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Das Jahr 1914 beginnt für Iwan Bunin ruhig und produktiv. Auf Capri beendet er Erzählungen wie diejenige über den alten Diener Arsenitsch, der im Hause seiner ehemaligen Herrschaft Geschichten von Heiligen erzählt, die die Kinder schaudern machen, oder die über einen ceylonesischen Rikschafahrer – eine Abrechnung mit kolonialen Verhältnissen, wie er sie während seiner Ceylon-Reise erlebt hatte. Auch die Galerie seiner Porträts vom Land setzt Bunin fort – etwa mit der Waise Klascha, die nach dem Tod der Pflegemutter deren Landgasthof retten möchte. Der Kriegsausbruch im Sommer 1914 lässt Bunin fast verstummen. Doch 1915 entstehen zwei seiner berühmtesten Erzählungen: die "Grammatik der Liebe" und "Ein Herr aus San Francisco", die facettenreiche, beklemmende Erzählung vom Tod eines reichen Amerikaners auf Capri. Sie gehört zu den besten Novellen der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 209
Iwan Bunin
Ein Herr aus San Francisco
Erzählungen 1914–1915
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehenvon Thomas Grob
DÖRLEMANN
Die Übersetzung der Erzählungen folgt der Ausgabe:Bunin, I. A., Polnoe sobranie sotschinenij I. A. Bunina. Petrograd:A. F. Marks 1915 (Bd. VI). Mit Ausnahme der Erzählungen»Klascha«: Bunin, I. A., Sobranie sotschinenij I. A. Bunina. Berlin:Petropolis 1934–1936 (Band 6, S. 158–168) und»Ein Herr aus San Francisco«: Bunin, I. A., Gospodin is San-Franzisko.Proiswedenija 1915–1916. Moskwa: Knigoisdatelstwopisatelej 1916 (S. 9–37)Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfondsfür die Förderung ihrer Arbeit am vorliegenden Text. eBook-Ausgabe 2017 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © The Estate of Ivan Bunin © 2017 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung des Gemäldes von Michail Nesterow: Terrasse auf Capri (1889) Porträt Iwan Bunin, S. 5: The Estate of Ivan Bunin Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-03820-947-8www.doerlemann.com
Inhalt
Iwan Bunin
Die Heiligen
Das Haus war voller Gäste – es kamen häufig Gäste nach Mordwes, und sie blieben stets für längere Zeit –, und in der hellen Frostnacht funkelten die Sterne hinter den dünnen Scheiben der alten Fenster. Den Kachelöfen durfte man nicht zu nahe kommen, so glühendheiß waren sie eingeheizt. In allen Zimmern brannten festliche Lampen, in dem zuhinterst gelegenen, dem Diwanzimmer, sogar ein Kronleuchter aus sanft schimmerndem Kristall, das mit der Zeit einen dunklen Goldton angenommen hatte. Im Salon wurden hinter hohen Kandelabern und bei Kerzenschein an drei grünen Tischen die Karten ausgegeben. Der Tisch im Saal war reich gedeckt mit kalten und warmen Platten, Geschirr und bunten Karaffen: Die Gäste kamen immer wieder lachend aus dem Salon herein, füllten ihre Gläser, tranken einander zu, spießten mit der Gabel etwas auf und kehrten dann zu ihren Karten zurück. Im Anrichtezimmer brodelte ein riesiger Samowar: Der alte Büfettier war in Aufregung, er geriet mit Agafja Petrowna aneinander, fauchte und holte mit einem silbernen Löffel nach Ustja aus, während er gleichzeitig geschliffene Schälchen mit Warenje füllte, schwarzen Tee in die Gläser goß und Tabletts in den Salon schickte. Im Dienerzimmer türmten sich duftende Pelze, Mützen und Unterziehmäntel aus Fuchsfell … Und dort, in den Räumen des Onkels, saß Arsenitsch.
Die Kinder liefen bald ins Dienerzimmer, bald ins Anrichtezimmer, bald stellten sie sich neben die Kartenspieler im Salon; aus lauter Langeweile stibitzten sie Wurstscheiben vom Tisch im Saal, oder sie spähten durch die unteren Fensterscheiben: Man sah den tiefhängenden Himmel mit vereinzelten spitzzackigen Sternen, den Schnee, der im Mondlicht wie Salz funkelte, den länglichen, welligen Schatten des Rauchs aus der Küche, und ein Stück weiter weg, hinter den weißen Wiesen, die hohen Abhänge, die dicht mit dunklem, märchenhaft silberübergossenem Nadelwald bewachsen waren. Die Kinder taten es den Gästen nach und sprachen einander mit »Sie« an.
»Mitja, he Mitja«, sagte der schüchterne Wadja, als er genug aus dem Fenster gesehen hatte, »gehen Sie heute zu Arsenitsch?«
»Und Sie?« fragte Mitja, wie immer sehr streng. »Ich gehe ganz gewiß.«
Nach einem Blick in den Salon und das Anrichtezimmer – es war verboten, zu Arsenitsch zu gehen, weil es bei ihm sehr kalt war – durchquerten die Kinder langsam, als gingen sie spazieren, den Saal und schlüpften dann unversehens durch die kleine Tür neben dem Ofen in der Ecke in die leer stehenden Räume, in denen ihr Onkel, der Jäger, gelebt hatte und gestorben war und in denen jetzt Arsenitsch wohnte, wenn er zwei- oder dreimal jährlich seine Herrschaft besuchen kam.
Das Haus lebte sein Leben, fröhlich und festlich, und diese Räume lebten das ihre – ärmlich und allen fremd. Aber Arsenitsch genoß die Nähe zu jenem anderen Leben. Zwei- oder dreimal im Jahr – und stets im Winter, wenn Gäste da waren – wurde der gnädigen Frau gemeldet, daß er an der Vortreppe stehe. Sie ließ ihm dann ausrichten, er solle in die Zimmer des Onkels gehen, und Agafja Petrowna schickte ihm einen Samowar, Wurst, Weißbrot und eine kleine Karaffe mit Wodka. Arsenitsch saß den ganzen Tag mutterseelenallein, trank Tee, rauchte, weinte ergriffen und legte sich spätnachts – unweigerlich zur gleichen Zeit wie die Herrschaften – müde und von Rührung übermannt auf das Stroh beim Ofen. Wenn er etwa eine Woche lang so zugebracht und dann von der Hintertreppe aus die Abreise der Gäste beobachtet hatte, suchte er nach einer Gelegenheit, die gnädige Frau zu sehen, um anschließend, nachdem er sich ausgiebig vor ihr verbeugt und einige Male ihre Hand zum Handkuß erhascht hatte, wieder von dannen zu ziehen, ins Dorf, in sein Quartier bei einem Bauern. Das nannte sich dann »die ehemalige Herrschaft besuchen«.
Es waren im Ganzen zwei Zimmer, die der Onkel bewohnt hatte. Jetzt war es im ersten Zimmer finster, nur zwei bleiche, engsprossige Fensterkreuze lagen am Boden und erfüllten die Dunkelheit mit geheimnisvollem Licht; es roch hier nach den Sätteln des Onkels und nach Ratten. Im anderen Zimmer flackerte düster, mit zuckender Flamme eine dicke Talgkerze in einem schwarzen Blechleuchter auf dem Küchentisch neben dem erkalteten Samowar, und in dichten Schwaden waberte der Rauch: Arsenitsch bekam auch Tabak, aber den schwachen, türkischen, und um auf sein Quantum zu kommen, mußte er pausenlos rauchen. Hier wurde selten geheizt, das Fenster war am Falz von oben bis unten mit pelzigem, grauem Reif bedeckt, und ein frostiger Luftzug drang herein. Ein großes, dunkles Bild hing in der Ecke anstelle einer Ikone: In den Armen einer kaum erkennbaren Gottesmutter lag hölzern-gelblich schimmernd der nackte Jesus, den man vom Kreuz herabgenommen hatte, die verkrustete Wunde unter dem Herzen, das leblose Antlitz zurückgeworfen. Arsenitsch, zerzaust wie Brühschaum, grauhaarig, rot und unrasiert, hockte in einem abgetragenen Rock des Onkels auf einem Schemel am Tisch, das eine Bein, das in einem Filzstiefel steckte, untergeschlagen. Er rauchte eine dicke Selbstgedrehte und vergoß freudig-versonnen bittere Tränen, ohne die dicken Tropfen, die ihm die Nase hinunterrollten, abzuwischen. Wie immer traten die Kinder, ihn mit neugierigen Augen fixierend, an den Tisch und unterzogen seine vor Kälte graublauen Greisenhände, den Kragen seines schmutzigen, ebenfalls vom Onkel stammenden Nachthemds und das rote, runzlige und mit silbrigen Stacheln bedeckte Gesicht einer eingehenden Betrachtung. Arsenitsch wandte sich verschämt ab und kramte in den Taschen nach seinem furchtbaren Schnupftuch.
»Rauchen Sie wieder Ihre Rohrpfeife?« fragte Wadja und heftete seine großen, klaren Augen auf dieses uralte, über Jahre hinweg sorgsam gehütete Stück.
»Jawohl, Herr«, erwiderte Arsenitsch mit einem unterwürfigen Flüstern, wobei er still und selig vor sich hin lächelte und sich die Augen wischte.
»Haben Sie auch Wodka getrunken?« fragte Mitja, wie immer sehr ernsthaft.
»Auch den habe ich getrunken, den verfluchten …«
»Den ganzen?«
»Jawohl«, flüsterte Arsenitsch. »Bloß sagen Sie um Gottes willen Ihrer Mama nichts von meinen Tränen. Ich weine nicht deshalb. Sie wissen doch selbst – es ist nicht das erste Mal …«
»Auf gar keinen Fall werde ich etwas sagen«, erklärte Mitja entschieden. »Und Sie?« fragte er Wadja. »Sie werden doch auch nichts sagen?«
Wadja, der seinen Gedanken nachhing, errötete sachte, bekreuzigte sich hastig und schüttelte den Kopf. Aus dem Saal drangen Lachen und Gemurmel herüber. Jemand hatte den Kartentisch vorübergehend verlassen und spielte die Annen-Polka. Es war schön und traurig zugleich, die altertümlichen Klänge zu vernehmen. Wadja lauschte gedankenverloren und fragte:
»Sind Sie arm?«
Arsenitsch seufzte.
»Armut ist kein Unglück, auch im Reichtum beispielshalber gehen Menschen zugrunde«, erwiderte er. »Ihre Mama gibt mir allmonatlich ein Deputat und einen Silberrubel an Geld, und für mein Quartier zahle ich nicht Gott weiß was, nur einen Viertelrubel im Monat … In diesem Fall kann ich mich über Gott nicht beklagen.«
»Sie sterben jetzt wohl bald«, bemerkte Mitja.
»Da sagen Sie die reinste Wahrheit. Ich schätze, sogar diesen Winter.«
»Waren Sie Jäger?«
»Nein, das hat Gott nicht gefügt. Ich war Büfettier bei Ihrem Großvater.«
»Weinen Sie um den Großvater?«
»Ach, was gibt es da zu weinen!« versetzte Arsenitsch. »Er ist doch beispielshalber schon im Jahre achtundvierzig gestorben. Und hat meines Erachtens keine geringe Zeit gelebt – reichlich siebenundachtzig Jahre. Ich mußte heute um die Hure und Märtyrerin Jelena weinen, um ihr unglückliches Schicksal …«
Unter Arsenitschs Bett, dem am Boden aufgeschütteten Stroh, kam eine Maus hervor, die schon zum Tisch rennen wollte, dann aber in das dunkle Zimmer sauste. Die Kinder folgten ihr mit blitzenden Augen, um dann, die Ellbogen auf dem Tisch aufgestützt, wieder Arsenitschs blankgewetzte Ärmel und die Sehnen an seinem faltigen rosa Hals zu inspizieren.
»Hat man sie hingerichtet?« fragte Wadja, der an die anderen Märtyrerinnen und Märtyrer denken mußte, von denen Arsenitsch unausgesetzt erzählte.
»Wie es eben Brauch war«, erwiderte Arsenitsch. »Bloß nicht mit dem Schwert und nicht durch Folter, sondern auf viel schlimmere Art …«
»Tut sie Ihnen leid?«
»Natürlich tut sie mir leid. Aber ich weine schließlich nicht mehr aus Mitleid, sondern beispielshalber aus meinem treuen Herzen heraus … Es gibt freilich Schlimmeres! Schließlich heißt es nicht umsonst: Jede Gabe wird dem Geber hundertfach vergolten … Hier war die Gabe nicht klein, die Belohnung aber unermeßlich. Die Sache verhielt sich nach alter Überlieferung folgendermaßen«, erzählte Arsenitsch, wobei er sich bemühte, die Kinder nicht anzusehen und seine Augen, die wieder rot geworden waren, von ihnen abzuwenden. »Es war einmal beispielshalber eine ganz und gar unverbesserliche Hure namens Jelena, ein Mädchen aus reichem Haus, eine auffallende Schönheit und eine herzlose Kokotte …«
»Und wo hat sie gelebt?« fragten die Kinder und husteten krampfhaft vom Rauch. »Im Wald?«
»Aber nicht doch, später erst hat der Herr ihr beschieden, für ihre treue Liebe im Wald zu leben und zu leiden, aber zuerst lebte sie in der Hauptstadt, in Saus und Braus, mit Bällen und Maskeraden, und trieb schlicht und ergreifend Hurerei für großes Geld. Trotzdem war sie beispielshalber keine richtige gnädige Frau und hieß bei den Herren nur Adèle, und sie nahm natürlich von allen, egal, ob einer betrunken oder nüchtern war, und hätte vielleicht sogar einen Kanzlisten nicht verschmäht, wenn er Geld gehabt hätte. Die ersten Fürsten und Grafen kamen zu ihr, schenkten das letzte her, was sie besaßen, viele legten ihretwegen sogar Hand an sich … Bloß daß sie in so einem Fall nicht einmal eine Augenbraue hochzog und beispielshalber gleichgültig allen gegenüber war, sich niemandem verbunden fühlte: Sie trug eine ewige, unermessliche Schwermut im Herzen. Eine solche Schwermut, daß man es gar nicht sagen kann!«
»Waren Sie bei ihr zu Besuch?« fragte Wadja.
»Das konnte wohl nicht angehen«, sagte Arsenitsch. »Ich, Herr, war ein einfacher Knecht, bloß einer vom Gesinde. Mich hätten die Herren mit Stöcken davongejagt; und das wäre auch ganz recht gewesen!«
»Und der Großvater?«
»Der Großvater – das ist etwas ganz anderes, bloß war er vielleicht damals noch nicht einmal geboren. Das, Herr, geschah in alter Zeit, so etwas gibt es heute nicht mehr, heute ist eine herzlose Zeit angebrochen … Nun also, ich werde es Ihnen berichten: Diese Jelena war einfach eine gierige Hure, und viele Herren gingen beispielshalber wegen ihrer Schönheit zugrunde wie ein Kohlwurm. Aber eines Tages kommt der Kammerdiener schon spät am Abend zu ihr in den Ankleideraum und meldet, ein charmanter junger Graf aus dem Gefolge der Monarchin und Zarin selbst wünsche sie unverzüglich zu sehen. Sie sitzt beispielshalber nur mit einem Morgenrock angetan bei ihrer Toilette, kämmt mit einem exquisiten Schildpattkamm ihre üppigen Lockenwellen und antwortet, so und so, ich wäre überaus erfreut, aber jetzt ist es zu spät, ich komme ohnehin, sagt sie, um meines Vorteils willen den lieben langen Tag nicht zur Ruhe, folglich kann ich ihn keinesfalls jetzt empfangen und glücklich machen, ich nehme ein parfümiertes Bad und lege mich dann schlafen, die Schwermut nagt an mir, mir sind alle zuwider, ich kann niemanden empfangen … Der Diener entfernt sich, kommt jedoch bald darauf wieder zurück und sagt, so und so, der Graf hat beim Stoßspiel1 sein gesamtes Vermögen verloren und will für seine letzten Mittel …« – Arsenitsch hatte bei diesen Worten seine Stimme kaum in der Gewalt – »und will, sagt er, für seine letzten Mittel eine Nacht wunderbarer Liebe verbringen … Und als er beispielshalber vorgelassen wurde, da bezauberte er sie so unsagbar mit seiner Jugend und seiner schmachtenden Traurigkeit, daß die beiden beschlossen, unverzüglich einen gemeinsamen Tod zu sterben, zur selben Stunde und sogar im selben Augenblick. Aber der Herr hat offensichtlich nicht nach ihrem Wunsch entschieden! Vielleicht war es auch Ihr heiliger Wille«, sagte Arsenitsch, schlug seine entzündeten Augen auf und richtete sie auf die Gottesmutter. »Andere Göttinnen konnten noch nie auf unsere Art leiden und mit uns empfinden, sie hegten nur ihre Leidenschaft, aber Sie Selbst ging wegen Ihrer Liebe zum Kreuz, um zu trauern … Doch kaum hatte der Erlöser ihr gesagt: Weine nicht, meine Mutter, Jungfrau Maria, Meine Qual ist das ewige Leben jetzt und immerdar …«
Arsenitsch fing an zu weinen, und er verstummte für einen Moment, wobei er in der Art von Kindern seinen zerschlissenen Ärmel zwischen die Fingerspitzen nahm und gegen sein tränenüberströmtes Gesicht preßte.
»Ist das alles?« fragten die Kinder, die auf die Fortsetzung warteten, leise.
»Nein, noch nicht«, sagte Arsenitsch mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sie hatten also, wie gesagt, beschlossen zu sterben, und der junge Graf war auch auf der Stelle tot, doch bei ihr hat das Gift nicht gewirkt, ihr ging es bald wieder besser, und so blieb sie wohl noch ein ganzes Jahr auf der großen weiten Welt, um beispielshalber zu leiden und belohnt zu werden für ihre erste und letzte Liebe … Bei einem Mann ist das natürlich etwas anderes … Ein Mann kann sein Objekt lieben und sich trotzdem von anderen verlocken lassen, eine Frau aber nicht, die würde sich so etwas nie erlauben, vielleicht versündigt sie sich auch genau deshalb, weil sie keinen gefunden hat, der ihrer wert ist … Na, und genauso war es auch hier. Sie war natürlich sogar im Gesicht verändert, ganz eingefallen, schöner noch als früher, sie hat sich beispielshalber vollkommen abgewandt von dem seelenlosen weltlichen Leben, ihre Verpflichtungen negligiert und war für kein Gut der Welt bereit, ihren Körper für Liebkosungen herzugeben, nachdem sie den einen bis ins Grab liebgewonnen hatte. Und dann war über kurz oder lang ihre Wirtin unzufrieden und fing an, sie auf allerlei Art zu malträtieren, sie aber packte ohne jede Widerrede zu nachtschlafender Stunde beispielshalber alle ihre Brillanten, ihr Gold und Silber, alle Edelsteine und Broschen, die man ihr geschenkt hatte, verschnürte alles zu einem Bündel und ging hinaus in den Garten und vom Garten auf das weite Feld, in den tiefen Wald, wo vielleicht nur alleine die Adler ihre Kreise ziehen und die Luchse auf den Eichen herumspringen. Sie nimmt also nur dieses Bündel mit und beispielshalber den mütterlichen Segen, ein Bildnis des Heiligen Nikolaj in einer silbernen Fassung, mit Blattgold beschlagen, läuft die Raine entlang, immer der Nase nach, und weint bittere Tränen, genau wie ich – aber freilich vor Freude, daß sie endlich entkommen ist, in die Freiheit, unter die blauen Himmel, und gelangt zu einer großen Herde. Der Hirte fragt, wer sie sei, und sie geht ohne jede Furcht direkt zu ihm, gibt ihm ihr wertvolles Bündel, ihre Kostbarkeiten, zieht ihre prächtige Kleidung und ihre Krinolinen aus und bittet ihn, ihr sein elendes härenes Gewand zu geben. Der Hirte ist natürlich von Herzen froh, zieht augenblicklich seinen zerlumpten Bauernkaftan aus und bedeckt beispielshalber damit ihren fast nackten Körper. Sie aber verneigt sich tief vor ihm, geht als arme Pilgerin weiter und kommt zu einer stillen Kartause, einem wunderschönen Nonnenkloster in diesem tiefen Wald, bittet die Nonnen, sie als einfache Novizin aufzunehmen, und beginnt, gemeinsam mit ihnen Erlösung zu suchen, beispielshalber für ihre Sünden um Vergebung zu flehen und Gott mit aller Kraft um das ewige, immerwährende Leben zu bitten.«
»Wo Motten und Rost sind2«, fügte Wadja hinzu, der sich an frühere Erzählungen von Arsenitsch erinnerte.
»Nein, Herr, nichts dergleichen«, sagte Arsenitsch, »im Gegenteil, da ist unermeßliche Freude. Und so geschah nach Gottes Willen ein unverhoffter Zufall: In jenem Kloster lebte ein uralter Greis, ein leibeigener Maler, der sich zu den Nonnen zurückgezogen hatte, um dort Ruhe und Frieden zu finden. Er malte beispielshalber allerlei Heiligenbilder für die Kirche, und als er ihre Schönheit und ihre Qual sah und die niedrige Arbeit, die sie tat, flehte er sie an, ihm zu erlauben, daß er nach ihr ein Heiligenbild der Himmelskönigin Aller Betrübten Freude3 malen dürfte. Sie fällt ihm zu Füßen und beschwört ihn mit Christus Gott, das nicht zu tun … ›Ich bin‹, sagt sie, ›eine große Sünderin, ewiger Verzagtheit preisgegeben, einer Todsünde, ich trage ein furchtbares Geheimnis in meinem Herzen‹, – kurz, sie gesteht, ›daß ich mich bis heute nicht trennen kann von der Liebe zu einem Mann und noch nicht weiß, ob ich nicht ein Kind unter dem Herzen trage … und schließlich erlaubt das auch meine Kleidung nicht, ich trage eine ärmliche schwarze Kutte und kann sie nicht für eine Minute ablegen – dieses Gelübde habe ich Gott gegeben.‹ … Aber der Greis läßt sich beispielshalber nicht beirren, er sagt: ›Die Kleidung ist statthaft, du bist blaß wie Marmor und wunderschön, und die schwarze Farbe steht dir ausnehmend gut …‹ Schließlich beklagt er sich bei der Mutter Äbtissin selber … Und die befiehlt ihm, unverzüglich dieses Porträt zu malen. Der Greis freut sich natürlich unsäglich und macht sich eiligst an die Arbeit – bleibt nur noch, einen goldenen Strahlenkranz um den Kopf herum zu malen und das Bild in die Kirche zu tragen … Und man wollte dieses Vorhaben schon in die Tat umsetzen, also dieses herrliche Heiligenbild vollenden und es weihen, damit man es beispielshalber in der Kirche aufstellen könnte, als sich mit einem Mal eine schreckliche, unsägliche Sache herausstellt … Nämlich, daß diese Jungfrau Jelena … nun ja, kurz gesagt, in Umständen war – und das konnte sie nun einfach nicht länger verbergen, die Natur selbst läßt das nicht zu … Mein Gott«, rief Arsenitsch kopfschüttelnd, »was sollten die Nonnen denn tun! Die Welt ist überall hartherzig, aber schließlich trug Jelena eine Frucht der Liebe! Sie war noch nie in Umständen gewesen, hatte kein Kind in ihrem Schoß empfangen können, ohne zu lieben, und nun hatte sie wie zum Trotz jemanden liebgewonnen, und da sie nun kein einfaches Mädchen mehr war, sondern eine schwangere Mutter, wie hätte sie da noch Unzucht begehen können?«
»Haben sie sie umbringen lassen?« fragte Mitja.
»Nein, schlimmer – sie jagten sie um Mitternacht in den Wald hinaus«, sagte Arsenitsch. »Und überlegen Sie bitte: Was muß sie da empfunden haben? Mag sein, daß nur die Heilige Thekla so etwas empfunden hat in einem Traum, als ihre Seele den Leidensweg ging. Aber ein weißes Tüchlein, das sie einem armen Pilger gab und das ein Engel in die Waagschale warf, um die Teufel zu beschämen, das hat sie gerettet, denn es wog schwerer als all ihre Sünden.«
»Und warum hat man sie in den Wald hinausgejagt?« fragten die Kinder.
»Wohin denn sonst?« erwiderte Arsenitsch. »In den tiefen, unwegsamen Wald natürlich …«
»Wo die Adler ihre Kreise ziehen«, setzte Wadja hinzu.
»Wahrhaftig, wo die Adler ihre Kreise ziehen und die wilden Tier einen fressen können«, wiederholte Arsenitsch mit bitterem Triumph. »Wo dichtes Waldesdunkel herrschte und allein eine Felsenhöhle ihr als Obdach dienen konnte! In dieser Höhle mußte sie ihr Kind gebären und es beispielshalber wickeln mit dem, was sie gerade hatte, und dazu ihr letztes Hemd in Windelstreifen reißen, während vielleicht die Luchse ringsum rufen und mit ihren grünen Augen von den Eichen heruntersehen und der Trollvogel«, Arsenitsch betonte nachdrücklich die erste Silbe, »der Trollvogel umherfliegt und lärmt, ganz weiß, mit schwarzen Flügeln, er fliegt auf, schreit, will einen beispielshalber mit den Flügeln zu Tode schlagen … Und natürlich konnten die beiden, der schutzlose Säugling und die Mutter, diese Qual nicht ertragen, den Hunger, die Kälte, die Schande, und sie verstarben ebendort, weil die Mutter keine Milch in den Brüsten hatte und auch nicht den kleinsten Bissen Brot als Nahrung … Und was geschah danach, was für ein unverhofftes Wunder? Die Tiere, die Vögel, sie alle fingen an, um sie zu klagen und zu trauern, und ein solcher Wirbelsturm erhob sich im Wald, daß zur tiefsten Mitternacht das ganze Kloster von diesem Lärm erwachte, und der uralte Greis, der Maler, sprang beispielshalber von seiner Bettstatt hoch, hörte in diesem schrecklichen Lärm eine Stimme, die ihm befahl, schnellstmöglich in den Wald zu gehen – und so, wie er war, lief er los, alle zu wecken, er ruft die Mutter Äbtissin, ruft die älteste Nonne –, und sie machen sich zu dritt mit Fackeln und Laternen auf in diesen unwegsamen Wald. Aber dort liegt beispielshalber nur der schon entseelte Körper! Tiefstes Waldesdickicht, und darin liegt unter einer Kiefer, die man auch Fichte nennt, die Mutter, unbeschreiblich schön, ganz weiß wie Schnee, in ihrer schwarzen Kutte, ihrem Totenhemd, mit dem toten Säugling an der unfruchtbaren Brust – und um ihren Kopf brennt ein feuriger Strahlenkranz und beleuchtet ihr bleiches Antlitz und die Kutte: eben der also, den der alte Maler nicht gewagt hatte, auf seiner Ikone zu malen, als er von Jelenas Sünde erfuhr und davon, wer sie in der Welt gewesen war! … Ist das etwa kein großes Wunder, ist das etwa kein Fingerzeig?« rief Arsenitsch begeistert und verbittert und blickte mit fragenden, roten Augen, die sein zerzaustes graues Haar noch weißer aussehen ließen, auf die Kinder.
»Hat man sie ins Kloster gebracht?« fragten die Kinder.
»Ja sicher, wohin denn sonst? Und natürlich wurde ihr mit großen Ehrenbezeigungen die Totenmesse gelesen, und man begrub sie direkt in der Kirche, wie Reliquien, sogar zusammen mit dem Säugling, und man küßte ihr unter Tränen ehrerbietig die kleine Hand … Und dabei erinnerte man sich wohl auch daran, was die heiligen Apostel uns auftrugen: Seid eingedenk – die Liebe tilgt die große, unermeßliche Menge unserer Sünden!«
Die düstere Kerze loderte wie ein Kienspan. Arsenitsch war verstummt, er schwieg lange, in Gedanken versunken, und sah dabei auf seine Hand und das Schnupftuch, das er darin eingeklemmt hatte. Mitja stocherte konzentriert und ernsthaft an dem über und über mit erkaltetem Talg bedeckten Kerzenleuchter herum. Wadja blickte mit reglosen, schon schläfrigen Augen unverwandt in die Flamme. Im Saal spielte man wieder die Annen-Polka, und jemand rief lachend: »Nicht loslassen! Nicht loslassen!« Plötzlich besann sich Wadja und fragte mit heiserer kleiner Stimme:
»Werden Sie mal ein Heiliger sein?«
Arsenitsch schüttelte den Kopf.
»Ach, Herr, das ist eine große Sünde, was Sie da sagen! Ich bin bloß ein Hund, der sein Leben lang nur um die Herrschaften war, keinen einzigen Tag des Leidens gekannt hat. Wofür sollte man mich belohnen?«
»Haben Sie sich das alles selbst ausgedacht?«
»Gott bewahre! Ich höre das alles im Volk und nehme es aus Büchern. In den Mußestunden sitze ich und lese – ich habe Bücher sondergleichen, uralte … Meine Seele ist wahrhaft nicht aus diesem Jahrhundert … Der Herr hat mir, ohne daß ich es verdient hätte, eine große Gabe gegeben. Diese Gabe können die greisen Mönche aus Walaam4 erst im hohen Alter erlangen, und auch dann nicht alle. Diese wunderbare Gabe wird die Tränengabe genannt. Und wie ich beispielshalber Gedichte liebe, das ist gar nicht zu sagen!«
Arsenitsch sah die Kinder mit bekümmerten und zugleich heiteren Augen an und begann auf altertümliche Weise, mit melodischer Dehnung der Vokale, die im Versmaß betont werden mußten, zu deklamieren:
Vor meinem Tod nur einen Wunsch ich hab’:
Setzt eine Tanne mir aufs Grab!
Draußen knirschten Schlittenkufen über die Schneewehen, knirschend und mit Schellengerassel näherten sich Pferde der Vortreppe: Ein Glückspilz fuhr hinaus in die helle Frostnacht, in die nebelverhangen-silbrigen Wälder, die sich jenseits der Wiesen von Mordwes märchenhaft dunkel abhoben. Im Saal drehte sich hüpfend die Annen-Polka, und Arsenitsch wiegte mit geschlossenen Augen und einem kaum merklichen, glücklichen Lächeln den Kopf im Takt.
»Ach, das weltliche Leben ist auch schön!« sagte er seufzend. »Wenn es nach mir ginge, ich würde tausend Jahre auf der Welt leben.«
»Und warum?«