicht besonders oft Süßes, aber gerade war sie doch versucht, aus Protest ein weiteres Stück zu nehmen. Kaffee wurde eingeschenkt, und Katharina, die neben Maximilian platziert worden war, nippte an ihrer Tasse. Sie wirkte befangen, was angesichts der Umstände wohl nicht verwundern durfte.

Da Isabella und Katharina sich offenkundig kannten, kam eine Konversation in Gang, während Maximilian mehrmals verstohlen auf die Uhr schaute und Johanna sich fragte, wie die Großmutter reagierte, wenn sie sich einfach den Kuchen von der Platte nahm.

»Johanna?« Henriette von Seybach klopfte in Ermangelung ihres Stocks mit der Gabel auf den Tisch. »Hörst du nicht, dass wir mit dir reden?«

»Ja, bitte?« Johanna blickte auf, und nun waren auch Isabella und Katharina verstummt.

»Gräfin von Barnim hat dir eine Frage gestellt.«

Johanna sah die Frau an. »Verzeihung.«

»Der König steht ja in regem Kontakt zum Hause von Seybach. Hatten Sie das Vergnügen?«

»Nein, bisher noch nicht.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie sind ihm noch nie begegnet?«

»Ganz recht.«

»Na ja, die Ostprovinzen«, die Frau lachte gönnerhaft, »da verschlägt es den bayrischen Königshof ja nicht so oft hin. Tellement provincial. Na, dann freuen Sie sich gewiss darauf, den König kennenzulernen.«

Eigentlich nicht. »Natürlich.«

»Sie werden auch auf dem Tanzabend im Hause von Goldhofer übermorgen sein?«

»Gewiss wird sie das«, antwortete Henriette von Seybach an Johannas Stelle.

»Ich werde ebenfalls zugegen sein mit Katharina sowie meinen Söhnen Ferdinand und Heinrich.«

»Ferdi und Heini«, murmelte Isabella gerade laut genug, damit Johanna sie hören konnte. Diese erstickte rasch ein Lachen in ihrer Serviette, aber den scharfen Augen der Großmutter entging nichts. Sie holte gerade tief Luft, öffnete den Mund, aber ehe sie die scharfe Zurechtweisung in Worte fassen konnte, war ein lautes Scheppern und Klirren vor der Tür zu hören.

»Sauköter!«, schrie eine Frauenstimme, und Katharina stieß ein sehr undamenhaftes, prustendes Lachen aus.

Der Blick der Großmutter schien Isabella geradezu zu durchbohren, und diese zog die Schultern hoch, als könne sie sich auf diese Weise vor den Konsequenzen schützen.

3

Johanna

Johannas Abendgarderobe war für tauglich erachtet worden, wenngleich Henriette von Seybach betonte, dass für die im November beginnende Saison, Feiern bei wichtigen Leuten und Veranstaltungen bei Hofe neue Kleider geschneidert werden mussten. Jetzt war Juli, da war noch ausreichend Zeit, wenn sie sofort begannen.

»Du musst wissen, dass unsere Schneiderin eine viel beschäftigte Frau ist.« Daraufhin erfuhr Johanna ein weiteres Mal von den umfangreichen Tätigkeiten einer Hofschneiderin. Ja, sie konnte sich wirklich glücklich schätzen.

»Freust du dich auf den heutigen Tanzabend?«, fragte sie Maximilian, als sie zwei Tage nach Johannas Ankunft nachmittags im Kleinen Salon saßen.

Der verzog keine Miene. »Ich kann kaum an mich halten.«

»Maximilian hasst Tanzabende«, fügte Isabella hinzu, als bedürfe es da noch einer Erklärung. »Warst du schon einmal auf einem richtig großen?«

»Wir hatten durchaus ein Gesellschaftsleben.« Johanna wünschte, man würde nicht ständig so tun, als sei sie irgendeine Hinterwäldlerin, die es in die Großstadt verschlagen hatte. Sie sah Maximilian an. »Warum kommst du mit, wenn es dir so zuwider ist?«

»Weil unser Vater heute keine Zeit hat, unsere Großmutter unpässlich ist und mir Isabella nie verzeihen würde, wenn ihr dieses Vergnügen entginge. Also werde ich euch begleiten.«

»Du wirst sehen«, sagte Isabella an Johanna gewandt. »Es wird ein Riesenspaß.«

Maximilian stand auf, ging zur Hausbar und goss sich zwei Fingerbreit Whiskey in ein Glas.

»Musst du dir um diese Zeit schon Mut antrinken?«, scherzte Johanna.

Ehe Maximilian antworten konnte, trat ihre Großmutter ein. Sie wirkte an diesem Tag in der Tat etwas unwohl. »Isabella, sorg bitte dafür, dass die kleine Promenadenmischung nicht wieder in die Küche läuft.« Nach dem letzten Malheur zwei Tage zuvor war die Stimmung immer noch etwas angespannt. Die Hündin Ludovika war aus dem Dienstbotenbereich entwischt und dem Stubenmädchen Cilli gefolgt. Dabei war sie ihr zwischen die Beine gelaufen, hatte sie zu Fall gebracht und zu allem Übel in der Aufregung eine Pfütze im Korridor hinterlassen – mitten auf dem Läufer.

Henriette von Seybach hatte die Hündin aus dem Haus verbannen wollen, aber da hatte der Hausherr ein Machtwort gesprochen. »Natürlich geben wir sie nicht weg. Die Kinder haben wir ja auch nicht vor die Tür gesetzt, als sie noch nicht trocken gewesen sind.«

Ihre Großmutter hatte nach Luft geschnappt, während Isabella sich ein Lächeln gegönnt hatte, in dem sich Erleichterung mit Triumph mischte.

Jetzt war es allerdings an der Großmutter, süffisant zu lächeln, als sie Maximilian einen gefalteten Zettel reichte. »Ich hoffe, du nimmst dich der Sache an.«

Neugierig beobachtete Johanna die Szene, aber sie kamen nicht dazu, Fragen zu stellen, denn ihre Großmutter scheuchte sie hinaus, und auf dem Korridor stand bereits Nanette, um ihre Schützlinge in Empfang zu nehmen.

»Die jungen Damen sollen sich ausruhen, damit sie heute Abend ausreichend bei Kräften sind«, erklärte Henriette von Seybach.

Nanette nickte nur knapp und wartete, bis die Tür zum Salon sich schloss. »Hinaus mit euch«, sagte sie. »An die frische Luft.«

»Aber Großmutter sagt …«, wandte Johanna ein, woraufhin Nanette ihr mit einer knappen Handbewegung das Wort abschnitt.

»Unfug ist das. Von zu viel Ruhe halte ich nichts, junge Damen haben ein ebensolches Bedürfnis nach Bewegung wie Herren. Also gehen Sie in den Garten und genießen Sie die Sonne. In zwei Stunden erwarte ich Sie im Ankleidezimmer. Lassen Sie es sich nicht einfallen, früher ins Haus zurückzukommen.«

Johanna starrte sie ungläubig an, aber sie hatte ihnen bereits den Rücken zugedreht. »Das ist doch …«

Isabella winkte ab. »Ganz normal, glaub mir.«

Kopfschüttelnd begleitete Johanna ihre Cousine zur Treppe, die ins Erdgeschoss führte. In Königsberg hatte sie auch eine Gouvernante gehabt, aber so etwas hatte sie dort nicht erlebt. Dabei war man in Ostpreußen dem Personal grundsätzlich näher als hier. In den letzten zwei Tagen hatte sie sich daran gewöhnen müssen, dass alles hier nach einer sehr strikten Disziplin ablief, die Tagesabläufe wie Uhrwerke durchgetaktet waren und es starre Verhaltensregeln gab, von denen die Großmutter kein Abweichen duldete. Ach, wie sehr Johanna ihr Zuhause vermisste. Wie gerne hatte sie in der Küche beim Backen geholfen, schon als kleines Kind. Im Winter war es herrlich gewesen, wenn alles nach Plätzchen geduftet hatte und Johanna mit ihrer Mutter, der Köchin und der Magd in der Küche an dem großen Tisch gestanden und Teig geknetet und ausgerollt hatten. Der Kutscher hatte mit seiner schönen Singstimme Weihnachtslieder gesungen, der Knecht ihn mit der Flöte begleitet. Im Sommer hatte Johanna manchmal im Garten Geschichten von ihrem Gärtner erzählt bekommen, der die Arbeit unterbrach und ihr unterhaltsame Anekdoten aus seiner schlesischen Heimat erzählte. Hier mit der unterkühlten Großmutter und dem zwar netten, aber vollkommen fantasielosen Onkel war dergleichen gewiss undenkbar, was das Verhalten der Gouvernante für Johanna nur noch unerklärlicher machte. Aber immerhin gab es hier Isabella und Maximilian, mit denen Johanna gut auskam, und da sie sich als Einzelkind oftmals Geschwister gewünscht hatte, versöhnte dieser Umstand sie ein klein wenig damit, nun hier leben zu müssen.

»Jetzt sieh nicht so unglücklich drein«, sagte Isabella und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. »Wir lassen uns einfach Tee und Gebäck im Garten servieren, das merkt die Großmutter gar nicht.«

»Was sollte sie dagegen haben?«

»Sie mag es nicht, wenn wir vor einem Tanzabend oder einer Soiree essen, und sagt immer, ein voller Bauch tanzt nicht gern.«

Um in den Garten zu gelangen, mussten sie das Entree durchqueren – der Wintergarten unter der Glaskuppel war in Johannas Augen das Schönste, was das Haus zu bieten hatte –, in den Speisesaal und von dort hinaus auf die von einer weißen Marmorbalustrade umfasste Veranda, die am Haus entlangführte bis zu einer breiten, elegant geschwungenen Treppe. Im Garten war Johanna nur einmal kurz gewesen, als Nanette sie herumgeführt und in die Gepflogenheiten des Haushalts eingewiesen hatte. Wobei die Einweisung eher darin bestanden hatte, ihr das Haus zu zeigen und ihr zu sagen, wann Frühstück, Mittagessen, Kaffeestunde und Abendessen stattfanden. Der Rest, so Nanette, liege in ihrem, Nanettes, Ermessen. Jetzt verstand Johanna auch, wie das gemeint gewesen war.

Eine Zeit lang flanierten sie mit aufgespannten Sonnenschirmen im Garten umher, wobei Isabella die Gelegenheit genutzt hatte, die drei Hunde mit hinauszunehmen, die nun herumtollten und Spaß dabei hatten, einem kleinen Ball hinterherzujagen. Irgendwann überließ Johanna das Spiel jedoch ihrer Cousine und spazierte allein umher, schaute auf die Uhr und stellte seufzend fest, dass sie erst eine halbe Stunde hier draußen waren. Der Garten war allerdings in der Tat wunderschön. Die Sonne wob feine Strahlen in das sattgrüne Laub der Bäume und malte durch das Geäst helle Sprengsel auf den Rasen. Rosen rankten an einem offenen Pavillon hoch, flammendrot, zartrosa und weiß. Johanna nahm sich vor, demnächst mit ihrer Staffelei in den Garten zu gehen – Motive gab es in Fülle. Weiter hinten lag ein weiterer Pavillon, dieser jedoch geschlossen. Hier rankten keine Rosen hoch, sondern eine Vielzahl winziger weißer Blumen wirkten, als schäumten sie aus dem Rasen an die marmornen Wände des Pavillons. Johanna drückte versuchsweise die Klinke, und wider Erwarten war die Tür nicht verschlossen, sondern schwang lautlos auf.

Das Innere des Pavillons lud zum längeren Verweilen ein. An der Wand entlang war im Halbrund eine Bank angebracht mit sattgrünen Samtkissen. Außerdem gab es dazu passend eine Chaiselongue, niedrige Tischchen und einen Ofen, sodass im Winter geheizt werden konnte. Orientalisch aussehende große Kissen lagen auf dem Boden, und Johanna fragte sich, ob ihr Onkel diese von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Als Obersthofmeister und Kurator bekleidete er das oberste Amt bei Hofe und beriet den König. Sein Wort, seine Entscheidungen beeinflussten die Politik Bayerns innen wie außen.

Johanna ließ sich auf der Bank nieder und sah hoch zur Decke, wo eine orientalisch aussehende Lampe hing.

»Hier bist du.« Isabellas Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit. »Im offenen Pavillon wurde gerade der Tee serviert, leider ohne Plätzchen. Offenbar hat Großmutter etwas geahnt und ein striktes Verbot ausgesprochen.«

Johanna erhob sich und begleitete ihre Cousine in den anderen Pavillon, wo ein Tablett auf einem weißen, fein ziselierten Tisch stand, um den sich zierliche Stühle gruppierten. Sie hatte gerade Platz genommen, als sie Nanettes schlanke, dunkle Gestalt durch den Garten kommen sah. Fragend blickte sie ihr entgegen, aber die Gouvernante beachtete sie gar nicht, sondern stellte einen Teller ab, der unter einem weißen Tuch verborgen gewesen war. »Von dieser Unsitte, über Stunden nichts zu essen, halte ich nichts. Das habe ich nie getan und fange jetzt nicht damit an.«

»Oh, vielen Dank«, rief Isabella.

Nanette jedoch antwortete nicht, drehte sich um und ging. Kurz sah Johanna ihr nach, dann wandte sie sich dem Teller mit dem Buttergebäck zu und nahm ein Stück. Zum Kaffee war an diesen Nachmittag kein Kuchen gereicht worden – jetzt wusste sie ja, warum –, und das Abendessen würde wohl zudem ausfallen.

Nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, öffnete Isabella das Gartentor, das auf der Rückseite des in der Ludwigstraße gelegenen Palais zum Englischen Garten führte, und sie verbrachten nahezu eine Stunde mit einem Spaziergang, sodass sie zur verabredeten Zeit wieder im Haus waren und sich im Ankleidezimmer einfanden. Dort hatte Finni die Abendgarderobe bereits bereitgelegt.

»Mit welcher jungen Dame fange ich an?«, fragte sie.

Isabella sah Johanna an, die Brauen leicht angehoben, und so überließ diese ihr den Vortritt. Die Wartezeit vertrieb sie sich damit, einen Brief an ihre Eltern zu schreiben. Vielleicht gefiel es ihnen in Afrika ja doch nicht so gut, und sie würden schnell wieder nach Hause kommen wollen. Nach wenigen Sätzen verwarf Johanna die Epistel wieder. Sie war immer noch zu wütend, weil sie diese Entscheidung getroffen hatten, ohne Rücksicht auf sie. Warum sollte sie sich überhaupt die Mühe machen? Dass es ihr hier nicht gefiel, würde ihre Mutter abtun und ihr antworten, sie gewöhne sich schon noch ein. Was für Möglichkeiten sich ihr hier boten! Das musste sie doch begreifen!

Das Kinn in die Hand gestützt saß Johanna an ihrem Sekretär und sah aus dem Fenster zur gegenüberliegenden Hauswand. In Tagträume versunken, die sich allesamt um die Rückkehr nach Königsberg drehten – konnte sie nicht vielleicht bei ihrer Freundin Marianne wohnen, deren Eltern auch königsnah waren? –, bekam sie nicht mit, dass die Tür des Ankleidezimmers geöffnet wurde, und zuckte zusammen, als sie Finnis Stimme hörte.

»Fräulein Johanna?«

Johanna erhob sich und ging ins Ankleidezimmer, wo sich Isabella in ihrem cremeweißen Abendkleid präsentierte, das Oberteil verziert mit Spitze, die sich auch in den üppigen Volants wiederfand, während in den Rock winzige Perlen eingearbeitet waren. Perlen waren auch in die Hochsteckfrisur ihres dunkelbraunen Haars gesteckt.

Nun machte sich Finni daran, über Johannas seidenem Hemdchen die Korsage zu schnüren, die ihre Taille betonte, ohne einzuengen, und gleichzeitig dem Körper eine aufrechte Haltung gab. Johannas Kleid war aus zartgrünem Chiffon, und der Rock teilte sich vorne, um ein dunkelgrünes Unterkleid aus schimmernder Seide freizugeben, während sich Stickereien in demselben Grün auf dem Oberteil wiederfanden. Es war so tief ausgeschnitten, wie es gerade noch statthaft war, ohne zu viel Brust zu zeigen, und in ihr Haar flocht Finni ein dunkelgrünes Seidenband.

»Du siehst hinreißend aus«, sagte Isabella und besah sie von allen Seiten.

Johanna drehte sich vor dem Spiegel, neigte den Kopf und befand, dass sie zufrieden mit dem Anblick war, der sich ihr bot. Ihre Großmutter, die kurz darauf erschien, war es ebenfalls. Sie wandte sich an Nanette, die ihr gefolgt war.

»Sehen sie nicht beide hinreißend aus?«

Deren Gesicht war nicht zu entnehmen, ob das Urteil zugunsten der beiden jungen Frauen ausfiel. Sie nickte nur knapp.

»Die reine Augenweide«, fuhr Henriette von Seybach fort. »Es sollte mich wundern, wenn nicht schon bald der erste Heiratsantrag eingeht. Wir sind ja auch noch bei Hofe eingeladen im Januar. Da sollte es nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sich da kein Ehemann finden ließe. Nanette, kümmern Sie sich bitte noch um den Schmuck der beiden?« Damit verließ sie das Ankleidezimmer, und die Gouvernante suchte Colliers und Ohrringe heraus, legte sie Johanna und Isabella an, ließ schließlich noch Armbänder um die behandschuhten Handgelenke zuschnappen.

»Die adeligen Zuchtstuten sind aufgezäumt«, spottete sie.

Johanna starrte sie so entsetzt an, dass Isabella lachen musste. »Nanette, schockier sie nicht immer so.« Sie nahm Johannas Hand und verließ mit ihr das Zimmer. »Nanette ist etwas eigen, was Großmutters Pläne angeht.«

Maximilian erwartete sie im Entree, überaus elegant gekleidet in seinem schwarzen Frack mit dem grauen Halstuch und dem Zylinder.

»Ehe wir losgehen«, sagte Isabella, »erzählst du mir, was auf dem Zettel steht, den Großmutter dir gegeben hat.«

»Ich wurde mit einer äußerst wichtigen Mission betraut.« Maximilian schaute todernst drein. »Auf diesem Zettel befinden sich Namen, eine ganze Reihe Namen. Und so viel sei verraten – es sind allesamt Herren, unverheiratet, mit der Aussicht auf Einfluss und ein großes Erbe.« Jetzt blinzelte er, und der Ernst in seiner Miene zerfiel in einen Ausdruck reiner Belustigung.

»Oh, Himmel«, stöhnte Isabella und sah Johanna an. »Es ist gut, dass du jetzt da bist. Als Ältere bist du zuerst dran, das verschafft mir etwas Schonzeit.«

Johanna fand die Vorstellung, auf dem Heiratsmarkt gehandelt zu werden, kaum, dass sie angekommen war, nicht gerade erbaulich. Natürlich wusste sie, dass sie über kurz oder lang heiraten sollte, aber konnte das nicht noch ein wenig warten? Und wie dachte die Großmutter sich das überhaupt? Würde sie einfach für Johanna entscheiden?

Maximilian bot ihnen die Arme, damit sie sich rechts und links von ihm einhaken konnten. »Dann strecken wir mal die Fühler aus und hoffen, dass die Kerle etwas taugen. Was für eine traurige Zukunft stünde euch bevor, wenn ich der einzige anständige Mann in dieser Gesellschaft wäre.«

4

Johanna

Kurz nach der Ausfahrt aus dem Lilienpalais bog die Kutsche ab, und Johannas Blick glitt in Fahrtrichtung aus dem Fenster auf das nördliche Stadttor und dahinter. Die Theatinerkirche – oder St. Kajetan, wie sie offiziell hieß – mit ihren Doppeltürmen und der eindrucksvollen Kuppel ragte darüber hinweg, und als sie sich umwandte, sah sie durch das Tor auch die bemalte Fassade der Residenz.

»Schade eigentlich, dass dieses Tor die Sicht in die Straßen und auf das Schloss versperrt«, bemerkte Isabella. »Und eigentlich verläuft doch noch nicht einmal mehr die Stadtgrenze wirklich hier.«

»Das Schwabinger Tor ist mittlerweile wirklich hinderlich. München platzt aus allen Nähten. Gerade durch die Erweiterung nach Norden mit der Ludwigstraße ist die Grenze verschoben«, bemerkte Maximilian.

Die Kutsche rollte weiter in die Brienner Straße, wie sie seit Kurzem hieß und an deren Ende ein weiteres Schloss des Königs lag, wie man Johanna erklärt hatte. Vorbei an ihrer Kutsche zogen Palais, die denen in der Ludwigstraße kaum nachstanden. Nur noch wenige Baulücken entdeckte sie zwischen den symmetrischen Gebäuden mit diesen stuckverzierten Absetzungen wie ein Gürtel zu den oberen Geschossen und den Balkonen, mal säulengestützt, mal freischwebend.

Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass Johanna durch die Straßen des Viertels fuhr. »Hier wird ziemlich viel gebaut«, stellte sie beeindruckt fest.

»Der Stadtteil ist neu und wurde erst ab 1805 konzipiert«, erklärte Maximilian. »Details könnte dir mein Freund Alexander besser erklären als ich. Mein Gebiet ist ja eher die Medizin, sein Steckenpferd die Architektur.«

»Medizin?«, fragte Johanna.

»Maximilian ist Arzt«, antwortete Isabella. »Sag bloß, das wusstest du nicht?«

»Woher denn? Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, ging er noch zur Schule.« Vielleicht hatten ihre Eltern es mal erwähnt, aber wenn, dann erinnerte sich Johanna nicht daran. München mitsamt ihren Verwandten war so furchtbar weit weg gewesen. »Arbeitest du in einem Krankenhaus?«

»Ich bin gerade erst fertig mit dem Studium.«

»Summa cum laude«, ergänzte Isabella. »Letzten Monat erst.«