Ein Sommer in Corona del Mar - Rufi Thorpe - E-Book

Ein Sommer in Corona del Mar E-Book

Rufi Thorpe

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Beschreibung

Es ist Sommer in der südkalifornischen Stadt Corona del Mar. Die beiden Freundinnen Mia und Lorrie Ann sind unzertrennlich. Doch als Lorrie Anns Vater stirbt, weiß Mia nicht, was sie für ihre Freundin tun kann. Und dies ist nur der erste von vielen schweren Schicksalsschlägen, die Lorrie Ann treffen werden … Jahre später steht Lorrie Ann plötzlich wieder vor Mias Tür: barfuß, hungrig und vom Leben gezeichnet. Und Mia kann nicht verstehen, wie das Leben ihrer scheinbar makellosen Freundin so aus dem Ruder laufen konnte. Kann es sein, dass sie Lorrie Ann nie wirklich gekannt hat?

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Seitenzahl: 421

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Zum Buch

Es ist Sommer in der südkalifornischen Stadt Corona del Mar. Die beiden Freundinnen Mia und Lorrie Ann sind unzertrennlich. Doch als Lorrie Anns Vater stirbt, weiß Mia nicht, was sie für ihre Freundin tun kann. Und dies ist nur der erste von vielen schweren Schicksalsschlägen, die Lorrie Ann treffen werden … Jahre später steht sie plötzlich wieder vor Mias Tür: barfuß, hungrig und vom Leben gezeichnet. Und Mia kann nicht verstehen, wie das Leben ihrer scheinbar makellosen Freundin so aus dem Ruder laufen konnte. Kann es sein, dass sie Lorrie Ann nie wirklich gekannt hat?

Zur Autorin

RUFI THORPE wuchs in Kalifornien auf und studierte in New York Literatur und Kreatives Schreiben. Ihr erster Roman »Ein Sommer in Corona del Mar« war nominiert für den International Dylan Thomas Prize und den Flaherty-Dunnan First Novel Prize. Rufi Thorpe lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Kalifornien.

RUFI THORPE

EIN SOMMER IN CORONA DEL MAR

ROMAN

Aus dem Englischenvon Beate Brammertz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Girls from Corona del Mar« bei Alfred. A. Knopf, New York.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung April 2017

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Rufi Thorpe

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Sonzogno Publishing House

Umschlagmotiv: © Maria Cecilia Azzali

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mr · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-13027-5V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Für Simone

KAPITEL EINS Der beste Tee der Welt

»Du musst mir einen Zeh brechen«, erklärte ich. Lorrie Ann und ich sonnten uns auf der winzigen umzäunten Terrasse meiner Mutter auf dünnen Handtüchern, die direkt auf den heißen, rissigen Steinplatten ausgebreitet waren. Wir hatten uns jeweils den Saft einer Plastikzitrone aus dem Supermarkt ins Haar gequetscht und hofften inständig, blonder zu werden, immer blonder, die Augen geschlossen gegen das grelle Licht der Sonne. Der Wind trug einen Hauch von Jasmin zu uns herüber.

In unserer kleinen kalifornischen Neunzigerjahre-Siedlung gab es kein Mädchen, das perfekter war als Lorrie Ann Swift, und zwar nicht so sehr, weil sie außergewöhnlich gewesen wäre, sondern weil sie auf eine Art gewöhnlich war, die uns alle übertraf. Ihre Eltern liebten sie, und sie liebte ihre Eltern. Genau genommen war es sogar schwierig, zu ihr nach Hause eingeladen zu werden, derart zogen sie ihre eigene Gesellschaft der anderer vor. Selbst ihr älterer Bruder teilte seine CD-Sammlung mit ihr und gab ihr Tipps fürs Brustschwimmen, statt sie höhnisch zu verlachen oder sie mit dem Fahrrad zu rammen, wie ältere Brüder es für gewöhnlich tun.

Unsere Eltern war fast alle aufgrund einer Verkettung verheerender Fehlentscheidungen in dem verschlafenen Küstennest Corona del Mar gelandet. Die südkalifornischen Immobilienpreise, die während der gesamten Achtzigerjahre den Anschein erweckt hatten, ungebremst in den Himmel zu klettern, waren jäh zusammengebrochen, und viele Väter waren nun Hausmänner, die ihre Zeit zu gleichen Teilen der Flasche und der Couch widmeten, einen Eisbeutel über den Augen, während sich ihre Ehefrauen abkämpften, um zertifizierte Zahnhygienikerinnen zu werden. Ein Mädchen, Miranda, hatte eine Mutter, die tagsüber in Disneyland schuftete und dann die ganze Nacht hindurch von zu Hause aus als Hellseherin für eine Telefon-Hotline arbeitete. »Man verdient sogar noch besser als beim Telefonsex«, berichtete Miranda eines Nachmittags, während wir zuckerfreies knalloranges Jell-O-Brausepulver aus winzigen Tassen leckten. Ich erinnere mich auch noch, dass sie vier extrem alte Rottweiler besaßen, von denen zwei keinerlei Kontrolle mehr über ihre Blase hatten.

Zumeist hatten unsere Eltern angenommen, das Leben wäre selbsterklärend und dass sie es, aufgeweckt und eifrig, wie sie waren, ohne Probleme meistern könnten. Dieser Glaube, der Glaube an ihre eigene Tauglichkeit, ließ sie allmählich im Stich und wurde, zumindest im Fall meiner Mutter, von einem Interesse an allem Okkulten und einer anhaltenden Vorliebe für Rotwein ersetzt. Teils wurden die Babyboomer als optimistisch bezeichnet, aber meiner Ansicht nach waren sie einfach nur weich und geradezu unbedarft. Sie konnten weder kochen noch nähen oder ihre eigenen Scheckbücher in Ordnung halten. Sie hatten Schwierigkeiten beim Öffnen der Post. Sie bekamen Kopfschmerzen, sobald sie Pfadfinderinnentreffen leiteten, setzten sich auf Klappstühle, rieben sich mit den Fingern über die Nasenrücken und versuchten, nicht in Tränen darüber auszubrechen, als wie langweilig und hart sich das Leben entpuppt hatte, während um sie herum aufgedrehte kleine Mädchen vor Lachen schrien, da eines von ihnen in Kacka getreten war.

Lorrie Anns Eltern hingegen verloren nie den Glauben. Sie lebten in einer anderen, besseren Welt. Sie gingen jeden Sonntag zur Kirche. Sie liehen sich jeden Freitagabend Horrorklassiker aus, und selbst Lorrie Anns älterer Bruder, damals sechzehn, blieb zu Hause, um sich die Filme mit ihnen anzuschauen, während sie Pizza bestellten und in der winzigen Zweizimmerwohnung, in der sie zu viert wohnten, Popcorn zubereiteten. Ihr Vater Terry hatte einen Ohrring (eine große goldene Kreole wie ein Pirat) und trug zu Elternsprechstunden in der Schule einen mit Seide gefütterten Zylinder. Er war ein christlicher Rockmusiker. Lorrie Anns Mutter Dana arbeitete als Erzieherin und sammelte Zwerge: Keramik- und Holzzwerge jeglicher Größe und Form, die auf dem Boden und auf Tischen und Regalen standen, mit dem Rücken zur Wand, die stumpfen Augen auf die Zimmermitte gerichtet.

Ganz gewiss wäre Lorrie Ann niemals so dumm gewesen, sich in der zehnten Klasse von einem Jungen schwängern zu lassen, den sie nicht einmal sonderlich mochte, davon war ich überzeugt. Genau das hatte ich nämlich getan. Und dennoch war es Lorrie Ann, die mich im Frühling, als ich fünfzehn wurde, zu meiner Abtreibung begleitete und die mir half, alles zu organisieren. Sie war schon sechzehn und hatte einen Führerschein, aber ich brauchte sie nicht nur als meine Fahrerin. Ich brauchte sie, mit all ihrer Güte und spröden Steifheit, damit sie mir verzieh. Indem sie sich an meinem Vorhaben beteiligte, gab sie mir in gewisser Weise ihre Zustimmung.

»Kannst du nicht einfach behaupten, du hättest deine Tage? Warum muss ich dir den Zeh brechen?«, fragte Lorrie Ann, die Augen hinter den staubigen Gläsern der Sonnenbrille verborgen, die sie sich von ihrer Mutter geliehen hatte.

»Wer verpasst ein Meisterschaftsspiel, weil er Krämpfe hat?«, gab ich zu bedenken. Einen Termin in der Frauenklinik zu ergattern war ein Albtraum gewesen. Es war unmöglich, ihn zu verschieben, und ich bezweifelte stark, tags darauf Softball spielen zu können. Ich wollte, dass Lorrie Ann mir den Zeh brach, damit ich meinem Trainer eine echte und schwerwiegende Verletzung vorweisen konnte. Außerdem betrachtete ich den gebrochenen Zeh auf eine verquere Art als den Preis für die Abtreibung an sich, als Möglichkeit, mir selbst zu versichern, ich sei immer noch ein anständiger Mensch – es war die Bestrafung, die das Böse wiedergutmachen sollte. Obwohl ohne jegliche Religion erzogen, war ich allein dank meines Naturells im Grunde Katholikin.

»Sag einfach, du bist krank!«, beharrte sie.

»Ich lüge nicht gern, und mit der Geschichte komme ich so nah wie möglich an die Wahrheit heran.«

Lorrie Ann sah mich niedergeschlagen an. »Du bist verrückt«, sagte sie. »Du lügst ständig.«

»Ja, und ich hasse es. Alles wird gut. Wir betrinken uns, und du bringst es einfach hinter dich.«

Es ergab intuitiv und symbolisch gesehen unglaublich viel Sinn, die wunderschöne, unschuldige und gutherzige Lorrie Ann zu zwingen, mir den Zeh zu brechen und mich für meine Abtreibung zu bestrafen. Für uns hatte Lorrie Anns Familie etwas Magisches an sich, und diese Magie färbte auf Lorrie Ann ab. Sie verlieh ihren honigblonden Haaren einen goldenen Schimmer und ließ das Ozeanblau ihrer Augen noch intensiver leuchten. Ihre Stupsnase wirkte elegant, statt nur ein Hinweis auf ihre irische Abstammung zu sein. Diese Magie war der Grund, weshalb es süß und nicht bescheuert war, dass Lorrie Ann das letzte Mädchen in der sechsten Klasse war, das sich die Beine noch immer nicht rasierte. Ich denke, wir alle waren neidisch auf diesen goldenen Flaum ihrer Beinbehaarung, der Lorrie Anns Waden wie ein Hauch von Feenstaub bedeckte. Warum sah es an ihr so wunderschön aus und so hässlich und beschämend an unseren eigenen schwerfälligen kleinen Schienbeinen? Warum sah Lorrie Ann so schick aus in ausgelatschten Keds und Shorts, die ihr einen Tick zu klein waren? Warum war es bezaubernd, wenn sie vor Lachen laut prustete?

Ja, wir waren eifersüchtig auf sie, und dennoch hassten wir sie nicht. Sie wurde noch nicht einmal von uns aufgezogen, uns streunenden und durchgeknallten Mädchen aus Corona del Mar, die wir gesalzene Erdnüsse und Orangenlimonade klauten, Unmengen an Lipgloss und Kraftausdrücken benutzten, uns Töchtern falscher Hellseherinnen und frisch zertifizierter Punktionskräfte.

Und dann, als es kurz nach dem Highschoolabschluss anfing, dass Lorrie Ann schreckliche Dinge zustießen, waren wir alle schockiert. Es war wie eine skurrile, postmoderne Version des Buches Hiob. Wir waren versteinert, wie gelähmt, und nicht einmal zu solch traditionellen Gesten in der Lage wie einen Auflauf vorbeizubringen oder zumindest angemessen zu schweigen. Die Geschichte von Lorrie Ann wurde zu etwas, das uns im Halse stecken blieb und uns zum Verstummen brachte, während wir nervös unsere Berufswahl trafen und mit großem Zweifel und Aberglauben einwilligten, die Männer zu heiraten, in die wir verliebt waren. (Alle unsere Eltern waren geschieden – wie sollte es uns also gelingen, keine Angst zu haben? Alle unsere Eltern, außer natürlich Lorrie Anns.)

In gewisser Hinsicht machte mich Lorrie Ann zu der Frau, die ich bin, denn meine Persönlichkeit formte sich als eine gleichartige, entgegengesetzte Reaktion zu dem, was sie war, genau wie sich ihre Persönlichkeit, da bin ich mir sicher, durch mich herausbildete. Menschen tun solche Dinge. Sie teilen Eigenschaften untereinander auf, als müsse die Realität, um überhaupt beherrschbar zu sein, klassifiziert, etikettiert und abgeheftet werden. Bis zum heutigen Tag hält meine Mutter sich für die Kluge und ihre Schwester für die Hübsche, obwohl ihre Schwester einen Doktor in Meeresbiologie hat und meine Mutter Visagistin wurde. Für mich war meine Freundin Lorrie Ann die Gute, und ich war die Böse. Sie war wunderschön (geradezu skandalös, wie ein Gemälde von Vermeer), ich hingegen sexy (mit dreizehn bedurfte es nichts weiter als einer Tonne kirschfarbenem Labello). Wir waren beide schlau, aber Lorrie Ann auf die nachdenkliche Art, wohingegen ich gewieft war, sie ernst und ich verschroben. Während sie sentimental war, war ich sarkastisch. Normalerweise können Mädchenfreundschaften in Kartons voller Postkarten und abgerissener Eintrittskarten verstaut werden, doch was mich und Lorrie Ann verband, ließ sich nicht so leicht in eine Schublade stecken.

Und so fuhren wir am folgenden Wochenende zur Frauenklinik in der Neunzehnten Straße in Costa Mesa, ich bekam meine Abtreibung, und dann aßen wir anschließend in einem In-N-Out. Mir war so schlecht, dass es das Beste gewesen wäre, einfach nach Hause zu fahren und mich auf dem Sofa zu verkriechen, wie damals in der Grundschule, wenn ich krank war. Ein Heizkissen und eine Handvoll Schmerztabletten wären himmlisch gewesen. Aber ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich bemuttert werden wollte. Ich wollte tough sein, entsetzlich gelangweilt von dem, was mir gerade widerfahren war, damit es vielleicht tatsächlich an Bedeutung verlieren würde, wenn ich nur so tat, als wäre es belanglos. Als ich das In-N-Out vorschlug, hatte Lorrie Ann keine andere Wahl, als mich dorthin zu fahren. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Wie fühlst du dich?«

»Mir geht’s klasse«, sagte ich, und Lorrie Ann lachte nervös.

Doch nachdem wir bestellt hatten und mit dem Essen, das keiner von uns wollte, auf der brütend heißen Steinbank saßen, schien es uns die Sprache verschlagen zu haben, und ich wusste, wollten wir weiterhin richtige Freundinnen bleiben, müsste ich einen Weg finden, sie hereinzulassen, ihr einen Einblick in jene kalten und grell erleuchteten Minuten zu geben, die ich gerade ohne sie erlebt hatte.

»Die Krankenschwester hatte einen Schnurrbart«, sagte ich schließlich. Ich rief mir ihr Gesicht ins Gedächtnis, das während der ganzen Prozedur über mir geschwebt hatte – so hatten sie es immer genannt, »die Prozedur«. Der Ausdruck in ihren Augen war schwer zu deuten. Es war kein Mitleid, aber gleichzeitig war es auch keine Verurteilung. Da gab es keine unverhohlenen Gefühle, und dennoch war ihr Gesicht ehrlich und offen. Auf einmal wusste ich es: Die Krankenschwester hatte auf dieselbe gleichgültige Art zu mir herabgesehen, wie man sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet – hatte es gemustert, als gehöre es gar nicht einem anderen Menschen.

»Ich glaube, sie hat mich gehasst«, sagte ich. »Oder sie hat das alles gehasst: Abtreibungen und junge Mädchen, die sich samstags einer unterziehen. Oder vielleicht war ihr auch langweilig. Vielleicht war ihr während meiner Abtreibung bloß langweilig. Das ist komisch, nicht? Dass es das Größte, Angsteinflößendste und Schlimmste ist, das mir je widerfahren ist, und für sie war es nichts weiter als ein normaler Arbeitstag.«

»Es tut mir so leid«, sagte Lorrie Ann, legte ihre Pommes weg und schnippte sich das Salz von den Fingern. »Mir geht ständig durch den Kopf, dass ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle dort gewesen, dass ich es für dich hätte tun können, damit du es nicht tun musst.« Sie stand den Tränen nahe, was mir eine echte Hilfe war. Würde sie weinen, könnte ich es nicht tun, und es war leichter, sie zu trösten als mich selbst.

»Eigentlich war es gar nicht so schlimm«, erklärte ich. »Irgendwie halten sie das alles von einem fern. Sie verstecken es vor einem. Vielleicht wäre es besser, wenn sie es nicht täten, wenn man es sehen müsste, wenn man es wüsste. Ganz ehrlich, ich hatte Besuche beim Zahnarzt, die auf der Schmerz- und Ekel-Skala viel schlimmer waren.«

Lorrie Ann sah mich an, dann lachte sie leise. »Du Lügnerin!«

Anschließend fuhren wir zu mir, wo meine Mutter blöderweise zu Hause und blöderweise betrunken war. Das Schlimmste an meiner betrunkenen Mutter war, wie sentimental sie dann wurde. »Ich liebe euch Mädchen so sehr«, flüsterte sie, während sie uns die Brauen zupfte und sich ihre eigenen Augen mit Tränen füllten. »Ihr seid so wunderschön.«

Ich erinnere mich, dass ich wie ein abgestochenes Schwein blutete und den Nachmittag über eine Binde nach der anderen verbrauchte, während sie uns einer Gesichtsbehandlung unterzog und der Ventilator jedes Mal leise klickte, sobald er eine träge Runde im Wohnzimmer hinter sich gebracht hatte. Ich musste lügen und behaupten, ich hätte meine Tage, um meine ständigen Toilettenbesuche und meine Zerstreutheit samt glasigem Blick zu erklären. Ich spürte, dass Lorrie Ann sich Sorgen um mich machte, und versuchte mir, sobald uns meine Mutter den Rücken zuwandte, ein Lächeln abzuringen, mit den Schultern zu zucken und ihr lautlos mitzuteilen, dass es mir gut ginge. Doch je mehr ich darauf beharrte, alles wäre in Ordnung, desto panischer wurde ich innerlich, was schließlich in einer sonderbar schläfrigen Beklemmung gipfelte.

Meine Brüder waren wie erschlagen von der Hitze und lümmelten auf den Ledersofas. In Wirklichkeit waren sie meine Halbbrüder, gezeugt von meinem neuen Stiefvater Paddy. Mein richtiger Vater war abgehauen und lebte in San Francisco das glamouröse Leben eines Autoverkäufers, wo ich ihn einmal im Jahr besuchte, normalerweise für zwei oder drei Tage, obwohl wir meist schon am Ende des ersten Tages völlig erschöpft von dem Versuch waren, nett zueinander zu sein. Mein Vater fühlte sich nie wie Familie an, nicht wie meine Brüder. Sie waren damals fünf und sechs, nackt, abgesehen von ihren Superman-Unterhosen. Die samtige Bräune ihrer Haut hob sich gegen das schwarze Leder ab und schien zu glühen.

»Dieses Serum hat einen leichten Peelingeffekt«, informierte uns meine Mutter und lallte dabei nur leicht. Sie war Visagistin für Chanel, und mein ganzes Leben bestand aus einer Aneinanderreihung von Gratispröbchen: winzige Cremedosen, die mir als Talisman in die Hand gedrückt wurden, um Gefahren abzuwenden.

Den ganzen Nachmittag und Abend warteten Lorrie Ann und ich: dass unsere neuen Gesichter zum Vorschein kamen, dass meine Mutter endlich das Bewusstsein verlor, dass meine Brüder zu Bett gingen (damals liebten sie immer noch Goodnight Moon – Gott, was für ein langweiliges Buch! Gute Nacht dies, Gute Nacht das, wieder und immer wieder). Schließlich, lang nach Mitternacht, schlichen Lorrie Ann und ich uns mit einem Hammer bewaffnet auf die kleine Terrasse.

Ich erinnere mich, dass Lorrie Ann an ihren Fingernägeln kaute. Ihre Mutter Dana, die ihr diese Angewohnheit abgewöhnen wollte, hatte ihr die Nägel mit einem Mittelchen bestrichen, das den verstörenden Namen Hoof Hands trug. Doch Lorrie Ann gestand mir heimlich, dass sie den bitteren Geschmack mochte und es ihr gefiel, den Lack abzuknabbern, der wie Batteriesäure auf ihrer Zunge schmolz, nur um ihre Mutter anschließend anzuflehen, ihre Nägel wieder mit dem Zeug einzupinseln.

»Ich kann das nicht, Mia«, sagte Lorrie Ann, legte den Hammer weg und begann augenblicklich, an ihren Nägeln zu kauen.

»Verdammt, mach schon!«, rief ich. Wir waren beide sehr, sehr betrunken. Meine Mutter hatte begonnen, Wein im Tetra Pak zu kaufen, seit mein Stiefvater von dem italienischen Restaurant gefeuert worden war, in dem er gearbeitet hatte. Angeblich wollte er jetzt Friseur werden.

»Ich kann einfach nicht«, wiederholte Lorrie Ann und brach in Tränen aus.

»Na schön«, sagte ich, »du verdammtes Baby!« Ich erinnere mich, dass der Nachthimmel klar war, es vor Sternen nur so wimmelte. Ich schnappte mir den Hammer und ließ ihn so fest ich nur konnte auf meinen Zeh hinabsausen.

Und nun zu dem Thema, wie ich überhaupt erst schwanger geworden war: Ich gehörte zu dem, wie es schien, unglaublich kleinen Prozentsatz an Mädchen, die beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit geschwängert werden. In meinem Fall war sein Name Ryan Almquist, und er hatte, als ich um ein Kondom bat, mit Bestimmtheit erklärt, dass es erst am Ende zum Einsatz käme. Wir waren in seinem Van, in dem es nach Surfbrettwachs und Schimmel roch, eine Kombination, die nicht gänzlich unangenehm war.

»Am Ende?«

»Ja, du Dummerchen«, sagte er und küsste mir den Hals.

Da ich wusste, dass der Zweck eines Kondoms darin bestand, alle Spermien aufzufangen, und dass dies definitiv am Ende geschah und demzufolge auch das Ende vom Sex bedeutete, erschien mir die Behauptung nicht sonderlich abwegig. Im Nachhinein und insbesondere nachdem ich bemerkt hatte, dass ich schwanger war, schämte ich mich entsetzlich für meine eigene Naivität.

Ich wäre noch wütender gewesen, hätte ich geglaubt, dass Ryan mich absichtlich belogen hätte, aber ich war so gut wie sicher, dass er tatsächlich ein solcher Vollidiot war. Das war immerhin teilweise der Grund, weshalb ich ihn ausgesucht hatte, um mit seiner Hilfe meine Unschuld zu verlieren. Lorrie Ann hatte mir geduldig zugehört, als ich ihr meine Beweggründe erläutert hatte, obwohl ich wusste, dass sie nicht überzeugt war: Eine von uns beiden musste es als Erste hinter sich bringen, erklärte ich, und das konnte ebenso gut ich sein. Ryan war (a) harmlos, (b) heiß und (c) stolzer Besitzer eines Vans. Außerdem besuchte er eine andere Highschool, weshalb sich der Klatsch auf ein Minimum reduzieren würde.

»Willst du den Menschen, mit dem du so etwas tust, denn nicht lieben?«, hatte Lorrie Ann gefragt.

»Nein«, sagte ich. »Denn was, wenn es wehtut und schrecklich ist und es damit endet, dass man etwas Peinliches tut und weint oder blutet oder furzt oder so was in der Art? Es ist besser, es mit jemandem zu tun, der einem gleichgültig ist.«

»Ich denke, ich würde es lieber mit jemandem tun, den ich liebe«, sagte Lorrie Ann leise.

»Nun, für dich mag das eine Option sein«, erwiderte ich, »aber wen sollte ich mit diesem schwarzen Herzen schon lieben?«

Lorrie Ann und ich rissen häufig Witze darüber, dass mein Herz nichts weiter als ein kleiner dunkler Stein war, der schmerzhaft in meiner Brust steckte und stumpf wie Grafit oder Kohle schimmerte.

»Ich liebe nicht mal meine eigene Mutter!«, rief ich dann, während sich Lorrie Ann vor schallendem Gelächter den Bauch hielt.

»Tust du schon«, sagte sie dann wie immer.

»Nein«, japste ich atemlos, lachend, »wirklich, tu ich nicht.«

Viele, viele Jahre später, in Istanbul, machte ich mir immer noch Sorgen, mein Herz bestünde tatsächlich aus Stein. Da war Franklin, ein Gastdozent an der UMich, der mich in die Keilschrift einführte, die allererste Schrift, die jemals erfunden worden war, sein Spezialgebiet, und er war es, der erstmals den Wunsch in mir hervorrief, mein Herz wäre aus etwas anderem gemacht: flauschiger Häschen-Essenz vielleicht oder Elfenstaub oder Nougat oder welch zartes Fleisch ein Durchschnittsmädchen eben besitzen mochte.

Keilschrift war mir nie zuvor untergekommen. Mein Fachgebiet war die Altphilologie, insbesondere Latein. Doch im Frühling 2005 entschlossen wir uns, gemeinsam eine Übersetzung des gesamten Inanna-Zyklus zu versuchen, einer Sammlung uralter Lieder, die die Geschichte der sumerischen Göttin Inanna nacherzählen. Als Dozentin der Altphilologie war ich bereits einem Haufen Göttinnen begegnet. Im Grunde war mein Entschluss, griechische und römische Literatur und Kultur zu studieren, wohl dem Midlife-Crisis-Kauf meiner Mutter von Goddesses in Everywoman zuzuschreiben. Ich erinnere mich immer noch, wie ich das zerfledderte Taschenbuch in der Badewanne las, während mein Bruder Alex gegen die Tür hämmerte, um hereinkommen und aufs Klo gehen zu können. Die Götter faszinierten mich: ihre Amoralität, ihre Launenhaftigkeit, ihre Mordlust. Doch selbst in all meiner Lesewut, bei der unzählige Bücher unser Apartment wie die Rückenpanzer von Käfern übersäten, selbst an der Universität, diesen sieben anstrengenden Jahren, in denen ich mich allmählich an die Jahrgangsspitze hocharbeitete, war mir niemals eine Göttin wie Inanna begegnet. Sie war ein echter Rockstar. Sie trickste ihren Vater aus, sodass er ihr im Suff all seine Weisheit übertrug, die sie anschließend ihrem Volk als Geschenk übergab. Sie heiratete einen Sterblichen und krönte ihn zum König. Und dann, als sie alles hatte, als ihr die ganze Welt zu Füßen lag, keimte in ihr ein Hunger nach dem Tod, und sie pochte darauf, allein in die Unterwelt zu wandeln, wo sie getötet und dann wiedergeboren wurde.

Niemand zuvor hatte den gesamten Inanna-Zyklus veröffentlicht. Ihre Geschichte war noch immer unbesungen, wartete beharrlich in jenen Lehmtafeln, die mit keilförmiger Schrift überzogen waren, jenem Schriftsystem ohne jegliche Satz- oder Leerzeichen zwischen den Wörtern, das mich an die filigranen Muster auf ukrainischen Ostereiern erinnerte. Nur winzige Auszüge waren während der vielen vergangenen Jahrhunderte in Aufsätzen veröffentlicht worden, weshalb wir im Herbst 2006 das Stipendium und die Fördermittel bekamen und gemeinsam nach Istanbul reisten, um an der ersten zusammenhängenden Übersetzung des vollständigen Inanna-Zyklus zu arbeiten.

Vor Franklin hatte ich noch nicht einmal von Inanna gehört. Franklin erklärte, dass es dafür einen Grund gäbe. Als die Fragmente, die etwa viertausend Jahre unentdeckt in der Ruinenstätte Nippur gelegen hatten, 1889 gehoben wurden, teilte man die Beute gleichmäßig zwischen der Universität von Pennsylvania, die die Ausgrabung finanziert, und dem Istanbuler Museum für altorientalische Kunst auf, das die Ausgrabung überhaupt erst bewilligt hatte. Doch niemand las die Tafeln, während sie sortiert wurden, weshalb sie einfach nur gerecht aufgeteilt und zu ihrem jeweiligen Ziel verladen wurden. Und so kam es, dass sich die Hälfte der Tontafeln, auf denen Inannas Geschichte stand, in Istanbul befand und die andere Hälfte in Philadelphia und niemand bisher den ganzen Zyklus gelesen hatte.

In Istanbul war es nun meine Aufgabe, Franklins holprige Übersetzung in etwas zu verwandeln, das Amerikaner auch wirklich lesen wollten. Und währenddessen verliebte ich mich in eine Göttin, die für Tausende von Jahren in Vergessenheit geraten war. In unserem Wohnblock gab es ein kleines Mädchen namens Bensu, was so viel wie »Ich bin Wasser« bedeutete. Es wohnte in der Wohnung unter uns und war vielleicht fünf, hatte einen geschürzten Schmollmund, riesige grüne Augen, die aussahen, als wären sie aus einem künstlich hergestellten Smaragd geschnitten, und eine Zunge, die hübsche kleine Sätze in Englisch oder Türkisch herauspresste, als wäre die Kleine ein Spielzeug, das von einem multikulturellen Idealisten erschaffen worden war. Und wegen der Arglosigkeit, die ich auf sie projizierte, überraschte mich die Verdorbenheit von Bensus Einfällen immer wieder aufs Neue.

»Nur eine Minute«, sagte Bensu an mich gerichtet. »Nur zehn Sekunden.«

Was Bensu wollte, war, dass ich im Treppenhaus stehen blieb, meine Tüte mit den Lebensmitteln absetzte und so tat, als würde ich Tee aus dem Plastikschuh einer Puppe trinken. Sie besaß kein Teeservice, weshalb sie mit den Schuhen ihrer größten Puppe vorliebnahm. Sie goss den Tee in die Schuhe, indem sie kunstvoll ein Nadelkissen neigte, das ihrer Mutter gehört haben musste.

Manchmal gab ich nach und dann auch wieder nicht. Doch wenn ich es tat, hob Bensu ihren Puppenschuh und lächelte mich mit einem Zwinkern in den Augen an. »Mein Tee ist sehr gut, nicht wahr?«

»Ja, Bensu«, sagte ich. »Was gibst du hinein, dass er so gut schmeckt?«

Bensu nippte langsam an der Luft in dem Puppenschuh. »Das ist ein Geheimnis.«

»Wie unfair!«

»Selbst wenn ich dir das Geheimnis verraten würde« – Bensu seufzte, müde und gleichzeitig geduldig –, »würde es dir nicht gelingen, ihn so lecker zu machen wie ich, denn ich mache den besten Tee der Welt.«

»Der ganzen Welt?«, fragte ich. »Wow! Das ist unglaublich.«

Bensu nickte bescheiden und nippte erneut an ihrem Puppenschuh. Mit jäher Inbrunst griff sie nach meinem Knie. »Keine Sorge«, sagte sie, und ihre riesigen smaragdenen Augen funkelten, als wären sie von innen angestrahlt, »ich bin sicher, irgendjemand wird dich trotzdem heiraten. Auch wenn dein Tee nicht sehr gut ist.«

»Mein Tee ist nicht sehr gut?«, fragte ich.

Bensu schüttelte traurig den Kopf. Mein Tee war so schlecht, dass er sie traurig stimmte.

»Es wird sehr schwierig werden, aber wir werden einen Ehemann für dich finden«, verkündete Bensu.

»Was ist mit Franklin?«

Bensu kannte Franklin, meinen Freund, der mit mir zusammen einen Stock höher wohnte.

»Es tut mir leid, aber er wird bestochen.«

»Bestochen?!«

»Ja, deine Mutter hat ihn bezahlt, damit er so tut, als wäre er in dich verliebt.«

»Warum sollte sie das tun?«

»Weil sie Mitleid mit dir hat wegen deinem Tee.«

Diese Art gerissener Grausamkeit, die in jedem ganz kleinen Mädchen lauert, kannte ich noch nicht, als ich aufwuchs und meine kleinen Brüder mit großzog, die zu jener Zeit mehr wie Tiere als wie Kinder waren: perfekte, goldene kleine Tiere. Löwenbabys. Doch selbst die fünfjährige Bensu spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte, das mich daran hinderte, einen Partner zu finden.

War Lorrie Ann jemals so grausam gewesen? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann es einfach nicht sagen. Ich kann nur für mich selbst sprechen, das Mädchen, das ihrer Mutter einmal buchstäblich ins Gesicht spuckte, das Mädchen, das einen Jungen zum Vögeln aussuchte, weil er dumm war, das Mädchen, das einmal ihren zweijährigen Bruder ekelhafterweise mitten auf den Mund küsste, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte: ja, ja, ja! Ich war und bin furchtbar und gemein. Ganz bestimmt habe ich fiese Dinge gesagt, als ich fünf war. Ehrlich gesagt erinnere ich mich, meiner Babysitterin unverfroren erklärt zu haben, dass unser Hund jeden begatten wolle, nur sie nicht, und dies wohl daran läge, dass sie hässlich sei.

Und dennoch suchten die Unglücksgeier nicht mich, sondern Lorrie Ann heim, verdunkelten den Vorhof ihres Hauses und klopften mit den modrigen, blutverkrusteten Schnäbeln gegen die Scheiben ihrer Fenster. »Wach auf, kleines Mädchen!«, kreischten sie. »Wir haben noch etwas für dich!«

KAPITEL ZWEI Vergessene Welten, sowohl die unsichtbare als auch die physikalische

Wenn man es ganz genau nimmt, müsste ich wohl anmerken, dass sich die Tragödie bereits in der elften Klasse unverhohlen für Lorrie Ann zu interessieren begann, doch zu jener Zeit wirkte alles so glamourös, dass wir kein angemessenes Maß an Mitgefühl zeigen konnten, sondern stattdessen fast eifersüchtig auf sie waren. Ein volles Jahr nach meinem Entjungferungs-Debakel und der anschließenden Abtreibung kam Lorrie Anns Vater Terry bei einem Motorradunfall ums Leben.

Da ihr Vater kurz nach dem Aufprall starb und der andere Fahrer (eines knallblauen 1984er Toyota Pick-ups) betrunken war, wurde nie eindeutig geklärt, was genau geschehen war. »Ich hab ihn nicht gesehen. Ich hab ihn verdammt noch mal nicht gesehen!«, beharrte der Pick-up-Fahrer. Er war direkt vor Terrys Maschine, die vierzig Meilen die Stunde fuhr – fünf Meilen unter dem Tempolimit –, links abgebogen. Es war mitten am Nachmittag. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, warum der Pick-up-Fahrer Terry nicht hatte sehen können, einen großen Mann auf einer großen Harley. Selbst sturzbetrunken hätte der Fahrer ihn sehen müssen – das einzige Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn.

»Ich hab ihn verdammt noch mal nicht gesehen«, wiederholte der Mann an Dana gerichtet im Wartezimmer des Krankenhauses, als könnten diese Worte etwas für sie tun. Ich wartete mit Lorrie Ann ebenfalls in jenem Raum. Wie zwei nervöse Vögel hockten wir auf den Stühlen, allzeit bereit aufzuspringen und loszufliegen. Zu jenem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass Terry es »nicht geschafft hatte«. Wir warteten auf den Arzt, um zu erfahren, was los war.

»Hab ihn verdammt noch mal nicht gesehen.« Ich erinnere mich an den Ausdruck in Danas Gesicht, während sie den Mann betrachtete, der immer noch betrunken und höchstwahrscheinlich bereits verhaftet war, den man aber wegen seiner eigenen Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert hatte. Die Polizeibeamtin an seiner Seite, eine pummelige Frau mit trübsinnigen Augen und einem scharfen Parfüm, trat von einem Bein auf das andere, als wollte sie ihn gleich abführen. Doch Dana sah ihn nur mit jener niedergeschlagenen Nachsicht an, als wäre er ein Kind, das sie bat, sein vollgerotztes Taschentuch zu nehmen.

»Ich weiß, dass Sie ihn nicht gesehen haben«, sagte sie mit einer Anmut, derer meine Mutter niemals fähig gewesen wäre. Meine Mutter hätte eine abfällige Bemerkung gemacht und dann geweint.

Die gesamte Familie war natürlich am Boden zerstört und trauerte auf eine wunderschöne Art, wie es nur perfekt glückliche Familien können. Als Tori Stephensons kleiner Bruder Graham an Leukämie starb – wir waren gerade in der achten Klasse –, hatte sich ihre Mutter bei der Leichenfeier betrunken und in eine Pflanze übergeben. Auf dem Weg zum Wagen hatte ihr Toris Stiefvater Rex eine Ohrfeige verpasst, die einen riesigen roten Handabdruck auf ihrer Wange hinterlassen hatte.

Dana und Lorrie Ann und ihr Bruder Bobby übergaben sich weder in eine Pflanze, noch weinten sie zu laut oder versäumten es, überhaupt nicht zu weinen, oder verpassten sich Ohrfeigen oder taten sonst irgendetwas, das nicht absolut das Richtige gewesen wäre. Lorrie Ann sah auf wunderbare Weise schön aus in ihrem schwarzen Kleid – ein einfaches Baumwollteil, das ihr zu einer geradezu abnormal langen Taille verhalf, als hätte sie viele Sommer in einem Cirque du Soleil zugebracht. Ihre abgekauten Fingernägel, purpurn und blutig, unterstrichen nur ihre langgliedrigen, eleganten Hände. Der schwarze Eyeliner, den meine Mutter bei ihr aufgetragen hatte, ließ sie wie ein Hotot-Zwergkaninchen aussehen, eines dieser reinweißen Tiere mit schwarzen Ringen um die Augen, die so verängstigt waren, dass sie regelrecht erstarrten, wenn man mit der Hand in ihren Stall fasste, während ihre winzigen Herzen mit der ungestümen Wut eines Kamikazepiloten hämmerten. Lorrie Ann war nach dem Tod ihres Vaters von genau dieser wilden Verletzlichkeit durchdrungen, sodass es fast schmerzhaft war, sie anzusehen.

Wenn ich ehrlich bin, war ich beleidigt, da ihre Traurigkeit mich irgendwie auszuschließen schien. Ich hatte mir vorgestellt, wie wir beide gemeinsam weinten, hatte mir ausgemalt, wie ich sie trösten würde. Wir hatten bisher jede Tragödie gemeinsam durchgestanden, selbst die kleinsten und lächerlichsten. Stattdessen war sie nun hinter mehreren Schichten Glas verborgen. Es machte mich rasend. Ich war siebzehn; ich hatte einen kleinen schwarzen Stein als Herz; was kann ich sonst noch sagen? Doch Lorrie Ann war es, die einen schweren Verlust erlitten hatte.

Terry war in hohem Maße der Lebensinhalt der gesamten Swift-Familie gewesen. Es war ihm und der Liebe zu ihm und seinem Traum, Musiker zu sein, geschuldet, dass sie an allen Ecken sparten, sich nichts gönnten und in dem winzigen Zweizimmerapartment wohnten. (Lorrie Ann hatte einen Teil des Wohnzimmers hinter den Bücherregalen für sich beansprucht, Bobby war auf den Balkon gezogen und schlief selbst bei Regen in einem Zelt.) Dana arbeitete getreulich als Kindergärtnerin, was schlecht bezahlt wurde, aber eine Tätigkeit war, die sie liebte, und Terry spielte sporadisch, wenn auch lukrativ, als Studiomusiker, verfolgte ansonsten Vollzeit seine eigenen musikalischen Projekte. Sie schätzten sich außerordentlich glücklich, der Art von Arbeit nachgehen zu können, an die sie von ganzem Herzen glaubten.

Seine Band Sons of Eden hörte sich trotz ihres Namens nicht sonderlich christlich an. In keinem einzigen ihrer Lieder kam Jesus vor. Aber andererseits ging es auch nicht um Sex, Drogen und Alkohol, was an und für sich bei einer Rockband sehr bemerkenswert ist. Terry wollte seine Religion niemandem mit Gewalt aufdrängen. Er wollte lediglich ein anständiger Mensch sein, der gleichzeitig Musiker war. Es störte ihn, dass so viele Rockstars einer moralisch verwerflichen Spezies angehörten. Warum in aller Welt nahmen die Leute einen Musiker ernster, wenn er besoffen war? Warum sollte das seine Musik »authentischer« machen? Und dennoch schien es so zu sein. Terry erfuhr diese sonderbare Form der Diskriminierung tagtäglich am eigenen Leib. »Selbst wenn du nicht besoffen bist, versuch so zu singen, als wärst du es«, hatte der Manager einer Plattenfirma ihm einmal geraten.

Doch Terry tat es nicht, und seine raue stimmliche Offenbarung und sein technisch brillantes Gitarrenspiel brachten ihm ein paar kleinere Plattenverträge ein, die kaum jemals für einen Geldsegen sorgten, jedoch für ein kreatives Aushängeschild und einen greifbaren Beweis für seine Familie, dass all ihre geleisteten Opfer die Mühe wert waren.

Ich erinnere mich, wie maßlos es mich ärgerte, dass er für Lorrie Ann Lieder schrieb. Wir besuchten einmal ein Sommer-Festival, wo seine Band auftrat. Es war ein herrlicher Tag, erfüllt von Zuckerwatte und Sonnenbrand und Corn Dogs. Bobbys Freund Tio war dort, und ich redete mir ein, Tio würde sich irgendwie in mich verlieben und zu dem Entschluss gelangen, dass der Altersunterschied von sechs Jahren zwischen uns völlig belanglos wäre. Beide Jungs waren nachsichtig mit uns und ließen es zu, dass wir ihnen überallhin folgten, ohne uns das Gefühl zu geben, als würden wir ihnen wie Schafe hinterherlaufen. Es war wundervoll. Und genau in dem Moment, als die Sonne unterging, betraten die Sons of Eden die Bühne, und Terry leitete ihren Auftritt mit den Worten ein: »Dieses Lied ist für meinen Engel, mein kleines Mädchen, meine Lorrie Ann.«

Und dann sang er das allerschönste Lied, das ich jemals gehört hatte, mit einem sonderbar surrealen Text, dem ich kaum folgen konnte, in dem Lorrie Ann als eine Art barfüßiger Engel beschrieben wurde, der im südkalifornischen Bussystem herumfuhr, den obdachlosen Schizophrenen und fetten kleinen Kindern und Frauen Trost spendete, die in Angst lebten, ihre Ehemänner könnten sie nicht mehr lieben. Der Refrain ging folgendermaßen: »Get back into the bus, Lo-Lola/Get back into the bus, Lo-Lola!«

Nie zuvor in meinem Leben hatte mich eine so schreckliche Eifersucht gepackt.

Und nun, als Terry starb, ging für die Swifts eine Ära zu Ende. Sie blieben weiterhin in dem Zweizimmerapartment wohnen. Lorrie Ann ging weiterhin zur Highschool. Bobby besuchte weiterhin das Community College, aber seine ultimativen Pläne wurden immer vager und vager. Jetzt lebten sie alle in einer unhaltbaren Situation, umgeben von viel zu vielen Zwergen, die keinerlei Daseinsberechtigung hatten. Im wahrsten Sinne des Wortes hatte ihr Leben seine Musik verloren, seinen Rhythmus. Ohne Terry hörten sie allmählich auf, sich freitagabends gemeinsam Horrorfilme anzuschauen und Familienausflüge zum allerersten McDonald’s in Downey zu unternehmen.

Das Allerschlimmste war vielleicht, dass Lorrie Ann gänzlich das Singen aufgab. Sie war immer eine talentierte Sängerin mit einer süßen und natürlichen Sopranstimme gewesen, wie eine jener Folksängerinnen aus den Appalachen. Ihre Stimme war von kristallklarem Klang, der einem das Herz erzittern ließ, als wären die Noten Weingläser, die fielen, jedoch nie den Boden berührten. Sie hatte es geliebt, mit ihrem Vater komplexe Harmonien zu singen. Er hatte ihr sowohl die sechssaitige als auch die zwölfsaitige Gitarre beigebracht, und es hatte sich gezeigt, dass sie außergewöhnlich talentiert war. Soweit ich weiß, hörte sie vollständig auf zu üben, wobei ich nicht sagen kann, ob sie vielleicht wieder anfing, nachdem ich aufs College gegangen war.

Alles veränderte sich so schnell. Und Terrys Tod war nur der Anfang, das allererste Pochen der Unglücksgeier an Lorrie Anns Fensterscheibe. Im Laufe der folgenden Jahre kamen immer mehr von ihnen, wippten mit ihren verbrannt aussehenden Köpfen, die Haut an ihren Gesichtern rot und rau, als ob sie sich schälte.

Im Grunde hörte das Corona del Mar, in dem Lorrie Ann und ich aufwuchsen, genau in dem Moment auf zu existieren, als wir von dort wegzogen. Man kann natürlich immer noch dorthin fahren, doch man wird nur junge Frauen vorfinden, die in Lululemon-Yogahosen ihre Bugaboo-Kinderwagen schieben und ihre postnatale Bauchstraffung zur Schau stellen. Die Spielplätze sind von kleinen Jaydens und Skylers überschwemmt. Die alten Bungalows wurden abgerissen und durch Mini-Villen mit Doppelgaragen ersetzt. Immer teurere Restaurants mit »Amerikanischer Küche« wurden entlang des Highways eröffnet, und schicke Boutiquen vertrieben den Großteil der rätselhaften Orientteppich-Läden, die einst dieses Stück des Pacific Coast Highways gesäumt hatten.

Doch als Lorrie Ann und ich jung waren, war Corona del Mar halb leer, irgendwie verfallen, von wundervollen Düften erfüllt. Immer lag Jasmin in der Luft oder der weniger aufdringliche, grünere Geruch von Jasmin-Nachtschatten oder der fast feindliche, pfeffrige Duft von Bougainvillea. In einfach jedem Graben und auf jedem Grünstreifen breitete sich mit erschreckender Beharrlichkeit Hexenfinger aus, und man konnte seine Stiele abbrechen und mit Wasser auf die Gehsteige schreiben, geheime Botschaften, von der heißen Sonne unsichtbar gemacht wie Geheimtinte. Es gab Büschel von irgendeiner sauren gelben Pflanze, die man kauen konnte, während man am Highway entlangschlenderte, den Rucksack über die Schulter geworfen, sodass er auf und ab hüpfte und in einem zufriedenstellenden Rhythmus gegen den Rücken klatschte, auf dem Weg zur Chevron-Tankstelle, wo man eigentlich eine Dose Dr Pepper kaufen wollte, aber stattdessen einen Kaugummi klaute. Es gab fast keine Autos, fast keine Menschen. Man spazierte auf Bürgersteigen, die so leer waren und glänzten wie transparentes Skizzenpapier!

Es war ein wahrhaft irrealer Ort, und ich denke, keiner von uns hatte die Absicht, für immer dort zu bleiben. Es gab in der Umgebung keine Jobs, die Häuser waren zu klein und zu teuer. Wir konnten uns nicht vorstellen, dort unser restliches Leben zu verbringen. Selbst unsere Eltern hegten den Plan, von dort wegzugehen, an einen vernünftigeren Ort, irgendwann einmal.

Aber dennoch, damals im Frühjahr von Terrys Tod hatten wir nicht den blassesten Schimmer, wie schnell wir Corona del Mar verlieren würden. Wir dachten, oder zumindest ich dachte, Terrys Tod wäre einfach ein weiterer all jener aufregenden Schicksalsschläge, die uns widerfuhren, ein Höhepunkt des Plots, der von den Schreibern im Vorfeld geplant war, um Anlass für gute Dialoge und neue romantische Verflechtungen zu liefern. Ich hatte das Gefühl, wir wären nur ein paar Ziffern von 90210 entfernt, und ehrlich gesagt hasste ich den Terrys-Tod-Handlungsstrang, weil er Lorrie Ann in den Mittelpunkt rücken ließ, und sie war immer im Mittelpunkt!

Wann war ich an der Reihe? Wann, wann, wann?

Waren meine Gedanken während dieser Zeit zugleich vorhersehbar und enttäuschend, so waren Lorrie Anns zweifellos interessanter. Mir waren nur flüchtige Blicke in das Labyrinth ihrer Gedankengänge gestattet, und so war ich gezwungen, ihre innere Welt durch logische Schlussfolgerungen und genauestes Beobachten zusammenzufügen.

Ich wusste bereits, dass Lorrie Ann eine sonderbare Vorliebe für moralische Werte hatte. Ein einfaches Beispiel: Als wir Betty und ihre Schwestern lasen, war ihre Lieblingsfigur Beth. Ich hatte schon etwas vorausgelesen und wusste, was in dem Buch passieren würde. (Wir lasen Bücher häufig gemeinsam, und ich las meistens schneller und hängte sie ab, sodass wir es uns zur Gewohnheit machten, nur ein Taschenbuch zu kaufen, das ich in zwei Hälften riss, sobald ich die Mitte des Buchs erreicht hatte, um ihr den Anfang zu geben und für mich das Ende zurückzubehalten.)

»Du kannst Beth nicht am liebsten mögen«, erklärte ich ihr. »Such dir jemand anderen aus.«

»Aber Beth ist meine Lieblingsfigur!«, beharrte Lorrie Ann.

»Du solltest Jo mögen«, sagte ich. »Beth ist bescheuert.«

»Ist sie nicht. Sie ist die Einzige, die sich wirklich für die Soldaten und den Krieg interessiert. Sie strickt ständig Socken und solches Zeug. All die anderen Mädchen sind einfach nur irgendwie egoistisch.«

Ich reckte den Hals, um zu ihr hochzuschauen. Lorrie Ann lag ausgestreckt auf ihrem schmalen Bett, über das sich ein Baldachin aus einem weich fließenden, bauschigen Moskitonetz mit pinken Schleifen ergoss, die preiswerte Variante eines jeden Mädchentraums, den ihre Mutter ihr erfüllt hatte. Ich saß mit dem Rücken gegen die Längsseite der Matratze gelehnt, das Gesicht abgewandt von Lorrie Ann, sodass es etwas wehtat, als ich den Kopf verdrehte, um sie anzublicken. Ihr Gesicht war für mich verkehrt herum, und ihr Mund sah aus wie der Mund eines furchteinflößenden Monsters, obwohl ihre Zähne hübsch und gerade waren. (Meine Zähne waren es nicht. Sie litten an einem »Engstand«. Einmal hatte ich eine Zahnspange, aber dann passierte eine Katastrophe, und wir sahen uns nicht mehr imstande, sie uns leisten zu können, und ich bekam stattdessen einen herausnehmbaren Retainer, den ich sofort verlor.)

»Beth stirbt«, sagte ich.

»Nein, tut sie nicht«, beharrte Lorrie Ann, felsenfest überzeugt, ich würde sie nur auf den Arm nehmen.

»Doch. Blätter vor. Sie stirbt.« Ich reckte immer noch ungelenk den Hals, um in ihr umgedrehtes Gesicht sehen zu können. Lorrie Ann biss sich auf die Lippe, und dann – das war so typisch für Lorrie Ann, dass es mich fast zum Kotzen brachte – schwieg sie beharrlich.

»Du glaubst mir nicht?«, fragte ich.

»Dann stirbt sie eben«, sagte Lorrie Ann. »Sie ist trotzdem meine Lieblingsfigur.«

Man konnte ihr diesen Unsinn einfach nicht austreiben.

Es war dasselbe beim Tod ihres Vaters gewesen. Weil sie an eine Vielzahl unwahrer und unvereinbarer Dinge glaubte, erging sich ihre innere Welt in räumlich eigentümlichen, escheresquen Widersprüchen, die dazu führten, dass sie in endlosen und logisch unlösbaren Endlosschleifen verharrte.

Wenn es einen Gott gab, dann hatte das Leben eine tiefere Bedeutung.

Und wenn das Leben eine tiefere Bedeutung hatte, dann mussten die Dinge aus einem bestimmten Grund geschehen.

Und wenn die Dinge aus einem bestimmten Grund geschahen, dann sollte ihr Vater sterben.

Und wenn ihr Vater sterben sollte, dann gab es etwas, das sie daraus lernen sollte.

Aber da war nichts, was man daraus lernen konnte. Da war verdammt noch mal nichts, was man daraus lernen konnte! Außer vielleicht, dass der Typ, der den Pick-up fuhr, ein echter Idiot war, ein Versager, ein Nichtsnutz, ein Scheißkerl, der den Tod verdient hätte, weil er einen der besten Menschen auf dem Gewissen hatte, den ich kannte, den Vater eines Mädchens, das es verdient hätte, wenn ihr Daddy sie eines Tages zum Traualtar geführt hätte. Fast ununterbrochen gab ich mich den Fantasien hin, den Fahrer des Pick-ups aufzuspüren und ihn zu vergiften oder Bienen in seinem Apartment freizulassen oder einen Eispickel durch seine Augenhöhle in sein Gehirn zu treiben.

Ich mag gelegentlich eifersüchtig auf Lorrie Ann gewesen sein, aber sie gehörte mir. Die Swifts gehörten mir. Dieser Kerl hatte kein Recht, sich so dumm, so verschwenderisch, so geschmacklos in ihr Leben einzumischen.

Wie dem auch sei, Lorrie Ann fing während dieser Zeit an, sich zu sorgen, dass ihnen ihr Vater womöglich als eine Art Bestrafung genommen worden war. Wenn es einen Grund für seinen Tod gab, war sie vielleicht der Grund. All das war ein klassischer Fall wie aus dem Lehrbuch, ich weiß, aber damals hatten weder ich noch Lorrie Ann solche Lehrbücher gelesen.

Und so wurde sie zur Vegetarierin. Sie gab sich bewusst Mühe, nicht mehr zu tratschen, und weigerte sich, über meine Witze über die arme Brittany Slane zu lachen, deren flaumiges, dünnes Babyhaar nie dichter geworden war und die bei der geringsten Provokation vehement erklärte, sie sei eine direkte Nachfahrin von Abraham Lincoln. Sonderbarerweise schloss Lorrie Anns neuartiger Wunsch nach Tugendhaftigkeit Dinge wie Zigaretten nicht mit ein, die sie immer noch mit mir rauchte, Camels, die ich von meiner Mutter stibitzte und die wir hinter dem Handballfeld im Grant Howald Park pafften, während wir gelben Löwenzahn zwischen unseren Fingern zerrieben. Vielmehr begriff ich allmählich, dass die Zigaretten eine Form von Selbstkasteiung waren, ähnlich einem Büßerhemd.

Es war nicht so, dass Lorrie Ann ein langweiliger Gutmensch wurde. Es war nicht so, als wollte sie perfekt sein oder geliebt oder anerkannt werden. Nein.

Sie wollte etwas viel Gefährlicheres. Sie wollte Sinn. Und sie glaubte, sie könnte ihn erfahren, wenn sie sich strikt an Regeln hielt.

Den Rest ihres Lebens würde Lorrie Ann bedauern, mir nicht den Zeh gebrochen zu haben. Sie würde sich ewig daran erinnern, wie ich den Hammer herabsausen ließ, zu fest und zu heftig, sodass mein kleiner Zeh nicht nur brach, sondern zu einem fleischigen Brei zermalmt wurde, flachgedrückt wie eine zerquetschte Weintraube, während der Beton des Innenhofs darunter Risse bekam und glitschig wurde vor Blut. Sie dachte: Ich hätte ihr den Zeh so viel besser brechen können. Sie dachte: Welcher Makel steckt in mir, der von dem schönen Schein von Gutherzigkeit übertüncht wird? Und was sollte man tun, wenn das Gute so doppelzüngig war und von dir mit sechzehn verlangte, in einem Hinterhof einen Hammer zu schwingen, begleitet vom Bellen der Seelöwen und dem Donner der Brandung, genau unter einem Schlafzimmerfenster, wo zwei kleine Jungen auf einem Durcheinander aus Luftmatratzen schliefen, ihre goldenen Arme und Beine makellos und weich wie Wildleder, mit geschlossenen Lidern, die vor ahnungslosen Träumen zuckten, deren innerster Kern ob der Zukunft all dessen summte, was ihnen widerfahren würde, den Männern, zu denen sie reifen würden, den Dingen, die sie wollen und tun und vögeln und wissen und schmecken würden?

Diese Fragen würden für Lorrie Ann noch dringlicher werden, als sie zwei Jahre später, kurz nach unserer Highschool-Abschlussfeier, feststellte, dass auch sie schwanger war.

KAPITEL DREI Entscheidungen über Entscheidungen

Wirklich, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit? Zwei Highschool-Freundinnen, die beide innerhalb von zwei Jahren schwanger werden. Beide mit derselben schwierigen Entscheidung konfrontiert. Und dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich ein einziges Mädchen aus unserer Heimatstadt kenne, das nicht zu irgendeinem Zeitpunkt während der Highschool oder des Colleges dasselbe durchmachte. Nein, wir waren keine statistische Anomalie, sondern die verstörende Norm.

Unsere Beratungslehrer hatten uns gezeigt, wie man ein Kondom überstreifte, und wir benutzten sie fleißig. Abgesehen von mir – ich stelle in diesem Fall eine Ausnahme dar. Doch Lorrie Ann tat es. Und das Kondom riss.

Sie haben uns nie erzählt, wie oft das passiert. Oder dass das Kondom dort unten manchmal abhandenkommen kann, wie die abgestreifte Haut einer Schlange, und man seinen Partner bitten muss, dessen Finger länger als seine eigenen sind und der einen besseren Winkel hat, es von dort herauszufischen, wo es sich in einer Ecke der Zervix versteckt. Wir wussten nicht einmal, dass unsere Zervix Ecken besitzt! Und ganz sicherlich wussten wir nicht, wie wir es einzuschätzen hatten und ob die Männer uns die Wahrheit sagten, wenn sie behaupteten, es habe sich »nicht anders angefühlt«, sie hätten nichts bemerkt, sie hätten natürlich sofort aufgehört, hätten sie irgendetwas gespürt.

Und natürlich existierte kein Plan B. Unser ganzer Plan war Plan A gewesen, und Plan A waren Kondome, denn die Pille war so retro und konnte uns nicht vor Aids schützen, von dem wir insgeheim überzeugt waren, absolut jeder wäre unwissentlich infiziert. Ohne Kondom hätten wir nicht einmal mit einer Nonne Sex gehabt. Derart fest war uns das eingebläut worden.

Und so geschah es, dass Lorrie Ann befruchtet wurde, just am Ende der zwölften Klasse, von einem jungen Mann namens Jim Swanson, der zweiundzwanzig Jahre alt und schon das ganze Jahr über ihr Freund war.

»Liebst du ihn?«, fragte Dana in ihrer gewohnten Ehrlichkeit und blinzelte sie durch ihre marineblaue Mascara an. Dana war eine jener Frauen, die während der Sechzigerjahre angefangen hatten, marineblauen Eyeliner und Mascara zu benutzen, dann feststellten, dass es ihnen stand, und diese Gewohnheit einfach nie abgelegt hatten. Sonderbarerweise hatten wir sie deshalb nie verurteilt, ebenso wenig wie keiner von uns jemals ihre Zwerge in Frage gestellt hätte. Heutzutage, da bin ich sicher, hätte schon allein die schiere Anzahl an Zwergen in ihrem Apartment das Eingreifen irgendeiner Art von Realityshow nach sich gezogen, doch zu jener Zeit hielt es jeder für absolut normal.

Dana und Lorrie Ann saßen auf der hölzernen Treppe, die hinauf in ihr winziges Zweizimmerapartment führte, und aßen Eis am Stiel. Diese Unterhaltung sowie zahllose andere wurden mir nacherzählt, als wir in jenem Sommer all ihre unterschiedlichen Optionen durchgingen, wie Detektive, die ein unlösbares Verbrechen aufzuklären versuchten, eindringlich verschwommene Nahaufnahmen unbekannter Verdächtiger auf Überwachungsbändern prüften und wiederholt die Wortwahl unserer spärlichen Zeugen analysierten.

»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Lorrie Ann. »Aber ist das wirklich die Frage?«

»Was sollte sonst die Frage sein?«, fragte Dana und knabberte mit den Schneidezähnen an der Spitze ihres Kirscheises.

Lorrie Ann dachte über Jim nach. Er hatte viele bewundernswerte Eigenschaften. Als er jünger war, hatte ihn schreckliche Akne geplagt, weshalb er jetzt, obwohl er muskulös und gut aussehend und allseits beliebt war, nicht eingebildet oder anmaßend wirkte. Er liebte seine Mutter. Er hatte einen passablen Job als Souschef in einem Restaurant in Costa Mesa. Er trank, jedoch nicht so exzessiv, dass er Dummheiten beging. Er war nicht aufs College gegangen, aber er war clever: hatte immer eine schlagfertige Antwort auf den Lippen, konnte Menschen lesen, Hunde erziehen, Autos reparieren. Er war ein guter Tänzer. Er wusste, wie man ein Kompliment machte. Er hatte ein unglückseliges Tattoo: den Namen Celia in kursiven Buchstaben auf dem linken Bizeps. Sie war in der Highschool seine Freundin gewesen. Aber er hatte vor, es mit dem Tattoo einer Mondsichel oder der Strichzeichnung einer Schildkröte zu überdecken. Er mochte Schildkröten wirklich. Da stand eine kleine Sandsteinstatue von einer auf dem Fensterbrett in seinem Apartment genau neben seinem Futon, wo die Befruchtung stattgefunden hatte.

Das Problem für Lorrie Ann, das wir immer und immer und immer wieder durchgingen, lag nicht in Jim begründet, sondern in dem Baby selbst. Meiner Ansicht nach liebte Lorrie Ann ihn nicht. Ihrer Ansicht nach spielte das keine sonderlich große Rolle. Niemand, einschließlich Dana, war in der Lage, diesem Gedankengang vollständig zu folgen.

»Aber kann man nicht lernen, jemanden zu lieben?«, fragte Lorrie Ann. »Ich meine, was ist mit arrangierten Ehen?«

»Nun, das ist keine arrangierte Ehe, und es ist deine Entscheidung, und du wirst dich später schlecht fühlen, wenn du dich jetzt falsch entscheidest«, sagte Dana. Ihr Tonfall war nicht grausam. Seit einer Woche führten sie nun schon jeden Abend dieselbe Unterhaltung, und jedes Mal war ihre Mutter zu einer anderen Schlussfolgerung gekommen. An dem einen Abend sollte Lorrie Ann das Baby behalten und Jim heiraten. Am anderen sollte sie das Baby wegmachen lassen und nach Berkeley gehen. Es war alles so schrecklich verworren. Ein Teil dessen, was es so verworren machte, war Berkeley: das Stipendium, der Reiz von San Francisco, das Gefühl des Entkommens aus Corona del Mar.